Dokumentation PID, PND, Forschung an Embryonen - Theologische ...
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3., erweiterte Auflage<br />
der <strong>Dokumentation</strong><br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong><br />
Aufsätze<br />
Berichte<br />
Diskussionsbeiträge<br />
Kommentare<br />
im Deutschen Ärzteblatt<br />
Beiträge aus 2000<br />
www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung
V O R W O R T<br />
Dossier zur <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
<strong>Embryonen</strong><br />
Das Deutsche Ärzteblatt gibt eine erweiterte <strong>Dokumentation</strong><br />
heraus, die im Internet abgerufen werden k<strong>an</strong>n.<br />
Ein Ende der Diskussion<br />
über Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
ist nicht in Sicht.<br />
Als das Deutsche Ärzteblatt im Jahr 2002 seine<br />
erweiterte <strong>Dokumentation</strong> zu embryonaler<br />
Stammzellforschung, pränataler Diagnostik<br />
(<strong>PND</strong>) und Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) vorlegte, war die Diskussion über diese<br />
Themen in vollem G<strong>an</strong>ge. Ein Ende ist nach wie<br />
vor nicht in Sicht. Ausgelöst wurde der öffentliche<br />
Diskurs durch den vom Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
vorgelegten „Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
im März 2000.<br />
Von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> hat sich das Deutsche Ärzteblatt<br />
<strong>an</strong> der Debatte beteiligt und die unterschiedlichsten<br />
Stimmen zu Wort kommen lassen. In einem<br />
Sonderdruck aus dem Jahr 2001 wurden diese<br />
Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Unmerklich verlagerte<br />
sich der Schwerpunkt d<strong>an</strong>n von der Diskussion<br />
über die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zur <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> und mit <strong>Embryonen</strong> und zur Gewinnung<br />
von Stammzellen. Die<br />
Meinungsbildung in der Ärzteschaft<br />
spiegelt sich in der<br />
Berichterstattung und Kommentierung<br />
des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider,wie die ein<br />
Jahr später publizierte Materialsammlung beweist.Auch<br />
dieser Sonderdruck war – ebenso wie<br />
die erste Auflage – schnell vergriffen.<br />
Inzwischen sind im Deutschen Ärzteblatt zahlreiche<br />
weitere Beiträge zu der Thematik erschienen.<br />
Darin wird deutlich, dass nach wie vor großer<br />
Diskussionsbedarf besteht. So berichtete das DÄ<br />
beispielsweise über die Beschlusslage zur internationalen<br />
Klonkonvention. Bisher gibt es noch keine<br />
Einigung.Im November 2003 gingen die Vertreter<br />
der UN-Mitgliedstaaten ergebnislos ausein<strong>an</strong>der,<br />
sie verschoben die Verh<strong>an</strong>dlungen um weitere<br />
zwei Jahre. Es geht immer noch um die Frage, ob<br />
nur das reproduktive Klonen oder auch das therapeutische<br />
Klonen weltweit geächtet werden<br />
soll. Inzwischen ist es einem Team der südkore<strong>an</strong>ischen<br />
Nationaluniversität Seoul gelungen,<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> zu klonen. Als „Durchbruch<br />
in der Medizin“ haben die Forscher ihr Experiment<br />
bezeichnet. Auf seiner Basis wollen sie<br />
Ersatzgewebe „therapeutisch klonen“, um Kr<strong>an</strong>ke<br />
zu heilen. Für Kritiker ist dieser Menschenversuch<br />
Anlass, noch vehementer ein internationales Klonverbot<br />
zu fordern. Doch die Haltung Deutschl<strong>an</strong>ds<br />
ist uneinheitlich. Während sich der Bundestag für<br />
ein absolutes Klonverbot ausgesprochen hatte,<br />
unterstützte die Regierung dies nicht. Während<br />
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn<br />
betonte, dass das therapeutische Klonen in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten sei und<br />
es auch bleibe, sprach sich<br />
Bundesjustizministerin Brigitte<br />
Zypries vor kurzem für<br />
eine Lockerung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
aus. Dies<br />
stieß auf teilweise scharfe Kritik<br />
aus der Ärzteschaft, bei Kirchen, aber auch Politikern.Ausführlich<br />
berichtet wurde im Deutschen<br />
Ärzteblatt auch über die Pläne der EU-Kommission,<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
mit Milliardensummen fin<strong>an</strong>ziell zu fördern.<br />
Im Bereich der pränatalen Diagnostik besteht<br />
ebenfalls weiterhin Klärungsbedarf. So werden<br />
zunehmend Forderungen erhoben, die Abtreibungsregelung<br />
zu ändern, da durch den Wegfall<br />
der embryopathischen Indikation Spätabtreibungen<br />
bis zur Geburt möglich geworden sind.<br />
Die Beiträge der DÄ-Redakteurinnen und<br />
-Redakteure zu diesen Themen sowie Aufsätze<br />
und Kommentare von Ärzten, Wissenschaftlern<br />
und Theologen mit teilweise konträren Ansichten<br />
sind in dieser erweiterten <strong>Dokumentation</strong> veröffentlicht.<br />
Sie ist inzwischen so umf<strong>an</strong>greich geworden,<br />
dass eine Publikation als Sonderdruck<br />
den Rahmen sprengen würde, sodass sich die Redaktion<br />
entschlossen hat, sie online zu veröffentlichen.<br />
Zusätzlich können unter <strong>an</strong>derem<br />
auch der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, wichtige Gesetze,<br />
wie das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz und das<br />
Stammzellgesetz, Positionspapiere und Stellungnahmen<br />
sowie die Entschließungen der Deutschen<br />
Ärztetage zu dieser Thematik abgerufen<br />
werden.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Die Meinungsbildung in der<br />
Ärzteschaft spiegelt sich in<br />
der Berichterstattung und<br />
Kommentierung des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider.<br />
2
D O K U M E N T A T I O N<br />
Vorwort zur 1. Auflage<br />
Beiträge zum Diskurs<br />
Als der Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
den „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
vorlegte, rief er zugleich zu einem<br />
öffentlichen Diskurs auf. Der läuft seit<br />
nunmehr rund eineinhalb Jahren und<br />
hat einen kaum noch fassbaren Niederschlag<br />
in der Presse gefunden. Inzwischen<br />
bringen auch Funk und Fernsehen<br />
fast täglich Diskussionen nicht mehr<br />
nur zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>), sondern auch zur <strong>Embryonen</strong>forschung.<br />
Das Deutsche Ärzteblatt hat sich<br />
von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> <strong>an</strong> dem Diskurs beteiligt<br />
und die unterschiedlichsten Stimmen<br />
zu Wort kommen lassen. In diesem<br />
Sonderdruck sind diese Beiträge, beginnend<br />
mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Die Redaktion hat<br />
sich sehr um Vollständigkeit bemüht,<br />
gleichwohl k<strong>an</strong>n nicht ausgeschlossen<br />
werden, dass vielleicht ein Leserbrief<br />
oder eine kleinere Notiz fehlen. Die<br />
Diskussion ist im Übrigen keineswegs<br />
abgeschlossen. Weitere Beiträge für<br />
spätere Hefte des Deutschen Ärzteblattes<br />
sind in Satz – Stoff genug für eine<br />
allfällige erweiterte Auflage des Sonderdrucks.<br />
Der <strong>Dokumentation</strong> der im Deutschen<br />
Ärzteblatt erschienenen Beiträge<br />
sind vor<strong>an</strong>gestellt ein Interview mit dem<br />
Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
und des Deutschen Ärztetages, geführt<br />
im Vorfeld des in diesen Tagen beginnenden<br />
104. Deutschen Ärztetages, sowie<br />
der Bericht über die einschlägige<br />
Diskussion beim vor<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>genen 103.<br />
Deutschen Ärztetag.<br />
Im Grunde genommen müsste eine<br />
vollständige <strong>Dokumentation</strong> über die<br />
Auffassungen der Ärzteschaft in der mit<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zusammenhängenden<br />
Thematik weitaus früher beginnen,<br />
zumindest mit dem 88. Deutschen<br />
Ärztetag, der 1985 in Lübeck-Travemünde<br />
seine Haltung zur In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF) formulierte. Bereits damals<br />
wurden die daraus entstehenden<br />
Probleme der <strong>Embryonen</strong>forschung klar<br />
erk<strong>an</strong>nt, der Umg<strong>an</strong>g mit den so gen<strong>an</strong>nten<br />
überzähligen <strong>Embryonen</strong> diskutiert.<br />
Der Ärztetag sprach sich schließlich<br />
mit großer Mehrheit zugunsten von IVF<br />
aus. Zur <strong>Embryonen</strong>forschung stellte er<br />
fest: „Experimente mit <strong>Embryonen</strong> sind<br />
grundsätzlich abzulehnen, soweit sie<br />
nicht der Verbesserung der Methode<br />
oder dem Wohle des Kindes dienen.“<br />
Diese Formulierung war ein wenig strenger<br />
als die Vorst<strong>an</strong>dsvorlage, entsprach<br />
aber noch einer zugleich vorgelegten<br />
Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Bundesärztekammer zur IVF (veröffentlicht<br />
in Heft 22/1985), die der Ärztetag<br />
pauschal „begrüßte“. In einer weiteren<br />
Richtlinie äußerte sich der Wissenschaftliche<br />
Beirat später, ohne Zutun des<br />
Ärztetages, zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> frühen<br />
menschlichen <strong>Embryonen</strong> (veröffentlicht<br />
in Heft 50/1985). D<strong>an</strong>ach dürfen<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> „grundsätzlich“<br />
nicht mit dem Ziel der Verwendung<br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken erzeugt werden.<br />
Mit der Formel „grundsätzlich“ wurden<br />
erhebliche Sp<strong>an</strong>nungen innerhalb des<br />
Beirates zu dieser Frage überdeckt. Die<br />
Richtlinien sprechen sich hingegen eindeutig<br />
für Untersuchungen, die der<br />
Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
des jeweiligen Embryos und gleichzeitig<br />
dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn<br />
dienen,aus,sofern Nutzen und Risiken<br />
mitein<strong>an</strong>der sorgfältig abgewogen<br />
werden.<br />
Der 91. Deutsche Ärztetag beschloss<br />
1988 in Fr<strong>an</strong>kfurt eine Änderung der<br />
(Muster-)Berufsordnung. Die Delegierten<br />
entschieden sich für einen Mittelweg:<br />
Die Erzeugung von <strong>Embryonen</strong> für<br />
<strong>Forschung</strong>szwecke wurde untersagt und<br />
dem ein weiterer Satz hinzugefügt:<br />
„Grundsätzlich verboten ist auch die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen <strong>Embryonen</strong>.“<br />
Bei Einhaltung strikter Kriterien<br />
wurden allerdings <strong>Forschung</strong>en für<br />
zulässig gehalten,sofern sie der Deklaration<br />
von Helsinki entsprechen.<br />
Machen wir einen Sprung zum 100.<br />
Deutschen Ärztetag 1997 in Eisenach.<br />
Die damals neu strukturierte, bis heute<br />
geltende (Muster-)Berufsordnung verbietet<br />
gleichfalls die Erzeugung von menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken.Verboten<br />
sind ferner diagnostische<br />
Maßnahmen <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>, „es sei<br />
denn, es h<strong>an</strong>delt sich um Maßnahmen<br />
zum Ausschluss schwerwiegender geschlechtsgebundener<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen im<br />
Sinne § 3 <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz“.<br />
Und das gehört der Vollständigkeit<br />
halber dazu: Seit 1991 gilt das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
mit seinen strengen<br />
Regeln – strengeren als sie 1985 von der<br />
ärztlichen Selbstverwaltung und ihren<br />
wissenschaftlichen Beratern formuliert<br />
worden waren.<br />
Norbert Jachertz<br />
Impressum<br />
<strong>Dokumentation</strong> „<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>“<br />
Chefredakteur:<br />
Chefs vom Dienst:<br />
Redaktion:<br />
Technische Redaktion:<br />
Schlussredaktion:<br />
Verlag:<br />
Norbert Jachertz, Köln<br />
(ver<strong>an</strong>twortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der<br />
gesetzlichen Bestimmungen)<br />
Gisela Klinkhammer, Herbert Moll<br />
Norbert Jachertz, Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet)<br />
Jörg Kremers, Michael Peters<br />
Helmut Werner<br />
Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln<br />
3
I N H A L T<br />
<strong>Dokumentation</strong> in chronologischer Reihenfolge<br />
Vorwort zur 3. Auflage:<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />
Vorwort zur 1. Auflage:<br />
Beiträge zum Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
Beiträge aus dem Jahr 2000<br />
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik: Am R<strong>an</strong>de der schiefen Bahn . . . 9<br />
Norbert Jachertz<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
Auftakt des öffentlichen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
Sabine Rieser<br />
Plädoyer für eine unvoreingenommene, offene Debatte. . . . . . 12<br />
Ulrike Riedel<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik: Mensch von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> . . . . . . . . . . . 14<br />
Joachim Kardinal Meisner<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik: Kein Blick aufs G<strong>an</strong>ze . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Sabine Rieser<br />
Diskussion zu dem Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie der Bundesärztekammer und den dazu<br />
erschienenen Berichten und Kommentaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer:<br />
Von richtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgehen . . . . . . . . . 25<br />
Prof. Dr. Dr. med. h. c. H.-L. Schreiber<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik als Ver<strong>an</strong>twortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Der Vorst<strong>an</strong>d des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer<br />
Schöne Neue Welt: Muss m<strong>an</strong> alles machen, was m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n . . 28<br />
Dr. med. Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – medizinische,<br />
ethische und rechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
Prof. Dr. med. Herm<strong>an</strong>n Hepp<br />
Medizinethik: Mindestmaß <strong>an</strong> Schutz für die Zukunft . . . . . . . . . . 37<br />
Gisela Klinkhammer, Thomas Gerst<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin: Absage <strong>an</strong> jede Art<br />
eugenischer Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Nochmals: Öffentlicher Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />
Ethisches Dilemma der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Unterschiedliche Schutzwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Zunehmendes Lebensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />
Ministerialrat a. D. Dr. jur. Rudolf Neidert<br />
Diskussion: Zunehmendes Lebensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />
Gibt es das Recht auf ein gesundes Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />
Dr. theol. Mirjam Zimmerm<strong>an</strong>n, Dr. theol. Ruben Zimmerm<strong>an</strong>n<br />
4
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 9, 3. März 2000<br />
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Zum Hintergrund<br />
Mit dem vorliegenden „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ beabsichtigt die Bundesärztekammer,<br />
einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion auf diesem so<br />
schwierigen und sensiblen Gebiet der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin zu leisten.<br />
Die besonderen ethischen Konflikte, die mit der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
verbunden sind, können nur d<strong>an</strong>n vermieden werden,<br />
wenn betroffene Paare bewusst auf Kinder verzichten oder sich zu<br />
einer Adoption entschließen. Wie Gespräche mit Paaren mit hohen<br />
genetischen Risikofaktoren zeigen, werden diese Alternativen häufig<br />
jedoch nicht akzeptiert. In zehn Staaten der<br />
Europäischen Union ist die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
bereits heute zulässig. Weltweit<br />
wurde die Methode bei mehr als 400 Paaren durchgeführt; bis heute<br />
wurden über 100 Kinder nach Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik geboren.<br />
Deshalb muss die Gesellschaft im öffentlichen Diskurs entscheiden,<br />
ob und inwieweit die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
Anwendung finden soll.<br />
Die ethische Diskussion umfasst im Kern den Konflikt, dass nach<br />
einer künstlichen Befruchtung zur Herbeiführung einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
der invitro gezeugte Embryo im Falle des Nachweises einer<br />
schweren genetischen Schädigung unter Umständen nicht in die Gebärmutter<br />
tr<strong>an</strong>sferiert wird. Diese schwerwiegende grundsätzliche<br />
ethische Entscheidung liegt im Falle der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
zunächst in der Ver<strong>an</strong>twortung des betroffenen Paares und d<strong>an</strong>n –<br />
aufgrund des durchzuführenden medizinischen Verfahrens – gleichermaßen<br />
auch beim Arzt. Die Ärzteschaft muss sich daher mit dem<br />
Thema „Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ befassen: Wenn die Gesellschaft<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mehrheitlich möchte, d<strong>an</strong>n<br />
sind Rechtssicherheit und ein hohes Schutzniveau nur über Zulassungskriterien<br />
zu erreichen, die streng und äußerst restriktiv zu fassen<br />
sind. Dies wäre berufsrechtlich nur auf dem<br />
Wege einer Richtlinie zu erreichen, die eine Einzelfallbegutachtung<br />
vorschreibt. Darüber hinaus<br />
ist es unverzichtbar, dass die nicht rein medizinischen Aspekte<br />
dieses Verfahrens im Zivil- und Strafrecht durch den Bundesgesetzgeber<br />
geregelt werden müssen.<br />
Die Bundesärztekammer will mit dem vorgelegten Diskussionsentwurf<br />
zur Schärfung des Problembewusstseins im gesamtgesellschaftlichen<br />
Meinungsbildungsprozess beitragen und nicht das Ergebnis<br />
einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über die Anwendung<br />
dieses neuen medizinischen Verfahrens in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
präjudizieren.<br />
Vorwort<br />
Die assistierte Reproduktion bei Störungen<br />
der Fertilität ist heute ein fester<br />
Best<strong>an</strong>dteil der Reproduktionsmedizin<br />
und hilft vielen Paaren, den dringenden<br />
Kinderwunsch zu erfüllen. Mit Hilfe zyto-<br />
und molekulargenetischer Methoden<br />
können im Rahmen der In-vitro-<br />
Fertilisation (IVF) schon in einer sehr<br />
frühen Phase der Entwicklung menschlichen<br />
Lebens Veränderungen (Mutationen)<br />
im Erbgut untersucht und erk<strong>an</strong>nt<br />
werden, die auch zu schweren<br />
körperlichen und geistigen Fehlbildungen<br />
führen (Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
englisch: preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis = PGD). Mit der IVF – ohne<br />
Vorliegen einer Fertilitätsstörung – als<br />
Voraussetzung für eine PGD stößt die<br />
Medizin in Grenzbereiche ärztlichen<br />
H<strong>an</strong>delns vor. Mit der PGD werden<br />
schwerwiegende und kontrovers diskutierte<br />
rechtliche und ethische Probleme<br />
aufgeworfen, die auf der ethischen Seite<br />
gekennzeichnet sind durch Sachverhalte,<br />
die schwierig mitein<strong>an</strong>der zu vereinbaren<br />
sind: Auf der einen Seite wird<br />
durch aktives ärztliches H<strong>an</strong>deln mit<br />
der IVF die Entwicklung menschlichen<br />
Lebens mit dem Ziel einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
eingeleitet, und auf der <strong>an</strong>deren<br />
Seite wird zugelassen, dass ein so gezeugter<br />
Embryo unter Umständen nicht<br />
in die Gebärmutter tr<strong>an</strong>sferiert wird<br />
und mit ihm nicht die Entstehung einer<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft <strong>an</strong>gestrebt wird (bedingte<br />
Zeugung). Die Frage, ob es sich<br />
dabei um eine Ausnahme vom Tötungsverbot<br />
h<strong>an</strong>delt, zum Beispiel vor dem<br />
Hintergrund eines abgestuften Schutzkonzepts,<br />
oder keine Tötung vorliegt,<br />
wird unterschiedlich be<strong>an</strong>twortet und<br />
bedarf noch einer abschließenden rechtlichen<br />
Diskussion und Würdigung.<br />
Die Bundesärztekammer hielt es vor<br />
diesem Hintergrund für geboten, durch<br />
ihren Wissenschaftlichen Beirat einen<br />
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur PGD erarbeiten zu lassen. Damit<br />
soll versucht werden, den ethischen<br />
Normen, den gesetzlichen Regelungen,<br />
dem St<strong>an</strong>d der Wissenschaft und der<br />
Diskussion auf dem Gebiet der PGD<br />
gleichermaßen gerecht zu werden.<br />
Die Bioethik-Kommission des L<strong>an</strong>des<br />
Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz hat in ihrem Bericht<br />
„Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – Thesen<br />
zu den medizinischen, rechtlichen und<br />
ethischen Problemstellungen“ 1 zu diesem<br />
Thema Stellung genommen und<br />
hält unter eng beschriebenen Voraussetzungen<br />
die PGD für zulässig. Dieser Bericht<br />
enthält eine ausführliche Darlegung<br />
der Problematik sowie ein umf<strong>an</strong>greiches<br />
Literaturverzeichnis.<br />
Die außer Frage stehende Schutzbedürftigkeit<br />
des ungeborenen Lebens setzt<br />
dem Umg<strong>an</strong>g mit <strong>Embryonen</strong> Schr<strong>an</strong>ken,<br />
die unter <strong>an</strong>derem gekennzeichnet<br />
sind durch das Verbot von Untersuchungen<br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> im Stadium der zellulären<br />
Totipotenz und das Verbot der<br />
„fremdnützigen“ Verwendung von <strong>Embryonen</strong>,<br />
also jeglicher verbrauchender<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung und -diagnostik.<br />
Das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz verbietet<br />
die PGD <strong>an</strong> totipotenten Zellen; dieser<br />
gesetzlichen Vorgabe wird im Richtlinienvorschlag<br />
gefolgt. Diese Beschränkung<br />
gilt unabhängig von einem möglicherweise<br />
sich verändernden Kenntnisst<strong>an</strong>d, ab<br />
w<strong>an</strong>n embryonale Zellen nicht mehr als<br />
totipotent einzustufen sind. Nach dem<br />
derzeitigen St<strong>an</strong>d der Wissenschaft gelten<br />
Zellen nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums<br />
als nicht mehr totipotent. Basierend<br />
auf dieser wissenschaftlichen Erkenntnis,<br />
dist<strong>an</strong>ziert sich der Richtlinienvorschlag<br />
unmissverständlich von allen<br />
Ged<strong>an</strong>ken,Vorstellungen und unter Um-<br />
1 Bericht der Bioethik-Kommission des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-<br />
Pfalz vom 20. 7. 1999: „Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik –<br />
Thesen zu den medizinischen, rechtlichen und ethischen<br />
Problemstellungen“. Ministerium der Justiz Rheinl<strong>an</strong>d-<br />
Pfalz<br />
5
D O K U M E N T A T I O N<br />
ständen Absichten zur Erzeugung von<br />
Menschen durch jede Art von Klonierung,<br />
auch solche aus totipotenten embryonalen<br />
Zellen.<br />
Die Indikation für eine PGD ist<br />
insbesondere im Hinblick auf die sich<br />
daraus ergebenden Konsequenzen äußerst<br />
eng zu stellen und bedarf einer<br />
sorgfältigen Güterabwägung, bei<br />
der das grundsätzliche Primat des<br />
Schutzes ungeborenen Lebens, der<br />
Schweregrad, die Prognose und die<br />
Therapiemöglichkeiten der infrage stehenden<br />
Erkr<strong>an</strong>kung und die gesundheitliche<br />
Gefährdung der zukünftigen<br />
Schw<strong>an</strong>geren oder Mutter berücksichtigt<br />
werden müssen. Dies beinhaltet<br />
auch, dass die Indikation für eine PGD<br />
deutlich enger zu stellen ist als für eine<br />
Pränataldiagnostik. Die PGD k<strong>an</strong>n allerdings<br />
im Einzelfall die spätere Pränataldiagnostik<br />
ersetzen und damit zu einer<br />
Konfliktreduzierung beitragen, weil<br />
sie Entscheidungen über einen eventuellen<br />
Abbruch einer fortgeschrittenen<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft vermeidet.<br />
Die Bundesärztekammer orientiert<br />
sich <strong>an</strong> einem Menschenbild, das<br />
nicht reduktionistisch auf der Summe<br />
genetischer Informationen beruht,<br />
sondern vielmehr von Respekt vor<br />
allen Menschen, einschließlich denen<br />
mit geistigen, seelischen und körperlichen<br />
Beeinträchtigungen, geprägt ist.<br />
Auch dies schlägt sich in der Forderung<br />
nach einem sehr restriktiven<br />
Einsatz der PGD nieder und begründet<br />
gleichzeitig eine deutliche Absage<br />
<strong>an</strong> jede Art eugenischer Selektion und<br />
Zielsetzung.<br />
Die derzeitige Praxis der IVF ist<br />
es, bis zu drei Eizellen zu befruchten.<br />
Bei gemäß den strengen Kriterien des<br />
Richtlinienvorschlags vorliegender Indikation<br />
für eine PGD ist es sinnvoll,<br />
alle drei <strong>Embryonen</strong> nach Abschluss<br />
des Acht-Zell-Stadiums der PGD zu<br />
unterziehen. Der Umg<strong>an</strong>g mit einem<br />
aus der PGD resultierenden pathologischen<br />
Befund fordert von allen Beteiligten,<br />
dem betroffenen Paar wie<br />
den beratenden und den beh<strong>an</strong>delnden<br />
Ärzten, eine große Fähigkeit und<br />
Bereitschaft zu hinreichend konfliktarmen<br />
Lösungen. Für diese gibt es keine<br />
allgemein gültigen Regeln, sondern<br />
nur ver<strong>an</strong>twortungsbewusste Einzelfallentscheidungen,<br />
die auf der Basis<br />
6<br />
umfassender Aufklärung und Beratung<br />
getroffen werden müssen.<br />
Die Entscheidung über den Tr<strong>an</strong>sfer<br />
eines jeden einzelnen Embryos in<br />
die Gebärmutter beruht in Würdigung<br />
des Lebensrechts des Kindes auf den<br />
einzelfallbezogenen Abwägungen der<br />
befürchteten gesundheitlichen Gefährdung<br />
der Frau und der zu erwartenden<br />
Erkr<strong>an</strong>kung des Kindes. Hierbei<br />
geht es ausschließlich um das Risiko<br />
einer schweren genetischen Erkr<strong>an</strong>kung,<br />
nicht um eine eugenisch orientierte<br />
Nachkommenspl<strong>an</strong>ung.<br />
Eine Hilfe für die <strong>an</strong> einer PGD<br />
beteiligten Ärzte, aber auch gleichzeitig<br />
ein Schutz vor Missbrauch der<br />
PGD sind die unabdingbare Forderung<br />
nach frühzeitiger Einschaltung<br />
einer bei der L<strong>an</strong>desärztekammer gebildeten<br />
Kommission sowie die Institutionalisierung<br />
einer ebenfalls im<br />
Einzelfall einzuschaltenden zentralen<br />
„Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
bei der Bundesärztekammer.<br />
Dies soll sicherstellen, dass in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
eine PGD nach einheitlichen<br />
Grundsätzen erfolgt und Fehlentwicklungen<br />
rechtzeitig erk<strong>an</strong>nt und<br />
abgestellt werden können.<br />
Mit Vorlage dieses Diskussionsentwurfes<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
strebt die Bundesärztekammer<br />
einen Diskurs mit den gesellschaftlichen<br />
Gruppen <strong>an</strong> und erhofft<br />
sich dabei einen offenen und sachlichen,<br />
gleichwohl kritischen Dialog. Sie<br />
hält eine Regelung für <strong>an</strong>gemessen, die<br />
einerseits die Möglichkeiten der modernen<br />
Diagnostik nicht unsachgemäß<br />
einengt, zum <strong>an</strong>deren aber auch das<br />
Schutzbedürfnis des menschlichen Lebens<br />
und die Achtung der Menschen<br />
ernst nimmt, die <strong>an</strong> der Furcht vor einem<br />
genetisch bedingt schwerstkr<strong>an</strong>ken<br />
Kind gesundheitlich zu zerbrechen<br />
drohen. Der Entwurf soll einen Beitrag<br />
zu dieser notwendigen Diskussion leisten<br />
und dazu dienen,eine sachgerechte<br />
Regelung herbeizuführen.<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
Präsident der Bundesärztekammer<br />
und des Deutschen Ärztetages<br />
Prof. Dr. med. Karl-Friedrich Sewing,<br />
Vorsitzender des Wissenschaftlichen<br />
Beirates der Bundesärztekammer<br />
1. Definition<br />
Unter Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (englisch:<br />
preimpl<strong>an</strong>tation genetic diagnosis<br />
= PGD) versteht m<strong>an</strong> die Diagnostik<br />
<strong>an</strong> einem Embryo in vitro vor dem<br />
intrauterinen Tr<strong>an</strong>sfer hinsichtlich der<br />
Veränderung des Erbmaterials, die zu<br />
einer schweren Erkr<strong>an</strong>kung führt.<br />
2. Indikationsgrundlage<br />
Die Indikation zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
k<strong>an</strong>n nur bei solchen Paaren<br />
gestellt werden, für deren Nachkommen<br />
ein hohes Risiko für eine bek<strong>an</strong>nte<br />
und schwerwiegende, genetisch bedingte<br />
Erkr<strong>an</strong>kung besteht.<br />
Bei einer PGD darf nur auf diejenige<br />
Veränderung des Erbmaterials untersucht<br />
werden, die zu der infrage stehenden<br />
schweren genetischen Erkr<strong>an</strong>kung<br />
führt, für die das Paar ein hohes genetisches<br />
Risiko hat. Von daher ist bei beiden<br />
Partnern eine kompetente molekulargenetische<br />
und/oder zytogenetische<br />
Untersuchung hinsichtlich des bei der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zu ermittelnden<br />
Erkr<strong>an</strong>kungsrisikos unabdingbare<br />
Voraussetzung.<br />
Der Anwendungsbereich der PGD<br />
liegt nach derzeitigem Kenntnisst<strong>an</strong>d<br />
bei monogen bedingten Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
und bei Chromosomenstörungen.<br />
Von entscheidender Bedeutung sind<br />
dabei der Schweregrad, die Therapiemöglichkeiten<br />
und die Prognose der infrage<br />
stehenden Kr<strong>an</strong>kheit. Ausschlaggebend<br />
ist, dass diese Erkr<strong>an</strong>kung zu<br />
einer schwerwiegenden gesundheitlichen<br />
Beeinträchtigung der zukünftigen<br />
Schw<strong>an</strong>geren beziehungsweise der<br />
Mutter führen könnte.<br />
Eugenische Ziele dürfen mit der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik nicht verfolgt<br />
werden.<br />
Keine Indikation für eine Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sind insbesondere die<br />
Geschlechtsbestimmung ohne Kr<strong>an</strong>kheitsbezug,<br />
das Alter der Eltern sowie<br />
eine Sterilitätstherapie durch assistierte<br />
Reproduktion. Auch spät m<strong>an</strong>ifestierende<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen gelten in der Regel<br />
nicht als Indikation.<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik erfordert<br />
eine assistierte Reproduktion.<br />
Sie ist damit eine zusätzliche Indikation
D O K U M E N T A T I O N<br />
für die assistierte Reproduktion (Vergleiche:<br />
Richtlinien zur Durchführung<br />
der assistierten Reproduktion, Dt Ärztebl<br />
1998; 95:A-3166–3171 [Heft 49]).<br />
3. Zulassungsbedingungen für<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
3.1. Berufsrechtliche Voraussetzungen<br />
Bei der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik h<strong>an</strong>delt<br />
es sich um ein spezielles medizinisches<br />
Verfahren, bei dem die Empfehlungen<br />
von § 13 Abs. 1 der (Muster-)Berufsordnung<br />
eingehalten werden müssen².<br />
Soweit in diesen Richtlinien nichts<br />
Abweichendes bestimmt ist, gelten die<br />
Richtlinien zur Durchführung der assistierten<br />
Reproduktion.<br />
Die beabsichtigte Durchführung der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik ist der Ärztekammer<br />
mit dem Nachweis <strong>an</strong>zuzeigen,<br />
dass die in diesen Richtlinien festgelegten<br />
berufsrechtlichen Anforderungen<br />
erfüllt sind. Änderungen der berufsrechtlichen<br />
Voraussetzungen sind der<br />
Ärztekammer unverzüglich <strong>an</strong>zuzeigen.<br />
Kein Arzt k<strong>an</strong>n gegen sein Gewissen<br />
verpflichtet werden, <strong>an</strong> einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
mitzuwirken.<br />
3.1.1. Antragsverfahren<br />
Der ver<strong>an</strong>twortliche Leiter des Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik-Vorhabens<br />
legt<br />
der bei der jeweiligen L<strong>an</strong>desärztekammer<br />
gebildeten Kommission den Antrag<br />
mit einem zusätzlichen Exemplar<br />
zur Weiterleitung <strong>an</strong> die „Kommission<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer<br />
vor.<br />
Der Antrag muss enthalten:<br />
❃ eine ausführliche, <strong>an</strong>onymisierte<br />
Fallbeschreibung,<br />
❃ die zugrunde liegende medizinische<br />
Indikation nach Beratung,<br />
❃ Erörterung der befürchteten<br />
schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung<br />
der Frau,<br />
❃ Darlegung der gepl<strong>an</strong>ten Vorgehensweise,<br />
² § 13 Abs. 1 MBO (1997): „Bei speziellen medizinischen<br />
Maßnahmen oder Verfahren, die ethische Probleme aufwerfen<br />
und zu denen die Ärztekammer Empfehlungen<br />
zur Indikationsstellung und zur Ausführung festgelegt<br />
hat, hat der Arzt die Empfehlungen zu beachten.“<br />
❃ eine Aussage zur ethischen und<br />
rechtlichen Vertretbarkeit.<br />
3.1.2. Bei der L<strong>an</strong>desärztekammer<br />
gebildete Kommission<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik k<strong>an</strong>n<br />
im Einzelfall erst d<strong>an</strong>n durchgeführt<br />
werden, nachdem zuvor ein zustimmendes<br />
Votum der bei der jeweiligen L<strong>an</strong>desärztekammer<br />
gebildeten Kommission<br />
eingeholt wurde. Von dieser Kommission<br />
sollen Vertreter der fallbezogenen<br />
Fachrichtungen hinzugezogen werden.<br />
Darüber hinaus soll sie vor Abgabe<br />
ihres Votums eine Stellungnahme der<br />
„Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
der Bundesärztekammer einholen<br />
und sich mit dieser in der Beurteilung<br />
des Antrages ausdrücklich ausein<strong>an</strong>der<br />
setzen.<br />
Die bei der L<strong>an</strong>desärztekammer gebildete<br />
Kommission teilt das Ergebnis<br />
der „Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
der Bundesärztekammer mit.<br />
3.1.3. „Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
der Bundesärztekammer<br />
Die „Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
wird als beratender Ausschuss<br />
der Bundesärztekammer eingerichtet.<br />
Die „Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
soll:<br />
❃ das Votum gegenüber der bei der<br />
L<strong>an</strong>desärztekammer gebildeten Kommission<br />
abgeben,<br />
❃ auf eine Vereinheitlichung der Begutachtungspraxis<br />
hinwirken,<br />
❃ die nationale und internationale<br />
Entwicklung beobachten und bewerten,<br />
❃ jährlich auf der Grundlage ihrer<br />
<strong>Dokumentation</strong> einen Bericht erstellen<br />
und veröffenlichen.<br />
In der „Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
sollen die Disziplinen<br />
Hum<strong>an</strong>genetik, Gynäkologie, Andrologie,<br />
Pädiatrie, Ethik und Recht vertreten<br />
sein. Psychosoziale Aspekte sollen<br />
berücksichtigt werden.<br />
3.2. Fachliche, personelle und<br />
technische Voraussetzungen<br />
Die Durchführung einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
muss Einrichtungen vorbehalten<br />
sein, in denen routinemäßig Invitro-Fertilisation<br />
gemäß den Richtlinien<br />
zur Durchführung der assistierten Reproduktion<br />
durchgeführt wird. Die Entnahme<br />
einer Blastomere setzt entsprechende<br />
Erfahrung des Durchführenden,<br />
zum Beispiel durch ICSI, voraus, die gewährleistet,<br />
dass einerseits eine diagnostisch<br />
verwertbare Blastomere gewonnen<br />
wird, <strong>an</strong>dererseits der Embryo durch<br />
den Eingriff nicht geschädigt wird. Hierfür<br />
sind umf<strong>an</strong>greiche tierexperimentelle<br />
Erfahrungen Voraussetzung.<br />
Insbesondere müssen die ver<strong>an</strong>twortlichen<br />
Mitarbeiter über folgende<br />
Kenntnisse und Erfahrungen verfügen:<br />
Alle Bereiche gemäß den Richtlinien<br />
zur Durchführung der assistierten Reproduktion<br />
müssen abgedeckt sein sowie<br />
zusätzlich:<br />
❃ Hum<strong>an</strong>genetik,<br />
❃ Molekulargenetik beziehungsweise<br />
Zytogenetik <strong>an</strong> Einzelzellen.<br />
Der Reproduktionsbiologe der Arbeitsgruppe<br />
muss über spezielle Kenntnisse<br />
verfügen im Bereich der<br />
❃ Einzelzellentnahme aus mehrzelligen<br />
<strong>Embryonen</strong>,<br />
❃ Verarbeitung von einzelnen Blastomeren<br />
zum Zweck der genetischen<br />
Diagnostik.<br />
Die Molekulargenetiker beziehungsweise<br />
Zytogenetiker, welche die genetische<br />
Diagnostik durchführen, müssen<br />
über entsprechende Erfahrungen in<br />
der speziellen zur Diagnostik <strong>an</strong>stehenden<br />
molekularen beziehungsweise zytogenetischen<br />
Aberration in der Pränatalmedizin<br />
und <strong>an</strong> Einzelzellen verfügen.<br />
3.2.1. Qualifikation des<br />
Arbeitsgruppenleiters<br />
Die Leitung der Arbeitsgruppe „Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
obliegt einem<br />
Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe,<br />
der spezialisiert ist in gynäkologischer<br />
Endokrinologie und Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
gemäß Weiterbildungsrecht<br />
der L<strong>an</strong>desärztekammern.<br />
Der in der Arbeitsgruppe tätige<br />
Facharzt für Hum<strong>an</strong>genetik ist für die<br />
Durchführung der molekular- und zytogenetischen<br />
Untersuchungen ver<strong>an</strong>twortlich.<br />
Die Zusatzbezeichnung Medizinische<br />
Genetik ist dieser Spezialisierung<br />
nicht gleichwertig.<br />
Dem Leiter der Arbeitsgruppe obliegt<br />
die ver<strong>an</strong>twortliche Überwachung<br />
7
D O K U M E N T A T I O N<br />
der in diesen Richtlinien festgeschriebenen<br />
Maßnahmen.<br />
3.2.2. Sachliche Voraussetzungen<br />
Neben den sachlichen Voraussetzungen<br />
gemäß den Richtlinien zur Durchführung<br />
der assistierten Reproduktion<br />
muss zusätzlich ein molekulargenetisches<br />
und zytogenetisches Labor als<br />
ständige Einrichtung verfügbar sein.<br />
4. Durchführungsbedingungen<br />
4.1. Aufklärung, Beratung<br />
und Einwilligung<br />
Voraussetzung für die Durchführung<br />
von PGD ist eine ausführliche Aufklärung<br />
und Beratung des Paares über<br />
das Verfahren, seine Vor- und Nachteile<br />
sowie mögliche Folgen der Methode.<br />
Dem Paar muss eine psychosoziale Beratung<br />
<strong>an</strong>geboten werden.<br />
Die Beratung und Aufklärung durch<br />
den Hum<strong>an</strong>genetiker und den Gynäkologen<br />
muss sich auf mögliche Alternativen<br />
erstrecken, wie zum Beispiel<br />
❃ Adoption oder Verzicht auf eigene<br />
Kinder,<br />
❃ im Falle einer Schw<strong>an</strong>gerschaft die<br />
Möglichkeit zur pränatalen Diagnostik<br />
der infrage kommenden genetisch bedingten<br />
Erkr<strong>an</strong>kung.<br />
Gegenst<strong>an</strong>d der Beratung und Aufklärung<br />
durch Gynäkologen und Hum<strong>an</strong>genetiker<br />
müssen darüber hinaus<br />
sein:<br />
❃ die bei der assistierten Reproduktion<br />
notwendigen Maßnahmen,<br />
❃ der Hinweis auf den zeitlichen<br />
Aufw<strong>an</strong>d des Verfahrens,<br />
❃ der Hinweis auf die Risiken der<br />
Methode (Operations- und Narkoserisiko,<br />
Überstimulationssyndrom, Mehrlingsschw<strong>an</strong>gerschaften),<br />
❃ die Erörterung der Erfolgsch<strong>an</strong>cen<br />
hinsichtlich einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
und der Geburt eines nicht von<br />
der infrage stehenden genetisch bedingten<br />
Erkr<strong>an</strong>kung betroffenen Kindes,<br />
❃ der Umg<strong>an</strong>g mit gegebenenfalls<br />
nicht tr<strong>an</strong>sferierten <strong>Embryonen</strong>.<br />
Es ist die schriftliche Einwilligung<br />
beider Partner für die Durchführung<br />
der PGD sowie deren grundsätzliche<br />
Einwilligung für den <strong>an</strong>schließenden<br />
8<br />
Tr<strong>an</strong>sfer erforderlich. Zur Absicherung<br />
des Ergebnisses der PGD sollte mit<br />
dem Paar auch die spätere Möglichkeit<br />
der pränatalen Diagnostik erörtert werden.<br />
Nach PGD ist in einem erneuten<br />
Aufklärungs- und Beratungsgespräch<br />
mit dem Paar zu klären, ob und gegebenenfalls<br />
welche der <strong>Embryonen</strong> tr<strong>an</strong>sferiert<br />
werden sollen; für den Tr<strong>an</strong>sfer<br />
ist die Einwilligung der Frau erforderlich.<br />
4.2. Gewinnung von Blastomeren und<br />
Tr<strong>an</strong>sfer von <strong>Embryonen</strong><br />
Totipotente Zellen, die im Sinne von § 8<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes als Embryo<br />
gelten, dürfen für die Diagnostik<br />
nicht verwendet werden. Die Entnahme<br />
von Blastomeren darf nur nach dem<br />
Acht-Zell-Stadium durchgeführt werden,<br />
da sie nach dem derzeitigen Kenntnisst<strong>an</strong>d<br />
d<strong>an</strong>n nicht mehr totipotent<br />
sind. Bei einer Entnahme im Rahmen<br />
einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik muss<br />
gewährleistet sein, dass die weitere Entwicklung<br />
des Embryos nicht beeinträchtigt<br />
wird.<br />
4.3. Nicht tr<strong>an</strong>sferierte <strong>Embryonen</strong><br />
<strong>Embryonen</strong>, die nicht tr<strong>an</strong>sferiert werden<br />
sollen, dürfen nicht kultiviert, kryokonserviert<br />
oder <strong>an</strong>derweitig verwendet<br />
werden.<br />
4.4. Verfahrens- und Qualitätskontrolle<br />
Jede Maßnahme der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ist dem Deutschen IVF-Register<br />
(DIR) zu melden. Es müssen die<br />
Anzahl untersuchter <strong>Embryonen</strong>, die<br />
Gesamtzahl der Blastomeren, die Anzahl<br />
der entnommenen Blastomeren<br />
sowie die jeweilige Diagnose des individuellen<br />
Embryos mitgeteilt werden.<br />
Jeder Tr<strong>an</strong>sfer und dessen Ergebnis<br />
ist mitzuteilen. Der Schw<strong>an</strong>gerschaftsverlauf<br />
ist detailliert zu dokumentieren.<br />
Die geborenen Kinder sind einem Pädiater<br />
vorzustellen. Im Falle einer Fehlgeburt<br />
sind die zur Klärung erforderlichen<br />
Untersuchungen durchzuführen.<br />
Das Deutsche IVF-Register informiert<br />
regelmäßig die „Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
der Bundesärztekammer.<br />
Literatur<br />
ESHRE PGD Consortium Steering Committee;<br />
ESHRE Preimpl<strong>an</strong>tation Genetic Diagnosis<br />
(PGD) Consortium: preliminary assessment<br />
of data from J<strong>an</strong>uary 1997 to September<br />
1998. Hum Reprod, 1999; 14: 3138–3148.<br />
H<strong>an</strong>dyside AH, Scriven PN, Ogilvie CM: The<br />
future of preimpl<strong>an</strong>tation genetic diagnosis.<br />
Hum Reprod, 1998; 13 (Suppl 4): 249–255.<br />
Kress H: Personwürde am Lebensbeginn: Gegenwärtige<br />
Problemstellungen im Umg<strong>an</strong>g mit<br />
<strong>Embryonen</strong>. Zeitschr Ev<strong>an</strong>gel Ethik, 1999; 43:<br />
36–53.<br />
Liebaers I, Sermon K, Staessen C, Joris H, Lissens<br />
W, V<strong>an</strong> Assche E, Nagy P, Bonduelle M,<br />
V<strong>an</strong>dervorst M,Devroey P,V<strong>an</strong> Steirteghem A:<br />
Clinical experience with preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis <strong>an</strong>d intracytoplasmic sperm injection.<br />
Hum Reprod, 1998; 13 (Suppl 1):<br />
186–195.<br />
Lissens W, Sermon K: Preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis: current status <strong>an</strong>d new developments.<br />
Hum Reprod, 1997; 12: 1756–1761.<br />
Ludwig M, Al-Has<strong>an</strong>i S, Diedrich K: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis (PGD).In:Weibliche Sterilität:Ursachen,<br />
Diagnostik und Therapie. (Ed.: K. Diedrich)<br />
Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg,<br />
New York, 1998;Vol. 1: 692–722.<br />
Weiterführende Literatur siehe unter<br />
Bioethik-Kommission des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-<br />
Pfalz (Hrsg.: Caesar P): Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
– Thesen zu den medizinischen, rechtlichen<br />
und ethischen Problemstellungen. Bericht<br />
vom 20. 6. 1999.<br />
Hepp H: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d nicht erlaubt – aber notwendig<br />
2000, im Druck.<br />
Mitglieder der Arbeitsgruppe<br />
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. H. M. Beier, Direktor<br />
des Instituts für Anatomie und Reproduktionsbiologie<br />
der Medizinischen Fakultät der<br />
Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule,Aachen<br />
Prof. Dr. med. K. Diedrich, Direktor der Klinik<br />
für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Medizinische<br />
Universität zu Lübeck<br />
Prof. Dr. med. W. Engel, Direktor des Instituts<br />
für Hum<strong>an</strong>genetik der Universität Göttingen<br />
Prof. Dr. med. H. Hepp, Direktor der Klinik<br />
und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe,<br />
Klinikum Großhadern, München<br />
(federführend)<br />
Prof. Dr. theol. M. Honecker,Abteilung für Sozialethik<br />
und systematische Theologie,<br />
Ev<strong>an</strong>gelisch-theologisches Seminar, Bonn<br />
Prof. Dr. med. E. Nieschlag, Direktor des Instituts<br />
für Reproduktionsmedizin, Zentrum für<br />
Frauenheilkunde, Westfälische Wilhelms-Universität,<br />
Münster<br />
Prof. Dr. jur. Dr. h. c. mult. H.-L. Schreiber, Direktor<br />
des Juristischen Seminars der Universität<br />
Göttingen<br />
Prof. Dr. med. K.-F. Sewing, Vorsitzender des<br />
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer,<br />
H<strong>an</strong>nover<br />
RA U.Wollersheim, Rechtsabteilung der Bundesärztekammer,<br />
Köln<br />
Dr. med. C. Woopen, Institut für Geschichte<br />
und Ethik der Medizin, Universität zu Köln,<br />
Institut für Wissenschaft und Ethik, Bonn<br />
Prof. Dr. med. H.-B.Wuermeling, em. Direktor<br />
des Instituts für Rechtsmedizin der Universität<br />
Erl<strong>an</strong>gen-Nürnberg<br />
Geschäftsführung: B. Heerklotz, Dezernat<br />
Wissenschaft und <strong>Forschung</strong>, Bundesärztekammer,<br />
Köln (bis 30. Juni 1999)<br />
Priv.-Doz. Dr. med. S. Winter, Dezernat Wissenschaft<br />
und <strong>Forschung</strong>, Bundesärztekammer,<br />
Köln
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 9, 3. März 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Am R<strong>an</strong>de<br />
der schiefen Bahn<br />
G<strong>an</strong>z restriktiv soll die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD = preimpl<strong>an</strong>tation<br />
genetic diagnosis) eingesetzt<br />
werden; nur wenigen Paaren<br />
mit hohem genetischem Risikofaktor<br />
soll sie zugute kommen, ein kompliziertes<br />
Genehmigungsverfahren ist allem<br />
vor<strong>an</strong>gestellt. So sieht es der Richtlinienentwurf<br />
des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesärztekammer vor,<br />
der vom BÄK-Vorst<strong>an</strong>d nach längerem<br />
Ringen als „Diskussionsentwurf“ für<br />
die öffentliche Diskussion freigegeben<br />
wurde.<br />
Bereits im Vorfeld kam es freilich zu<br />
gehörigen Missverständnissen. In der<br />
Presse war davon zu lesen, die Ärzteschaft<br />
gestatte nunmehr die PGD.Zu hoffen<br />
ist,dass ein Presseseminar der Bundesärztekammer,<br />
das wenige Tage nach Bek<strong>an</strong>ntwerden<br />
des Diskussionsentwurfes<br />
in Berlin stattf<strong>an</strong>d (dazu der Leitartikel),<br />
die Positionen wieder etwas zurechtgerückt<br />
hat. Die Bundesärztekammer<br />
und auch ihr Wissenschaftlicher Beirat<br />
sind nämlich keineswegs entschieden in<br />
Sachen PGD. Bei dem einen<br />
oder <strong>an</strong>deren Wissenschaftler<br />
´ Tabelle<br />
mag die Entscheidung vielleicht<br />
gefallen sein, nicht aber<br />
C ´<br />
bei den Ver<strong>an</strong>twortlichen für<br />
den Richtlinienentwurf. Die<br />
freilich haben durch die Form<br />
einer fix und fertig formulierten<br />
Richtlinie, die alsd<strong>an</strong>n<br />
zum Diskussionsentwurf erklärt<br />
wurde, einiges dazu beigetragen,<br />
dass ein falscher<br />
Eindruck entstehen konnte.<br />
Der wird jetzt hoffentlich korrigiert<br />
sein.<br />
PGD ist im Ausl<strong>an</strong>d, sofern<br />
hier die aufwendigen<br />
Belgien<br />
Niederl<strong>an</strong>de<br />
technischen Vorrichtungen<br />
gegeben sind, durchaus im<br />
Einsatz (siehe Tabelle). In<br />
Deutschl<strong>an</strong>d nicht, jedenfalls<br />
ist nichts bek<strong>an</strong>nt. Die<br />
Rechtslage spricht dagegen.<br />
PGD-Befürworter interpretieren die<br />
zwar zu ihren Gunsten, es gibt aber gewichtigere<br />
Argumente, wonach PGD in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten ist. Nicht umsonst<br />
suchen die mit der Methode befassten<br />
Kreise ja nunmehr mittels öffentlicher<br />
Diskussion und einer Richtlinie der<br />
Bundesärztekammer zu Rechtssicherheit<br />
zu kommen.Die wird es letzten Endes nur<br />
mit Hilfe des Gesetzgebers geben; der zögert<br />
– aus gutem Grund.<br />
Die Absichten der wohlwollenden<br />
Ärzte, die ihren Patientinnen und Patienten<br />
zu einem von Kr<strong>an</strong>kheit möglichst<br />
nicht belasteten Kind verhelfen<br />
wollen, sind glaubhaft. Doch wenn<br />
mit PGD die Grenze zur Selektion ungeborenen<br />
Lebens überschritten wird –<br />
und das wird sie, m<strong>an</strong> mag noch so verhüllende<br />
Bezeichnungen wählen –,<br />
d<strong>an</strong>n wird die Entwicklung von den<br />
wohlwollenden, wohlmeinenden Wissenschaftlern<br />
und Ärzten nicht mehr zu<br />
steuern sein. Mit PGD kommt, m<strong>an</strong> mag<br />
das bedauern oder insgeheim befürworten,<br />
die verbrauchende <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik im europäischen Vergleich<br />
PGD PGD Gesetz Gesetzeszulässig<br />
unzulässig vorhaben<br />
Großbrit<strong>an</strong>nien ja ja<br />
Dänemark ja ja<br />
Norwegen ja ja<br />
Schweden ja ja<br />
Italien ja ja<br />
Sp<strong>an</strong>ien ja ja<br />
Portugal ja ja<br />
Fr<strong>an</strong>kreich ja ja<br />
ja<br />
ja<br />
Griechenl<strong>an</strong>d ja<br />
Österreich ja ja<br />
Schweiz ja ja<br />
Deutschl<strong>an</strong>d fraglich ja<br />
Quelle: Vortrag Priv.-Doz. Dr. med. Stef<strong>an</strong> Winter modifiziert nach Simon 1999*<br />
<strong>Embryonen</strong>, etwa mit der Argumentation:<br />
Weshalb <strong>Embryonen</strong>, die sich als<br />
„defekt“ erwiesen haben, vernichten,<br />
können sie doch für weitergehende<br />
<strong>Forschung</strong> noch gute Dienste leisten.<br />
Mit PGD wird schließlich die schiefe<br />
Bahn zur Eugenik beschritten, wird zudem<br />
ein Tabu gebrochen, das nach den<br />
NS-Untaten errichtet wurde. Der Wissenschaftliche<br />
Beirat und die Bundesärztekammer<br />
erklären zwar ausdrücklich,<br />
sie hätten Eugenik nicht im Sinn;<br />
doch wenn <strong>Embryonen</strong> nach genetischen<br />
„Defekten“ untersucht und gegebenenfalls<br />
ausgesondert werden, d<strong>an</strong>n<br />
ist der Weg eingeschlagen. Und er wird<br />
immer breiter. M<strong>an</strong> wird erwarten dürfen,<br />
dass der Katalog von Kr<strong>an</strong>kheiten,<br />
die mit PGD diagnostiziert werden können,<br />
immer weiter ausgedehnt wird, allein<br />
schon weil die wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse wachsen. Aber auch, weil<br />
die Vorstellungen darüber, was „defekt“<br />
oder was „gesund“ ist, weit ausein<strong>an</strong>der<br />
gehen. Der Wissenschaftliche Beirat hat<br />
sich nicht getraut, und zwar aus guten<br />
Gründen, einen Indikationskatalog aufzustellen.<br />
Das heißt aber auch, dass m<strong>an</strong><br />
im Einzelfall demnächst unterschiedlich<br />
entscheiden wird, ob beispielsweise<br />
beim Down-Syndrom der Embryo verworfen<br />
werden k<strong>an</strong>n oder nicht. Und<br />
wer will eigentlich verhindern, dass nebenbei<br />
auch nach dem Geschlecht gesucht<br />
und entschieden wird<br />
Die Diskussion um PGD<br />
trifft in eine seit Jahren von philosophischer<br />
Seite <strong>an</strong>gestoßene<br />
Debatte über Selektion von Leben,<br />
erinnert sei etwa <strong>an</strong> Singer<br />
oder jüngst Birnbacher. Mit der<br />
Diskussion um PGD werden<br />
auch die Forderungen nach<br />
verbrauchender <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
wieder belebt werden,<br />
die seinerzeit zu den strengen<br />
Regelungen des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
führten. In<br />
der Diskussion um PGD in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d wird mit Sicherheit<br />
das Argument hochkommen, im<br />
Ausl<strong>an</strong>d sei das aber alles erlaubt.<br />
Folgt m<strong>an</strong> diesem Argument,<br />
d<strong>an</strong>n wird m<strong>an</strong> auf die<br />
Dauer mit dem ethischen Minimum<br />
nicht nur bei der Auswahl<br />
ungeborenen Lebens leben<br />
müssen.<br />
Norbert Jachertz<br />
9
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 9, 3. März 2000<br />
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der Bundesärztekammer<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
Auftakt des öffentlichen Diskurses<br />
Die Bundesärztekammer hat eine vorläufige Stellungnahme zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
vorgelegt. Kritiker werfen ihr vor, der Richtlinienentwurf verstoße gegen das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.<br />
Viele befürchten zudem, dass das Verfahren, gedacht für einige wenige, rasch<br />
zur Erzeugung von „Babys nach Maß“ bei vielen führt.<br />
Es soll in Deutschl<strong>an</strong>d keiner mehr<br />
sagen können,die Gesellschaft habe<br />
nicht gewusst, worum es geht.“<br />
Mit diesen Worten beendete Prof. Dr.<br />
med. Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer<br />
der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), seinen Vortrag während<br />
eines BÄK-Seminars zum Thema<br />
„Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ in der<br />
verg<strong>an</strong>genen Woche in Berlin. Zuvor<br />
hatte er begründet, warum die Ärzteschaft<br />
die gesellschaftliche Diskussion<br />
sucht: „Die Abwägung fundamentaler<br />
Lebenswerte wie Gesundheit, Menschenwürde,<br />
Daseinsrecht und <strong>Forschung</strong>sfreiheit<br />
k<strong>an</strong>n nicht allein<br />
durch den Rat von Einzelexperten<br />
gelöst werden.“<br />
Betroffen: Paare mit hohem<br />
genetischen Risiko<br />
10<br />
Worum geht es Die Bundesärztekammer<br />
hat vor wenigen Tagen ihren<br />
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
(PGD*) vorgelegt (siehe <strong>Dokumentation</strong><br />
in diesem Heft). Konzipiert hat ihn<br />
der Arbeitskreis „Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Kammer.An der Entscheidungsfindung<br />
waren Ärzte, Juristen, speziell<br />
mit Ethik befasste Wissenschaftler und<br />
Theologen beteiligt. Der katholische<br />
Theologe wolle „aus kirchenpolitischen<br />
Gründen“ nicht namentlich gen<strong>an</strong>nt<br />
werden, hieß es.<br />
Im Kern geht es bei dem Richtlinien-<br />
Entwurf um den Verfahrensablauf und<br />
die Voraussetzungen, unter denen Ärztinnen<br />
und Ärzte Paaren mit hohen genetischen<br />
Risikofaktoren zu einem gesunden<br />
Kind verhelfen dürfen. Im Ausl<strong>an</strong>d,<br />
wo die PGD teilweise zulässig ist,<br />
wird folgender Weg gewählt: Ein Paar,<br />
das die schwere genetische Schädigung<br />
eines Kindes aufgrund eigener hoher<br />
Risikofaktoren befürchtet, unterzieht<br />
sich einer künstlichen Befruchtung, obwohl<br />
keine Unfruchtbarkeit vorliegt.<br />
An dem im Reagenzglas gezeugten<br />
Embryo wird nach drei Tagen in einem<br />
Kulturmedium die Biopsie von einem<br />
oder zwei Blastomeren vorgenommen.<br />
Sie werden molekulargenetisch untersucht.<br />
Die Blastomere gilt nach dem<br />
Acht-Zell-Stadium nicht mehr als totipotente<br />
Zelle – ein vermeintliches Detail,<br />
das freilich für die Entscheidung<br />
bedeutsam ist, ob sich diese Diagnostik<br />
mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz vereinbaren<br />
lässt.<br />
Die ethische Diskussion umfasst im<br />
Kern den sich <strong>an</strong>schließenden Konflikt.<br />
Ist eine schwere genetische Schädigung<br />
nachzuweisen, wird der Embryo vermutlich<br />
nicht in die Gebärmutter eingesetzt.<br />
Schließlich will m<strong>an</strong> durch das gewählte<br />
diagnostische Verfahren die Geburt<br />
eines schwerstgeschädigten Kindes<br />
gerade verhindern.<br />
Doch es gibt weitere Fragen: Ist es<br />
ethisch zu rechtfertigen, auf die sehr<br />
frühe PGD zu verzichten, um d<strong>an</strong>n viel<br />
später einen Fetus abzutreiben, weil mit<br />
Hilfe der Pränataldiagnostik schwerste<br />
Behinderungen nachgewiesen wurden<br />
Ist es konsequent, frühestes Leben im<br />
Reagenzglas durch das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
kategorisch zu schützen<br />
und die PGD zu verbieten, diesen<br />
* PGD steht für „preimpl<strong>an</strong>tation genetic diagnosis“.Als<br />
Abkürzung wird auch <strong>PID</strong> verwendet.<br />
Schutz aber im Rahmen des § 218 StGB<br />
zu lockern Scheint es realistisch, dass<br />
m<strong>an</strong> ein Verfahren auf wenige Paare begrenzen<br />
k<strong>an</strong>n, oder werden immer<br />
mehr Eltern, Unternehmen, Staaten auf<br />
den Geschmack der frühen Auswahl<br />
kommen und sich über die Bedenken<br />
hinwegsetzen, die gegen Selektion und<br />
Eugenik bestehen<br />
PGD ja, aber<br />
in engen Grenzen<br />
Die Autoren der Richtlinie schlagen<br />
vor, die PGD in Deutschl<strong>an</strong>d zu erlauben,<br />
allerdings nur in sehr engen<br />
Grenzen. Jede Art eugenischer Selektion<br />
und Zielsetzung müsse vermieden<br />
werden. Der Anwendungsbereich<br />
liege derzeit bei monogen bedingten<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen und bei Chromosomenstörungen.<br />
Die Entscheidung soll<br />
stets im Einzelfall getroffen werden.<br />
Eine Liste von infrage kommenden<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten, bei denen die PGD <strong>an</strong>gewendet<br />
werden darf, enthält der Entwurf<br />
nicht. Um Ärztinnen und Ärzte<br />
bei ihrer Entscheidung zu unterstützen,<br />
aber auch, um Missbrauch zu verhindern,<br />
sollen zwei Kommissionen in<br />
die Abwägung einbezogen werden, eine<br />
auf Ebene der jeweiligen L<strong>an</strong>desärztekammer,<br />
eine bei der Bundesärztekammer.<br />
Reicht das aus Im Bundesministerium<br />
für Gesundheit ist m<strong>an</strong> skeptisch.<br />
Zwar wird der Richtlinien-Vorschlag<br />
als wertvoller Beitrag zur Diskussion<br />
gewertet. Doch am Anf<strong>an</strong>g hätte besser<br />
eine Regelung durch den Gesetzgeber<br />
gest<strong>an</strong>den als eine Richtlinie der Ärzte-
D O K U M E N T A T I O N<br />
schaft, heißt es. Was schwerer wiegt, ist<br />
die Einschätzung, dass die Bundesärztekammer<br />
mit ihrem Vorschlag gegen<br />
das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz verstößt<br />
(siehe Kasten). Im Ministerium bewerten<br />
es Fachleute schon als kritisch, dass<br />
ein Verfahren wie die künstliche Befruchtung,<br />
die für sterile Paare gedacht<br />
ist, ausgeweitet wird. Der eigentliche<br />
Verstoß gegen das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
wird aber darin gesehen, dass ein<br />
Embryo nicht gezeugt werde, um eine<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft herbeizuführen, sondern<br />
in Wirklichkeit erst einmal für diagnostische<br />
Zwecke – was verboten ist.<br />
Im Ministerium akzeptiert<br />
m<strong>an</strong> auch nicht den Einw<strong>an</strong>d<br />
von m<strong>an</strong>chen PGD-<br />
Befürwortern, es h<strong>an</strong>dele<br />
sich doch lediglich um eine<br />
vorgezogene Pränataldiagnostik<br />
(<strong>PND</strong>). Hier wird argumentiert,<br />
im Fall der <strong>PND</strong><br />
liege eine Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
bereits vor. Dabei h<strong>an</strong>dele es<br />
sich um eine Situation, in der<br />
sich der Embryo sowohl unter<br />
dem Schutz des Rechts<br />
wie dem Schutz der Frau befinde.<br />
Dem stehe auch § 218<br />
StGB nicht entgegen, denn<br />
eine Abtreibung sei rechtswidrig<br />
und nur unter bestimmten Bedingungen<br />
straffrei. Ein Embryo in<br />
vitro stehe dagegen nur unter dem<br />
Schutz des Rechts.<br />
Prof. Dr. med. Karl-Friedrich Sewing,<br />
der Vorsitzende des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesärztekammer,<br />
hat solchen Einwänden und<br />
dem Vorwurf von Selektion und Eugenik<br />
widersprochen. Das Ziel der<br />
In-vitro-Fertilisation mit Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sei zweifellos die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft, erklärte er in Berlin.<br />
Er verwies zudem auf § 218 StGB, der<br />
festlegt, dass „H<strong>an</strong>dlungen, deren Wirkung<br />
vor Abschluss der Einnistung des<br />
befruchteten Eis in der Gebärmutter<br />
eintritt, nicht als Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
im Sinne dieses Gesetzes“ gelten.<br />
Es sei schwierig zu verstehen, warum<br />
d<strong>an</strong>n die Unterlassung eines Tr<strong>an</strong>sfers<br />
eines in vitro gezeugten Embryos strafbar<br />
sein sollte.<br />
Auf die zahlreichen Konflikte ging<br />
Prof. Dr. med. Herm<strong>an</strong>n Hepp ein. Er<br />
ist Federführender des Arbeitskreises<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik und Direktor<br />
der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde<br />
und Geburtshilfe des<br />
Münchner Klinikums Großhadern.<br />
Hepp sprach das Thema „Selektion“ direkt<br />
<strong>an</strong>, als er die Unterschiede zwischen<br />
einer In-vitro-Fertilisation mit<br />
<strong>Embryonen</strong>tr<strong>an</strong>sfer und einer PGD erläuterte.<br />
Erstere sei ein Therapieverfahren,<br />
um einem ungewollt kinderlosen<br />
Paar zu einer Empfängnis und einer<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft zu verhelfen. Anders<br />
die PGD: Sie „hat zum Ziel, ein mit hohen<br />
Risikofaktoren belastetes Paar<br />
nach einer ,Zeugung auf Probe‘ und der<br />
Gesetz zum Schutz von <strong>Embryonen</strong><br />
§ 1 Abs. 1 Nr. 2: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder<br />
mit Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt, eine Eizelle<br />
zu einem <strong>an</strong>deren Zweck künstlich zu befruchten, als eine<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft der Frau herbeizuführen, von der die<br />
Eizelle stammt . . .“<br />
§ 2 Abs. 1: „Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer<br />
Frau vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter<br />
entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu<br />
einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt,<br />
erwirbt oder verwendet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu<br />
drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“<br />
Diagnostik...im Falle eines pathologischen<br />
Befundes durch Selektion, das<br />
heißt durch Sterbenlassen des in Warteposition<br />
stehenden Embryos, vor einem<br />
kr<strong>an</strong>ken Kind zu bewahren“. Dieses<br />
Verfahren wird inzwischen weltweit in<br />
29 Zentren erprobt, zehn davon liegen<br />
in den USA. Bisher nutzten rund 400<br />
Paare diese diagnostische Möglichkeit;<br />
die Zahl der nach PGD geborenen Kinder<br />
liege bei 100.<br />
Wie Sewing urteilte aber auch Hepp,<br />
dass der Richtlinien-Entwurf der BÄK<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mit<br />
dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz vereinbar<br />
ist. Denn er gibt vor, dass die Diagnostik<br />
nur <strong>an</strong> einer nicht mehr totipotenten<br />
Blastomere vorgenommen wird.<br />
Auch sei das Ziel eine Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
der Frau. Hepp schloss sich hier der<br />
Sicht jener Juristen <strong>an</strong>, die argumentieren,<br />
dass die „Verwerfung“ eines Embryos<br />
nicht Ziel der künstlichen Befruchtung<br />
beziehungsweise der PGD<br />
sei. Sie sei eher eine unerwünschte Nebenfolge<br />
oder ein Fehlschlag auf dem<br />
Weg zu einer gewünschten Schw<strong>an</strong>gerschaft.<br />
In der ausführlichen Diskussion<br />
während des Presseseminars der BÄK<br />
in Berlin ließ Hepp jedoch erkennen,<br />
dass er die vielfältigen Gefahren der<br />
PGD sieht. Durch ihre Erlaubnis könne<br />
m<strong>an</strong> in die Eugenik hineinschlittern.<br />
Deswegen habe sich der Wissenschaftliche<br />
Beirat beispielsweise dagegen entschieden,<br />
eine Liste von Kr<strong>an</strong>kheiten<br />
aufzustellen, bei deren Verdacht risikobehafteten<br />
Paaren der Einsatz der PGD<br />
ermöglicht werden soll. Durch den Verzicht<br />
entstünden aber ebenfalls Probleme<br />
– so könnte die Methode<br />
in der Praxis auf immer<br />
mehr Erkr<strong>an</strong>kungen ausgeweitet<br />
werden.<br />
Wie m<strong>an</strong> verhindern wolle,<br />
dass alle Paare, die eine<br />
künstliche Befruchtung vornehmen<br />
ließen, nach der<br />
PGD verl<strong>an</strong>gten, wurde gefragt.<br />
Wenn es nicht möglich<br />
sei, die Anwendung sehr eng<br />
zu begrenzen, d<strong>an</strong>n sei er<br />
eher für ein Verbot dieses<br />
Verfahrens, stellte Hepp klar.<br />
Er gab jedoch zu bedenken,<br />
dass es schon heute Ansätze<br />
zu Selektion gebe: Paare nutzen<br />
offenbar die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik<br />
zu „Schw<strong>an</strong>gerschaften<br />
auf Probe“. Nach Einschätzung Hepps<br />
ist dies rechtlich möglich, wenn auch<br />
ethisch bedenklich. In der Gesellschaft<br />
sei das Bewusstsein über solche Möglichkeiten<br />
gewachsen, bis hin zum Anspruch<br />
auf ein unbehindertes Kind. Und<br />
die Rolle der Ärzte „Es gibt kein<br />
schuldfreies Arztsein, weder bei der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik noch bei der<br />
Pränataldiagnostik.“ Sabine Rieser<br />
11
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 10, 10. März 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Plädoyer für eine unvoreingenommene,<br />
offene Debatte<br />
Die Bundesärztekammer hat, erarbeitet durch ihren Wissenschaftlichen Beirat, einen<br />
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ vorgelegt; er wurde<br />
in Heft 9/2000 veröffentlicht. Die Verfasserin nimmt zu den damit <strong>an</strong>gesprochenen ethischen<br />
Fragen der medizinischen <strong>Forschung</strong> und ihrer möglichen Anwendung aus Sicht des<br />
Bundesgesundheitsministeriums Stellung.<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (preimpl<strong>an</strong>tation<br />
genetic diagnosis =<br />
PGD) steht im Widerspruch zum<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz, wonach eine<br />
Eizelle nur zum Zweck der Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft bei<br />
der Frau, von der die Eizelle stammt,<br />
künstlich befruchtet werden darf; ein<br />
Embryo darf auch nur zu diesem Zweck<br />
extrakorporal weiterentwickelt werden;<br />
ein extrakorporal erzeugter Embryo<br />
darf zu keinem <strong>an</strong>deren Zweck als<br />
zu seiner Erhaltung verwendet werden,<br />
siehe § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1 und 2<br />
ESchG. Ziel der Regelung der künstlichen<br />
Befruchtung im <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
ist die Beh<strong>an</strong>dlung von<br />
Fertilitätsstörungen, also die Erfüllung<br />
des Kinderwunsches einer Frau oder eines<br />
Paares.<br />
Grundrechtschutz kommt<br />
bereits dem Embryo zu<br />
12<br />
Bei der PGD wird die Eizelle aber<br />
zunächst nur zu diagnostischen Zwecken<br />
künstlich befruchtet. Stellt sich dabei<br />
heraus, dass der Embryo mit der vermuteten<br />
genetischen Erkr<strong>an</strong>kung belastet<br />
ist, wird er verworfen. Die künstliche<br />
Befruchtung verlässt hier also den<br />
Rahmen des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes.<br />
Die Indikation für eine fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizinische<br />
Maßnahme wird<br />
ausgeweitet. <strong>Embryonen</strong> werden künstlich<br />
erzeugt, ohne dass Fertilitätsstörungen<br />
bei der Frau oder dem Paar<br />
vorliegen, um bereits vor Beginn der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft eine genetische Untersuchung<br />
der extrakorporal vorliegenden<br />
<strong>Embryonen</strong> zu ermöglichen<br />
und eine Auswahl im Hinblick auf eine<br />
genetische Erkr<strong>an</strong>kung des zukünftigen<br />
Kindes treffen zu können.<br />
Teilweise wird die PGD bereits jetzt<br />
als – in engen Grenzen – nicht durch das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz verboten <strong>an</strong>gesehen,<br />
weil auch bei der PGD der Gesamtvorg<strong>an</strong>g<br />
letztlich die Erfüllung des<br />
Wunsches nach einem – gesunden –<br />
Kind zum Ziel habe und dies nur unter<br />
der Voraussetzung geschehe, dass dabei<br />
keine totipotenten Zellen, also solche,<br />
aus denen noch ein g<strong>an</strong>zer Mensch entstehen<br />
k<strong>an</strong>n, betroffen werden. Aber<br />
auch bei dieser Haltung ist zu berücksichtigen,<br />
dass nach der Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichtes<br />
der Gesetzgeber verpflichtet ist, in<br />
grundlegenden gesellschaftlichen Fragen,<br />
zumal im Bereich der Grundrechtsberührung,alle<br />
wesentlichen Entscheidungen<br />
selbst – durch Gesetz – zu<br />
treffen. Menschenwürde und Grundrechtsschutz<br />
kommen bereits dem ungeborenen<br />
menschlichen Leben von<br />
Anbeginn seiner Existenz <strong>an</strong> zu, und<br />
damit auch dem Embryo. Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
bedarf wegen ihrer<br />
grundlegenden ethischen Bedeutung<br />
und schwerwiegenden gesellschaftlichen<br />
Folgen vor ihrer Einführung<br />
eines Grundkonsenses in der<br />
Gesellschaft und damit einer Regelung<br />
durch den Gesetzgeber.<br />
Auch wenn die BÄK ihren Entwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
als Diskussionsentwurf<br />
vorlegt, halte ich es unter der vorstehend<br />
beschriebenen Ausg<strong>an</strong>gslage für<br />
nicht unproblematisch, dass der Diskussionsentwurf<br />
zum jetzigen Zeitpunkt<br />
vorgelegt wird, zumal es im Vorwort<br />
zum Entwurf heißt, dass mit dem<br />
Entwurf versucht werden soll, unter <strong>an</strong>derem<br />
den gesetzlichen Regelungen auf<br />
dem Gebiet der PGD gerecht zu werden.<br />
Damit entsteht der Eindruck einer<br />
einseitigen Interpretation des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
und einer bereits<br />
festgelegten Position zur PGD, bevor<br />
die öffentliche Diskussion hierzu begonnen<br />
hat. Auch wird die PGD in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d aus den vorerwähnten<br />
rechtlichen Gründen nicht praktiziert,<br />
sodass Eile nicht geboten ist.<br />
Auch die Bioethik-Kommission des<br />
L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz, auf die der<br />
Diskussionsentwurf in seinem Vorwort<br />
Bezug nimmt, hat in ihren Thesen zu<br />
den medizinischen, rechtlichen und<br />
ethischen Problemstellungen der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
wegen der<br />
grundlegenden Bedeutung der PGD<br />
ebenfalls eine rechtliche Regelung der<br />
Voraussetzungen für die Zulässigkeit<br />
der PGD gefordert.<br />
International sind die Regelungen zur<br />
PGD unterschiedlich. Im nahen Ausl<strong>an</strong>d<br />
ist die PGD zum Teil zugelassen, wie zum<br />
Beispiel in Belgien und Großbrit<strong>an</strong>nien.<br />
Für die Erhaltung oder Festlegung von<br />
ethischen und rechtlichen Prinzipien<br />
k<strong>an</strong>n dies jedoch nicht entscheidend sein.<br />
Denn der Staat, der für das Wohl seiner<br />
Bürgerinnen und Bürger und die Beachtung<br />
der Grundrechte ver<strong>an</strong>twortlich ist,<br />
k<strong>an</strong>n sich nicht mit Blick auf das Ausl<strong>an</strong>d<br />
seiner eigenen Ver<strong>an</strong>twortung entziehen.<br />
Er muss in den grundlegenden Fragen<br />
eine eigene innerstaatlich begründete<br />
Entscheidung treffen.
D O K U M E N T A T I O N<br />
Begründet wird die PGD damit, dass<br />
auf diese Weise der Frau eine spätere<br />
Abtreibung nach Pränataldiagnostik<br />
erspart werden könne. Aber so verständlich<br />
der Wunsch von Eltern ist, ein<br />
gesundes Kind zur Welt zu bringen, und<br />
das Bestreben der Ärzte, Eltern dabei<br />
zu helfen – so muss m<strong>an</strong> doch auch sehen,<br />
dass mit dem Verwerfen eines genetisch<br />
belasteten Embryos ein Mensch<br />
im frühen Stadium seiner Entwicklung<br />
vernichtet wird. Ein genetisch kr<strong>an</strong>ker<br />
Embryo wird geopfert, um einem unbelasteten<br />
Embryo zum Leben zu verhelfen.<br />
Menschen beispielsweise mit Mukoviszidose,<br />
die ein lebenswertes Leben<br />
führen, verurteilen diese Methode zu<br />
Recht.<br />
Gefahr einer<br />
„Erwartungshaltung für<br />
gesunde Kinder“<br />
Das Recht auf Leben eines behinderten<br />
Menschen gerät in Gefahr, wenn<br />
m<strong>an</strong> im Zusammenh<strong>an</strong>g mit der PGD<br />
eine Auswahl zugunsten des nicht behinderten<br />
Lebens vornimmt. Es besteht<br />
die Gefahr, dass in der Gesellschaft<br />
eine Erwartungshaltung für gesunde<br />
Kinder entsteht und es Eltern<br />
schwer gemacht wird, sich für ein behindertes<br />
Kind zu entscheiden. Der oft<br />
ins Feld geführte Einw<strong>an</strong>d, die PGD<br />
als vorgezogene Pränataldiagnostik zu<br />
bewerten, ist zu hinterfragen. Auch bei<br />
durchgeführter PGD bleibt wegen der<br />
hohen Fehlerquote eine Pränataldiagnostik<br />
erforderlich. Vor allem aber<br />
sind beide Situationen nicht mitein<strong>an</strong>der<br />
vergleichbar.<br />
Gesetzentwurf zur<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
Die Schw<strong>an</strong>gerschaft ist eine einzigartige<br />
Situation, die unvergleichbar mit <strong>an</strong>deren<br />
Situationen ist und die durch die<br />
körperliche Verbindung von Embryo<br />
und Frau gekennzeichnet ist. Der Fetus,<br />
Embryo in vivo, ist ohne die Frau nicht<br />
lebens- und entwicklungsfähig. Die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft hat für die Frau weitreichende<br />
Konsequenzen. Daher wird<br />
die – gesetzlich verbotene – Abtreibung<br />
unter bestimmten Bedingungen nicht<br />
bestraft. Hieraus können keine Rechtfertigungsgründe<br />
für <strong>an</strong>dere, nicht vergleichbare<br />
Situationen abgeleitet werden.<br />
Der Embryo in vivo steht unter<br />
dem realen Schutz der Frau, der Embryo<br />
in vitro auf dem Labortisch steht<br />
nur unter dem rechtlichen Schutz und<br />
ist daher darauf besonders <strong>an</strong>gewiesen.<br />
Daher ist auch eine parallele Regelung<br />
der Voraussetzungen von PGD und<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch hinsichtlich<br />
gesundheitlicher Beeinträchtigungen<br />
der zukünftigen Schw<strong>an</strong>geren beziehungsweise<br />
der wirklich Schw<strong>an</strong>geren,<br />
wie dies in dem Diskussionsentwurf<br />
vorgenommen wird, fragwürdig.<br />
Seit 1994 hat der Bundesgesetzgeber<br />
die Gesetzgebungskompetenz für die<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin. In den letzten<br />
Jahren haben das Bundesministerium<br />
für Gesundheit, <strong>an</strong>dere Bundesministerien<br />
und die Länder in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe<br />
bereits Vorarbeiten<br />
für ein solches Gesetz geleistet. Diese<br />
Arbeitsgruppe endete 1998 mit dem<br />
Diskussionsergebnis, am Verbot der<br />
PGD festzuhalten. Die Konferenz der<br />
Gesundheitsminister der Länder hat im<br />
Juni 1999 die Bundesregierung aufgefordert,<br />
ein Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
vorzulegen und darin neben <strong>an</strong>deren<br />
rechtlich nicht geklärten Fragen der<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin auch die Frage<br />
der PGD zu klären.<br />
Das Bundesministerium für Gesundheit<br />
als federführendes Ressort<br />
beabsichtigt, einen solchen Gesetzentwurf<br />
vorzulegen. In Anbetracht der<br />
grundlegenden ethischen Fragen und<br />
schwerwiegenden gesellschaftlichen<br />
Folgen, die mit einem solchen Gesetz<br />
berührt werden, ist es aber unerlässlich,<br />
dass vor der Entscheidung über<br />
die Regelungen eines solchen Gesetzentwurfes<br />
eine intensive und offene<br />
gesellschaftliche Diskussion über alle<br />
wichtigen Fragen stattfindet. Das Bundesministerium<br />
für Gesundheit wird<br />
daher vom 24. bis 26. Mai 2000 in Berlin<br />
ein Symposium zu den aktuellen<br />
medizinischen, ethischen, rechtlichen<br />
und gesellschaftlichen Fragen der<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin und den damit<br />
in Zusammenh<strong>an</strong>g stehenden Fragen<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzes, auch zur<br />
PGD, durchführen. Auf der für die Öffentlichkeit<br />
zugänglichen Ver<strong>an</strong>staltung<br />
mit Fachreferaten, Podiums- und<br />
Plenumsdiskussionen soll der derzeitige<br />
Meinungsst<strong>an</strong>d der medizinischen<br />
Wissenschaft und Praxis, der <strong>Forschung</strong>,<br />
Ethik, Rechts- und Sozialwissenschaften<br />
zum Thema dargestellt<br />
und kontrovers diskutiert werden.<br />
Endgültige Position erst<br />
nach breiter Diskussion<br />
Die durch den Entwurf einer Richtlinie<br />
zur PGD ausgelöste Diskussion in der<br />
Ärzteschaft wird mit Sicherheit neben<br />
den von mir vorgebrachten Gesichtspunkten<br />
noch <strong>an</strong>dere hinzufügen. Und<br />
auch von den <strong>an</strong>deren Professionen<br />
und der Öffentlichkeit müssen deren<br />
Sachverst<strong>an</strong>d und Überzeugungen in<br />
die Debatte eingebracht werden.<br />
Ich halte es für wünschenswert, dass<br />
die Ärzteschaft ihre endgültige Position<br />
erst nach einer solchen breiten und offen<br />
geführten Diskussion festlegt.<br />
Ulrike Riedel<br />
Leiterin der Abteilung<br />
Gesundheitsvorsorge und Kr<strong>an</strong>kheitsbekämpfung<br />
Bundesministerium für Gesundheit<br />
Am Probsthof 78 a, 53108 Bonn<br />
E-Mail: Riedel@bmg.bund.de<br />
13
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 14, 7. April 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Mensch von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong><br />
Stellungnahme des Erzbischofs von Köln zum Diskussionsentwurf<br />
der Bundesärztekammer zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Heft 16, 21. April 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Kein Blick<br />
aufs G<strong>an</strong>ze<br />
Dem im Deutschen Ärzteblatt (Heft<br />
9/2000) veröffentlichten „Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie der<br />
Bundesärztekammer zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
(preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis; PGD) muss aus katholischer<br />
Sicht entschieden widersprochen werden.<br />
Die Kirche respektiert die Eigenständigkeit<br />
der medizinischen Wissenschaft,<br />
und sie be<strong>an</strong>sprucht ausdrücklich<br />
nicht, der ärztlichen Selbstverwaltung in<br />
ihre eigenen Angelegenheiten hineinzureden.<br />
Der gen<strong>an</strong>nte Text betrifft aber<br />
Grundlagen unserer Werteordnung, und<br />
es darf nicht verschwiegen werden, dass<br />
er dabei eindeutig eine unaufgebbare<br />
moralische Grenze überschreitet. Obwohl<br />
dies gewiss nicht beabsichtigt ist,<br />
stellt er im Ergebnis eine Aufforderung<br />
zur Verletzung der Würde des Menschen<br />
dar, indem er ärztliche Hilfe zur Identifizierung<br />
und <strong>an</strong>schließenden Tötung <strong>an</strong>geblich<br />
lebensunwerten (wenn auch dieser<br />
Begriff im Diskussionsentwurf nicht<br />
fällt) menschlichen Lebens <strong>an</strong>bietet, sodass<br />
nur Kinder ohne befürchtete Schädigung<br />
die Ch<strong>an</strong>ce auf ein weiteres Leben<br />
haben.<br />
Die Bezugnahme der Bundesärztekammer<br />
auf „sorgfältige Güterabwägung“,<br />
„Einzelfallentscheidung“, „umfassende<br />
Aufklärung und Beratung“,<br />
„äußerst restriktive“ Zulassungskriterien,<br />
„Würdigung des Lebensrechts des<br />
Kindes“ k<strong>an</strong>n nicht darüber hinwegtäuschen,<br />
dass selbstverständlich kein unschuldiger<br />
und hilfloser Mensch nach<br />
„sorgfältiger Güterabwägung“, „Einzelfallentscheidung“,<br />
„umfassender Aufklärung<br />
und Beratung“, bei „äußerst restriktiven“<br />
Zulassungskriterien und unter<br />
„Würdigung seines Lebensrechts“<br />
getötet werden darf.<br />
Der Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer<br />
widerspricht im Übrigen<br />
der Rechtsordnung der Bundesrepublik<br />
Deutschl<strong>an</strong>d und dem von der<br />
gleichen Bundesärztekammer 1996 veröffentlichten<br />
ärztlichen Gelöbnis, das<br />
den Arzt „jedem Menschenleben von<br />
der Empfängnis <strong>an</strong> (!) Ehrfurcht“ entgegenzubringen<br />
verpflichtet.<br />
Als katholischer Bischof habe ich mit<br />
großem Respekt die intensiven Bemühungen<br />
sensibler Teile der deutschen<br />
Ärzteschaft beobachten können,<br />
die traurige Geschichte der Mitwirkung<br />
von Ärzten <strong>an</strong> der „Verhütung erbkr<strong>an</strong>ken<br />
Nachwuchses“ aufzuarbeiten. Dabei<br />
erlebten es diese Ärzte als besonders<br />
erschütternd, dass die verhängnisvollen<br />
Ideen und praktischen Vorschläge<br />
damals von ärztlichen Kollegen ausgingen<br />
und von einer menschenverachtenden<br />
Politik erst später aufgegriffen<br />
und umgesetzt wurden. Was der jetzige<br />
Richtlinienentwurf der deutschen Bundesärztekammer<br />
beschreibt und offensichtlich<br />
ermöglichen will, ist recht<br />
besehen nichts <strong>an</strong>deres als ein erneuter<br />
Versuch der „Verhütung erbkr<strong>an</strong>ken<br />
Nachwuchses“ mit den technischen<br />
Mitteln des 21. Jahrhunderts. Ich bin daher<br />
gewiss, dass aus der Mitte der deutschen<br />
Ärzteschaft selbst solchen Entwicklungen<br />
entschieden widerst<strong>an</strong>den<br />
wird. Die Christen in diesem L<strong>an</strong>de<br />
werden das nach Kräften unterstützen.<br />
Leider gibt der von der Bundesärztekammer<br />
zur Diskussion gestellte Text<br />
einer weitverbreiteten dumpfen Mentalität<br />
nach, für die lebenswert vor allem<br />
das gesunde, nicht behinderte und kräftige<br />
Leben ist. Was den Anf<strong>an</strong>g des<br />
menschlichen Lebens betrifft, sinkt bei<br />
uns die öffentliche Empörung über die<br />
Tötung menschlichen Lebens tendenziell,<br />
je hilfloser ein Mensch ist, das heißt,<br />
je näher der Zeitpunkt der Tötung <strong>an</strong><br />
den Lebensbeginn rückt: von der Tötung<br />
geborener Kinder über Spätabtreibungen<br />
bis zu Frühabtreibungen. Christen,<br />
die <strong>an</strong> einen Gott glauben, der den<br />
Schwachen und Hilflosen besonders nahe<br />
ist, sind umgekehrt aufgerufen, sich<br />
gerade um die Schwächsten der Schwa-<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – Ärzte als Wegbereiter<br />
der <strong>Embryonen</strong>selektion Unter dieser Überschrift<br />
lud die Ärztekammer Berlin Mitte April zu einem<br />
Symposium ein. Es war gedacht als Kontrapunkt<br />
zu einer Ver-<strong>an</strong>staltung der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), bei der diese ihren Diskussionsentwurf<br />
zu einer PGD-Richtlinie vorgestellt hatte. Die<br />
BÄK schlägt vor, die PGD (= preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis) in sehr engen Grenzen zu erlauben.<br />
Die Berliner Kammer hingegen hatte <strong>an</strong>geregt,<br />
über das „Ob“ der PGD nachzudenken, bevor m<strong>an</strong><br />
Überlegungen zum „Wie“ <strong>an</strong>stelle.<br />
Trotz der kritischen Einladungsworte waren<br />
Befürworter der Methode zum Vortrag eingeladen.<br />
Zudem äußerten sich ihre Verfechter unter<br />
den Zuhörern. Sie alle argumentieren auf zwei<br />
Ebenen: Eine Gesellschaft, die den § 218 StGB toleriere<br />
und die pränatale Diagnostik, könne die<br />
PGD im Grunde nicht mehr ablehnen. Als zweites<br />
Argument dienen drastische Einzelfallschilderungen.<br />
Wer so argumentiert, der wolle die PGD immer<br />
nur mit Blick auf eine einzelnes Paar sehen. Sie habe<br />
darüber hinaus aber eine gesellschaftliche Dimension,<br />
w<strong>an</strong>dte Prof. Dr. rer. nat. Regine Kollek<br />
ein, Vorsitzende des Ethikbeirats des Bundesgesundheitsministeriums.<br />
Diese Kritik ist zutreffend.<br />
PGD bedeutet für eine Gesellschaft Selektion,<br />
und seien die Gründe noch so wohl überlegt und die<br />
Anwendung auf Einzelfälle beschränkt. Die Befürworter<br />
dieser Methode leugnen das letztlich nicht,<br />
zögern dieses Eingeständnis aber gern hinaus, indem<br />
sie entsprechende Begriffe aussparen oder etwas<br />
beleidigt <strong>an</strong>merken, m<strong>an</strong> höre sie nicht gern.<br />
Zur gesellschaftlichen Dimension gehört zudem,<br />
dass die Begrenzung der PGD ein Wunsch bleiben<br />
wird. Ihr Einsatz wird zunehmen, und ihre Möglichkeiten<br />
werden rasch, ähnlich wie die der Pränataldiagnostik,viele<br />
Frauen mit Kinderwunsch beeinflussen.<br />
Jede schw<strong>an</strong>gere Frau sei besorgt, suggerierte<br />
ein Arzt während des Symposiums und begründete<br />
so indirekt, warum entsprechende Untersuchungsund<br />
Kontrollmöglichkeiten positiv zu bewerten sind.<br />
Wie schön,wenn m<strong>an</strong> heute noch glauben k<strong>an</strong>n,das<br />
Besorgtsein habe allein mit der naturgegebenen Befindlichkeit<br />
von Schw<strong>an</strong>geren zu tun – und nichts<br />
mit dem Angebot von Ärzten oder der Erwartungshaltung<br />
einer Gesellschaft. Sabine Rieser<br />
14
D O K U M E N T A T I O N<br />
chen besonders zu sorgen. Das menschliche<br />
Leben im Reagenzglas ist nicht geschützt<br />
durch die spont<strong>an</strong>e emotionale<br />
Tötungshemmung, die ein Kindergesicht<br />
auslöst. Dennoch belehrt uns gerade<br />
die moderne Medizin, dass es<br />
„Mensch von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>“ ist. So hilflos<br />
und ausgeliefert es ist, bedarf es unseres<br />
besonderen Schutzes.<br />
Hier zeigt sich im Übrigen, dass die<br />
auf den ersten Blick bisweilen schwer<br />
verständliche kirchliche Ablehnung der<br />
künstlichen Befruchtung sehr ernste<br />
Gründe hat. Die Kirche sieht die Entstehung<br />
menschlichen Lebens in der<br />
g<strong>an</strong>zheitlichen Geborgenheit der ehelichen<br />
Liebe beheimatet. Der technische<br />
Eingriff, so nachvollziehbar die Motive<br />
auch sein mögen, macht dagegen den<br />
gezeugten Menschen zum m<strong>an</strong>ipulierbaren<br />
Objekt. Grenzen der M<strong>an</strong>ipulation<br />
sind bei fortschreitender Technik,<br />
wie wir bei den attraktiven Möglichkeiten<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsidagnostik sehen<br />
können, kaum mehr plausibel zu<br />
machen.Auch die von wichtigen Vertretern<br />
der Ärzteschaft kritisierte Tatsache,<br />
dass in Deutschl<strong>an</strong>d die Feststellung<br />
einer Behinderung de facto eine<br />
legale Abtreibung bis zur Geburt ermöglicht,<br />
führt nun zu der menschenverachtenden,<br />
allerdings scheinbar logischen<br />
Frage, warum m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n nicht<br />
schon früher töten dürfe.Auf diese Weise<br />
wird deutlich, dass d<strong>an</strong>n, wenn bestimmte<br />
Grenzen überschritten werden,<br />
es kein Halten mehr gibt.<br />
Bedenklicher Vorg<strong>an</strong>g<br />
Bedenklich ist nicht,dass über derlei Fragen<br />
diskutiert wird, können doch solche<br />
Debatten die Öffentlichkeit besser informieren<br />
und alarmieren.Bedenklich ist allerdings,dass<br />
die offizielle Vertretung der<br />
deutschen Ärzteschaft, die Bundesärztekammer<br />
selbst, einen Text mit solch<br />
unerträglicher Aussage des von ihr selbst<br />
berufenen Wissenschaftlichen Beirats<br />
der Öffentlichkeit zur Diskussion empfiehlt.<br />
Ein derartiger Vorg<strong>an</strong>g ist im<br />
Übrigen eine deutliche Warnung, dass<br />
hochr<strong>an</strong>gig besetzte „Ethikkommissionen“,<br />
die auch in dem Papier vielfältig<br />
gefordert werden, keinesfalls Gar<strong>an</strong>ten<br />
für ethisch vertretbare Entscheidungen<br />
sind.<br />
Joachim Kardinal Meisner<br />
Heft 17, 28. April 2000<br />
DISKUSSION<br />
zu dem<br />
Diskussionsentwurf zu<br />
einer Richtlinie der<br />
Bundesärztekammer<br />
und den dazu<br />
erschienenen Berichten<br />
und Kommentaren<br />
Germ<strong>an</strong> disease<br />
Die Stellungnahme des BMG, das deutsche<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz verbiete<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, ist in<br />
dieser verkürzten Form schlicht falsch.<br />
Vielmehr haben maßgebliche Stimmen<br />
in der wissenschaftlichen Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
seit geraumer Zeit darauf hingewiesen,<br />
dass diese Aussage nur für<br />
das frühe Stadium bis zum Ende der<br />
Totipotenz gilt. Bemerkenswert ist im<br />
Übrigen, dass m<strong>an</strong> sich im BMG nicht<br />
einmal <strong>an</strong> die Position des früheren Leiters<br />
des Referats „Grundsatzfragen des<br />
Gesundheits- und Medizinrechts“ 1 erinnern<br />
k<strong>an</strong>n oder will, der sich der Thematik<br />
noch mit der gebotenen Differenziertheit<br />
genähert – und die <strong>PID</strong> mit gewissen<br />
Einschränkungen für zulässig<br />
gehalten hat.<br />
➀ Richtig ist allerdings, dass § 8<br />
Abs. 1 <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz (ESchG)<br />
die befruchtete, entwicklungsfähige<br />
menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der<br />
Kernverschmelzung <strong>an</strong> und jede einem<br />
Embryo entnommene totipotente Zelle,<br />
die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen<br />
weiteren Voraussetzungen zu teilen<br />
und zu einem Individuum zu entwickeln<br />
vermag, als Embryo im Sinne<br />
des Gesetzes definiert. D<strong>an</strong>ach ist es<br />
eindeutig unzulässig, eine totipotente<br />
Zelle einem Embryo zu entnehmen,<br />
<strong>an</strong> ihr die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
durchzuführen und von deren Ausg<strong>an</strong>g<br />
das weitere Schicksal des „Rest-Embryos“<br />
abhängig zu machen. Durch das<br />
Zerstören der noch totipotenten Zelle<br />
zu Diagnosezwecken würde § 2 Abs. 1<br />
ESchG verletzt, da die Diagnosemethode<br />
nicht dem Erhalt des Embryos dient.<br />
Um in der Systematik des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
zu verbleiben, wäre diese<br />
Art der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik die<br />
Klonierung eines Zwillings zur verbrauchenden<br />
Diagnostik. Diese noch im<br />
Diskussionsentwurf (§ 7) vorgesehene<br />
Möglichkeit ist zu Recht gestrichen worden,<br />
da <strong>an</strong>sonsten ein unlösbarer Normwiderspruch<br />
zu § 2 Abs. 2 Diskussionsentwurf<br />
aufgetreten wäre 2 .<br />
➁ Im Umkehrschluss untersagt das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz aber nicht die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik <strong>an</strong> bereits<br />
nicht mehr im Sinne von § 8 ESchG totipotenten<br />
Zellen des Trophoblasten 3 ,<br />
durch deren Verbrauch § 2 Abs. 1<br />
ESchG nicht mehr verletzt wird 4 . Die<br />
dagegen zum Teil früher vorgebrachten<br />
Bedenken 5 beruhen überwiegend auf<br />
der heute widerlegten Vermutung, die<br />
Kryokonservierung des Rest-Embryos<br />
sei mit hohen Lebensrisiken verbunden;<br />
außerdem sei zu befürchten, dass<br />
derartige Methoden Screening-Charakter<br />
bekämen. Letzteres ist aber nicht<br />
Gegenst<strong>an</strong>d des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes,<br />
sofern nicht die dort enthaltenen<br />
Tatbestände verletzt werden. Dies wäre<br />
vielmehr Aufgabe des ärztlichen Berufsrechts<br />
oder eines noch zu verabschiedenden<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetzes.<br />
§ 2 Abs. 2 ESchG wird durch die<br />
Diagnostik <strong>an</strong> bereits ausdifferenzierten<br />
Zellen des Trophoblasten nicht verletzt,<br />
wenn nach Lage der Dinge eine<br />
Übertragung des Embryos im selben<br />
Zyklus noch möglich ist. Tauchen unvorhergesehene<br />
Hindernisse auf, ist ohnehin<br />
eine weitere Kryokonservierung<br />
zulässig, ohne dass alleine deswegen das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz verletzt wäre 6 .<br />
Des Kunstgriffes, die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
<strong>an</strong> ausdifferenzierten Zellen<br />
des Trophoblasten als Heilversuch zugunsten<br />
des übrigen Embryos <strong>an</strong>zusehen<br />
7 , bedarf es somit nicht.<br />
➂ Schließlich wird im Falle gepl<strong>an</strong>ter<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik auch<br />
nicht zu einem <strong>an</strong>deren – und damit illegitimen<br />
– Zweck die Eizelle künstlich<br />
befruchtet (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG) beziehungsweise<br />
die extrakorporale Weiterentwicklung<br />
des Embryos bewirkt<br />
(§ 2 Abs. 2 ESchG), als zur Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft der<br />
Frau, von der die Eizelle stammt, wenn<br />
grundsätzlich die Voraussetzungen für<br />
einen Tr<strong>an</strong>sfer gewährleistet werden.<br />
Auch wenn feststeht, dass ein belasteter<br />
Embryo nicht übertragen werden<br />
15
D O K U M E N T A T I O N<br />
1 R. Neidert, MedR 1998, 347, 352.<br />
2 H.-L. Günther, Pränatale Diagnose und Pränatale<br />
Therapie genetischer Defekte aus<br />
strafrechtlicher Sicht, in: H.-L. Günther/Rolf<br />
Keller (Hrsg.), Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin und<br />
Hum<strong>an</strong>genetik – Strafrechtliche Schr<strong>an</strong>ken,<br />
2.Aufl. 1991, S. 237.<br />
3 Insoweit wird vorausgesetzt, dass der erforderliche<br />
naturwissenschaftliche Beweis erbracht<br />
werden k<strong>an</strong>n. Jenseits des Acht-Zell-<br />
Stadiums wird ein Verlust der Totipotenz <strong>an</strong>genommen,<br />
hierzu Krebs, Lexikon der<br />
Bioethik 1998, Stichwort „<strong>Embryonen</strong>forschung“.<br />
Weitere Nachweise bei M. Ludwig,<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, Alternative zur<br />
pränatalen Diagnostik, Ärztliche Praxis<br />
Gynäkologie 1998, 387 ff.; M. Ludwig, S. AI-<br />
Has<strong>an</strong>i, K. Diedrich, Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
in: K. Diedrich (Hrsg.), Weibliche<br />
Sterilität. Springer 1998, S. 692 ff.<br />
4 R. Keller/H.-L. Günther/P. Kaiser, Kommentar<br />
zum <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz, 1992, Einführung<br />
A VIII Rz. 15, § 2 ESchG Rz. 56, 63.<br />
R. Neidert, Brauchen wir ein Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz,<br />
MedR 1998, 347 (allerdings<br />
eine Änderung der Berufsordnung <strong>an</strong>mahnend).<br />
5 Vgl. z. B. H.-L. Günther, Strafrechtlicher<br />
Schutz des menschlichen Embryos über<br />
§ 218 ff. StGB hinaus, in: Günther/Keller,<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin, a.a.O. (Fn. 15), S.<br />
170.<br />
6 Keller/Günther/Kaiser, a.a.O. § 2 ESchG Rz.<br />
63.<br />
7 Keller/Günther/Kaiser, a.a.O. (Fn. 17), § 2<br />
ESchG Rz. 56.<br />
8 Keller/Günther/Kaiser, a.a.O. (Fn. 17), § 1<br />
Abs. 1 Nr. 2 ESchG Rz. 15.<br />
9 Vgl. BGHSt 16, 6.<br />
16<br />
soll, ist die Verwerfung dieses Embryos<br />
doch nicht Ziel der künstlichen Befruchtung<br />
beziehungsweise der Weiterentwicklung<br />
des Embryos. Im Gegenteil<br />
ist die etwaige spätere Verwerfung<br />
des Embryos wegen einer Verwirklichung<br />
des drohenden Risikos höchst<br />
unerwünscht. Von einer Absicht im<br />
Sinne zielgerichteten Wollens 8 k<strong>an</strong>n<br />
aber nicht die Rede sein, wenn der eingetretene<br />
Erfolg sich lediglich als eine<br />
dem Täter höchst unerwünschte Nebenfolge<br />
beziehungsweise als Fehlschlag<br />
gegenüber dem eigentlich von<br />
ihm erstrebten Ziel darstellt 9 . Bei jeder<br />
In-vitro-Fertilisation wird der Embryo-Tr<strong>an</strong>sfer<br />
von verschiedenen Faktoren,<br />
deren Vorliegen erst nach der<br />
Zeugung festgestellt werden k<strong>an</strong>n, abhängig<br />
gemacht. Dies gilt dafür, dass<br />
seitens der Frau keine körperlichen<br />
Probleme auftreten, insbesondere die<br />
hormonelle Stimulation wie gepl<strong>an</strong>t<br />
läuft. Auch seitens des Embryos müssen<br />
bestimmte Bedingungen erfüllt<br />
sein, deren Vorliegen im Zeitpunkt seiner<br />
Zeugung nicht sicher ist. Ein Embryo<br />
mit bereits optisch wahrnehmbaren<br />
Fehlentwicklungen wird nicht<br />
übertragen.Auch <strong>an</strong> dieser Stelle müssten<br />
sich die Gegner der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
fragen lassen, warum<br />
ein Embryo mit äußerlich erkennbaren<br />
Fehlern zweifellos verworfen werden<br />
darf, es aber verboten sein soll,<br />
nach „inneren“ Fehlern zu suchen.<br />
Demnach bleibt es dabei: Die bloße<br />
Inkaufnahme des Unterg<strong>an</strong>gs gezeugter<br />
<strong>Embryonen</strong> führt nicht zur Strafbarkeit<br />
der künstlichen Befruchtung,<br />
sol<strong>an</strong>ge das Motiv des H<strong>an</strong>delns die<br />
Herbeiführung der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
ist.<br />
Die jetzige Reaktion ist ein schönes<br />
Beispiel für das, was m<strong>an</strong> im Ausl<strong>an</strong>d<br />
„germ<strong>an</strong> disease“ nennt. Treue Anhänger<br />
der „political-correctness-Fraktion“<br />
schwingen sich zum Bewahrer der einzig<br />
wahren Moral auf und sind sich der<br />
allgemeinen Entrüstung sicher. Angesichts<br />
dieser mentalen Immobilität<br />
möchte m<strong>an</strong> leise <strong>an</strong> ein sehr altes, aber<br />
bewährtes Prinzip erinnern: die Gefahr<br />
des Missbrauchs rechtfertigt nicht das<br />
Verbot des rechten Gebrauchs.<br />
Dr. Rudolf Ratzel<br />
Rechts<strong>an</strong>walt<br />
Maximili<strong>an</strong>splatz 12/IV<br />
80333 München<br />
Wir befinden uns mitten auf<br />
der schiefen Bahn<br />
Leider lässt dieser Entwurf die Möglichkeit,<br />
vonseiten der Ärzteschaft auf <strong>PID</strong><br />
überhaupt zu verzichten, außer Acht<br />
und setzt im Grunde – nach grundsätzlicher<br />
Entscheidung für die <strong>PID</strong> – erst bei<br />
einer mehr oder minder restriktiven Regelung<br />
des Verfahrens <strong>an</strong>.<br />
Der unselige Synergismus zwischen<br />
ärztlichem Omnipotenzdenken und<br />
komplementärer Anspruchshaltung aufseiten<br />
der Patienten hat auch hier dazu<br />
geführt, dass das Nicht-akzeptieren-<br />
Können der „alternativen“ Adoption<br />
beziehungsweise Verzicht auf Kinder<br />
durch betroffene Paare offensichtlich<br />
ausreicht, sich über schwerstwiegende<br />
ethische Einwände hinwegzusetzen und<br />
Kinder auf Probe zu zeugen – mit der<br />
erklärten „Option“, diese im Falle genetischer<br />
Defekte nicht weiterleben zu<br />
lassen.<br />
Ich frage mich wirklich, ob es noch<br />
denkbare Ansprüche vonseiten der<br />
Gesellschaft <strong>an</strong> die Ärzte gibt, die diese<br />
auf Dauer und kategorisch zurückweisen.<br />
Wenn der dringende Kinderwunsch<br />
eines Paares ausreicht, Menschen<br />
zu zeugen und nachher im<br />
wahrsten Sinne des Wortes wegzuwerfen,<br />
warum soll der doch sicher höher<br />
zu bewertende dringende Wunsch eines<br />
Schwer- oder gar Todkr<strong>an</strong>ken,<br />
durch Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation geholfen zu bekommen,<br />
nicht als Rechtfertigung fragwürdiger<br />
Org<strong>an</strong>beschaffung dienen<br />
Was m<strong>an</strong> mit dem (nicht in dem Entwurf,<br />
aber <strong>an</strong>dernorts in diesem Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
verwendeten) Argumentationsmuster:<br />
„Erstens, die Leute wollen es, zweitens,<br />
verhindern k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> es sowieso<br />
nicht, drittens, sonst gehen sie ins Ausl<strong>an</strong>d“<br />
noch alles begründen könnte, will<br />
ich hier gar nicht ausmalen. Das zur<br />
Zeit noch politisch korrekte kategorische<br />
Nein gegenüber dem Klonen von<br />
Menschen wird d<strong>an</strong>n mit Sicherheit<br />
auch irgendw<strong>an</strong>n einem „Klonen ja,<br />
aber in engen Grenzen“ weichen.<br />
Die „deutliche Absage <strong>an</strong> jede Art<br />
eugenischer Selektion und Zielsetzung“<br />
(„eugenische Ziele dürfen mit<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik nicht<br />
verfolgt werden“) ist wohl eher der Versuch<br />
eines moralischen Feigenblattes.<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mit dem<br />
erklärten Ziel, den Embryo nur bei genetischem<br />
Normalbefund weiterleben<br />
zu lassen, ist eugenische Selektion. Das<br />
heißt, wir befinden uns nicht am R<strong>an</strong>de,<br />
sondern bereits mitten auf der schiefen<br />
Bahn, mit einem Neigungswinkel, der<br />
ein weiteres Abrutschen unausweichlich<br />
macht.<br />
Die unbedingte Unverfügbarkeit des<br />
Menschen hat offensichtlich ausgedient;<br />
m<strong>an</strong> hat eher den Eindruck, dass<br />
auf der Basis einer grundsätzlichen Verfügbarkeit<br />
die Nicht-Verfügbarkeit erst<br />
im Einzelfall begründet werden muss.<br />
So wird zeitgemäß konsenstheoretisch<br />
argumentiert: „deshalb muss die Gesellschaft<br />
im öffentlichen Diskurs entscheiden<br />
. . .“, „wenn die Gesellschaft<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mehrheitlich<br />
möchte . . .“ usw.Was ist eigentlich,<br />
wenn die Gesellschaft mehrheitlich<br />
die Positionen eines Peter Singer<br />
oder Dieter Birnbacher übernimmt und<br />
Geschlechtsselektion durch Abtreibung<br />
oder Tötung von Kindern bis zur<br />
Geburt und d<strong>an</strong>ach wünscht Sollen
D O K U M E N T A T I O N<br />
wir auch aktive Euth<strong>an</strong>asie, Klonen von<br />
Menschen oder die Tötung Behinderter<br />
erlauben Und unser Gewissen mit der<br />
entschuldigenden Feststellung „es gibt<br />
kein schuldfreies Arztsein“ (H. Hepp)<br />
beruhigen Ich hoffe sehr, dass wir<br />
nicht noch einmal so weit kommen, die<br />
Einsicht in grundlegende Menschenrechte<br />
(deren Missachtung die Gesellschaft<br />
auch mehrheitlich nicht wollen<br />
darf) erst über die Erfahrung schlimmster<br />
Menschenrechtsverletzungen zurückgewinnen<br />
zu müssen.<br />
Priv.-Doz. Dr. med. W. Wagner<br />
Claudiusweg 21<br />
64285 Darmstadt<br />
Kein moralischer Protest wird<br />
Fortschritt stoppen<br />
Mit der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD) werde – so die Autoren – über<br />
Lebensrecht und Lebenswert geurteilt<br />
und ein immer breiterer Weg zu einer<br />
Eugenik von unten beschritten; bestimmte<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten und ihre Träger<br />
würden diskriminiert und ein gesellschaftlicher<br />
Konsens über die Vermeidbarkeit<br />
behinderten Lebens riskiert.<br />
Grundsätzlich: wer aus den heiltechnischen<br />
Möglichkeiten der modernen<br />
Medizin das Recht, ja die ethische<br />
Pflicht ableitet, auch schwer behinderte<br />
Föten dysgenisch zum Leben zu verurteilen,<br />
der hat damit auch das „Recht“<br />
des eugenischen Fötozids usurpiert.<br />
Zur Eugenik: „Steigerung der Fähigkeiten“<br />
ist das erklärte Ziel auch <strong>an</strong>derer<br />
(nicht gentherapeutischer) Interventionen<br />
in der Medizin.Warum sollte<br />
d<strong>an</strong>n eine genetisch optimierte Gesundheit,<br />
Intelligenz und Schönheit die<br />
Würde des Menschen verletzen Das<br />
Tabu ist jedenfalls gebrochen und die<br />
historische Kontinuität seit Aristoteles<br />
und Plato, seit Luther und Nietzsche<br />
wiederhergestellt. Nicht nur Nobelpreisträger<br />
der Medizin, wie Watson<br />
und Crick, fordern eine eugenische Selektion,<br />
auch aufgeklärte Philosophen,<br />
wie Sir Juli<strong>an</strong> Huxley, Peter Singer, Dieter<br />
Birnbacher, Peter Sloterdijk, Ronald<br />
Dworkin und <strong>an</strong>dere. Die Drift zur<br />
Eugenik von unten wird zudem zunehmen:<br />
Kein Gesetz, keine Ethik und keine<br />
Staatsgrenze wird dem Druck der<br />
Eltern st<strong>an</strong>dhalten, genetische Gesundheitsprogramme<br />
in ihre Kinder einbauen<br />
zu lassen. Der PGD-Tourismus nach<br />
London und Brüssel zeigt es heute<br />
schon.<br />
Zur Gentherapie nach PGD: Was soll<br />
unmoralisch dar<strong>an</strong> sein, einen genetischen<br />
Defekt so früh wie möglich zu korrigieren<br />
Mit ethischem Rigorismus und<br />
irrationalen Glaubenssätzen lässt sich<br />
das Problem sicherlich nicht lösen.Schon<br />
haben amerik<strong>an</strong>ische Gerichte ein Recht<br />
des Kindes formuliert, körperlich und<br />
geistig gesund geboren zu werden. Alles<br />
<strong>an</strong>dere erfülle den Tatbest<strong>an</strong>d einer Kindesmissh<strong>an</strong>dlung.<br />
M<strong>an</strong> verfügt ja auch<br />
d<strong>an</strong>n über künftig Lebende, wenn m<strong>an</strong><br />
nichts tut, wenn m<strong>an</strong> genetische Programmierfehler<br />
a priori heilig spricht und<br />
a posteriori gutes Geld <strong>an</strong> schlechte Gene<br />
verschwendet.<br />
Zur Diskriminierung Behinderter<br />
durch PGD: Kein Behinderter will<br />
selbst behinderte Kinder! Natürlich<br />
muss einem behinderten Kind, das geboren<br />
wurde, alle erdenkliche Liebe<br />
und Zuwendung zuteil werden. Aber:<br />
Muss in Deutschl<strong>an</strong>d alle 90 Minuten<br />
ein geistig behindertes Kind geboren<br />
werden Braucht die Gesellschaft Behinderte<br />
um ihrer eigenen Menschlichkeit<br />
willen, wie Behindertenvertreter<br />
und Greenpeace-Aktivisten (wohl auch<br />
im Blick auf ihre eigene Existenzberechtigung)<br />
beteuern Robert L. Sinsheimer<br />
meint dagegen, dass eine Gesellschaft<br />
ohne Behinderte „zwar weniger<br />
menschlich, dafür aber hum<strong>an</strong>er<br />
sein könnte“.<br />
Zum Schluss: Die Stimmen für eine<br />
PGD und Keimbahntherapie werden<br />
immer gewichtiger. Ich gehe jede Wette<br />
ein, dass das Verbot über kurz oder l<strong>an</strong>g<br />
aufgehoben wird.Wer noch dagegen argumentiert,<br />
hat schon verloren. Kein<br />
moralischer Protest wird den Fortschritt<br />
stoppen. Gendiagnostik und<br />
Gentherapie werden noch in diesem<br />
Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit<br />
werden, von jederm<strong>an</strong>n bejaht und gewollt.<br />
Die „political“ und „moral correctness“<br />
von heute wird sich als der politische<br />
und moralische Irrtum von morgen<br />
erweisen. Und die Deutschen sind<br />
dabei, den Anschluss <strong>an</strong> die Zukunft<br />
wieder einmal zu verschlafen.<br />
Dr. med. Egon Kehler<br />
Salzstraße 1<br />
83404 Ainring<br />
Notwendiger Impuls<br />
Die Stellungnahme aus dem Bundesgesundheitsministerium<br />
(BMG) zum<br />
Richtlinienentwurf der BÄK fordert zu<br />
einigen Anmerkungen heraus, das ist<br />
offensichtlich von der Autorin auch gewollt.<br />
➀ Frau Riedel leitet ihre Gegenposition<br />
zum BÄK-Entwurf mit einer provokativ<br />
wirkenden Feststellung ein: „Die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (PGD) steht<br />
im Widerspruch zum <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz“<br />
(ESG). Dies ist eine unbewiesene<br />
Meinung, die sich das BMG<br />
offenbar zu Eigen gemacht hat. Dagegen<br />
lässt die BÄK die Frage offen, ob<br />
PGD im Widerspruch zum ESG steht<br />
oder ob lediglich aus dem ESG eine<br />
Entscheidung über die Rechtmäßigkeit<br />
der PGD nicht zweifelsfrei abzuleiten<br />
ist, sie neigt zu der letztgen<strong>an</strong>nten Einschätzung<br />
und sieht gesetzgeberischen<br />
H<strong>an</strong>dlungsbedarf, um die PGD aus der<br />
gesetzlichen Grauzone herauszubringen.<br />
Aus Sicht der BÄK könnte durch<br />
Gesetzespräzisierung oder -ergänzung<br />
schneller eine Klärung möglich sein als<br />
aus Sicht des BMG, dar<strong>an</strong> aber scheint<br />
dem BMG nicht gelegen zu sein („Eile<br />
[ist] nicht geboten“).<br />
➁ Frau Riedel kritisiert, dass der<br />
Richtlinienentwurf der BÄK zum jetzigen<br />
Zeitpunkt, ihrer Meinung nach zu<br />
früh, vorgelegt wurde, „bevor die öffentliche<br />
Diskussion hierzu begonnen hat“.<br />
Diese hat längst begonnen und ist seit<br />
Monaten in den Medien in vollem<br />
G<strong>an</strong>ge. Nach meinem Ermessen war es<br />
höchste Zeit,dass die BÄK mit einer klaren<br />
und klar begründeten Stellungnahme<br />
in die Öffentlichkeit geg<strong>an</strong>gen ist.<br />
➂ Frau Riedel kritisiert den Blick<br />
auf die Regelungen in unseren europäischen<br />
Nachbarstaaten, die auch in der<br />
Präambel des BÄK-Entwurfes erwähnt<br />
werden. Diese Kritik erscheint mir aus<br />
mehreren Gründen fragwürdig. Mit<br />
diesem Blick will sich keiner der „eigenen<br />
Ver<strong>an</strong>twortung entziehen“ oder<br />
einer „eigenen, innerstaatlichen Entscheidung“<br />
aus dem Wege gehen. Das<br />
Verhalten von zehn uns eng verbundenen<br />
Nachbarstaaten mit vergleichbaren<br />
gesellschaftlichen und sozialen Strukturen<br />
sagt sehr viel über die gesellschaftliche<br />
Realität und das gesellschaftliche<br />
Bewusstsein in unserem Kulturbereich<br />
17
D O K U M E N T A T I O N<br />
und damit auch bei uns aus und sollte<br />
deshalb bei unserer Entscheidungsfindung<br />
mit einfließen. Im Übrigen sind<br />
„innerstaatliche“ diesbezügliche Unterschiede<br />
bei uns selbst nicht geringer<br />
als die gegenüber unseren Nachbarn.Es<br />
wäre politische Kurzsichtigkeit, das<br />
nicht wahrnehmen zu wollen.<br />
➃ Frau Riedel argumentiert mit der<br />
Meinung von Mucoviscidosiskr<strong>an</strong>ken:<br />
„Menschen beispielsweise mit Mucoviscidose,<br />
die ein lebenswertes Leben<br />
führen, verurteilen diese Methode zu<br />
Recht.“ Es geht nicht um die Frage<br />
nach lebenswertem oder lebensunwertem<br />
Leben, alles Leben ist lebenswert.<br />
Das wird insbesondere von den Verfassern<br />
des BÄK-Entwurfes so gesehen,<br />
darauf gründet sich auch der g<strong>an</strong>z bewusste<br />
Verzicht auf einen Indikationenkatalog.<br />
Die ethische Ver<strong>an</strong>twortung<br />
bei der PGD bezieht sich auf die von<br />
der Mutter für sie als unzumutbar empfundene<br />
Belastung durch ein zu erwartendes<br />
in der Regel weiteres schwerstbehindertes<br />
Kind. Dieses der Mutter als<br />
Diskriminierung behinderten Lebens<br />
<strong>an</strong>zulasten ist Hybris. Dass ein Mukoviscidosiskr<strong>an</strong>ker<br />
das nur schwer differenzieren<br />
k<strong>an</strong>n, muss m<strong>an</strong> ihm zugestehen,<br />
deswegen k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> aber seine<br />
Meinung nicht zum Maßstab machen.<br />
➄ Frau Riedel schreibt: „Es besteht<br />
die Gefahr, dass in der Gesellschaft eine<br />
Erwartunghaltung für gesunde Kinder<br />
entsteht und es Eltern schwer gemacht<br />
wird, sich für ein behindertes Kind zu<br />
entscheiden.“ Die Erwartungshaltung<br />
für ein gesundes Kind ist so alt wie die<br />
Menschheit. Sie ist – aus welchen Gründen<br />
auch immer – in unserer Gesellschaft<br />
sehr hoch, was beispielsweise <strong>an</strong><br />
der häufigen In<strong>an</strong>spruchnahme der Pränataldiagnostik<br />
zum Ausschluss einer<br />
Trisomie 21 erkennbar ist. Diese Grundhaltung<br />
mag m<strong>an</strong> bedauern, aber m<strong>an</strong><br />
muss sie zur Kenntnis nehmen. Die bei<br />
der in der BÄK-Richtlinie vorgesehenen<br />
restriktiven H<strong>an</strong>dhabung der Methode<br />
durch PGD hinzukommenden wenigen<br />
Fälle, bei denen außerdem für jeden erkennbar<br />
ist, dass es sich um Ausnahme-<br />
Situationen h<strong>an</strong>delt oben unter ➃, ändern<br />
<strong>an</strong> dieser Erwartungshaltung in unserer<br />
Gesellschaft nichts.<br />
Im Richtlinienentwurf der BÄK erkenne<br />
ich einen notwendig gewordenen<br />
Impuls von großem Gewicht, der die<br />
18<br />
ethische Ver<strong>an</strong>twortung im Gebrauch<br />
des technisch Möglichen erkennen lässt.<br />
Das wird unterstrichen durch die von Sabine<br />
Rieser in ihrem Kommentar zitierten<br />
Aussagen von Herrn Kollegen Hepp,<br />
dem federführenden Mitglied der Arbeitsgruppe.<br />
Prof. Dr. med. Theodor Luthardt<br />
Scheuergasse 4<br />
79271 St. Peter<br />
Was soll dieser Umweg<br />
Ich habe die bisherigen Beiträge zur<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mit Interesse<br />
verfolgt. Die Formulierung „Der<br />
Embryo in vivo steht unter dem realen<br />
Schutz der Frau, der Embryo in vitro...<br />
steht nur unter dem rechtlichen Schutz“<br />
lässt mich jedoch aufmerken. Über das,<br />
was in der Frau geschieht, hat die Frau<br />
selbst Einfluss/Zugriff. Was ist außerhalb<br />
derselben tabu ().<br />
Im Klartext: Wird im Rahmen einer<br />
Vorsorgeuntersuchung eine mögliche<br />
Schädigung festgestellt, darf die Frau<br />
(werdende Mutter) straffrei abbrechen.<br />
Wird am Embryo in vitro eine Schädigung<br />
festgestellt, dürfte nicht interveniert<br />
werden. Nach Impl<strong>an</strong>tation (in vivo!)<br />
dürfte die Mutter nach geltendem<br />
Gesetz wieder abbrechen.<br />
Was soll dieser Umweg Oder will der<br />
Gesetzgeber behinderten Nachwuchs<br />
Michael Rost<br />
Oberstraße 4<br />
54293 Trier<br />
Müssen wir alles machen<br />
. . . Seinem Kommentar hat Herr Jachertz<br />
die Überschrift „Am R<strong>an</strong>de der<br />
schiefen Bahn“ gegeben und damit wohl<br />
isoliert die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
gemeint. In Wahrheit sind wir schon<br />
längst drauf auf der schiefen Bahn, die<br />
Tötung unerwünschten Lebens bedeutet:<br />
De-facto-Freigabe der Abtreibung in<br />
den ersten drei Schw<strong>an</strong>gerschaftsmonaten;<br />
– Pränatale Diagnostik mit der Folge,<br />
dass heute Neugeborene mit früher<br />
häufigen Missbildungen, wie Down-Syndrom<br />
oder Spina bifida, kaum noch vorkommen;<br />
– In-vitro-Fertilisation mit<br />
Hinnahme des „Verwerfens“ überschüssiger<br />
<strong>Embryonen</strong>. – Jetzt das Vorhaben,<br />
die assistierte Reproduktion im Sinne<br />
der „Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ zu erweitern.<br />
Schon dieses Wort ist ein Euphemismus.<br />
M<strong>an</strong> bemüht sich keineswegs nur<br />
um Erkenntnisgewinn, sondern ausdrücklich<br />
darum, zwischen lebenswerten<br />
und lebensunwerten <strong>Embryonen</strong> zu unterscheiden<br />
und d<strong>an</strong>ach zu h<strong>an</strong>deln.Dass<br />
m<strong>an</strong> dazu die Behauptung aufstellt, es<br />
gehe nicht um eugenisch orientierte<br />
Nachwuchspl<strong>an</strong>ung, k<strong>an</strong>n nur als dreiste<br />
Lüge und als Lippenbekenntnis <strong>an</strong>gesehen<br />
werden mit dem Ziel,der Öffentlichkeit<br />
S<strong>an</strong>d in die Augen zu streuen.An die<br />
ersterwähnten Eingriffe haben sich viele<br />
schon gewöhnt, achselzuckend geht m<strong>an</strong><br />
über die Rechte der <strong>Embryonen</strong> hinweg,<br />
und unser Parlament hat das mit dem reformierten<br />
§ 218 StGB teilweise gesetzlich<br />
abgesegnet.<br />
Was hat es zu bedeuten, wenn ein<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch rechtswidrig,<br />
jedoch bei Einhaltung bestimmter Regeln<br />
straffrei ist Mich erinnert das <strong>an</strong><br />
Pontius Pilatus. Ist es wirklich ethisch zu<br />
rechtfertigen, dass wir durch Budgets allenthalben<br />
<strong>an</strong> die Grenzen der dem<br />
Medizinbetrieb zugest<strong>an</strong>denen Mittel<br />
stoßen und gleichwohl extrem hohe Kosten<br />
für High Med in Form von assistierter<br />
Reproduktion akzeptieren, wo doch<br />
gleichzeitig sozial nicht passende <strong>Embryonen</strong><br />
getötet werden. Müssen wir alles<br />
machen, was die <strong>an</strong>deren im Ausl<strong>an</strong>d<br />
tun, aus Angst, dass wir wissenschaftlich<br />
zurückbleiben Es ist in Deutschl<strong>an</strong>d gesellschaftlicher<br />
Konsens, dass die Abschaffung<br />
der Todesstrafe einen ethischen<br />
Fortschritt bedeutet, obwohl sie in<br />
<strong>an</strong>deren Ländern weiter in Gebrauch ist.<br />
Warum wird d<strong>an</strong>n die Tötung am Beginn<br />
des Lebens akzeptiert Weil <strong>Embryonen</strong><br />
sich nicht äußern und <strong>an</strong>geblich auch<br />
nicht leiden Weil es sich,wie m<strong>an</strong>che sagen,<br />
nicht um menschliches Leben, sondern<br />
um empfindungslose Zellklumpen<br />
h<strong>an</strong>delt<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik ist<br />
nichts als ein weiterer Schritt auf dem bereits<br />
eingeschlagenen Weg, der gekennzeichnet<br />
ist durch Rechtsunsicherheit<br />
und rücksichtslose Anwendung wissenschaftlich-technischen<br />
Fortschritts. . . .<br />
Dr. med. Wolfram Kirmeß<br />
Kleine Geest 3–5<br />
31592 Stolzenau
D O K U M E N T A T I O N<br />
Moralisten werden die<br />
Entwicklung nicht aufhalten<br />
Alles ist gut, wenn es gut ist. Auch die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, wenn sie<br />
mit Vernunft und Augenmaß erfolgt.<br />
Ich stimme mit Herrn Jachertz überein.<br />
Er schreibt: „...d<strong>an</strong>n wird m<strong>an</strong> auf<br />
Dauer mit der Auswahl ungeborenen<br />
Lebens leben müssen.“<br />
Die Wissenschaft hat dem Menschen<br />
geholfen, ungewollte Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
zu vermeiden. Sie wird auch helfen,<br />
dem genetisch bedingten „Defekt“, also<br />
dem Ungesunden vorzubeugen – sozusagen<br />
als Methode der Wahl. Natürlich<br />
werden die Moralisten aller Konfessionen<br />
und Fraktionen ihr Verdikt<br />
verkünden, wie immer lauthals und mit<br />
allen Mitteln. Aber sie werden die Entwicklung<br />
nicht aufhalten, nur verzögern.<br />
Die Wissenschaft ist keine Glaubensgemeinschaft,<br />
das weiß m<strong>an</strong>, und<br />
das ist gut so.<br />
Wenn der Mensch mit seinen Irrungen<br />
und Wirrungen noch eine kleine<br />
Ch<strong>an</strong>ce hat, d<strong>an</strong>n wird es die Wissenschaft<br />
sein.<br />
Dr. med. Alfons Werner Reuke<br />
Sommerhalde 42<br />
71672 Marbach<br />
Orientierung verloren<br />
Mehr noch als der eigentliche Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD) fordert das<br />
Vorwort dazu zu einer Stellungnahme<br />
heraus. Dem Leser stockt der Atem,<br />
wenn indirekt die Frage formuliert wird,<br />
ob es sich um eine Ausnahme vom Tötungsverbot<br />
h<strong>an</strong>delt oder gar keine Tötung<br />
vorliegt. Wie <strong>an</strong>ders soll m<strong>an</strong> es<br />
denn nennen, wenn einem Lebewesen<br />
die Voraussetzungen zum Weiterleben<br />
entzogen beziehungsweise vorenthalten<br />
werden Und wodurch sollte eine Ausnahme<br />
vom Verbot – für den Arzt insbesondere<br />
– zu töten begründet sein<br />
Tatsächlich k<strong>an</strong>n eine Ausnahme vom Tötungsverbot<br />
oder das Nichtvorliegen einer<br />
Tötung nur (<strong>an</strong>)erkennen, wer den<br />
Beginn menschlichen Lebens und damit<br />
seiner Schutzwürdigkeit entgegen wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis nicht mit dem<br />
Zeitpunkt der Verschmelzung von Eiund<br />
Samenzelle identisch sehen will.Eine<br />
Definition aber, w<strong>an</strong>n denn das Leben<br />
d<strong>an</strong>n beginnt, steht aus, dürfte heiß umstritten<br />
sein und birgt jede Menge Gefahren<br />
in sich. Der Konflikt der PGD mit<br />
dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz (ESchG)<br />
wird auf das Verbot von Untersuchungen<br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> im Stadium zellulärer Totipotenz<br />
und das Verbot der fremdnützigen<br />
Verwendung von <strong>Embryonen</strong> reduziert.<br />
Dabei soll doch die PGD für Paare<br />
bereitstehen, „für deren Nachkommen<br />
ein hohes Risiko für eine bek<strong>an</strong>nte und<br />
schwerwiegende, genetisch bedingte Erkr<strong>an</strong>kung<br />
besteht“. Das heißt: <strong>Embryonen</strong><br />
mit „Veränderung des Erbmaterials“,<br />
die zur Tötung <strong>an</strong>stehen, werden<br />
zw<strong>an</strong>gsläufig auftreten,sie sind zwar nicht<br />
das Ziel der PGD, aber auch nicht „unerwünschte<br />
Nebenfolge oder ein Fehlschlag“,<br />
wie Prof. Hepp zitiert wird. Die<br />
PGD steht daher eindeutig im Widerspruch<br />
zum ESchG § 1 Abs.l Nr.2 und § 2<br />
Abs. l. Auch eine Konfliktreduzierung<br />
durch PGD, indem nämlich „eine Entscheidung<br />
über einen eventuellen Abbruch<br />
einer fortgeschrittenen Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
vermieden“ würde, k<strong>an</strong>n ich nicht<br />
erkennen. Es ist derselbe Mensch, der<br />
getötet wird, freilich in einer <strong>an</strong>deren<br />
Phase seines Lebens. Seine Gestaltlosigkeit<br />
und die mögliche Vielzahl von <strong>Embryonen</strong><br />
durch IVF täuschen nur eine<br />
Konfliktreduzierung vor!<br />
Gänzlich der Nachvollziehbarkeit<br />
entzieht sich das Vorwort, wenn von einer<br />
„Absage <strong>an</strong> jede Art eugenischer Selektion<br />
und Zielsetzung“ die Rede ist,<br />
geht es doch gerade um die Feststellung<br />
veränderten Erbmaterials durch die<br />
PGD und <strong>an</strong>schließende Aussonderung<br />
menschlicher Individuen aufgrund dieser<br />
Veränderungen. Wenn vor<strong>an</strong>stehend<br />
betont wird, die Bundesärztekammer<br />
orientiere sich <strong>an</strong> einem Menschenbild,<br />
das „von Respekt vor allen Menschen,<br />
einschließlich denen mit geistigen, seelischen<br />
und körperlichen Beeinträchtigungen,<br />
geprägt ist“, muss leider <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d<br />
der Unvereinbarkeit der PGD mit dieser<br />
Grundhaltung festgestellt werden, dass<br />
die Bundesärztekammer hier offenbar<br />
die Orientierung verloren hat. Mit Einführung<br />
der PGD aber wird zweifelsohne<br />
nach und nach der Respekt vor den<br />
Menschen mit derartigen Beeinträchtigungen<br />
verloren gehen. Eine weitere<br />
Formulierung hinterlässt den Eindruck<br />
von Orientierungslosigkeit und mich ratlos:<br />
Was nämlich soll „eine große Fähigkeit<br />
und Bereitschaft zu hinreichend<br />
konfliktarmen Lösungen“ sein und hervorbringen<br />
Gibt es etwas zwischen dem<br />
elterlich-ärztlichen Entscheid über „leben<br />
dürfen“ oder „sterben müssen“<br />
Dr. med. G. Haasis<br />
Max-Reger-Straße 40<br />
28209 Bremen<br />
Wo bleibt die Achtung<br />
➀ Allgemein: Das DÄ widmet Themen<br />
der Reproduktionmedizin in den<br />
letzten Monaten mehr Raum, als ihrer<br />
Bedeutung im tatsächlichen Medizinbetrieb<br />
entspricht. Cui bono In welche<br />
Richtung sollen wir beeinflusst werden<br />
➁ Obwohl über die Einführung der<br />
PGD in Deutschl<strong>an</strong>d keineswegs Einvernehmen<br />
besteht, legt die Bundesärztekammer<br />
bereits einen Entwurf zu einer<br />
Richtlinie für dieses Verfahren vor,<br />
als ob mit der Einführung fest zu rechnen<br />
wäre. Dieses Vorgehen k<strong>an</strong>n als<br />
Versuch der M<strong>an</strong>ipulation gedeutet<br />
werden.<br />
➂ Der Versuch, die Indikationen für<br />
die PGD durch Richtlinien und Kommissionen<br />
zu begrenzen, ist sicher zum<br />
Scheitern verurteilt, wie die Verg<strong>an</strong>genheit<br />
lehrt. M<strong>an</strong> denke nur <strong>an</strong> die Geschichte<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaftsverhütung<br />
oder <strong>an</strong> die des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs.<br />
Also ist, wenn die PGD eingeführt<br />
wird, mit zunehmender Ausweitung<br />
des Indikationsbereichs zu rechnen.<br />
Wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen,<br />
dass Richtlinien hier nur eine Feigenblatt-Funktion<br />
haben.<br />
➃ Die Erlaubnis, einen Embryo mit<br />
den genetischen Merkmalen einer schweren<br />
genetisch bedingten Kr<strong>an</strong>kheit zu<br />
„verwerfen“, enthält eine Botschaft <strong>an</strong><br />
alle geborenen Träger dieser Kr<strong>an</strong>kheit:<br />
„Wir hielten es für besser, du wärest<br />
nicht geboren.“ Dieses Ged<strong>an</strong>kengut<br />
kennen wir doch aus dem Dritten Reich.<br />
Ob wir einen Behinderten in einer Anstalt<br />
umbringen oder einen Embryo im<br />
16-Zellen-Stadium „verwerfen“ – die<br />
Geisteshaltung ist die gleiche. Wo bleibt<br />
die Achtung vor dem Menschen und seinem<br />
Schöpfer<br />
Dr. med. Winfrid Gieselm<strong>an</strong>n<br />
Finkenwiesenstraße 1<br />
75417 Mühlacker<br />
19
D O K U M E N T A T I O N<br />
Ärztliche Entscheidungen im<br />
Einzelfall unter<br />
Ausnahmebedingungen<br />
20<br />
Als Mitglied der zitierten Bioethikkommission<br />
des Justizministers in Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz<br />
begrüße ich den Diskussionsentwurf<br />
der Bundesärztekammer zu<br />
einer „Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“.<br />
55 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
und dem Zusammenbruch des<br />
verbrecherischen Hitler-Regimes muss<br />
endlich auch in Deutschl<strong>an</strong>d eine Debatte<br />
über ethische Grundfragen <strong>an</strong> den<br />
Grenzen des menschlichen Lebens möglich<br />
sein,die – wie Frau Riedel sie fordert<br />
– unvoreingenommen und offen geführt<br />
werden sollte.<br />
Ausg<strong>an</strong>gspunkt aller Betrachtungen<br />
sollte im Falle der PGD das Rat suchende<br />
Paar sein, das ein genetisches Risiko<br />
für die Vererbung einer schwerwiegenden<br />
chromosomalen oder molekularen<br />
Störung beziehungsweise Fehlbildung<br />
trägt und einen fortbestehenden Kinderwunsch<br />
hat. So war der Ausg<strong>an</strong>gsfall<br />
gelagert, der die beh<strong>an</strong>delnden Ärzte<br />
ver<strong>an</strong>lasste, die Ethikkommission der<br />
Medizinischen Universität in Lübeck<br />
<strong>an</strong>zurufen. Nach Anhörung mehrerer<br />
Sachverständiger gab sie das Votum ab,<br />
dass die Maßnahme einer PGD als medizinisch<br />
vertretbar <strong>an</strong>zusehen ist, die<br />
Kommission sich jedoch wegen der bestehenden<br />
Rechtslage – Verbot durch<br />
das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz – <strong>an</strong> der<br />
Abgabe eines positiven Votums gehindert<br />
sieht. Aus der Sicht der beh<strong>an</strong>delnden<br />
Ärzte fassten Ludwig und Diedrich<br />
(1) alle für und gegen die Einführung<br />
dieser medizinischen Maßnahme sprechenden<br />
Argumente zusammen.<br />
Die Thesen der Bioethikkommission<br />
im Bericht vom 20. Juni 1999 (2) gehen<br />
von derselben sehr engen, restriktiven Indikationsstellung<br />
zur PGD aus, die auch<br />
der Richtlinienentwurf übernommen hat.<br />
Ausgehend von der derzeitigen Rechtslage<br />
des Verbotes der Entnahme von totipotenten<br />
Blastomeren aus dem – überlebensfähigen<br />
– Embryo und dem sehr engen<br />
Zeitfenster zwischen verlorener Totipotenz<br />
der Blastomere und noch Erfolg<br />
versprechender Impl<strong>an</strong>tation des Embryos<br />
h<strong>an</strong>delt es sich bei der PGD <strong>an</strong><br />
nicht mehr totipotenten Blastomeren um<br />
eine wahre medizinische Hightechmethode<br />
mit großer psychischer Belastung<br />
der betroffenen Eltern, die nicht ohne<br />
Not <strong>an</strong>gewendet werden dürfte. Entscheidend<br />
ist und bleibt der Gesichtspunkt,<br />
dass die Eizelle ausschließlich zur<br />
Herbeiführung einer – weniger belasteten<br />
– Schw<strong>an</strong>gerschaft bei genetisch belasteten<br />
Paaren befruchtet wird und nicht,<br />
wie Frau Riedel schreibt, die Eizelle „zunächst<br />
nur zu diagnostischen Zwecken<br />
künstlich befruchtet wird“. Die Bioethikkommission<br />
hat sich weder dazu entschließen<br />
können, der Frau ein Recht auf<br />
ein gesundes Kind zuzusprechen noch ihr<br />
den Verzicht auf – weitere, gegebenenfalls<br />
unbelastete – Kinder abzuverl<strong>an</strong>gen.<br />
Diesen besonderen Schutz des Kindes<br />
durch die Frau, nämlich die Mutter, erkennt<br />
auch Frau Riedel in ihrem Aufsatz<br />
<strong>an</strong>. Sie übersieht allerdings, dass in dem –<br />
bisl<strong>an</strong>g in Deutschl<strong>an</strong>d einzigen – Beispielsfall<br />
die Eltern schon ein behindertes<br />
Kind haben, zwei Schw<strong>an</strong>gerschaften wegen<br />
Feststellung der Genmut<strong>an</strong>te abgebrochen<br />
wurden und das Paar sich die<br />
Nöte und Belastungen mit einem weiteren<br />
behinderten Kind nicht mehr zutraute.<br />
Insofern k<strong>an</strong>n eine PGD in dem von<br />
der Richtlinie vorgezeichneten sehr engen<br />
Rahmen auch nicht als Argument<br />
dafür herhalten,damit würde behindertes<br />
Leben möglicherweise diskriminiert.<br />
Frau Riedel dürfte auch nicht erk<strong>an</strong>nt haben,<br />
dass die Entscheidung zu einem weiteren<br />
Kind durch das Rat suchende Paar<br />
und erst in letzter Konsequenz durch die<br />
Frau getroffen werden k<strong>an</strong>n.<br />
In These 11.9 stellt die Bioethikkommission<br />
fest, dass es ein Wertungswiderspruch<br />
wäre, würde m<strong>an</strong> Paaren mit dem<br />
Risiko der Übertragung eines Gendefektes<br />
die PGD aus Rechtsgründen verwehren,<br />
gleichwohl aber die spätere Pränataldiagnostik<br />
mit möglichem Schw<strong>an</strong>gerschaftabbruch<br />
nach festgestellter Indikationslage<br />
erlauben. In These III. 2 b)<br />
stellt die Kommission fest, dass die psychische<br />
und physische Belastung durch<br />
einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch, bei<br />
dem es auch zu Spätfolgen für die Frau<br />
kommen k<strong>an</strong>n, ungleich größer ist als die<br />
Belastung durch die Entscheidung, einen<br />
Embryo nicht zu tr<strong>an</strong>sferieren. Dieses<br />
Argument macht sich der Richtlinienentwurf<br />
in Analogie zu der medizinischen<br />
Indikation in § 218a StGB zu Eigen.<br />
Diese Analogie hält Frau Riedel für<br />
fragwürdig. Eine Erklärung hierfür mag<br />
in der Tatsache begründet sein, dass es<br />
sich bei jenem Kollektiv von Frauen, die<br />
den beratenen, aber rechtswidrigen Abbruch<br />
<strong>an</strong>streben, das Frau Riedel im<br />
Blick haben dürfte, um ein von den Rat<br />
suchenden Paaren, die eine PGD wünschen,<br />
völlig verschiedenes Kollektiv<br />
h<strong>an</strong>delt. Der Grundged<strong>an</strong>ke der Bioethikkommission<br />
und des Diskussionsentwurfes,<br />
dass es um ärztliche Entscheidungen<br />
im Einzelfall und unter besonderen<br />
Ausnahmebedingungen geht,<br />
die in die erhöhte Sorgfaltspflicht des<br />
Arztes gestellt sind, wird in der Stellungnahme<br />
von Frau Riedel nicht ausreichend<br />
deutlich. In ihren Thesen III, 3 hat<br />
sich die Kommission aber auch sehr eingehend<br />
mit verschiedenen Argumenten<br />
ausein<strong>an</strong>der gesetzt, die alle auf die<br />
„Dammbruchgefahr“ hinauslaufen, die<br />
schon zu den derzeit gültigen Ausschlussbedingungen<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
geführt haben.<br />
1. Ludwig, M und Diedrich, K. „<strong>Embryonen</strong>forschung<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d“ in Rittner Ch. et<br />
al. (Hrg.) „Genom<strong>an</strong>alyse und Gentherapie:<br />
Medizinische, gesellschaftspolitische, rechtliche<br />
und ethische Aspekte“, Gustav Fischer<br />
Verlag, Stuttgart, 1997.<br />
2. Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik: Thesen zu den<br />
medizinischen, rechtlichen und ethischen<br />
Problemstellungen, Bericht der Bioethik-<br />
Kommission des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz<br />
vom 20. Juni 1999. Ministerium der Justiz<br />
Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz.<br />
Prof. Dr. med. Ch. Rittner<br />
Institut für Rechtsmedizin der<br />
Joh<strong>an</strong>nes-Gutenberg-Universität<br />
Am Pulverturm 3, 55131 Mainz<br />
Anregungen<br />
Ein entscheidender Unterschied zwischen<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (PGD)<br />
und Pränataldiagnostik (<strong>PND</strong>) besteht<br />
für mich in dem Umst<strong>an</strong>d, dass die Pränataldiagnostik<br />
in der Regel eine J<strong>an</strong>ein-Entscheidung<br />
zu einem einzelnen<br />
Kind darstellt. Dagegen ermöglicht die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik in der Regel<br />
eine Auswahl aus einer größeren<br />
Zahl <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> (zur Zeit noch<br />
durch das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz beschränkt<br />
auf drei).Wenn m<strong>an</strong> genug <strong>Embryonen</strong><br />
ohne ein bestimmtes Merkmal<br />
zur Verfügung hat, besteht dadurch eine<br />
latente Versuchung, auch noch auf <strong>an</strong>dere<br />
Merkmale zu testen. In Belgien<br />
scheint dies durchaus gängige Praxis zu
D O K U M E N T A T I O N<br />
sein, indem den Eltern außer der Abklärung<br />
der ursprünglichen Fragestellung<br />
zusätzlich im Vorfeld der PGD aktiv<br />
ein Screening auf häufigere rezessive<br />
Anlageträgereigenschaften <strong>an</strong>geboten<br />
wird, um d<strong>an</strong>n ein eventuelles weiteres<br />
Risiko ebenfalls zu testen.Aber auch ohne<br />
weitere Untersuchungen ergibt sich<br />
bei rezessiven Erkr<strong>an</strong>kungen g<strong>an</strong>z von<br />
allein die Schwierigkeit, wie mit heterozygoten<br />
<strong>Embryonen</strong> (also ohne eigenes<br />
Erkr<strong>an</strong>kungsrisiko) umgeg<strong>an</strong>gen werden<br />
soll,wenn auch homozygot unauffällige<br />
<strong>Embryonen</strong> zur Verfügung stehen.<br />
Der Verweis auf die Eltern als darüber<br />
bestimmende Personen k<strong>an</strong>n zu schwierigen<br />
Situationen führen, da ein heterozygoter<br />
Befund in der Pränataldiagnostik<br />
in aller Regel nicht als Argument für<br />
eine unzumutbare Belastung der<br />
Schw<strong>an</strong>geren <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt würde. Mit welcher<br />
Begründung sollte er es d<strong>an</strong>n in der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik sein<br />
Ich möchte daher die Frage in den<br />
Raum stellen, ob es nicht möglich wäre,<br />
bei PGD immer nur eine einzelne Eizelle<br />
zu befruchten, zu diagnostizieren und<br />
d<strong>an</strong>n über diesen Embryo eine Ja-nein-<br />
Entscheidung zu treffen. Dies würde sowohl<br />
bei den Ärzten als auch bei den Eltern<br />
natürliche Hemmschwellen erhalten,<br />
mit dem „<strong>Embryonen</strong>material“<br />
nicht allzu großzügig und entpersonalisiert<br />
umzugehen. Es hätte außerdem den<br />
wichtigen Vorteil, dass auf diese Weise<br />
möglichst wenig <strong>Embryonen</strong> verworfen<br />
werden müssten, denn es leuchtet unmittelbar<br />
ein, dass umso mehr <strong>Embryonen</strong><br />
das gesuchte genetische Merkmal aufweisen<br />
werden, je mehr pro Elternpaar<br />
erzeugt werden. Dies scheint mir auch<br />
dem Geist des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
noch am ehesten nahe zu kommen.<br />
Viele Reproduktionsmediziner werden<br />
praktische Einwände gegen diesen<br />
Vorschlag erheben und insbesondere eine<br />
Verminderung der Schw<strong>an</strong>gerschaftrate<br />
beziehungsweise eine Erhöhung<br />
der dafür notwendigen Zyklenzahl befürchten.<br />
Dies müsste möglichst gründlich<br />
und ohne Vorurteile untersucht werden.<br />
Die Daten, die <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d künstlicher<br />
Befruchtung (IVF und ICSI) gewonnen<br />
wurden, können jedoch nicht ohne weiteres<br />
dazu her<strong>an</strong>gezogen werden, da es<br />
sich hierbei um Paare mit Fruchtbarkeitsstörungen<br />
geh<strong>an</strong>delt hat, was bei<br />
PGD in der Regel nicht der Fall wäre.<br />
Möglicherweise wird eine Frau auf diese<br />
Weise mehr Punktionen benötigen,dafür<br />
könnte eventuell auf die Stimulationsbeh<strong>an</strong>dlung<br />
verzichtet werden (). Der<br />
Trend scheint aber in der Reproduktionsmedizin<br />
ohnehin zur Reduzierung<br />
der <strong>Embryonen</strong>zahl zu gehen, um die belastenden<br />
Mehrlingsschw<strong>an</strong>gerschaften<br />
zu vermindern.Die neuen Richtlinien sehen<br />
deshalb bereits bei IVF und ICSI<br />
vor, einer Frau unter 35 Jahren nur noch<br />
maximal zwei <strong>Embryonen</strong> zu übertragen<br />
(Richtlinien zur assistierten Reproduktion,<br />
DÄ Heft 49/ 1998).<br />
Falls diese – nach meiner Ansicht optimale<br />
– Verbindung eines möglichst sicheren<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzes bei gleichzeitiger<br />
Vermeidung von Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüchen<br />
(als das wesentliche<br />
Argument für PGD) nicht realisierbar<br />
sein sollte, müsste zumindest die Grenze<br />
von zwei oder drei <strong>Embryonen</strong>, die<br />
gleichzeitig erzeugt und untersucht werden<br />
dürfen, unbedingt eingehalten werden.<br />
Es sollte auch eindeutig geregelt<br />
werden, wie mit heterozygoten <strong>Embryonen</strong><br />
bei rezessiven Erkr<strong>an</strong>kungen umgeg<strong>an</strong>gen<br />
wird. Das ist keine akademische<br />
Diskussion ohne praktische Relev<strong>an</strong>z:In<br />
Belgien wird bei X-chromosomal rezessiven<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen auf Wunsch der Eltern<br />
bereits eine Selektion gegen weibliche<br />
verdeckte Anlageträger vorgenommen<br />
(Liebaers, persönliche Mitteilung).<br />
Da kein Embryo einer Frau gegen ihren<br />
Willen übertragen werden k<strong>an</strong>n, wird jede<br />
vorherige Vereinbarung umgehbar<br />
bleiben. Analog zu der Geschlechtsmitteilung<br />
bei <strong>PND</strong> vor der 12. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche<br />
könnte deshalb erwogen<br />
werden, einen heterozygoten Befund<br />
grundsätzlich nicht <strong>an</strong>ders als einen homozygot<br />
unauffälligen Befund mitzuteilen<br />
(worauf die Eltern bereits im Vorfeld<br />
hingewiesen würden).<br />
Ärztliches Ziel der PGD k<strong>an</strong>n nur die<br />
Hilfestellung bei einem bestehenden elterlichen<br />
Konflikt sein, nicht die möglichst<br />
effiziente Verhinderung von Menschen<br />
mit genetischen Erkr<strong>an</strong>kungen.<br />
Insofern ist der Absatz: „Bei einer PGD<br />
darf nur auf diejenige Veränderung des<br />
Erbmaterials untersucht werden, die zu<br />
der infrage stehenden schweren genetischen<br />
Erkr<strong>an</strong>kung führt, für die das Paar<br />
ein hohes genetisches Risiko hat.“ ausdrücklich<br />
zu begrüßen. Um das darin <strong>an</strong>gestrebte<br />
Ziel der eigenen Beschränkung<br />
zu gewährleisten, sollte aber auch<br />
ein Screening der Eltern auf weitere genetische<br />
Veränderungen im Vorfeld der<br />
PGD abgelehnt werden.<br />
Der Qualität wäre es sicherlich zuträglich,<br />
wenn nur wenige, wissenschaftlich<br />
ausgerichtete Zentren für PGD entstehen<br />
dürften: Jede Technik muss ausreichend<br />
geübt werden,um möglichst zuverlässig<br />
zu sein. Schließlich werden die<br />
gen<strong>an</strong>nten Grenzen der PGD nur so l<strong>an</strong>ge<br />
wirksam bleiben, wie eine kommerzielle<br />
Nutzung auf Dauer verhindert werden<br />
k<strong>an</strong>n, da eine Anschaffung der<br />
benötigten Ressourcen unter dem Druck<br />
steht, sich auch den entsprechenden<br />
Bedarf zu erzeugen.<br />
Dr. med. Barbara Leube<br />
Institut für Hum<strong>an</strong>genetik und Anthropologie<br />
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf<br />
Universitätsstraße 1<br />
40225 Düsseldorf<br />
Euphemismus<br />
Die novellierte Fassung des § 218 ermöglicht<br />
es nach chromosomalen oder<br />
genetischen Defekten jeglicher Art zu<br />
untersuchen und <strong>an</strong>schließend die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft abzubrechen – und<br />
zwar zu jedem Zeitpunkt. Grundsätzlich<br />
ist auch eine Untersuchung auf das<br />
Geschlecht möglich.<br />
Damit hat der Gesetzgeber festgestellt,<br />
dass die „positive Eugenik“ im Rahmen<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaft rechtens ist und<br />
die alleinige Entscheidung darüber bei<br />
der Frau liegt. Und tatsächlich ist dies in<br />
der Bundesrepublik jährlich zigtausendfache<br />
Praxis, und jeder tätige Frauenarzt<br />
und Hum<strong>an</strong>genetiker weiß, dass die Vorstellungen<br />
darüber, was „defekt“ oder<br />
was „gesund“ ist, von Frau zu Frau sehr<br />
unterschiedlich sind. Einen gewissen Einhalt<br />
bieten die Richtlinien der Hum<strong>an</strong>genetiker<br />
(im Hinblick auf die Geschlechtsmitteilung),<br />
doch sind dies Selbstverpflichtungen<br />
der beh<strong>an</strong>delnden und diagnostizierenden<br />
Ärzte – der Gesetzgeber<br />
schreibt dies keineswegs vor.<br />
Es ist kaum <strong>an</strong>zunehmen, dass der<br />
Gesetzgeber in der jahrel<strong>an</strong>gen Diskussion<br />
über die Novellierung des § 218 es<br />
„übersehen“ hat, dass durch die jetzige<br />
Formulierung des § 218 der pränatalen<br />
Diagnostik nach allen erdenklichen Gesichtspunkten<br />
mit der Möglichkeit des<br />
21
D O K U M E N T A T I O N<br />
nachfolgenden Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruches<br />
de facto Tür und Tor geöffnet wurde.<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik würde<br />
diese Prinzipien, wie sie im Rahmen<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft als legal erachtet<br />
werden, auf den Embryo vor seiner Einnistung<br />
übertragen.Mehr nicht.Wenn also<br />
schon „am R<strong>an</strong>de der schiefen Bahn“,<br />
d<strong>an</strong>n hätte dieser Aufschrei im Rahmen<br />
der Novellierung des § 218 kommen<br />
müssen. Ist er aber nicht.<br />
Die vorgeschlagenen Richtlinien des<br />
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer<br />
nehmen sich im Gegensatz<br />
zur Praxis des novellierten § 218 ausgesprochen<br />
restriktiv aus. Der jetzige Aufschrei<br />
der Empörung hat deshalb euphemistische<br />
Züge, denn: wie will m<strong>an</strong> es<br />
noch verstehen, dass ein und dieselbe<br />
Diagnostik und Vorg<strong>an</strong>gsweise am Embryo<br />
vor seiner Einnistung verboten sein<br />
soll, während sie nach seiner Einnistung<br />
de facto ohne Einschränkung und in allen<br />
Lebensaltern (also auch <strong>an</strong> lebensfähigen<br />
Feten) zulässig ist.<br />
Nicht vergessen werden darf, dass das<br />
Verfahren der Pränataldiagnostik eine<br />
Befruchtung außerhalb des Körpers (Invitro-Fertilisation)<br />
voraussetzt, also vergleichsweise<br />
aufwendig ist. Es ist deshalb<br />
davon auszugehen, dass die betroffenen<br />
Gibt es ein Recht auf<br />
(gesunde) Kinder<br />
In der Diskussion ethischer und juristischer<br />
Aspekte der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) wird meist der Bezug zu<br />
den entsprechenden Regelungen im Rahmen<br />
der Pränataldiagnostik (FD) und des<br />
§ 218a StGB Abs. 2 hergestellt (vgl. 1).<br />
Dieser Vergleich ist jedoch nicht zulässig.<br />
Bei der moralischen und juristischen<br />
Rechtfertigung eines Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
aus medizinischer Indikation<br />
findet eine Abwägung zwischen dem<br />
Schutz des ungeborenen Lebens und dem<br />
Lebensrecht der Frau statt.Von zentraler<br />
Bedeutung ist hierbei auch, dass die<br />
Schw<strong>an</strong>gere „unschuldig“ in diese Konfliktsituation<br />
hineingeriet (hierzu 2).<br />
Im Fall der <strong>PID</strong> findet demgegenüber<br />
diese Abwägung definitiv nicht statt, da<br />
eine Schw<strong>an</strong>gerschaft noch nicht besteht.<br />
Die noch nicht Schw<strong>an</strong>gere hat<br />
zum Beispiel die Möglichkeit, bewusst<br />
22<br />
Paare, sofern sie normal fertil sind, auch<br />
weiterhin auf die PGD verzichten, ihre<br />
Kinder auf normalem Wege zeugen und<br />
die Untersuchungen d<strong>an</strong>n in der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
vornehmen lassen werden.<br />
Doch was ist mit solchen Ehepaaren,<br />
die auf eine In-vitro-Fertilisation <strong>an</strong>gewiesen<br />
sind (zum Beispiel aufgrund<br />
beidseits fehlender Eileiter der Frau)<br />
und bei denen gleichzeitig eine bek<strong>an</strong>nte<br />
genetische Vorerkr<strong>an</strong>kung besteht<br />
Muss m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n sehenden Auges auf die<br />
entsprechende Diagnostik bei dem Embryo-in-vitro<br />
verzichten,um ihn <strong>an</strong>schließend<br />
einzusetzen, und im Rahmen der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft exakt dieselbe Untersuchung<br />
durchzuführen – freilich mit der<br />
Konsequenz eines dritten Eingriffs, nämlich<br />
dem des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruches<br />
Geht diese absichtliche Zumutung<br />
von zwei zusätzlichen Körperverletzungen<br />
(Pränataldiagnostik und<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch) ethisch wirklich<br />
in Ordnung, oder ist das nicht auch<br />
schon längst „auf der schiefen Bahn“<br />
Prof. Dr. Dr. W. Würfel<br />
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie<br />
und Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin in der Deutschen Gesellschaft<br />
für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), c/o<br />
Frauenklinik Dr. Wilhelm Krüsm<strong>an</strong>n<br />
Schmiedwegerl 2–6<br />
81241 München<br />
auf eine Schw<strong>an</strong>gerschaft zu verzichten<br />
und damit ein Risiko für ihren Gesundheitszust<strong>an</strong>d<br />
aufgrund einer genetischen<br />
Erkr<strong>an</strong>kung eines zukünftigen Kindes zu<br />
vermeiden; sie hat somit alternative<br />
Möglichkeiten, nicht „<strong>an</strong> der Furcht vor<br />
einem genetisch bedingt schwerstkr<strong>an</strong>ken<br />
Kind gesundheitlich zu zerbrechen“<br />
(1). Die Abwägung besteht in dieser Situation<br />
somit zwischen dem bewussten<br />
Verzicht auf biologisch eigene Kinder<br />
und den Grundrechten des Gezeugten.<br />
Die meisten in genetischer Beratung<br />
und PD Tätigen können <strong>an</strong>dererseits<br />
nicht <strong>an</strong> der Tatsache vorbeisehen, dass –<br />
vergleichbar einer zukünftigen Nutzung<br />
der <strong>PID</strong> – zunehmend die Entscheidung<br />
für die Durchführung einer PD schon<br />
primär mit dem Entschluss zu einer<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft gefällt wird. Wir bezweifeln<br />
jedoch, dass diese Nutzung der<br />
PD und der medizinischen Indikation<br />
zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch – im Sinn<br />
einer „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ – mit<br />
Geist und Buchstabe des Gesetzes vereinbar<br />
ist: Ist Kinderlosigkeit tatsächlich<br />
als so schwere Beeinträchtigung des Gesundheitszust<strong>an</strong>ds<br />
<strong>an</strong>zusehen, dass dafür<br />
der Schutz des ungeborenen Lebens<br />
zurückstehen muss<br />
Mit der Zulassung der <strong>PID</strong> würde von<br />
ärztlicher und gesetzgeberischer Seite<br />
auch dieser kalkulierte Einsatz der FD<br />
moralisch positiv s<strong>an</strong>ktioniert; dies entspräche<br />
einem Paradigmenw<strong>an</strong>del der<br />
moralischen Rechtfertigung von PD sowie<br />
der Interpretation des § 218a Abs. 2<br />
StGB.Sowohl die <strong>PID</strong> als auch sämtliche<br />
Verfahren der PD sind vor diesem Hintergrund<br />
kritisch zu hinterfragen,und die<br />
implizit im Raum stehende Frage „Gibt<br />
es ein Recht auf (gesunde) Kinder“ ist<br />
explizit zu diskutieren.<br />
1. Hoppe, J.-D., und K.-F. Sewing, Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
– Vorwort, DÄ Heft 9/2000.<br />
2. Böckle, F., Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch –<br />
1. Ethik, in: Eser, A. et al. (Hg.), Lexikon<br />
Medizin, Ethik, Recht, Freiburg 1989, Sp. 963–<br />
969.<br />
Dr. med. H<strong>an</strong>s-Jürgen P<strong>an</strong>der<br />
Institut für Klinische Genetik<br />
Städtische Frauenklinik<br />
Obere Straße 2, 70190 Stuttgart<br />
Dr. med. Monika Hagedorn-Greiwe<br />
Institut für Hum<strong>an</strong>genetik<br />
Universitätsklinikum Lübeck<br />
Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck<br />
Dr. med. K. Mennicke<br />
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin<br />
Universitätsklinikum Lübeck<br />
Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck<br />
Wir alle sind gefordert<br />
Eindeutige Stellungnahmen von Ärzten/<br />
Ärztinnen und gesellschaftlichen Org<strong>an</strong>isationen<br />
sind dringend gefordert:<br />
➀ Selektion der Eltern: Entgegen allen<br />
sprachlichen Verschleierungs- und<br />
Verharmlosungstendenzen der Mitglieder<br />
des Beirates bleibt festzuhalten: Die<br />
Ehepaare, bei denen – obwohl keine Unfruchtbarkeit<br />
vorliegt – vor extrakorporaler<br />
Befruchtung eine genetische Untersuchung<br />
der befruchteten Eizelle vorgenommen<br />
werden k<strong>an</strong>n, werden ausgesucht<br />
– bestimmt – selektioniert – wie immer<br />
dies bezeichnet werden soll. Sie werden<br />
selektioniert nach ihrem Erbgut und<br />
der daraus resultierenden Kr<strong>an</strong>kheitsgefährdung<br />
des gewünschten Kindes.
D O K U M E N T A T I O N<br />
➁ Selektion der Kinder: Die Entscheidung,<br />
ob die „geschädigte Eizelle“ impl<strong>an</strong>tiert<br />
oder „verworfen“ wird, richtet<br />
sich nach oberflächlichem Lesen nach der<br />
Beeinträchtigung der Mutter. De facto<br />
aber ist einzig und alleine das Ergebnis<br />
der genetischen Untersuchung entscheidend,<br />
denn warum sonst sollte sich ein<br />
Ehepaar dem Stress der künstlichen Befruchtung<br />
unterziehen, wenn das Ergebnis<br />
der Untersuchung für die Entscheidung<br />
der Impl<strong>an</strong>tation unerheblich wäre<br />
➂ Herabsetzung der Tötungsschwelle:<br />
Im Vorwort des Entwurfes ist es eindeutig<br />
beschrieben: „Die PGD k<strong>an</strong>n allerdings<br />
im Einzelfall die spätere Pränataldiagnostik<br />
ersetzen und damit zu einer<br />
Konfliktreduzierung beitragen, weil<br />
sie Entscheidungen über einen eventuellen<br />
Abbruch einer fortgeschrittenen<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft vermeidet.“ Mit <strong>an</strong>deren<br />
Worten: Ein totipotentes Acht-Zell-<br />
Stadium „verwirft“ m<strong>an</strong> – mit weniger<br />
Bedenken –, bei einem Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
im dritten bis fünften<br />
Monat ist der Tod des sich entwickelnden<br />
Menschen greifbarer und führt sicherlich<br />
zu stärkeren Konflikten. Der<br />
Mech<strong>an</strong>ismus der Konfliktreduktion<br />
durch Herabsetzung der Tötungsschwelle<br />
ist ein Mech<strong>an</strong>ismus, der uns<br />
aus der Zeit des Nationalsozialismus gut<br />
bek<strong>an</strong>nt ist und Werteänderungen nach<br />
sich zieht, die im Nationalsozialismus<br />
zur Vergasung Tausender behinderter<br />
Menschen geführt hat.<br />
➃ Eigeninteresse der Mitglieder des<br />
Wissenschaftlichen Beirates: Die Mitglieder<br />
des Beirates sind auch Forscher,<br />
die eigene Interessen <strong>an</strong> der Aufweichung<br />
von <strong>Forschung</strong>sgrenzen haben,<br />
die eventuell auch weitergehende eigene<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben entwickeln. Wer<br />
sagt uns denn, ob nicht nach Durchsetzung<br />
der PGD der nächste Schritt die genetischen<br />
Reparationsversuche <strong>an</strong> den<br />
„kr<strong>an</strong>ken“ befruchteten Eizellen sein<br />
werden Natürlich wieder zum Wohle<br />
des sich entwickelnden Menschen, den<br />
m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n nach „Reparatur“ ja doch impl<strong>an</strong>tieren<br />
könnte Wer will denn letztlich<br />
verhindern, dass <strong>an</strong> den „verworfenen“<br />
Zellen weitere Versuche gemacht<br />
werden Das Interesse von Wissenschaftlern<br />
und deren Wunsch nach Anerkennung<br />
ist viel zu groß, als dass von<br />
dieser Seite eigene S<strong>an</strong>ktionen gegen<br />
Missbrauch greifen könnten.<br />
➄ Die Zusammensetzung der Ethikkommissionen,<br />
die Beratung und Aufklärung:<br />
Die Beratung und Aufklärung<br />
unterliegt laut Entwurf dem Hum<strong>an</strong>genetiker<br />
und dem Gynäkologen (die ausschließlich<br />
männliche Form ist auch so im<br />
Entwurf enthalten). Wie immer sind<br />
nicht-ärztliche Gruppen in den Regelberatungen<br />
nicht vorgesehen, sondern können<br />
zusätzlich <strong>an</strong>geboten werden. Dabei<br />
gilt festzuhalten, dass auf sozialpsychologischer<br />
Ebene – auf der zunächst der Konflikt<br />
überhaupt besteht – Mediziner/innen<br />
nach Aus- und Weiterbildung über keinerlei<br />
besondere Kompetenz verfügen, eine<br />
Beratung adäquat durchführen zu können.<br />
Das Gleiche gilt für die Zusammensetzung<br />
der Ethik-Kommissionen.<br />
Wir alle sind gefordert, der Aufweichung<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
und dem Aufbau weiterer selektionierender<br />
Maßnahmen entgegenzutreten.<br />
Wer glaubt, durch Nichteinmischung der<br />
Ver<strong>an</strong>twortung für ethische Fragen entgehen<br />
zu können, der irrt.<br />
Cornelia Femers<br />
Kühlenberg 20<br />
58644 Iserlohn<br />
Erklärung<br />
Aus jahrzehntel<strong>an</strong>ger weit überwiegend<br />
positiver Erfahrung als Patient und als<br />
jahrzehntel<strong>an</strong>ger berufspolitischer Wegbegleiter<br />
der deutschen Ärzteschaft fühle<br />
ich mich zu einer Erklärung verpflichtet:<br />
Ich stimme der Stellungnahme von Joachim<br />
Kardinal Meisner voll inhaltlich zu.<br />
Dazu darf ich bemerken, dass ich der<br />
lutherischen Kirche <strong>an</strong>gehöre, ohne mich<br />
wirklich als Christ bezeichnen zu können.<br />
Ich muss mich heute fragen, ob ich bei<br />
der damaligen Diskussion zur künstlichen<br />
Insemination meine grundsätzliche<br />
Ablehnung deutlich genug in den Gremien<br />
der Bundesärztekammer vertreten<br />
habe. Nach meinen Aufzeichnungen wäre<br />
die erste Stellungnahme <strong>an</strong>lässlich der<br />
Vorbereitungen und der Durchführung<br />
des 62.Deutschen Ärztetages 1959 in Lübeck<br />
fällig gewesen. Der Deutsche Ärztetag<br />
hielt damals eine homologe intrauterine<br />
künstliche Insemination in besonderen<br />
Ausnahmefällen mehrheitlich<br />
für ethisch vertretbar.<br />
Der 73. Deutsche Ärztetag 1970 in<br />
Stuttgart erhob d<strong>an</strong>n mehrheitlich keine<br />
generellen Einwände mehr. Er bezeichnete<br />
diese nicht mehr als st<strong>an</strong>deswidrig,<br />
aber empfahl sie auch nicht ausdrücklich.<br />
Ich entsinne mich sehr deutlich, dass ich<br />
damals bereits der Auffassung war, hier<br />
verletze der Mensch unter Missbrauch<br />
des naturwissenschaftlich-technischen<br />
Fortschritts eine ihm von der Natur selbst<br />
errichtete Grenze, einen kategorischen<br />
Imperativ des menschlichen Seins.<br />
Ich entsinne mich dieser meiner damaligen<br />
Auffassung um so deutlicher,<br />
als ebenfalls in die Siebzigerjahre eine<br />
lebhafte Diskussion zum Thema „Sterbehilfe<br />
als Lebenshilfe“ fällt, in der ich<br />
mich eindeutig gegen die Straffreiheit<br />
auch von „passiver“ Sterbehilfe ausgesprochen<br />
habe. Das geschah mit dem<br />
Hinweis, dass der Mensch gegebenenfalls,<br />
seinem Gewissen folgend, auch gegen<br />
geltendes Strafrecht h<strong>an</strong>deln müsse.<br />
Er könne d<strong>an</strong>n lediglich auf einen einsichtigen<br />
Richter hoffen, der wohl wissen<br />
sollte, dass als unverzichtbarer Best<strong>an</strong>dteil<br />
jeder sittlichen Rechtsordnung<br />
auch Gnade zu gelten habe.<br />
Prof. Dr. h. c. J. F. Volrad Deneke<br />
Axenfeldstraße 16<br />
53177 Bonn<br />
Armutszeugnis<br />
Scham und Mitleid erfüllen einen, wenn<br />
m<strong>an</strong> liest, was die Herren Hoppe und Sewing<br />
sowie die Arbeitsgruppe „Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
der Bundesärztekammer<br />
unter ihrem „Beitrag zur Schärfung<br />
des Problembewusstseins“ zur<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik verstehen.<br />
Mitnichten wird hier irgendeine ethische<br />
Problematik <strong>an</strong>geschnitten. Der vorgelegte<br />
„Diskussionsentwurf“ ist indes ein<br />
bloßes Abwicklungspapier, welches die<br />
genaueren Modalitäten der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
festzulegen versucht. Besonders<br />
wertvoll erscheint mir dabei die<br />
Erkenntnis, dass „kein Arzt gegen sein<br />
Gewissen verpflichtet werden k<strong>an</strong>n, <strong>an</strong><br />
einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mitzuwirken“,<br />
oder aber die Feststellung, dass<br />
die involvierten Ärzte über entsprechende<br />
Kenntnisse und Erfahrung verfügen<br />
müssen. Hierüber besteht in der Tat ein<br />
g<strong>an</strong>z erheblicher Diskussionsbedarf.<br />
Der Umst<strong>an</strong>d, dass in den einleitenden<br />
Worten eine Präjudiz explizit ausgeschlossen<br />
wird, täuscht den intelligenten<br />
23
D O K U M E N T A T I O N<br />
Leser und Herrn Kardinal Meisner nicht<br />
darüber hinweg, dass selbstverständlich<br />
ein Ergebnis vorweggenommen wird. Indem<br />
nämlich darüber lamentiert wird, unter<br />
welchen org<strong>an</strong>isatorischen Rahmenbedingungen<br />
die bereits bejahte Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
letztendlich vorgenommen<br />
werden soll. Mit Sp<strong>an</strong>nung erwarte<br />
ich den „Diskussionsentwurf“, der<br />
sich damit beschäftigen wird, unter welchen<br />
Kautelen d<strong>an</strong>n schließlich die Unterscheidung<br />
zwischen „kr<strong>an</strong>k“ und „gesund“<br />
getroffen wird und welches Antragsverfahren<br />
für die nachfolgende Elimination<br />
des „Kr<strong>an</strong>ken“ erforderlich ist.<br />
Der „Diskussionsentwurf“ ist ein bemerkenswertes<br />
Armutszeugnis der deutschen<br />
Ärzteschaft und trägt nichts zu der<br />
inhaltlichen, das heißt sittlichen Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
mit der beschriebenen Problematik<br />
bei.Vielmehr scheint die Ch<strong>an</strong>ce<br />
vert<strong>an</strong>, aus ärztlicher Sicht gerade im<br />
Hinblick auf den ras<strong>an</strong>ten Zuwachs <strong>an</strong><br />
diagnostischen und therapeutischen<br />
Möglichkeiten auf die sehr umf<strong>an</strong>greichen<br />
ethischen Folgeprobleme hinzuweisen.Dass<br />
ein Theologe uns auf die immer<br />
schwierigeren Grenzen zwischen medizinisch<br />
Machbarem und sittlich Zulässigem<br />
hinweisen muss, ist bitter.<br />
M<strong>an</strong> darf es getrost als eine Zumutung<br />
bezeichnen, auf welchem Niveau<br />
Thema verfehlt<br />
Zu der Stellungnahme von Kardinal<br />
Meisner ...gibt es nur einen Kommentar:<br />
Thema verfehlt.<br />
Dr. Konrad Ringleb<br />
Brunnenstraße 97, 99974 Mühlhausen<br />
Ausweg: Adoption<br />
24<br />
sich Kardinal Meisner mit den deutschen<br />
Ärzten beziehungsweise ihren repräsentativen<br />
Gremien verständigen<br />
muss. Dass er hierbei einen direkten<br />
Vergleich zum ärztlichen Mitwirken <strong>an</strong><br />
der historischen „Verhütung erbkr<strong>an</strong>ken<br />
Nachwuchses“ her<strong>an</strong>zieht, ist völlig<br />
zutreffend und legitim. So wie damals<br />
Ärzte es waren, die ihr Wissen in den<br />
Dienst einer verwerflichen Welt<strong>an</strong>schauung<br />
stellten, ist es auch heute wieder<br />
unser Berufsst<strong>an</strong>d, der eine vermeintlich<br />
ethische Pragmatik zur Verfügung<br />
stellt, um ein im Grunde unethisches<br />
Vorgehen zu ermöglichen. Heute<br />
wie damals wird sich unser St<strong>an</strong>d jedoch<br />
letztlich nicht seiner Ver<strong>an</strong>twortung entziehen<br />
können.<br />
Unter diesen Umständen ist zu überlegen,<br />
inwieweit Stellungnahmen und<br />
so gen<strong>an</strong>nte Diskussionsentwürfe der<br />
Bundesärztekammer zu derlei Dingen<br />
überhaupt noch sinnvoll sind. Zur<br />
„Schärfung des Problembewusstseins<br />
im gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess“<br />
tragen sie jedenfalls sicherlich<br />
nicht bei.<br />
Dr. med. Karl-Anton Kreuzer<br />
Abteilung für Innere Medizin<br />
Medizinische Fakultät Charité der Humboldt-Universität<br />
zu Berlin, Campus Virchow-Klinikum<br />
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin<br />
Im Vorwort zum Diskussionsentwurf der<br />
BÄK-Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
steht, dass die damit verbundenen<br />
ethischen Konflikte nur d<strong>an</strong>n zu vermeiden<br />
sind, wenn „betroffene Paare bewusst<br />
auf Kinder verzichten oder sich zu einer<br />
Adoption entschließen“. Jedoch würden<br />
diese Alternativen von Paaren mit hohen<br />
genetischen Risikofaktoren „häufig nicht<br />
akzeptiert“. Aus früherer <strong>an</strong>drologischer<br />
Praxis wohl bek<strong>an</strong>nt sind mir viele Vorbehalte<br />
gegen eine Adoption, die bei spermatologisch<br />
gesicherter Infertilität zur Erfüllung<br />
des Kinderwunsches damals einzig offen<br />
st<strong>an</strong>d (abgesehen von der ethisch und<br />
[Personenst<strong>an</strong>ds-]rechtlich absolut unzulässigen<br />
<strong>an</strong>onym-heterologen Insemination).Verständliche<br />
Ängste oder Vorurteile<br />
(„Blamage“ für das Paar beziehungsweise<br />
den M<strong>an</strong>n, befürchtete Unterschiebung<br />
„minderwertiger“ Kinder durch die Gesundheitsämter<br />
u. a.) waren aber durch<br />
einfühlsame Aufklärung des Paares zu mildern<br />
oder zu entkräften. Auch heute noch<br />
könnte sachkundige Adoptionsberatung<br />
viel erreichen, wenn zum Beispiel auch<br />
die l<strong>an</strong>gwierige, oft als Zumutung empfundene<br />
Gründlichkeit der für beide Seiten<br />
– Adoptiveltern und Kind – gleichermaßen<br />
ver<strong>an</strong>twortlichen Behörden erläutert<br />
wird, <strong>an</strong>dererseits dem Paar die Minimierung<br />
von Risiken – Ausschluss erbkr<strong>an</strong>ker<br />
oder erkennbar belasteter Kinder<br />
durch pädiatrische Voruntersuchung,<br />
gesundheitsamtliche Überprüfung des sozialen<br />
Milieus und der Gesundheit der<br />
Mutter sowie (nach Möglichkeit) des Vaters<br />
– und die Ch<strong>an</strong>ce der freien Wahl eines<br />
Wunschkindes unter verschiedenen<br />
Kleinkindern (nur zu Kleinkindern wurde<br />
geraten) im Waisenhaus klar gemacht<br />
wird. Dies und nicht zuletzt die mit der<br />
Adoption gegebene „Gleichberechtigung“<br />
hinsichtlich der Rechte und Pflichten<br />
zur Erziehung und Förderung des<br />
Kindes lässt die Adoption d<strong>an</strong>n in neuem<br />
Licht erscheinen, nicht mehr als bloßen<br />
Notbehelf. Selbstverständlich setzt eine<br />
Beratung, die auch das Selbstvertrauen<br />
und die (durch die Wartefrist oft belastete)<br />
Frustrationstoler<strong>an</strong>z des Paares stützen<br />
soll, ein taktvoll-hilfsbereites Verhalten<br />
der Behördenpersonen voraus, um<br />
präsumptive Adoptiveltern nicht zu verunsichern.<br />
Möglicherweise beruht die geringe<br />
Akzept<strong>an</strong>z des Adoptions<strong>an</strong>gebots<br />
auf mehreren Gründen. Zu geringes ärztliches<br />
Interesse <strong>an</strong> einer „nur“ sozio-therapeutischen<br />
(aber oft glücklichen) – statt<br />
einer instrumentell machbaren – Erfüllung<br />
des Kinderwunsches, unpersönlicher<br />
Formalismus bei Behörden, falsche<br />
Scham vor dem „Makel“ einer ungewollt<br />
kinderlosen Ehe usw. Hätten hier nicht<br />
die Jugendämter, die Kirchen und die<br />
„Medien“ eine wertvolle, gegenüber der<br />
uninformierten Öffentlichkeit viel zu l<strong>an</strong>ge<br />
vernachlässigte Aufgabe<br />
Professor Dr. med. Otto P. Hornstein<br />
D<strong>an</strong>ziger Straße 5, 91030 Uttenreuth<br />
D<strong>an</strong>k <strong>an</strong> Kardinal Meisner<br />
. . . Die ethische Verrohung geht einher<br />
mit marktförderlichem Mech<strong>an</strong>ismus.<br />
Der Utilitarismus eines Herrn Lenin lässt<br />
grüßen, ebenso der Sozialdarwinismus aller<br />
Schattierungen. Die Bundesärztekammer<br />
sollte im Wissen um das üble Erbe der<br />
Reichsärztekammer konsequente Hüterin<br />
des Lebens sein! Will m<strong>an</strong> in 50 Jahren<br />
wieder behaupten, die katholische Kirche<br />
hätte zu leise gewarnt Wer das 20. Jahrhundert<br />
unter Marktaspekten gleich<br />
Ideologieaspekten betrachtet, kommt zu<br />
der Feststellung,dass insbesondere die katholische<br />
Kirche ein Markthemmungsfaktor<br />
ist, den das 20. Jahrhundert erfolgreich<br />
beseitigt hat. Dem Deutschen Ärzteblatt<br />
ist für die Veröffentlichung der Stellungnahme<br />
von Kardinal Meisner außerordentlich<br />
zu d<strong>an</strong>ken.<br />
Dr. med. Steph<strong>an</strong> Kunze<br />
Friedrich-Hegel-Straße 31, 01187 Dresden
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 17, 28. April 2000<br />
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer<br />
Von richtigen rechtlichen<br />
Voraussetzungen ausgehen<br />
Zur rechtlichen Bewertung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Der vom Wissenschaftlichen Beirat<br />
der Bundesärztekammer vorgelegte<br />
„Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
hat unterschiedliche Reson<strong>an</strong>z in<br />
der Öffentlichkeit gefunden. Dabei ist<br />
immer wieder die Frage nach der Vereinbarkeit<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz aufgeworfen<br />
worden, so auch von Riedel (DÄ<br />
Heft 10/2000), die feststellt, die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
stehe im Widerspruch<br />
zum <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.<br />
Es überrascht,wie apodiktisch und vehement<br />
zugleich Riedel zur Einleitung<br />
ihres Plädoyers für eine unvoreingenommene<br />
Debatte behauptet, eine Zulassung<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik sei<br />
mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
(EschG) nicht vereinbar, ohne dass eine<br />
nähere Ausein<strong>an</strong>dersetzung mit dem<br />
Gesetzestext stattgefunden hat.<br />
Ihrem Beitrag,in dem sie die durchaus<br />
nachvollziehbare Forderung einer gesetzlichen<br />
Regelung erhebt, stellt Riedel<br />
die These vor<strong>an</strong>, die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
stehe im Widerspruch zum<br />
ESchG. Diesem zufolge, so heißt es, dürfe<br />
eine Eizelle nur zum Zweck der Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft bei<br />
der Frau, von der die Eizelle stammt,<br />
künstlich befruchtet werden;ein Embryo<br />
dürfe auch nur zu diesem Zweck weiterentwickelt<br />
und ein extrakorporal erzeugter<br />
Embryo dürfe zu keinem <strong>an</strong>deren<br />
Zweck als zu seiner Erhaltung verwendet<br />
werden, siehe § 1 l Nr. 2, § 2 l und II<br />
ESchG. Ziel der Regelung der künstlichen<br />
Befruchtung im ESchG sei die Beh<strong>an</strong>dlung<br />
von Fertilitätsstörungen, also<br />
die Erfüllung des Kinderwunsches einer<br />
Frau oder eines Paares. Dieses von Riedel<br />
so betonte Ziel wird im ESchG jedoch<br />
gerade nicht ausdrücklich ben<strong>an</strong>nt.<br />
Riedels Aussagen zeigen vielmehr, dass<br />
hier der Wunsch des Bestehens eines<br />
Verbotes Mutter der Argumentation ist,<br />
mehr jedoch nicht.<br />
Ein allgemeines Verbot der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
könnte sich aus<br />
§ 1 l Nr. 2 ESchG herleiten. Dort heißt<br />
es, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren<br />
oder mit Geldstrafe werde bestraft, wer<br />
es unternimmt, eine Eizelle zu einem<br />
<strong>an</strong>deren Zweck künstlich zu befruchten,<br />
als eine Schw<strong>an</strong>gerschaft der Frau<br />
herbeizuführen, von der die Eizelle<br />
stammt.<br />
Wenn ein Arzt im Rahmen einer Invitro-Fertilisation<br />
(IVF) eine Eizelle befruchtet<br />
und diese durch Entnahme einer<br />
nicht mehr totipotenten Zelle auf bestimmte<br />
genetische Defekte untersucht,<br />
um je nach Befund den Embryo zu tr<strong>an</strong>sferieren<br />
oder nicht, ist fraglich, ob der<br />
Arzt die Eizelle gemäß § 1 l Nr.2 EschG –<br />
wie Riedel behauptet – zu einem <strong>an</strong>deren<br />
Zweck künstlich befruchtet, als die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft einer Frau herbeizuführen<br />
– nämlich vielmehr, um eine „Selektionsmöglichkeit“<br />
zu eröffnen. Tatbest<strong>an</strong>dslos<br />
h<strong>an</strong>delt, wer mit der Absicht<br />
h<strong>an</strong>delt, eine Schw<strong>an</strong>gerschaft herbeizuführen.<br />
Riedel scheint der Ansicht zu sein,<br />
dass eine solche Absicht bei der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
zum Zeitpunkt<br />
der Befruchtung noch nicht besteht. Diese<br />
Auffassung wird den tatsächlichen Gegebenheiten<br />
jedoch nicht gerecht, da sie<br />
eine künstliche Aufteilung eines einheitlichen<br />
Vorg<strong>an</strong>ges vornimmt. Die Betroffenen<br />
h<strong>an</strong>deln von Beginn der IVF mit<br />
dem Bewusstsein, dass die gesamte Beh<strong>an</strong>dlung<br />
auf Herbeiführung einer<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft ausgerichtet ist. Dass<br />
die Schw<strong>an</strong>gerschaft noch von einer Bedingung<br />
abhängig gemacht wird, stellt<br />
dabei ein separat zu beh<strong>an</strong>delndes Problem<br />
dar. So ist die Frage, ob die Absicht<br />
deshalb verneint werden könnte,weil ein<br />
später vorzunehmender Teilakt noch<br />
von einer weiteren Bedingung, das heißt<br />
der Entscheidung der Mutter zum Tr<strong>an</strong>sfer,<br />
abhängig gemacht werden soll. Die<br />
Absicht wird allein nach der voluntativen<br />
Beziehung zwischen Täterpsyche<br />
und Taterfolg definiert. Bewusst herbeigeführte<br />
und erwünschte Erfolge sind<br />
immer beabsichtigt, auch wenn ihr Eintritt<br />
nicht sicher ist (Roxin, Strafrecht<br />
Allgemeiner Teil, B<strong>an</strong>d l, 3.Auflage, § 12<br />
Rdnr. 11; Cramer in: Schönke/Schröder,<br />
25. Auflage, § 15 Rdnr. 67, m. w. N.). Das<br />
Abhängigmachen der Vornahme eines<br />
zukünftig vorzunehmenden Teilaktes<br />
von einem Bedingungsschritt, hier der<br />
Annahme zur Übertragung eines Embryos<br />
auf die Mutter, schließt die Absicht,<br />
eine Schw<strong>an</strong>gerschaft herbeizuführen,<br />
gerade nicht aus. Eine Strafbarkeit<br />
nach § 1 l Nr. 2 ESchG k<strong>an</strong>n daher<br />
nicht bejaht werden, wenn die Fertilisation<br />
erfolgt. Dieses Ergebnis ist naheliegend,<br />
bedenkt m<strong>an</strong>, dass auch bei der<br />
Vornahme einer regulären IVF ohne<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik der Arzt<br />
den <strong>an</strong>schließenden Embryotr<strong>an</strong>sfer<br />
stets von der Bedingung abhängig macht,<br />
dass sich die Patientin auch später noch<br />
bereit erklärt, diesen vornehmen zu lassen<br />
(hierzu und im Folgenden demnächst<br />
Schneider in MedR 2000. Auf dem Weg<br />
zur Selektion – Strafrechtliche Aspekte<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik). Weiterer<br />
Anknüpfungspunkt für eine mögliche<br />
Strafbarkeit nach § 1 l Nr. 2 ESchG<br />
k<strong>an</strong>n sein, die „Ausschließlichkeit“ der<br />
Zweckverfolgung in Zweifel zu ziehen.<br />
Die Frage ist, ob nur derjenige tatbest<strong>an</strong>dslos<br />
h<strong>an</strong>delt, der die Eizelle ausschließlich<br />
deshalb künstlich befruchtet,<br />
um eine Schw<strong>an</strong>gerschaft der Frau herbeizuführen,<br />
von der der Embryo<br />
stammt,oder ob der Täter auch einen <strong>an</strong>deren<br />
Nebenzweck mit der künstlichen<br />
Befruchtung verfolgen k<strong>an</strong>n, ohne tatbest<strong>an</strong>dsmäßig<br />
zu h<strong>an</strong>deln.<br />
Aus dem Gesetzestext geht nicht hervor,<br />
dass die Absicht der Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft durch die gleichzeitige<br />
absichtliche Verfolgung eines <strong>an</strong>deren<br />
Zweckes – nämlich zuvor die genetische<br />
Struktur des Embryos zu prüfen<br />
– ausgeschlossen ist. Dieses Ergebnis<br />
ließe sich nur im Wege unzulässiger erweiternder<br />
Interpretation oder Analogie<br />
gewinnen. Die äußerste Auslegungsgrenze<br />
markiert jedoch nach der Rechtsprechung<br />
des BVerfG (BVerfGE 73,<br />
25
D O K U M E N T A T I O N<br />
206 [234 ff.];92,1 [12]) und vorherrschender<br />
Ansicht im Schrifttum (Larenz, Methodenlehre<br />
der Rechtswissenschaft, 6.<br />
Auflage, S. 323 m. w. N.) der mögliche<br />
Wortsinn eines gesetzlichen Begriffs.<br />
Im Strafrecht gilt ferner das Verbot<br />
der strafbarkeitsbegründenden oder<br />
-schärfenden Analogie (Roxin, Strafrecht,Allgemeiner<br />
Teil, B<strong>an</strong>d l, 3.Auflage,<br />
§ 5 Rdnr. 26 ff., m. w. N.). Art. 103 II<br />
GG macht die Strafbarkeit einer Tat von<br />
einer gesetzlichen Regelung abhängig<br />
und verbietet eine Ausdehnung der<br />
Strafbarkeit über den Gesetzeswortlaut<br />
hinaus auf ähnlich strafbedürftig und<br />
strafwürdig erscheinende Verhaltenweisen.<br />
Diese engen Grenzen verkennt Riedel.<br />
Für die Annahme einer „Ausschließlichkeit“<br />
des verfolgten Zwecks im Sinne<br />
des Verbotes eines Nebenzwecks<br />
sind im Gesetz keine Anhaltspunkte ersichtlich.<br />
Von Riedel wird ferner der mit „Missbräuchliche<br />
Verwendung“ überschriebene<br />
§ 2 l EschG als Argument für ein Verbot<br />
gen<strong>an</strong>nt. Dort heißt es, dass derjenige,<br />
der einen extrakorporal erzeugten<br />
[. . .] menschlichen Embryo [. . .] zu einem<br />
nicht seiner Erhaltung dienenden<br />
Zweck [. . .] verwende, mit Freiheitsstrafe<br />
bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe<br />
bestraft werde.<br />
Fraglich ist, ob es eine „missbräuchliche<br />
Verwendung“ darstellt, den<br />
Embryo nach erfolgter Biopsie und der<br />
Feststellung von bestimmten genetischen<br />
Defekten nicht zu tr<strong>an</strong>sferieren,<br />
sondern in der Petrischale liegen zu lassen,<br />
bis er sich nicht weiterentwickeln<br />
k<strong>an</strong>n und daraufhin abstirbt.<br />
Dies setzt zunächst voraus, dass die<br />
„Verwendung“ im Sinne von § 2 l EschG<br />
auch durch Unterlassen begehbar ist<br />
(<strong>an</strong>dere Auffassung Günther, in: Keller/<br />
Günther/Kaiser, § 2 Rn. 34). Unterstellt<br />
m<strong>an</strong> dies, ist im Falle der Vornahme eine<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – welche im<br />
Einverständnis und auf Bitten des betroffenen<br />
Ehepaares durchgeführt wird<br />
– § 2 l ESchG in Form des Unterlassens<br />
deshalb nicht einschlägig, weil dem Arzt<br />
die Einsetzung der „selektierten“ Eizelle<br />
entweder gar nicht möglich ist oder es<br />
ihm nicht zuzumuten wäre, gegen den<br />
Willen der Patientin und entgegen dem<br />
Ziel der Beh<strong>an</strong>dlung die Eizelle dennoch<br />
26<br />
– etwa unter Täuschung der Patientin –<br />
zu tr<strong>an</strong>sferieren. Im Fall der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ist die Erfüllung des<br />
Tatbest<strong>an</strong>des von § 2 l ESchG durch<br />
Nichtübertragung des Embryos, sondern<br />
Liegenlassen, wenn die Patientin einen<br />
Tr<strong>an</strong>sfer der belasteten Zelle ablehnt,<br />
nicht strafbar.<br />
Ein Verstoß gegen § 2 l ESchG wäre<br />
ferner denkbar, wenn m<strong>an</strong> in der Entnahme<br />
und Untersuchung einer Zelle eine<br />
Verwendung des Embryos sehen würde,<br />
die einem nicht seiner Erhaltung<br />
dienenden Zwecke gewidmet ist, das<br />
heißt mit <strong>an</strong>deren Worten, wenn m<strong>an</strong> argumentiert,<br />
„das Untersuchen“ diene<br />
nicht der Erhaltung und würde somit eine<br />
missbräuchliche Verwendung darstellen.<br />
Entnimmt der Arzt dem Embryo eine<br />
Zelle und beeinträchtigt das die späteren<br />
Weiterentwicklungsch<strong>an</strong>cen nicht,<br />
insofern als der Embryo noch mit den<br />
regulären Erfolgsaussichten auf Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft in den<br />
Mutterleib übertragen werden k<strong>an</strong>n, ist<br />
die Beh<strong>an</strong>dlung als „neutrale H<strong>an</strong>dlung“<br />
zu werten. Die Untersuchung ist zwar<br />
nicht notwendig für die Erhaltung, zugleich<br />
beeinträchtigt sie eine solche Erhaltung<br />
auch nicht. Schon der objektive<br />
Tatbest<strong>an</strong>d scheint nicht erfüllt zu sein.<br />
§ 2 l ESchG verl<strong>an</strong>gt jedoch weiter als<br />
spezielles subjektives Tatbest<strong>an</strong>dsmerkmal<br />
die Absicht des Täters, einen nicht<br />
der Erhaltung des Embryos dienenden<br />
Zweck zu verfolgen. Eine solche Absicht<br />
in Form zielgerichteten Wollens ist jedoch<br />
nicht gegeben. Es kommt dem Arzt<br />
nicht darauf <strong>an</strong>, mit der H<strong>an</strong>dlung einen<br />
Zweck zu verfolgen, der nicht der Erhaltung<br />
des Embryos dient. Ein Verstoß gegen<br />
§ 2 l ESchG ist daher auch durch die<br />
Untersuchung nicht gegeben.<br />
Was den § 2 II ESchG betrifft, in dem<br />
es heißt:„Ebenso wird bestraft,wer zu einem<br />
<strong>an</strong>deren Zweck als der Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft bewirkt,dass<br />
sich ein menschlicher Embryo<br />
extrakorporal weiterentwickelt“, so<br />
muss auch hier auf das Erfordernis der<br />
Absicht, das heißt des dolus directus ersten<br />
Grades, hingewiesen werden. Ein<br />
solches zielgerichtetes Wollen ist nicht<br />
gegeben.<br />
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass<br />
der Ausg<strong>an</strong>gspunkt Riedels, die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
stehe im Widerspruch<br />
zum ESchG, nicht richtig ist.<br />
Welche Konsequenz die fehlende Regelung<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
in Zukunft haben wird und ob der Gesetzgeber<br />
sie regeln sollte, ist damit jedoch<br />
noch keineswegs geklärt. Den Autoren<br />
des Diskussionsentwurfs eine einseitige<br />
Fehlinterpretation des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
und eine schon deshalb<br />
falsche Position zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
vorzuwerfen, ist verfehlt.<br />
Der Entwurf dient gerade dazu, die öffentliche<br />
Diskussion <strong>an</strong>zuregen. Die in<br />
ihm vertretene Position ist rechtlich jedenfalls<br />
möglich. M<strong>an</strong> sollte bei der Beurteilung<br />
von richtigen rechtlichen Voraussetzungen<br />
ausgehen.<br />
Prof. Dr. Dr. med. h. c. H.-L. Schreiber<br />
Direktor des Juristischen Seminars<br />
Postfach 37 44<br />
37027 Göttingen
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 17, 28. April 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
als Ver<strong>an</strong>twortung<br />
Dass die Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin ein<br />
problem- und konfliktbeladenes Feld<br />
ärztlicher Tätigkeit darstellt, ist unverkennbar.<br />
So war es nahezu unvermeidbar,<br />
dass sich der Wissenschaftliche<br />
Beirat der Bundesärztekammer dieses<br />
schwierigen Terrains <strong>an</strong>genommen hat,<br />
um den St<strong>an</strong>d der Wissenschaft in ein<br />
berufsrechtliches Regelwerk oder Vorschläge<br />
dazu einzubetten. Die „Richtlinien<br />
zur Durchführung der assistierten<br />
Reproduktion“ (1998), die „Richtlinien<br />
zur pränatalen Diagnostik von Kr<strong>an</strong>kheiten<br />
und Kr<strong>an</strong>kheitsdispositionen“<br />
(1998), die „Erklärung zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
nach Pränataldiagnostik“<br />
(1998) sind als Niederschlag dieser<br />
Bemühungen zu verstehen. In den<br />
„Richtlinien zur Pränataldiagnostik von<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten und Kr<strong>an</strong>kheitsdispositionen“<br />
wurde der Komplex Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ausgeklammert, da<br />
klar geworden war, dass diese wegen<br />
der Sensibilität des Themas eines eigenständigen<br />
Papiers bedurfte. Die intensive<br />
Bearbeitung durch einen multidisziplinär<br />
– in seinen Anschauungen keinesfalls<br />
uniform – besetzten Arbeitskreis<br />
hat ihren Niederschlag gefunden<br />
in der vom Wissenschaftlichen Beirat<br />
einstimmig gebilligten Form eines „Entwurfs<br />
für eine Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“.<br />
Der Wissenschaftliche<br />
Beirat ist ein Beratungsgremium der<br />
Bundesärztekammer.Dem Vorst<strong>an</strong>d der<br />
Bundesärztekammer steht es frei, wie er<br />
Vorschläge des Wissenschaftlichen Beirats<br />
umsetzt. Von diesem Recht hat der<br />
Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer Gebrauch<br />
gemacht und die Vorlage des<br />
Wissenschaftlichen Beirats ohne textliche<br />
oder inhaltliche Änderungen als<br />
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
zustimmend zur Kenntnis genommen<br />
und zur Veröffentlichung freigegeben.<br />
Erklärte Absicht sowohl des Wissenschaftlichen<br />
Beirats als auch des Vorst<strong>an</strong>ds<br />
der Bundesärztekammer war es,<br />
einen „Diskurs mit den gesellschaftlichen<br />
Gruppen“ (nicht gegen sie!) im<br />
Sinne eines „offenen und sachlichen,<br />
gleichwohl kritischen Dialog“(s) zu<br />
führen. Der Wissenschaftliche Beirat<br />
hat sich in einem ausführlichen Vorwort<br />
mit den Problemen der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ausein<strong>an</strong>der gesetzt und<br />
die Konfliktfelder offen ben<strong>an</strong>nt. Bei<br />
der Gestaltung des Richtlinienentwurfs<br />
war der Wissenschaftliche Beirat getragen<br />
von dem Bemühen, einerseits dem<br />
Schutz des ungeborenen Lebens, <strong>an</strong>dererseits<br />
aber auch gezielt Paaren gerecht<br />
zu werden, die „<strong>an</strong> der Furcht vor<br />
einem genetisch bedingt schwerstkr<strong>an</strong>ken<br />
Kind gesundheitlich zu zerbrechen<br />
drohen“. Der verständliche Wunsch<br />
nach einem gesunden Kind ist eine sittliche<br />
Norm und k<strong>an</strong>n aus der Diskussion<br />
nicht dadurch ausgeblendet werden,<br />
dass in der Gesellschaft eine Erwartungshaltung<br />
für gesunde Kinder als<br />
Gefahr gebr<strong>an</strong>dmarkt wird.<br />
Einem Dammbruch im Sinne einer<br />
Öffnung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
für nicht ausschließlich der Erkennung<br />
einer bek<strong>an</strong>nten, schwerwiegenden, unbeh<strong>an</strong>delbaren,<br />
genetisch bedingten Erkr<strong>an</strong>kung<br />
dienende Indikationen k<strong>an</strong>n<br />
und muss m<strong>an</strong> am ehesten dadurch begegnen,<br />
dass m<strong>an</strong> von einem schematisierten<br />
Indikationskatalog Abst<strong>an</strong>d<br />
nimmt zugunsten einer ver<strong>an</strong>twortungsbewussten<br />
Einzelfallbegutachtung,<br />
die durch Einschaltung von zwei hierarchisch<br />
nachein<strong>an</strong>der <strong>an</strong>geordneten<br />
Kommissionen untermauert wird.<br />
Es geht <strong>an</strong> der Sache völlig vorbei und<br />
verlässt den Boden eines <strong>an</strong> wissenschaftlichen<br />
Maximen orientierten Meinungsaustauschs,<br />
wenn der Eindruck erweckt<br />
wird,aus gutem Grund geschlossene<br />
Schleusen gegenüber nationalsozialistischen<br />
Gräueltaten seien durch den<br />
Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer<br />
wieder geöffnet worden<br />
und wenn die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
in die ged<strong>an</strong>kliche Nähe einer Eugenik<br />
nationalsozialistischer Prägung<br />
gerückt wird. Letztere stellt den Vollzug<br />
eines von einem verbrecherischen Regime<br />
staatlich verordneten und praktizierten<br />
Rassenwahns dar, der vor zw<strong>an</strong>gsweisen<br />
Sterilisationen,Tötungen und <strong>an</strong>deren<br />
Gräueltaten nicht zurückschreckte.<br />
Das Begehren nach einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
wird demgegenüber<br />
freiwillig und aus eigenem Antrieb<br />
von einem einzelnen Paar aus einer berechtigten<br />
individuellen Sorge heraus<br />
<strong>an</strong> einen Arzt her<strong>an</strong>getragen, was einen<br />
intensiven Beratungs- und Zustimmungsprozess<br />
in G<strong>an</strong>g setzt, bevor<br />
ein Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik-Verfahren<br />
überhaupt aktiv eingeleitet werden<br />
könnte.<br />
Zentrales rechtliches Thema ist die<br />
Frage nach der Vereinbarkeit der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.Anders<br />
als das Bundesministerium<br />
für Gesundheit sind sowohl<br />
die Bioethik-Kommission des L<strong>an</strong>des<br />
Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz unter dem Vorsitz<br />
des (verstorbenen) Justizministers Peter<br />
Caesar als auch der Wissenschaftliche<br />
Beirat der Bundesärztekammer nach eingehender<br />
rechtlicher Prüfung zu dem Ergebnis<br />
gel<strong>an</strong>gt, dass die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
nicht mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
kollidiert (siehe dazu<br />
Schreibers vor<strong>an</strong>gehenden Beitrag).<br />
Begründet wird diese Einschätzung<br />
dadurch, dass – in Übereinstimmung<br />
mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz – das<br />
erklärte und einzige Ziel einer In-vitro-<br />
Fertilisation als Voraussetzung einer<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik die Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft ist.<br />
Erst wenn nach einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
„ein hohes Risiko für eine<br />
bek<strong>an</strong>nte und schwerwiegende, genetisch<br />
bedingte Erkr<strong>an</strong>kung“ der Nachkommen<br />
erkennbar wird, stellt sich für<br />
die betroffenen Paare die Frage nach<br />
dem Tr<strong>an</strong>sfer aller zum Zwecke der<br />
Herbeiführung einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
befruchteten Eizellen. Die Bioethik-<br />
Kommission Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz mahnt<br />
zwar <strong>an</strong>, dass „die Grundvoraussetzungen<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik als<br />
wesentlich für die Grundrechte gesetzlich<br />
geregelt werden“ (müssen). Sie<br />
stellt aber die Legalität der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
damit nicht grundsätzlich<br />
infrage, sondern sagt vielmehr:<br />
„Damit dem (gesetzliche Regelung der<br />
Grundrechte, Verfasser) Rechnung getragen<br />
wird, sollen folgende Voraussetzungen<br />
gelten:<br />
27
D O K U M E N T A T I O N<br />
❃ hohes genetisches Risiko (als normativer<br />
Begriff ohne Festlegung eines<br />
Katalogs bestimmter Erkr<strong>an</strong>kungen)<br />
❃ Beratung eines Paares über Ch<strong>an</strong>cen,<br />
Risiken und Alternativen durch den<br />
Arzt<br />
❃ Einwilligung des Paares.<br />
Die darüber hinausgehenden Modalitäten<br />
und Details sollen in Richtlinien<br />
der Bundesärztekammer festgelegt werden,<br />
um sie den jeweiligen medizinischen<br />
Entwicklungen <strong>an</strong>gemessen <strong>an</strong>passen<br />
zu können.“ Der Vergleich des<br />
Diskussionsentwurfs der Bundesärztekammer<br />
mit diesen Desideraten sollte<br />
eigentlich erkennen lassen, dass der Vorschlag<br />
der Bundesärztekammer eine gesetzliche<br />
Regelung nicht präjudiziert,<br />
sondern vielmehr geeignet ist,eine <strong>an</strong>gemessene<br />
gesetzliche Rahmenregelung<br />
inhaltlich auszufüllen. Wenn allerdings<br />
kategorisch festgestellt wird, die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
stehe im Widerspruch<br />
zum <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz,<br />
d<strong>an</strong>n ist die von der Bundesärztekammer<br />
<strong>an</strong>gestrebte unvoreingenommene<br />
offene Debatte zumindest erheblich erschwert,<br />
wenn nicht gar unmöglich.<br />
Der Vorst<strong>an</strong>d des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Bundesärztekammer<br />
Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln<br />
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. K.-Fr. Sewing<br />
Berliner Allee 20 (Ärztehaus), 30175 H<strong>an</strong>nover<br />
Heft 18, 5. Mai 2000<br />
Schöne Neue Welt<br />
Muss m<strong>an</strong> alles machen, was m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n<br />
Fortschritt allein genügt nicht, es kommt auch auf die Richtung <strong>an</strong>.<br />
Die Wissenschaft bewegt sich mit<br />
gewaltigen Schritten vor<strong>an</strong>, natürlich<br />
nur nach vorne . . . Wer hätte<br />
vor einigen Jahrzehnten von Gentherapie,<br />
Klonierung oder Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD = preimpl<strong>an</strong>tation<br />
genetic diagnosis) zu träumen gewagt<br />
Doch, diese Träumer gab es. Es lohnt<br />
einmal wieder, Aldous Huxleys „Schöne<br />
Neue Welt“ aus dem Bücherschr<strong>an</strong>k<br />
zu nehmen. Eine Gruselfiktion der<br />
Zw<strong>an</strong>zigerjahre, visionär aus heutiger<br />
Sicht. Die Klonierung ist dort Routine,<br />
als „Bok<strong>an</strong>owsky-Verfahren“ st<strong>an</strong>dardisiert<br />
und gesellschaftlich (<strong>an</strong>geblich)<br />
akzeptiert. Einen Schönheitsfehler<br />
hat das G<strong>an</strong>ze natürlich; <strong>an</strong>ders als in<br />
der heutigen Realität verliert der Org<strong>an</strong>ismus<br />
beim Klonieren Kompetenz.<br />
Das Ideal also ist der ungeklonte<br />
Mensch, der, der nicht dem „Bok<strong>an</strong>owsky-Verfahren“<br />
unterzogen wurde und<br />
seine Individualität erhalten durfte.<br />
Je mehr Klon-Kopien es gibt, desto<br />
niedriger die soziale und intellektuelle<br />
Intelligenz der Individuen – so weit<br />
Huxley.<br />
Dahinter steht eine intellektuelle Attitüde,<br />
die der Individualität und dem<br />
Unterschied Raum lässt. Nicht die unterschiedslose<br />
Schönheit ist wahrhaft<br />
schön, sondern Schönheit k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong><br />
erst <strong>an</strong> der B<strong>an</strong>dbreite von hässlich bis<br />
28<br />
göttlich wirklich ermessen. Von diesem<br />
Ideal entfernen wir uns zusehends. Uniformität<br />
ist gefragt, Kr<strong>an</strong>kheit <strong>an</strong>stößig<br />
und absondernd; nicht die B<strong>an</strong>dbreite<br />
menschlicher Individualität, sondern<br />
ihre Konformität mit gesellschaftlichen<br />
Normen soll mit Technikeinsatz erzeugt<br />
werden.<br />
Ein gutes Beispiel hierfür ist der<br />
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“,<br />
den der Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
(BÄK) unlängst vorgelegt hat.<br />
Nun wäre es sicher unfair, der BÄK<br />
vorzuwerfen, sie fördere <strong>an</strong> dieser Stelle<br />
den Technikeinsatz in der Medizin.<br />
Das tut sie nicht – sie reagiert lediglich<br />
auf wissenschaftliche Entwicklungen<br />
und versucht sie in ethische Dimensionen<br />
vor dem Hintergrund ras<strong>an</strong>ter gesellschaftlicher<br />
Veränderungen zu stellen.<br />
Der Antrieb, der Impuls kommt<br />
von wo<strong>an</strong>ders – aus Forschertrieb, aus<br />
der Überlegung, kr<strong>an</strong>ken Menschen<br />
helfen zu wollen, aus Zukunftsgläubigkeit<br />
und auch aus materiellen Interessen.<br />
Das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz verbietet<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik; die<br />
M<strong>an</strong>ipulation <strong>an</strong> totipotenten Zellen ist<br />
verboten. Zusätzlich ist es nicht zulässig,<br />
erzeugte <strong>Embryonen</strong> nicht zu übertragen,<br />
also zu verwerfen. Eine groteske<br />
Ironie wäre es also, in der PGD als<br />
„kr<strong>an</strong>k“ erk<strong>an</strong>nte <strong>Embryonen</strong> gleichwohl<br />
übertragen zu müssen. Bei wenigen<br />
erbgebundenen Kr<strong>an</strong>kheitsbildern<br />
könnte PGD helfen. Notwendig wäre<br />
eine Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes.<br />
Der Diskussionsentwurf schlägt<br />
darüber hinaus „Ethikkommissionen“<br />
der Selbstverwaltung vor, die Genehmigungen<br />
zur PGD erteilen.<br />
Forschertrieb und<br />
Technikgläubigkeit<br />
Seit einiger Zeit versucht die Wissenschaft,<br />
den Zeitraum der Totipotenz<br />
von Zellen für kürzer und kürzer zu erklären.<br />
Forschergruppen behaupten,<br />
schon ab dem 4-Zell-Stadium sei eine<br />
Totipotenz nicht mehr sicher. Zugleich<br />
gewinnt die moderne Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
immer mehr Spielräume zum<br />
erfolgreichen Übertragen von <strong>Embryonen</strong>,<br />
ein Fenster tut sich auf, die<br />
Zellen sind (<strong>an</strong>geblich) nicht mehr totipotent,<br />
die Übertragung ist noch möglich.<br />
Altruistische Ideale<br />
Unter dem Eindruck der großen Trauer<br />
von Familien, die das Risiko genetischer<br />
Fehler in sich tragen und oftmals
D O K U M E N T A T I O N<br />
schreckliche Leidensgeschichten von<br />
kr<strong>an</strong>ken oder sterbenden Kindern, späten<br />
Abtreibungen oder gar intrauterinen<br />
Fetoziden hinter sich haben,<br />
wollen Ärzte helfen und diesen Familien<br />
das Idealbild „gesunde Kinder“ erfüllen.<br />
Es h<strong>an</strong>delt sich dabei um nur circa<br />
100 Paare per <strong>an</strong>num bundesweit, bei<br />
denen unter dieser Indikation eine<br />
PGD infrage käme. Sie müssten, obwohl<br />
sie auf natürlichem Wege zeugungsfähig<br />
sind, eine im Reagenzglas<br />
erzeugte Schw<strong>an</strong>gerschaft – mit allen<br />
Risiken – ertragen, nur um den Embryo<br />
einer PGD unterziehen zu können.Verkürzt<br />
gesagt: Die technischen Risiken<br />
der In-vitro-Fertilisation (IVF) und<br />
PGD stehen hier den menschlichen<br />
(und auch ethischen) Problemen einer<br />
späten Abtreibung entgegen.<br />
Wahrlich, eine Auswahl zwischen<br />
Beelzebub und Teufel! Auf die einfache<br />
Idee, den Paaren von weiteren Schw<strong>an</strong>gerschaften<br />
abzuraten, kommt m<strong>an</strong> offensichtlich<br />
nicht. Kinderwunsch ist ein<br />
alle Mittel heiligendes Ziel – auch das<br />
ist <strong>an</strong>gesichts der Irrationalitäten unserer<br />
Welt eine groteske gesellschaftliche<br />
Entwicklung.<br />
Fin<strong>an</strong>zielle Auswirkungen<br />
Und natürlich tut sich in der PGD ein<br />
gewaltiges ökonomisches Potenzial auf.<br />
IVF und PGD sind aufwendige und<br />
teure Verfahren; sie werden in <strong>an</strong>deren<br />
Ländern, wo sie zulässig sind, auch unter<br />
ökonomischen Aspekten sehr gewinnbringend<br />
<strong>an</strong>geboten.<br />
Ethischer Deichbruch!<br />
Würde der Diskussionentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur PGD verabschiedet und<br />
Wirklichkeit, käme dies in meinen<br />
Augen einem ethischen Deichbruch<br />
gleich. Auch wenn ich sicher bin, dass<br />
die Autoren sich nur von den edelsten<br />
Motiven haben leiten lassen, so halte<br />
ich es doch für ausgeschlossen, die<br />
PGD auf die Paare begrenzen zu können,<br />
die erbgebundene Kr<strong>an</strong>kengeschichten<br />
vorweisen können. Vielmehr<br />
wird im Rahmen aller IVF-Maßnahmen<br />
die Frage gestellt werden müssen,<br />
inwieweit das Risiko der iatrogenen<br />
Übertragung „fehlerhafter“ <strong>Embryonen</strong><br />
überhaupt vertretbar ist. Über kurz<br />
oder l<strong>an</strong>g werden bei allen IVF-Maßnahmen<br />
PGDs nötig sein. Und: Wie<br />
verweigert ein Arzt Paaren die PGD im<br />
Rahmen einer IVF Müssen diese Paare<br />
erst selbst eine „genetische Leidensgeschichte“<br />
vorweisen, um in den<br />
„Genuss“ der gewünschten exakteren<br />
Diagnostik zu kommen Wäre es nicht<br />
– unter denselben pseudoaltruistischen<br />
Maximen – unmenschlich, ihnen diese<br />
Diagnostik vorzuenthalten<br />
Hier tut sich nicht nur ein gewaltiger<br />
Markt für Ärzte auf – hier entstehen<br />
auch gewaltige Risiken für unsere Gesetzliche<br />
Kr<strong>an</strong>kenversicherung – es wird<br />
auf Dauer nicht möglich sein, IVF zwar<br />
zu bezahlen, PGD aber nicht.<br />
Schließlich: Sie haben es alle gelesen,<br />
die Entschlüsselung des menschlichen<br />
Genoms steht kurz vor ihrer Vollendung.<br />
Damit aber liegt eine mindestens<br />
abstrakte Genkarte vor, in der Aberrationen,<br />
Variationen und Strickmuster<strong>an</strong>omalien<br />
des Menschen beschrieben<br />
sind.Wer glaubt, diese Karte prognostiziere<br />
mit hundertprozentiger Sicherheit<br />
erbgebundene Kr<strong>an</strong>kheiten,der irrt.Einige<br />
wenige Kr<strong>an</strong>kheiten und ihre Ausprägung<br />
sind heute schon erkennbar,<br />
g<strong>an</strong>z überwiegend aber vermögen wir<br />
zwar die „Strickmusterfehler“ der Natur<br />
zu erkennen, ihre Relev<strong>an</strong>z für das<br />
lebende Individuum aber nicht einzuordnen.<br />
Jeder von uns ist Träger solcher<br />
Anomalien – auch der Gesündeste! Der<br />
Grundged<strong>an</strong>ke der genetischen Selektion<br />
aber, dieses „Nichts-mehr-dem-<br />
Schicksal-überlassen-Wollen“, der dem<br />
gesamten Verfahren nun einmal innewohnt,<br />
wird zu einer natürlichen Ausmerzung<br />
aller Anomalien führen. Wir<br />
sind auf dem direkten Weg zum „qualitätsgesicherten<br />
Kind“.<br />
Welchem Arzt könnte m<strong>an</strong> einen<br />
Vorwurf machen, wenn er Eltern eher<br />
zur Abtreibung (oder in unserem Fall<br />
zur Nichtübertragung des Embryos) raten<br />
wird, als sie zu bestärken, die<br />
Risiken im Vertrauen auf eine starke<br />
Natur in Kauf zu nehmen Der Bundesgerichtshof<br />
hat uns in seiner Rechtsprechung<br />
klargemacht, dass fehlerhafte<br />
genetische Beratung schadensersatzpflichtig<br />
macht. Das kr<strong>an</strong>ke Kind wird<br />
zum „Schadensfall“ – nicht der bedauernswerten<br />
Eltern, sondern des Arztes!<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
Der Diskussionentwurf der BÄK geht<br />
deswegen einen falschen Weg; in fehlgeleitetem<br />
Altruismus sprengt er ethische<br />
Dämme. Eine Begrenzung auf wenige<br />
Paare – wie vorgesehen – wird sich<br />
nicht durchhalten lassen. Ungewollt<br />
wird der genetischen Selektion die Tür<br />
geöffnet. Fortschrittsgläubigkeit macht<br />
blind vor den Risiken. Noch ist es <strong>an</strong><br />
der Zeit gegenzusteuern. Deswegen<br />
hat der Vorst<strong>an</strong>d der BÄK auch lediglich<br />
einen „Diskussionsentwurf“ vorgelegt.<br />
Am Ende der Diskussion k<strong>an</strong>n<br />
also durchaus auch das Einstampfen<br />
des Papiers stehen.<br />
Die Bundesregierung pl<strong>an</strong>t, das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
im Lichte neuer<br />
wissenschaftlicher Erkenntnisse zu<br />
überarbeiten. In einem Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
müssten d<strong>an</strong>n auch Fragen<br />
der IVF und der PGD geregelt werden.<br />
Ich plädiere für ein Verbot der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Dr. med. Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery<br />
Präsident der Ärztekammer Hamburg<br />
Vorsitzender des Marburger Bundes<br />
29
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 18, 5. Mai 2000<br />
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der Bundesärztekammer<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik –<br />
medizinische,<br />
ethische und rechtliche Aspekte<br />
Der von der Bundesärztekammer vorgelegte „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“, dokumentiert in Heft 9/2000, wurde von einem Arbeitskreis des<br />
Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer ausgearbeitet. Dessen Vorsitzender, Prof.<br />
Dr. med. Herm<strong>an</strong>n Hepp, Verfasser des nachfolgenden Artikels, hat Inhalt und Hintergründe<br />
des Richtlinienentwurfes vor dem Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer und später auch in einem<br />
BÄK-Presse-Seminar erläutert. Auf diese Ausführungen geht der Artikel zurück.<br />
Herm<strong>an</strong>n Hepp<br />
1. Definition und Methode<br />
30<br />
Jede Schw<strong>an</strong>gerenvorsorgeuntersuchung<br />
ist eine pränataldiagnostische Maßnahme.<br />
Pränataldiagnostik (<strong>PND</strong>) und/<br />
oder -therapie definieren als pränatalmedizinische<br />
Verfahren die fötomaternale<br />
Medizin der Geburtshilfe.<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik ist<br />
im Gegensatz zur invasiven und<br />
noninvasiven Pränataldiagnostik nur<br />
im weiteren Sinne ein pränatalmedizinisches<br />
Verfahren, da die Diagnostik<br />
vor der Impl<strong>an</strong>tation des Embryos, das<br />
heißt vor Beginn der Schw<strong>an</strong>gerschaft,<br />
<strong>an</strong>setzt.<br />
Unter Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
versteht m<strong>an</strong> die Diagnostik nach Invitro-Fertilisation<br />
(IVF) <strong>an</strong> einem Embryo<br />
vor dem intrauterinen Embryo-<br />
Tr<strong>an</strong>sfer (ET). Anstelle der für den<br />
deutschen Sprachraum sich <strong>an</strong>bietenden<br />
Abkürzung <strong>PID</strong> wird das englische<br />
Kürzel PGD bevorzugt (englisch:<br />
preimpl<strong>an</strong>tation genetic diagnosis =<br />
PGD), da <strong>PID</strong> durch Pelvic inflammatory<br />
disease besetzt ist und der Hinweis<br />
auf „genetic“ in der Definition eine<br />
Eingrenzung des diagnostischen<br />
Verfahrens signalisiert. Im Übrigen ist<br />
PGD in der internationalen Wissenschaftssprache<br />
etabliert.<br />
Die PGD zur Aufklärung des genetischen<br />
Status des Embryos hat zur Voraussetzung<br />
eine In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF). Edwards, einer der „Väter“ der<br />
IVF, hatte bereits 1965 – l<strong>an</strong>ge vor der<br />
Geburt des ersten Kindes nach IVF<br />
(1978) – die Idee, aus Trophoblastzellen<br />
der Blastozyste über eine Geschlechtsbestimmung<br />
x-chromosomal gebundene<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen diagnostizieren zu<br />
können.<br />
Durch die Fortschritte der modernen<br />
Reproduktionsmedizin wurde diese<br />
Vision zur Wirklichkeit. Es entwickelten<br />
sich zwei Indikationsebenen:<br />
die Therapie der Sterilität und die Diagnostik<br />
am Embryo. Beide Verfahren –<br />
Diagnostik und Therapie – verfolgen<br />
unterschiedliche Ziele. Die IVF mit ET<br />
hat als Therapieverfahren zum Ziel,<br />
einem ungewollt kinderlosen Paar zu<br />
einer Empfängnis und einer erfolgreich<br />
verlaufenden Schw<strong>an</strong>gerschaft zu<br />
verhelfen. Die PGD hat zum Ziel, ein<br />
mit hohen Risikofaktoren belastetes<br />
Paar nach einer „Zeugung auf Probe“<br />
(in vitro) und der Diagnostik <strong>an</strong> einer<br />
entnommenen Blastomere im Falle eines<br />
pathologischen Befundes durch Selektion,<br />
das heißt durch Sterbenlassen<br />
des in Warteposition stehenden Embryos,<br />
vor einem kr<strong>an</strong>ken Kind zu bewahren.<br />
Der mittels IVF entst<strong>an</strong>dene Embryo<br />
befindet sich drei Tage in einem<br />
Kulturmedium. D<strong>an</strong>ach erfolgt die<br />
Biopsie von einer oder zwei Blastomeren,<br />
<strong>an</strong> denen die molekulargenetische<br />
Untersuchung mittels Polymerase-Kettenreaktion<br />
(PCR) oder Fluoreszenzin-situ-Hybridisierung<br />
(FISH) vorgenommen<br />
wird. Bei der zur Diagnostik<br />
entnommenen Blastomere h<strong>an</strong>delt es<br />
sich nach dem 8-Zell-Stadium nicht<br />
mehr um eine totipotente Zelle (Embryo).<br />
Die Diagnostik erfolgt demnach<br />
nicht <strong>an</strong> einem Embryo im Sinne einer<br />
einen Embryo verbrauchenden Diagnostik.<br />
Da das Ergebnis der Gendiagnostik<br />
nach etwa drei bis acht Stunden vorliegt,<br />
bedarf es keiner Kryokonservierung<br />
des in Warteposition befindlichen Embryos.<br />
Als eine Alternative zur PGD wird<br />
die Präkonzeptions- beziehungsweise<br />
Präfertilisationsdiagnostik, also die<br />
Untersuchung des Polkörpers der nicht<br />
fertilisierten Eizelle diskutiert. Sie lässt<br />
lediglich eine indirekte Aussage über<br />
den genetischen Status der Eizelle zu.<br />
Nur das mütterliche Genom ist beurteilbar.<br />
Problematisch scheint auch das<br />
Phänomen des Crossing-Over zu sein,<br />
bei dem sich sowohl im Polkörper als<br />
auch in der Eizelle selbst ein betroffenes<br />
Allel befinden k<strong>an</strong>n (Ludwig et al.,<br />
1998).<br />
Von der erfolgreichen Anwendung<br />
einer PGD berichteten erstmals H<strong>an</strong>dyside<br />
et al. (1990). Nach jetzigem
D O K U M E N T A T I O N<br />
Kenntnisst<strong>an</strong>d scheint das Verfahren in<br />
geübter H<strong>an</strong>d sowohl in der Durchführung<br />
wie auch in der Diagnostik sicher<br />
zu sein. Es ist in weltweit 29 Zentren,<br />
davon 10 in den USA, erprobt.<br />
Auch wenn die Zahl der <strong>an</strong> mehr als 400<br />
Paaren durchgeführten PGD und der<br />
mehr als 100 geborenen Kinder nach<br />
PGD noch bei weitem für eine endgültige<br />
Aussage hinsichtlich der Risiken des<br />
Verfahrens selbst wie auch hinsichtlich<br />
der durch das Verfahren verursachten<br />
Fehlbildungsrate zu klein ist, so k<strong>an</strong>n<br />
vorläufig doch konstatiert werden, dass<br />
die Schw<strong>an</strong>gerschaftsrate nach PGD<br />
mit 26 Prozent derjenigen nach konventioneller<br />
IVF-Therapie entspricht<br />
(Ludwig und Diedrich, 1999).<br />
Eine Indikation zur PGD wird derzeit<br />
bei <strong>an</strong>amnestisch stark belasteten<br />
Paaren gesehen, für deren Nachkommen<br />
ein hohes Risiko für eine bek<strong>an</strong>nte<br />
und schwerwiegende, genetisch bedingte<br />
Erkr<strong>an</strong>kung besteht, zum Beispiel<br />
Muskeldystrophie Duchenne, Fragiles-<br />
X-Syndrom und <strong>an</strong>dere.<br />
2. Rechtliche und ethische<br />
Aspekte<br />
Es besteht Konsens, dass mit der PGD<br />
schwerwiegende rechtliche und ethische<br />
Probleme aufgeworfen werden.<br />
Die juristische Diskussion kreist um<br />
zwei Komplexe:<br />
1. Besteht ein Wertungswiderspruch<br />
zwischen dem seit 1991 gültigen <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
(ESchG) und dem<br />
1995 erneut reformierten § 218 StGB<br />
2. Ist die PGD mit dem ESchG kompatibel<br />
Die ethische Diskussion kreist, unabhängig<br />
von der rechtlichen Entscheidung,<br />
um den Konflikt, dass mittels IVF<br />
die Entwicklung menschlichen Lebens<br />
mit dem Ziel einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
eingeleitet, der so gezeugte Embryo unter<br />
Umständen jedoch nicht in die Gebärmutter<br />
tr<strong>an</strong>sferiert wird und so –<br />
nach einer Zeugung unter Vorbehalt –<br />
im Falle einer schweren, genetischen<br />
Erkr<strong>an</strong>kung eine gezielte Selektion des<br />
Embryos erfolgt. Mit diesem ethischen<br />
Problemkreis in unmittelbarem Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
steht schließlich die Frage, ob<br />
die PGD lediglich eine zeitlich vorgezogene<br />
<strong>PND</strong> sei Diese vier die PGD bestimmenden<br />
Fragen sollen im Folgenden<br />
besprochen und vorläufigen Antworten<br />
zugeführt werden.<br />
2.1 ESchG und reformierter § 218 StGB<br />
– ein Wertungswiderspruch<br />
Von den Befürwortern der PGD wird<br />
auf den Wertungswiderspruch zwischen<br />
dem seit 1991 gültigen ESchG und dem<br />
am 29. Juni 1995 im Deutschen Bundestag<br />
mehrheitlich verabschiedeten § 218<br />
StGB verwiesen. Es könne doch wohl<br />
nicht sein, dass dem Embryo in vitro eine<br />
höhere Schutzwürdigkeit zuerk<strong>an</strong>nt<br />
würde als dem Embryo in vivo, der seit<br />
In-Kraft-Treten der Fristenlösung bis<br />
12 Wochen p. c. nach Pflichtberatung<br />
straffrei getötet werden dürfe.<br />
Diese Argumentation greift insofern<br />
zu kurz, als der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes<br />
mit seinem Urteil<br />
vom 28. Mai 1993 gegen den Mehrheitsbeschluss<br />
des Deutschen Bundestages<br />
vom 27. Juli 1992 erneut festgeschrieben<br />
hat, dass der Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
für die g<strong>an</strong>ze Dauer der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft grundsätzlich als Unrecht,<br />
also als rechtswidrig <strong>an</strong>gesehen<br />
wird und demgemäß rechtlich verboten<br />
bleiben muss. Die im Bundestag beschlossene<br />
„reine“ Fristenlösung (1992)<br />
wurde als Bruch mit der gültigen Verfassung<br />
bezeichnet und mit Streichung<br />
des Wortes „nicht“ (rechtswidrig) die<br />
nicht rechtswidrige Fristenlösung verworfen<br />
und somit dem Leben des Ungeborenen<br />
Vorr<strong>an</strong>g vor der Selbstbestimmung<br />
der Mutter eingeräumt.<br />
Die Bewertung der Abtreibung als<br />
grundsätzlich rechtswidrige Tötung<br />
menschlichen Lebens wurde erneut<br />
festgeschrieben.<br />
Im § 8 Abs. 1 des am 1. J<strong>an</strong>uar 1991 in<br />
Kraft getretenen ESchG wird der<br />
Rechtsstatus des menschlichen Embryos<br />
erneut bestätigt: „Als Embryo im<br />
Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete,<br />
entwicklungsfähige menschliche<br />
Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung<br />
<strong>an</strong>, ferner jede einem Embryo<br />
entnommene totipotente Zelle,<br />
die sich bei vorliegenden, dafür erforderlichen<br />
weiteren Voraussetzungen zu<br />
teilen und zu einem Individuum entwickeln<br />
vermag.“ Die Schutzpflicht des<br />
Staates gegenüber dem Embryo „von<br />
Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>“ ist in diesem Rechtsstatus<br />
des Embryos begründet. Der Grundged<strong>an</strong>ke<br />
des ESchG ist erneut, das Leben<br />
und die Integrität der befruchteten, entwicklungsfähigen<br />
menschlichen Eizelle<br />
vom Zeitpunkt der abgeschlossenen<br />
Kernverschmelzung <strong>an</strong> strafrechtlich zu<br />
schützen. Das heißt auch – es gibt keinen<br />
Raum (Zäsur) für die Annahme einer<br />
rechtlich ungeschützten Frühphase<br />
des Menschen. H<strong>an</strong>dlungen gegen den<br />
Embryo in vitro sind d<strong>an</strong>ach rechtswidrig<br />
und unter Strafe gestellt, während in<br />
vivo – nach der Impl<strong>an</strong>tation – das<br />
Strafgesetz (§ 218 StGB) zugunsten einer<br />
Beratungspflicht zurücktritt.* Das<br />
ESchG gibt darüber hinaus dem Lebensrecht<br />
des Embryos grundsätzlich<br />
Vorr<strong>an</strong>g vor dem Grundrecht der <strong>Forschung</strong>sfreiheit.<br />
Die juristische Argumentation beim<br />
§ 218 StGB basiert auf dem Rechtsstatus<br />
der Mutter, der in Konflikt zum Lebensrecht<br />
des Embryos oder des Fötus<br />
treten k<strong>an</strong>n. D<strong>an</strong>ach ist der legale<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch lediglich wegen<br />
Unzumutbarkeit des Austragens<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaft für die Mutter<br />
straflos (keine Rechtfertigung), während<br />
zum Beispiel die Verwendung beziehungsweise<br />
der Verbrauch von <strong>Embryonen</strong><br />
für die <strong>Forschung</strong> oder die<br />
Diagnostik nicht aus einer subjektiven<br />
Notlage des Einzelnen heraus erfolgt.<br />
Das konkurrierende Gut, welches den<br />
Konflikt definiert und Straffreiheit begründet,<br />
ist nicht die subjektive Not des<br />
Einzelnen, sondern etwa das gesundheitspolitische<br />
Ziel der Allgemeinheit,<br />
zum Beispiel die Verbesserung der Ergebnisse<br />
der Sterilitätstherapie. Auch<br />
zum § 219 d StGB, welcher die Nidationsverhütung<br />
straffrei lässt, wurde eine<br />
Analogie entwickelt. Mit Verzicht auf<br />
Strafbewährung der Präimpl<strong>an</strong>tationsphase<br />
in vivo redet der Gesetzgeber<br />
nicht der willkürlichen Verfügbarkeit<br />
dieser Phase das Wort, sondern er verzichtet<br />
nur für eine durchaus besondere<br />
Kollision der Rechtsgüter – prinzipielle<br />
Schutzwürdigkeit des Embryos und Familienpl<strong>an</strong>ung<br />
der Frau durch Hormone<br />
oder Spirale – während der frühesten<br />
Phase der Schw<strong>an</strong>gerschaft auf<br />
Strafrechtschutz (Laufs, 1989). Diese<br />
Position wird auch durch den Kommen-<br />
*Die Präimpl<strong>an</strong>tationsphase in vivo ist nicht durch den<br />
§ 218 StGB erfasst.<br />
31
D O K U M E N T A T I O N<br />
32<br />
tar zum ESchG von Keller et al., 1992,<br />
die sich auf Deutsch und Eser beziehen,<br />
bestätigt und gestützt: „Bezüglich eines<br />
generellen Wertungswiderspruchs zwischen<br />
kategorischen strafbewehrten<br />
Verboten der <strong>Embryonen</strong>forschung einerseits,<br />
der strafrechtlichen Duldung<br />
der Nidationsverhütung und des<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruches <strong>an</strong>dererseits<br />
sind die Unterschiede der jeweiligen<br />
Interessenkollisionen zu bedenken.<br />
Dem Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch zugrunde<br />
liegt eine aus der symbiotischen<br />
Verbindung zwischen schw<strong>an</strong>gerer<br />
Frau und ungeborenem Kind erwachsene,<br />
höchst persönliche und gegenwärtige<br />
Konfliktsituation. Diese Lage lässt<br />
sich nicht mit der des Forschers vergleichen,<br />
der ohne persönliche Not zur<br />
Mehrung seines Wissens und Ansehens<br />
um möglicher zukünftiger Vorteile für<br />
die Menschheit willen fremdes Leben<br />
aufopfern will. Dass die Rechtsordnung<br />
darauf verzichtet, schw<strong>an</strong>gere Frauen<br />
mit dem Mittel des Strafrechts zu zwingen,<br />
Mutter zu werden, taugt deshalb<br />
nicht als Argument dafür, dem Forscher<br />
<strong>Embryonen</strong> verbrauchende Experimente<br />
zu ermöglichen.“<br />
Es ist wohl davon auszugehen, dass<br />
dieser Kommentar von Keller et al. nicht<br />
nur die verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
in die Wertungsdiskussion rückt,<br />
sondern auch die aus diagnostischen<br />
Gründen gezielte Schaffung eines nicht<br />
unter allen Umständen zu tr<strong>an</strong>sferierenden<br />
Embryos in vitro und damit das<br />
Problem der Embryo-Selektion.<br />
Persönlich meine ich, dass m<strong>an</strong> zum<br />
§ 219 StGB, der mit Verzicht auf rechtliche<br />
S<strong>an</strong>ktionierung der Präimpl<strong>an</strong>tationsphase<br />
in vivo die Nidationsverhütung<br />
ermöglicht, wohl einen Wertungswiderspruch<br />
zum hohen Schutz<strong>an</strong>spruch<br />
des Embryos in vitro sehen<br />
k<strong>an</strong>n.<br />
Zusammenfassend ist zu konstatieren,<br />
dass zunächst zwischen der im<br />
§ 218 a Abs. 2 StGB i. d. F. des Schw<strong>an</strong>geren-<br />
und Familienhilfegesetzes (1992)<br />
im Bundestag geregelten und als nicht<br />
strafbar und nicht rechtswidrig deklarierten<br />
Fristenlösung und dem ESchG<br />
(1991) zweifellos ein tiefer Wertungswiderspruch<br />
best<strong>an</strong>d. Dieser wurde erst<br />
durch die im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes<br />
wiederhergestellte<br />
Rechtswidrigkeit des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
aufgehoben: Die Tötung eines<br />
Embryos in vivo ist straffrei und rechtswidrig.<br />
Die Tötung eines Embryos in<br />
vitro ist rechtswidrig und strafbewehrt.<br />
Bei der Tötung in vivo (nach der Impl<strong>an</strong>tation)<br />
sieht der Gesetzgeber lediglich<br />
wegen einer subjektiven Notlage<br />
der Einzelnen nach Pflichtberatung von<br />
Strafe ab – ein Konflikt, der beim Embryo<br />
in vitro, das heißt in der H<strong>an</strong>d<br />
Dritter (Biologe und/oder Arzt), in der<br />
Regel nicht existiert.<br />
Ob bei schwerer genetischer, <strong>an</strong>amnestischer<br />
Belastung der die Straffreiheit<br />
im § 218 StGB begründende Konflikt<br />
vor einer gepl<strong>an</strong>ten Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
<strong>an</strong>tizipierbar ist und auf<br />
diese Weise ein Verbot dieser Diagnostik<br />
tatsächlich einen Wertungswiderspruch<br />
zum gültigen § 218 a bewirken<br />
würde und ob der zu Recht aufgebaute<br />
besondere Schutz des Embryos in vitro<br />
in eng einzugrenzenden und zu beschreibenden<br />
Indikationen für eine<br />
PGD aufzuheben ist, wird später (Kapitel<br />
3) hinterfragt.<br />
2.2 PGD und ESchG<br />
M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n das durch die Etablierung<br />
der PGD neue Machbare mit Blick auf<br />
das ESchG gleichsam positivistisch entscheiden<br />
und ohne die vorhergehende<br />
Prüfung einer etwaigen Kompatibilität<br />
fordern, das Gesetz habe sich dem neuen<br />
Machbaren <strong>an</strong>zupassen und sei gegebenenfalls<br />
zu ändern. Dieser Ansatz<br />
ist nach meiner Überzeugung ebenso<br />
wenig für das Zusammenleben der<br />
Menschen in einer Gesellschaft akzeptabel<br />
wie jenes in der ethischen Diskussion<br />
um die Fortschritte der assistierten<br />
Reproduktion erhobene Postulat:<br />
„Ethics do not st<strong>an</strong>d still, they have to<br />
move with technology“ (Edwards,<br />
1988).<br />
Sowohl die Bioethik-Kommission<br />
des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz unter der<br />
Leitung des damaligen Justizministers,<br />
P. Caesar (1999), wie auch die Arbeitsgruppe<br />
des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Bundesärztekammer (BÄK) gingen<br />
in ihren Diskussionen von dem in<br />
unserem L<strong>an</strong>d gültigen, den <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
regelnden Gesetz aus.<br />
Zunächst ist festzuhalten, dass die<br />
IVF mit <strong>an</strong>schließendem Embryotr<strong>an</strong>sfer<br />
als ärztliches St<strong>an</strong>dardverfahren zur<br />
Beh<strong>an</strong>dlung der Sterilität nach Abs. B<br />
IV Nr. 15 in der 1998 überarbeiteten<br />
neuen Musterberufungsordnung (MBO)<br />
zulässig ist, wenn die nach § 13 MBO<br />
maßgebenden Richtlinien der Ärztekammer<br />
eingehalten werden.<br />
Die Frage, ob die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
die eine IVF als diagnostische<br />
Einstiegstechnik zur Voraussetzung<br />
hat, mit dem seit 1. J<strong>an</strong>uar 1991<br />
gültigen ESchG kompatibel ist, wird<br />
unter Juristen kontrovers diskutiert.<br />
Zunächst geht es um die Frage, ob die<br />
PGD einen Verstoß gegen § 2 I. ESchG<br />
darstellt. Nach diesem Paragraphen ist<br />
es verboten, einen extrakorporal erzeugten<br />
Embryo zu einem nicht seiner<br />
Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden.Würde<br />
die Diagnostik <strong>an</strong> einer<br />
noch totipotenten Zelle erfolgen, also<br />
<strong>an</strong> einem zum Zweck der Diagnostik<br />
klonierten Zwilling, wodurch dieser<br />
vernichtet wird, wäre der Tatbest<strong>an</strong>d<br />
des § 2 I. ESchG erfüllt und die PGD<br />
schon von diesem Ansatz her strafrechtlich<br />
verboten. Jede Zelle, soweit<br />
sie noch Totipotenz besitzt, ist über § 8<br />
I. ESchG als Embryo strafrechtlich geschützt.<br />
Denn als Embryo im Sinne des<br />
§ 8 gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige<br />
menschliche Eizelle vom<br />
Zeitpunkt der Kernverschmelzung <strong>an</strong>,<br />
ferner jede,einem Embryo entnommene<br />
totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen<br />
der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen<br />
zu teilen und zu einem Individuum<br />
zu entwickeln vermag. Der<br />
Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1<br />
GG ist also bereits für die befruchtete<br />
Eizelle markiert. Erfolgt die Diagnostik<br />
nach Entnahme <strong>an</strong> einer nicht mehr<br />
totipotenten Blastomere, die also nach<br />
§ 8 I. ESchG nicht als „Embryo“ geschützt<br />
ist,liegt kein Verstoß gegen § 2 I.<br />
ESchG im Sinne einer verbrauchenden<br />
<strong>Forschung</strong> vor (Schreiber u. Schneider,<br />
1999).<br />
Die Frage, ab w<strong>an</strong>n eine aus einer befruchteten<br />
Eizelle hervorgehende Zelle<br />
ihre Totipotenz verliert, scheint mittlerweile<br />
wissenschaftlich eindeutig be<strong>an</strong>twortet.<br />
Dies soll spätestens nach Abschluss<br />
des Acht-Zell-Stadiums des<br />
Embryos der Fall sein (Beier, 1999).<br />
Neuere Untersuchungen lassen den<br />
Schluss zu, dass wahrscheinlich bereits<br />
im Vier-Zell-Stadium nicht mehr alle<br />
Blastomeren totipotent beziehungswei-
D O K U M E N T A T I O N<br />
se soweit differenziert sind, dass sie ihre<br />
Totipotenz verloren haben. Eine Biopsie<br />
im späteren Teilungsstadium ist im<br />
Hinblick auf die optimale Ch<strong>an</strong>ce der<br />
Nidation von Nachteil. Je später der<br />
Tr<strong>an</strong>sfer des in Warteposition stehenden<br />
„Restembryos“ erfolgt, desto schlechter<br />
wird die Synchronisation mit der hormonalen<br />
Situation der Frau und somit<br />
die Ch<strong>an</strong>ce der Nidation.<br />
Abschließend ist festzustellen, dass<br />
mit der PGD <strong>an</strong> nicht totipotenten Zellen<br />
kein Embryoverbrauch erfolgt, vorausgesetzt,<br />
der „Restembryo“ wird aufgrund<br />
der genetisch unauffälligen Diagnose<br />
im gleichen Zyklus tr<strong>an</strong>sferiert.<br />
Auf den Nichttr<strong>an</strong>sfer des Embryos wegen<br />
der Feststellung der die PGD indizierten<br />
Erkr<strong>an</strong>kung ist später einzugehen.<br />
Im Mittelpunkt der juristischen Diskussion<br />
hinsichtlich einer Kompatibilität<br />
der PGD mit dem ESchG steht die<br />
Frage des Verstoßes vor allem gegen § 1<br />
I. Nr. 2 ESchG. Dort heißt es: „Mit Freiheitsstrafe<br />
bis zu drei Jahren oder mit<br />
Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt,<br />
eine Eizelle zu einem <strong>an</strong>deren<br />
Zweck künstlich zu befruchten, als eine<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft der Frau herbeizuführen,<br />
von der die Eizelle stammt.“ Für<br />
Laufs (1992) ist eine In-vitro-Fertilisation<br />
i. S. einer bedingten Zeugung beziehungsweise<br />
unter dem „Vorbehalt der<br />
Tötung bei Qualitätsmängeln“ unzulässig.<br />
In die gleiche Richtung denkt Beckm<strong>an</strong>n<br />
(1999), wenn er ausführt, dass bei<br />
einer IVF zwecks Durchführung einer<br />
PGD diese ausschließlich zum Zweck<br />
der präimpl<strong>an</strong>tatorischen Qualitätskontrolle<br />
geschehe und daher gegen § 1 I.<br />
Nr. 2 ESchG verstoße. Ratzel und Heinem<strong>an</strong>n<br />
(1998) argumentieren dagegen:<br />
„Auch wenn feststeht, dass ein belasteter<br />
Embryo nicht übertragen werden<br />
soll, ist die Verwerfung dieses Embryos<br />
doch nicht Ziel der künstlichen<br />
Befruchtung beziehungsweise der<br />
Weiterentwicklung des Embryos. Die<br />
Verwerfung des Embryos ist lediglich<br />
als eine dem Täter höchst unerwünschte<br />
Nebenfolge oder als ein Fehlschlag gegenüber<br />
dem eigentlich erstrebten Ziel,<br />
nämlich dem der Herbeiführung der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft, <strong>an</strong>zusehen. Eine Absicht<br />
im Sinne zielgerichteten Wollens<br />
(Keller et al., 1992, Zit. b. Ratzel u. Heinem<strong>an</strong>n)<br />
liegt nicht vor.<br />
Die durch eine schwer belastete<br />
Anamnese betroffenen Eltern entscheiden<br />
sich nach eingehender hum<strong>an</strong>genetischer<br />
Beratung, die in jedem Falle zu fordern<br />
ist, für das Ziel Schw<strong>an</strong>gerschaft.<br />
Von Beginn <strong>an</strong> h<strong>an</strong>deln die Betroffenen<br />
in Antizipation des Konflikts mit dem<br />
Bewusstsein, dass die IVF mit PGD darauf<br />
ausgerichtet ist, eine Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
herbeizuführen (Schreiber u.<br />
Schneider, 1999).<br />
Ratzel und Heinem<strong>an</strong>n (1998) ergänzen<br />
diesen Ged<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>g mit dem Argument,<br />
dass bei jeder IVF der nachfolgende<br />
Tr<strong>an</strong>sfer von Bedingungen abhängt,<br />
– zum Beispiel körperliche und<br />
psychische Befindlichkeit der Frau<br />
und/oder pathologische Veränderungen<br />
am Embryo, die keine Nidation erwarten<br />
oder eine spont<strong>an</strong>e Fehlgeburt prognostizieren<br />
lassen et cetera. „Die bloße<br />
Inkaufnahme des Unterg<strong>an</strong>gs gezeugter<br />
<strong>Embryonen</strong> führt nicht zur Strafbarkeit<br />
der künstlichen Befruchtung, sol<strong>an</strong>ge<br />
das Motiv des H<strong>an</strong>delns die Herbeiführung<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaft ist.“<br />
Das Unterlassen eines Tr<strong>an</strong>sfers bedeutet<br />
demnach keinen <strong>Embryonen</strong>verbrauch,<br />
der nach § 2 I. einen strafbewehrten<br />
Tatbest<strong>an</strong>d darstellen würde,<br />
und verstößt auch nicht gegen § 1 I.Nr. 2.<br />
Auch nach Meinung von Schreiber und<br />
Schneider geht aus § 1 I. Nr. 2 nicht hervor,<br />
dass die Absicht der Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft durch die gleichzeitige<br />
absichtliche Verfolgung eines <strong>an</strong>deren<br />
Zweckes ausgeschlossen ist.<br />
Zusammenfassend ist festzustellen,<br />
dass die PGD bei Entnahme und Diagnostik<br />
<strong>an</strong> einer nicht mehr totipotenten<br />
Zelle nicht nach § 1 I. Nr. 2 ESchG<br />
und § 2 I. Nr. 2 verboten und so mit dem<br />
seit 1. J<strong>an</strong>uar 1991 gültigen ESchG<br />
kompatibel ist.<br />
3. Status des Embryos und<br />
ethische Implikationen<br />
Im Zentrum der ethischen Diskussion<br />
steht der Status des Embryos. Die<br />
Rechtsordnung geht im ESchG davon<br />
aus, dass die Schutzwürdigkeit des Embryos<br />
vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung<br />
<strong>an</strong> besteht und begründet<br />
diese mit den Wertentscheidungen des<br />
Grundgesetzes für Menschenwürde<br />
und Lebensschutz.<br />
Die Frage ist, ob die PGD die Menschenwürde<br />
berührt, nachdem nach unserer<br />
Rechtsordnung menschliches Leben<br />
bereits mit der Befruchtung unter<br />
das Gebot der Achtung der Menschenwürde<br />
fällt und daher zu schützen ist.<br />
Jede medizinische Diagnostik und <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> und mit <strong>Embryonen</strong>, die –<br />
i. S. einer Einstiegstechnik – durch IVF<br />
erst möglich wurde, wirft die Frage nach<br />
dem Menschen und dem Menschenbild<br />
des Forschers auf. Es geht um den Status<br />
dessen, <strong>an</strong> dem wir h<strong>an</strong>deln. Das<br />
Problem liegt also nicht in der <strong>Forschung</strong><br />
selbst, sondern im „Objekt“ der<br />
<strong>Forschung</strong>.<br />
Es stellen sich zwei zentrale Fragen:<br />
❃ Ab w<strong>an</strong>n ist dem neuen menschlichen<br />
Leben „Würde und damit Lebensrecht<br />
und Schutz zuzubilligen“<br />
❃ Worin liegt die Begründung, und<br />
wie ist der Umf<strong>an</strong>g der zu gewährenden<br />
Grundrechte bemessen<br />
3.1. Naturwissenschaftliche Fakten<br />
Nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis<br />
beginnt neues menschliches Leben<br />
mit der Vereinigung des mütterlichen<br />
haploiden Chromosomensatzes der Eizelle<br />
und des väterlichen haploiden<br />
Chromosomensatzes der Samenzelle,<br />
das heißt nach Abschluss der Befruchtungskaskade<br />
(Beier, 1992). Diese beginnt<br />
mit dem Eindringen eines Spermiums<br />
in die Eizelle (Imprägnation) und<br />
endet mit der Fusion der Zellkerne<br />
(Konjugation). In den Zellkernen liegt<br />
nach der ersten Teilung das neue Genom<br />
in seiner definitiven Form vor. Mit<br />
dem neuen diploiden Genom ist der gegenüber<br />
väterlichem und mütterlichem<br />
Org<strong>an</strong>ismus genetisch neue Mensch<br />
konstitutiert.<br />
Nach Braude (1987) beginnt die erste<br />
Genexpression zwischem dem Vierund<br />
Acht-Zell-Stadium. Bis zu diesem<br />
Stadium hat die einzelne Blastomere,<br />
aus dem Verb<strong>an</strong>d herausgelöst, die<br />
Fähigkeit, sich zu einem neuen Embryo<br />
zu entwickeln. Der Vorg<strong>an</strong>g ist identisch<br />
mit der spont<strong>an</strong>en Bildung eines<br />
eineiigen Zwillings. Das bedeutet, dass<br />
in dieser frühen Phase der Entwicklung<br />
die einzelnen Zellen des Embryos noch<br />
totipotent sind.<br />
In der Diskussion um den Beginn der<br />
Schutzwürdigkeit beziehen sich Einzel-<br />
33
D O K U M E N T A T I O N<br />
ne auf diese Möglichkeit der Zwillingsbildung<br />
und meinen, dass der Terminus<br />
a quo personaler menschlicher Existenz<br />
frühestens mit dem Ende der orthischen<br />
Teilbarkeit gegeben sein k<strong>an</strong>n. So<br />
stellt auch der Theologe Fuchs (1989)<br />
fest: „Sol<strong>an</strong>ge Zellen noch teilbar sind,<br />
können sie nicht schon menschliches Individuum<br />
und Person sein, diese Möglichkeit<br />
besteht aber gemäß der Biologie<br />
im allgemeinen bis zum 14.Tag.“ Für<br />
Fuchs wäre die Eliminierung des Embryos<br />
in diesem frühen Stadium oder<br />
die Verhinderung der Impl<strong>an</strong>tation<br />
nicht tötender Abortus, könnte jedoch<br />
nur aus wichtigen Gründen gestattet<br />
sein; sie stände zwischen Empfängnisverhütung<br />
und Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch.<br />
Die „Individuation“ nach der ersten<br />
Zellteilung wäre d<strong>an</strong>ach potenzielles,<br />
aber nicht zw<strong>an</strong>gsläufig in jedem<br />
Falle individuelles menschliches Leben,<br />
wenngleich auch im Regelfalle die damit<br />
ausgelöste Dynamik für die individuelle<br />
Menschwerdung bestimmend ist.<br />
In philosophischem Sinne besagt Individualität,<br />
dass etwas nicht mehr auf<br />
kleinere Einheiten rückführbar ist, ohne<br />
dass es seine Qualität verliert. Diesen<br />
Ged<strong>an</strong>ken führt Wuermeling (1985)<br />
konsequent fort und zeigte auf, dass<br />
biologisch die Teilung eines frühen Embryos<br />
keine Aufteilung in kleinere Einheiten,<br />
sondern eine Form der Lebensäußerung<br />
„Vermehrung“ darstellt.<br />
So auch Rager (1992): „Wenn aus einem<br />
Individuum mehrere Individuen<br />
hervorgehen können, wie das bei jeder<br />
Zellteilung der Fall ist, so folgt daraus,<br />
dass das ursprünglich eine Individuum<br />
die Möglichkeit für eine Mehrzahl für<br />
Individuen in sich trägt.“ Der Zeitpunkt<br />
des Ungeteiltseins des Embryos<br />
erweist sich d<strong>an</strong>ach als unzureichend<br />
zur Definition des Beginns individuellen<br />
menschlichen Lebens.<br />
Über die Frage des Beginns menschlichen<br />
Lebens in naturwissenschaftlicher<br />
Sicht besteht Konsens. Die Frage<br />
nach dem Beginn personalen Lebens ist<br />
mit den Denkkategorien der Naturwissenschaft<br />
nicht zu denken. Es geht hierbei<br />
nach meiner Überzeugung um die<br />
Einführung eines Wertaxioms: Ob und<br />
inwieweit wir neuem artspezifischen<br />
und in seiner Potenzialität auf personales<br />
Leben hin <strong>an</strong>gelegten Leben Wertschätzung<br />
und damit Schutzwürdigkeit<br />
34<br />
zuerkennen und vor allem, wie absolut<br />
wir diese setzen.<br />
3.2 Schutzwürdigkeit<br />
des Embryos<br />
So besteht auch ein weitgehender Konsens<br />
darüber, dass sich die Schutzwürdigkeit<br />
des Embryos auf seine Natur<br />
als früheste Form einer individuellen<br />
menschlichen Existenz gründet. Ebenso<br />
besteht weitgehend Übereinstimmung<br />
darüber, dass die Schutzwürdigkeit des<br />
Embryos mit der Bildung des Genoms<br />
beginnt, wenngleich Einzelne für den<br />
Umf<strong>an</strong>g der Schutzwürdigkeit und damit<br />
des Rechtsschutzes terminologische<br />
Abstufungen – Zygote, Konseptus oder<br />
Präembryo – einführen, um hiermit im<br />
Falle einer gebotenen ethischen Güterabwägung<br />
auch Abstufungen des<br />
Rechtsschutzes einzufordern. In Art. 2<br />
Abs. 2 S. 1 des GG ist ver<strong>an</strong>kert: „Das<br />
Leben des Menschen ist von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong><br />
in seinen Schutz genommen.“<br />
Bei der Bemessung des Umf<strong>an</strong>ges<br />
der Schutzwürdigkeit menschlicher<br />
<strong>Embryonen</strong> sind wir heute im nationalen<br />
und vor allem im internationalen<br />
Dialog mit zwei Positionen konfrontiert.<br />
Die einen erkennen das Lebensrecht<br />
und den Schutz im umfassenden<br />
Sinne kategorisch <strong>an</strong>, was jede Güterabwägung<br />
hinsichtlich eines Ziels –<br />
auch von hohem medizinischen R<strong>an</strong>ge<br />
– ausschließt. Die <strong>an</strong>deren relativieren<br />
in grundsätzlicher Anerkennung des<br />
Lebensschutzes dieses Prinzip im Sinne<br />
einer Güterabwägung auf Zwecke hin,<br />
was nach sorgfältiger Prüfung eines<br />
nachgewiesenen hochr<strong>an</strong>gigen Zieles<br />
eine <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> und mit <strong>Embryonen</strong><br />
zulässt. Diese Position beruft sich auf<br />
die „prozesshafte“ Verwirklichung individuellen<br />
personalen Seins in Realisierungsstufen<br />
(Abschluss der zellulären<br />
Totipotenz, Möglichkeit zur<br />
Mehrlingsbildung etc.) und plädiert daher<br />
für einen diesen Stufen entsprechenden<br />
abgestuften Rechtsschutz.<br />
Die Menschenrechtskonvention zur<br />
Biomedizin des Europarates von 1997<br />
(„Bioethik-Konvention“) verbietet in<br />
Artikel 18, 2 die Herstellung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken. Art. 18,<br />
1 fordert von den Mitgliedstaaten, in denen<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung zugelassen ist,<br />
die Gewährleistung eines „<strong>an</strong>gemessenen<br />
Schutzes“ des Embryos. Ein explizites<br />
Verbot zur verbrauchenden <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>,die im Deutschen<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz strafrechtlich<br />
untersagt ist,enthält die Regelung in 18,1<br />
nicht,doch betrachtet sie den Embryo als<br />
schützenswertes Rechtsgut und schiebt<br />
die Beweislast für den Nachweis <strong>an</strong>gemessenen<br />
Schutzes dem nationalen Gesetzgeber<br />
zu (Honnefelder, 1998).<br />
Die Richtlinien zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
frühen menschlichen <strong>Embryonen</strong> (1985)<br />
des Wissenschaftlichen Beirates der<br />
Bundesärztekammer, wie auch der Bericht<br />
der Benda-Kommission (1986),<br />
hatten sich für ein „grundsätzliches“<br />
Verbot der Erzeugung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken ausgesprochen.<br />
Dieses bedeutete kein kategorisches<br />
Nein. Einigkeit best<strong>an</strong>d darüber, dass<br />
über etwaige Ausnahmen – ohne dass<br />
seinerzeit die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
speziell im Blick war –, sofern überhaupt<br />
zulässig, die zentrale Kommission<br />
der Bundesärztekammer zu entscheiden<br />
hätte. Das Votum der „Benda-Kommission“<br />
bezog sich, wie jenes der Max-<br />
Pl<strong>an</strong>ck-Gesellschaft und der DFG, vor<br />
allem auf die etwaige Zulassung einer<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> überzähligen <strong>Embryonen</strong>.<br />
Im Zentrum der ethischen Diskussion<br />
über die PGD steht die Tatsache,<br />
dass der während der Diagnostik in<br />
Warteposition befindliche Embryo wegen<br />
seines Geschädigtseins selektiv<br />
„stehen gelassen“ und so dem Unterg<strong>an</strong>g<br />
preisgegeben wird.<br />
Konkret auf die PGD abgestellt,<br />
heißt daher die Frage, ob mit Rücksicht<br />
auf die gesundheitlichen und/oder sozialen<br />
Lebensinteressen der Mutter die<br />
Schutzwürdigkeit einer positiven Güterabwägung<br />
unterworfen werden darf<br />
und daraus ein abgestufter Rechtsschutz<br />
resultiert.<br />
Wie bei der konventionellen <strong>PND</strong><br />
gibt es bei Einsatz der PGD Argumente<br />
für wie auch gegen deren Anwendung.<br />
Die im Thesenpapier der Bioethik-<br />
Kommission des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-<br />
Pfalz aufgeführten Pro- und Kontra-Argumente<br />
im Umg<strong>an</strong>g mit der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sind in der Tabelle<br />
zusammengefasst.<br />
Die Argumente definieren den Interessenkonflikt,<br />
in den dieser medizinische<br />
Fortschritt das betroffene Paar, die betreuenden<br />
Ärzte und die Gesellschaft
D O K U M E N T A T I O N<br />
stürzt. Sowohl die Pro- wie auch die Kontra-Argumente<br />
sind von hohem Gewicht<br />
und lassen hinsichtlich der ethischen<br />
Zulässigkeit der PGD keine R<strong>an</strong>gordnung<br />
zu. Der Interessenkonflikt wird bestimmt<br />
durch die Interessen der betroffenen<br />
Paare, den Therapieauftrag der beh<strong>an</strong>delnden<br />
Ärzte, den in Art. 2 Abs. 2<br />
S. 1 des Grundgesetzes ver<strong>an</strong>kerten <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nten<br />
Status des Embryos und den<br />
daraus abgeleiteten Lebensschutz „von<br />
Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>“. Eine klare ethische Lösung<br />
des Konflikts ist nur über den Verzicht<br />
auf eine weitere Schw<strong>an</strong>gerschaft möglich.<br />
Ob der Gesetzgeber mit Rücksicht<br />
auf die Interessenkollision eine derartige<br />
persönliche Entscheidung verl<strong>an</strong>gen<br />
k<strong>an</strong>n, ist zumindest fraglich. Im Zentrum<br />
der ethischen Abwägung steht die Frage,<br />
ob das für ein friedliches Zusammenleben<br />
einer Gesellschaft höchste Gut,nämlich<br />
die Achtung des Lebensrechts von<br />
Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>, in Anerkennung der Antizipation<br />
des etwaigen Konfliktes relativiert<br />
und eine PGD zugelassen werden darf.<br />
Das Lebensrecht würde nicht absolut in<br />
Frage gestellt und menschliches Leben<br />
nicht generell wegen seiner genetischen<br />
Schädigung als lebensunwertes Leben<br />
zur Disposition gestellt.<br />
Dies setzt voraus, dass die PGD nur<br />
für Paare zugelassen wird, die um ihr<br />
Risiko der Weitergabe einer unheilbaren<br />
genetischen Kr<strong>an</strong>kheit wissen und<br />
mit Hilfe der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
eine „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“<br />
mit Spätabbruch vermeiden wollen.<br />
M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n einwenden, dass hierbei<br />
die Befürwortung der PGD über den<br />
ethisch zumindest fragwürdigen Ansatz<br />
einer <strong>PND</strong> nach Schw<strong>an</strong>gerschaft auf<br />
Probe versucht wird. Nach H<strong>an</strong>ak<br />
(1984) verbietet jedenfalls das geltende<br />
Recht der Frau nicht, das Risiko eines<br />
kr<strong>an</strong>ken Kindes unter den Vorbehalt einer<br />
gesetzlichen Korrektur zu stellen.<br />
Zugegeben – im ethischen Diskurs ist<br />
diese die Tötung beziehungsweise „Stehenlassen“<br />
oder „Aussondern“ in das<br />
Therapiekonzept einbeziehende H<strong>an</strong>dlungsweise<br />
<strong>an</strong>ders zu beurteilen, als<br />
wenn die Patientin durch die <strong>PND</strong> in<br />
Not und P<strong>an</strong>ik gerät und der Abbruch<br />
nach § 218 a Abs. 2 die Not wendet<br />
(Wuermeling, 1990). Aber, wie schon<br />
ge-sagt, für ein Hochrisikopaar ist der<br />
Konflikt auch ohne Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
<strong>an</strong>tizipierbar, vergleichbar jenem Paar,<br />
das erst durch die <strong>PND</strong> in einen Konflikt<br />
gestürzt wird. In der geistigen Vorwegnahme<br />
des zu erwartenden schweren<br />
Konflikts nimmt das Hochrisikopaar<br />
beim Wunsch nach einer PGD das<br />
auch nicht vollkommen risikofreie Verfahren<br />
der IVF auf sich. Unstrittig ist,<br />
dass ein später Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
für die Betroffenen wie auch für<br />
den tötenden Arzt psychisch und kör-<br />
´ Tabelle C ´<br />
Argumente pro und kontra einer Anwendung der PGD <strong>an</strong> nicht totipotenten Zellen<br />
Kontra<br />
Bewertung embryonalen mensch-<br />
lichen Lebens unter dem Aspekt<br />
eventuell gezielter Selektion<br />
Pro<br />
Wunsch des Paares mit starker<br />
genetischer Belastung auf ein<br />
gesundes Kind<br />
Psychische und physische Belastung<br />
durch späten Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
nach „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf<br />
Probe“<br />
Diagnose einer genetischen Störung<br />
des Embryos vor Eintritt der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
Tab. 1 in gekürzter Fassung n. Bioethik-Kommission des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz (1999)<br />
Entscheidung zur Selektion unter<br />
Umständen leichter in vitro als später<br />
in vivo – Reduktion der Ehrfurcht<br />
vor dem menschlichen Leben<br />
Öffnung zur allgemeinen Akzept<strong>an</strong>z<br />
und Anspruch auf das „Kind nach<br />
Maß“ – Dammbruch zur Eugenik<br />
Diskriminierung von Leid und<br />
Behinderung. Rückzug der Solidargemeinschaft<br />
Eventuell Verminderung der Lebensch<strong>an</strong>ce<br />
des „Restembryos“ durch<br />
diagnostische M<strong>an</strong>ipulation<br />
perlich eine außerordentliche Belastung<br />
darstellt.<br />
Die Anerkennung und Zulassung<br />
der PGD in streng definierten Indikationsbereichen<br />
ist mit Blick auf die<br />
H<strong>an</strong>dhabung der <strong>PND</strong> nur über eine<br />
Güterabwägung beziehungsweise<br />
über das kleinere <strong>an</strong>stelle des größeren<br />
Übels möglich.<br />
Dem schwerwiegenden Argument gegen<br />
eine Zulassung der PGD, nämlich die<br />
Öffnung einer weiteren Tür zur Selektion<br />
und zu einem Dammbruch hin zur verbrauchenden<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung, ist<br />
durch die gesetzgeberische Festlegung<br />
auf eng umschriebene Sonderfälle entgegenzuwirken.<br />
Diesem Ziel dienen unter<br />
<strong>an</strong>derem die von der Arbeitsgruppe des<br />
Wissenschaftlichen Beirats der BÄK vorgelegten<br />
Vorschläge von Richtlinien für<br />
die Anwendung der PGD.<br />
Die Tatsache, dass die Pro-Argumente<br />
einer Einführung der PGD identisch<br />
sind mit jenen seinerzeit für die<br />
Einführung der <strong>PND</strong> vorgebrachten<br />
Begründungen, führt zur Diskussion<br />
der beiden Verfahren.<br />
4. PGD und <strong>PND</strong><br />
Die PGD k<strong>an</strong>n nicht, wie vielfach<br />
geäußert, schlichtweg als eine vorverlegte<br />
<strong>PND</strong> <strong>an</strong>gesehen werden. Zunächst<br />
hat die PGD das mit körperlichen<br />
und seelischen Risiken für die Mutter behaftete<br />
Verfahren der In-vitro-Fertilisation<br />
– hormonelle Stimulation, Follikelpunktion<br />
und IVF – zur Voraussetzung.<br />
Darüber hinaus weist die PGD, wie aus<br />
den Pro- und Kontraargumenten ablesbar,<br />
eine <strong>an</strong>dere ethische H<strong>an</strong>dlungsqualität<br />
auf:Die konventionelle <strong>PND</strong> hat – in<br />
der Regel (s. u.) – nicht primär einen selektiven<br />
oder sogar eugenischen Ansatz.<br />
Im Zentrum der <strong>PND</strong> steht der informative,<br />
über Beratung nicht selten lebenserhaltende<br />
und zunehmend auch intrauterin-therapeutische<br />
Ansatz. Pränataldiagnostik<br />
mit einem primär und ausschließlich<br />
selektiven Ansatz ist ethisch<br />
fragwürdig – wenn wohl rechtlich zulässig<br />
(s. H<strong>an</strong>ak). Der Gesetzgeber hat die<br />
„embryopathische Indikation“ zum<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch im reformierten<br />
§ 218 StGB gerade deshalb gestrichen<br />
und deren Inhalte in der medizinischen<br />
Indikation „versteckt“ (Hepp,<br />
35
D O K U M E N T A T I O N<br />
36<br />
1996), da er aus der Gesetzessystematik<br />
jeden selektiven Ansatz beziehungsweise<br />
jedes Urteil über lebenswert und lebensunwert<br />
nehmen wollte – was jedoch, wie<br />
von mir mehrfach gezeigt, utopisch ist.<br />
Die <strong>PND</strong> ist heute ein Verfahren, durch<br />
das die Eltern – in der Regel – unerwartet<br />
in Not und P<strong>an</strong>ik geraten, und der Abbruch<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaft ohne primär<br />
selektiven Ansatz, das heißt ohne bereits<br />
vor der Empfängnis <strong>an</strong>tizipierten Konflikt,<br />
erfolgt. Es ist jedoch unbestreitbar,<br />
dass mit der Entwicklung immer subtilerer<br />
Verfahren der <strong>PND</strong> in der Gesellschaft<br />
das Bewusstsein über die Möglichkeit<br />
der Selektion menschlichen Lebens<br />
hin zum Anspruch auf das unbehinderte<br />
Kind gewachsen ist, auch wenn der Gesetzgeber<br />
diesen selektiven Ansatz durch<br />
die Subsumierung in die mütterlichmedizinische<br />
Indikation verstecken oder<br />
verneinen wollte.<br />
Die klinische Wirklichkeit lässt uns<br />
immer wieder erleben, dass Paare im<br />
Wissen um die medizinischen Möglichkeiten<br />
der <strong>PND</strong>, zum Beispiel bei Bestehen<br />
eines deutlich erhöhten Altersrisikos<br />
für die Empfängnis eines Kindes mit<br />
Down-Syndrom, eine „Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
auf Probe“ <strong>an</strong>streben, erleben und nach<br />
„positiver“ <strong>PND</strong> den Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
durchführen lassen. Die so<br />
gen<strong>an</strong>nte „Altersindikation“ zur <strong>PND</strong><br />
ist nicht mehr und nicht weniger als die<br />
Antizipation dieses Konfliktes. Die im<br />
Bereich der <strong>PND</strong> H<strong>an</strong>delnden stehen<br />
zudem unter dem Druck des Haftungsrechtes.M<strong>an</strong><br />
k<strong>an</strong>n mit Hilfe der <strong>PND</strong> die<br />
Geburt eines gesunden Kindes gleichsam<br />
erzwingen, indem m<strong>an</strong> aufein<strong>an</strong>der<br />
folgende Schw<strong>an</strong>gerschaften so l<strong>an</strong>ge<br />
abbricht, bis ein nachweislich gesundes<br />
Kind empf<strong>an</strong>gen wird.<br />
In diesen Fallkonstellationen wird der<br />
Konflikt auf dem Boden der Autonomie<br />
der Mutter und der ihr durch ein kr<strong>an</strong>kes<br />
Kind nicht zumutbar erscheinenden Belastung<br />
für die Phase nach der Geburt<br />
gleichsam <strong>an</strong>tizipiert. Die Antizipation<br />
dieses schweren Konfliktes erfolgt für<br />
Eltern eines genetisch und auf den Tod<br />
hin schwer erkr<strong>an</strong>kten Kindes – im Gegensatz<br />
zur allgemeinen „Altersindikation“<br />
– aus der erlebten Wirklichkeit.Aufgrund<br />
der <strong>an</strong>amnestischen Erfahrung eines<br />
genetisch schwer kr<strong>an</strong>ken Kindes<br />
steht das Lebensrecht des Embryos beziehungsweise<br />
Fötus gegen die <strong>an</strong>tizipierte,<br />
gesundheitliche Gefährdung der<br />
zukünftigen Mutter und bewirkt so eine<br />
Analogie von Embryoselektion in vitro<br />
nach PGD und Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
in vivo nach <strong>PND</strong>, da . . . „die real<br />
existierende Schw<strong>an</strong>gerschaft für das<br />
Bestehen des Konfliktes nicht konstitutiv<br />
ist“ (Woopen, 1999).<br />
Es gibt demnach nicht nur die unter<br />
Vorbehalt stehende (bedingte) Zeugung,<br />
sondern im Hinblick auf die Möglichkeiten<br />
der <strong>PND</strong> auch die unter Vorbehalt<br />
stehende Schw<strong>an</strong>gerschaft. Bei<br />
diesem Ansatz ist die PGD tatsächlich<br />
eine zeitlich vorverlegte <strong>PND</strong> – mit <strong>an</strong>ders<br />
gearteten und derzeit höheren medizinischen<br />
Risiken.<br />
Nimmt m<strong>an</strong> diese medizinische<br />
Wirklichkeit zur Kenntnis und bejaht<br />
für bestimmte Fallkonstellationen die<br />
aufgezeigte Analogie von <strong>PND</strong> zu<br />
PGD, d<strong>an</strong>n ist in einem zu erwartenden<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz die PGD<br />
nur d<strong>an</strong>n strafrechtlich zu verbieten,<br />
wenn auch eine „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf<br />
Probe“ expressis verbis als ein Verstoß<br />
gegen § 218 a Abs. 2 geahndet wird.Anderenfalls<br />
bestünde ein Wertungswiderspruch<br />
zwischen § 218 a Abs. 2 und<br />
ESchG – wobei die Beweisführung für<br />
eine „illegale Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“<br />
mit Abbruch der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
wohl sehr schwierig sein dürfte.<br />
5. Schlussbemerkung<br />
Der Bedarf und die klinische Notwendigkeit<br />
einer PGD sind ebenso wenig ein<br />
ethisches Argument wie der Hinweis auf<br />
die Praxis in benachbarten Ländern. Der<br />
Zweck beziehungsweise das Ziel heiligt<br />
nicht das Mittel. Dennoch sind wir durch<br />
das neue Machbare herausgefordert, uns<br />
mit den medizinischen, ethischen und<br />
rechtlichen Aspekten ernsthaft, das heißt<br />
ergebnisoffen, ausein<strong>an</strong>der zu setzen.<br />
Im Zentrum der ethischen Pro- und<br />
Kontra-Diskussion steht der Status des<br />
Embryos. In der Präambel des Vorschlags<br />
einer Richtlinie zur PGD (2000)<br />
hat die Kommission des Wissenschaftlichen<br />
Beirates der BÄK die Frage, ob es<br />
sich bei „positiver“ PGD und dem von<br />
diesem Ergebnis abgeleiteten Nichttr<strong>an</strong>sfer<br />
des Embryos um eine Ausnahme<br />
vom Tötungsverbot h<strong>an</strong>delt, zum<br />
Beispiel vor dem Hintergrund eines abgestuften<br />
Schutzkonzepts, oder ob keine<br />
Tötung vorliegt, nicht abschließend<br />
be<strong>an</strong>twortet und eine weitere rechtliche<br />
Diskussion und ethische Würdigung gefordert.<br />
Der Richtlinienvorschlag wird<br />
als wichtiger Beitrag zu dieser notwendigen<br />
Diskussion verst<strong>an</strong>den und soll<br />
„dazu dienen, eine sachgerechte Regelung<br />
herbeizuführen“.<br />
In Berücksichtigung des sehr ernst zu<br />
nehmenden Kontra-Arguments eines<br />
mit Zulassung der PGD eintretenden<br />
Dammbruchs hält die Kommission des<br />
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer,<br />
wie die Bioethik-Kommission<br />
des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz, die<br />
PGD nur unter eng gefassten Voraussetzungen<br />
für zulässig. Ein Wertungswiderspruch<br />
zum ESchG § 1 I Nr. 2 ESchG<br />
und § 2 I wird nicht erk<strong>an</strong>nt (s. o.).<br />
In dem Vorschlag der Richtlinien<br />
wird unmissverständlich gefordert, dass<br />
mit der PGD keine eugenischen Ziele<br />
verfolgt werden dürfen. Keine Indikation<br />
für eine PGD sind insbesondere<br />
❃ die Geschlechtsbestimmung ohne<br />
Kr<strong>an</strong>kheitsbezug,<br />
❃ das Alter der Eltern,<br />
❃ eine Sterilitätstherapie durch assistierte<br />
Reproduktion.<br />
Der Richtlinienentwurf geht hiermit<br />
weit hinter das Indikationsspektrum für<br />
eine <strong>PND</strong> zurück.<br />
Der Vorschlag beschreibt die Zulassungsbedingungen<br />
für die PGD mit<br />
den berufsrechtlichen Voraussetzungen,<br />
gibt Anweisungen für das Antragsverfahren<br />
<strong>an</strong> die bei der L<strong>an</strong>desärztekammer<br />
gebildete Kommission, die ihr Ergebnis<br />
der der Bundesärztekammer assoziierten<br />
Kommission mitteilt. In dieser<br />
„Kommission Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
sollen die Disziplinen Hum<strong>an</strong>genetik,<br />
Gynäkologie, Andrologie, Pädiatrie,<br />
Ethik und Recht vertreten sein.<br />
Neben der Festlegung der fachlichen,<br />
personellen und technischen Voraussetzungen<br />
sind in einem Kapitel<br />
„Durchführungsbedingungen“ die Richtlinien<br />
über Aufklärung, Beratung, Einwilligung,<br />
Gewinnung von Blastomeren,<br />
Tr<strong>an</strong>sfer und Nichttr<strong>an</strong>sfer von<br />
<strong>Embryonen</strong> sowie die Verfahrens- und<br />
Qualitätskontrolle beschrieben.<br />
„Mit Vorlage dieses Diskussionsentwurfes<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
strebt die Bundesärztekammer<br />
einen Diskurs mit den
D O K U M E N T A T I O N<br />
gesellschaftlichen Gruppen <strong>an</strong> und erhofft<br />
sich dabei einen offenen und sachlichen,<br />
gleichwohl kritischen Dialog“ –<br />
so Hoppe und Sewing im Vorwort des<br />
Diskussionsentwurfes.<br />
Unabhängig davon, ob die Gesellschaft<br />
sich in einem zu erwartenden<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz pro oder<br />
kontra Zulassung der PGD ausspricht,<br />
wird die Debatte über den vorliegenden<br />
Diskussionsentwurf eine erneute<br />
und, wie ich hoffe, ehrlichere Diskussion<br />
über die tatsächlichen Inhalte der<br />
<strong>PND</strong> und ihre Folgen bewirken und so<br />
das Problembewusstsein für die medizinische<br />
und gesellschaftliche Wirklichkeit<br />
der Pränatalmedizin fördern.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dt Ärztebl 2000; 97: A 1213–1221 [Heft 18]<br />
14. Honnefelder L: Bioethik in Europa. Orientierungslinien<br />
und Desirate. – Thesen –<br />
Tagung der Kath. Akademie in Bayern,<br />
27. 11. 1998.<br />
15. Keller R, Günter HL, Kaiser P: <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.<br />
Kommentar zum <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.<br />
Kohlhammer, 1992.<br />
16. Laufs A: Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin und Arztrecht<br />
1992; 79.<br />
17. Laufs A: Zur rechtlichen Problematik der<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin. Geburtsh. u.<br />
Frauenheilk. 1989; 49: 606.<br />
18. Ludwig M, Al Has<strong>an</strong>i S, Diedrich K:<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, „Preimpl<strong>an</strong>tation<br />
genetic diagnosis“ (PGD). In: K Diedrich<br />
(Hrsg.): Weibliche Sterilität, Ursachen,<br />
Diagnostik und Therapie. Springer,<br />
1998.<br />
19. Ludwig M, Diedrich K: Die Sicht der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik aus der Perspektive<br />
der Reproduktionsmedizin. Ethik<br />
Med. (Suppl.) 1999; 11: 38.<br />
20. Rager G: Zur Frage der Individualität und<br />
Personalität des Ungeborenen. In: Berg D,<br />
Hepp H, Pfeiffer R, Wuermeling HB<br />
(Hrsg.): Würde, Recht und Anspruch des<br />
Ungeborenen. München, 1992.<br />
21. Ratzel K, Heinem<strong>an</strong>n N: Zulässigkeit der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik. Nach Abschnitt<br />
D.IV Nr. 14, Satz 2 (Muster-)Berufsordnung<br />
– Änderungsbedarf Der<br />
Gynäkologe 1998; 31, 364 [Heft 4].<br />
22. Richtlinien zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> frühen<br />
menschlichen <strong>Embryonen</strong>. Dt Ärztebl<br />
1985; 50: 3757.<br />
23. Schreiber HL, Schneider S: <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
und Präfertilisations- bzw.<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – offene Auslegungsfragen.<br />
Referat Köln, 6. 9. 1999 –<br />
DFG-Symposium.<br />
24. Woopen C: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und selektiver Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch.<br />
Zur Analogie von <strong>Embryonen</strong>selektion in<br />
vitro und Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch nach<br />
Pränataldiagnostik im Rahmen der medizinischen<br />
Indikation des § 218 a Abs. 2<br />
StGB aus ethischer Perspektive. Zeitschrift<br />
für Ethik 1999; 45 [Heft 3].<br />
25. Wuermeling HB: Rechtspflichten der<br />
Schw<strong>an</strong>geren für das neugeborene Kind<br />
Bamberger Symposium, 16.–18. 3. 1990.<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. med. Herm<strong>an</strong>n Hepp<br />
Klinikum der Universität München<br />
Frauenklinik Großhadern<br />
81366 München<br />
Literatur<br />
1. Beckm<strong>an</strong>n R: Rechtsfragen der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
ZfL. 2/1999, 65<br />
(67).<br />
2. Beier HM: Die molekulare Biologie der<br />
Befruchtungskaskade und der beginnenden<br />
Embryonalentwicklung. In: Annals of<br />
Anatomy 174 (1992), 491.<br />
3. Beier HM: Die Phänomene Totipotenz<br />
und Pluripotenz: Von der klassischen<br />
Embryologie zu neuen Therapiestrategien.<br />
Reproduktionsmedizin 1999; 15:<br />
190.<br />
4. Braude PR: Gene activity in early hum<strong>an</strong><br />
development. In: Hum<strong>an</strong> Reproduction 2,<br />
Suppl. 1 (1987).<br />
5. Bericht der Bendakommission: In-vitro-<br />
Fertilisation, Genom<strong>an</strong>alyse und Gentherapie.Verlag<br />
Schweizer (1986), München.<br />
6. Caesar P: Bericht der Bioethikkommission<br />
des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz. Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
– Thesen zu den medizinischen,<br />
rechtlichen und ethischen<br />
Problemstellungen. Ministerium der Justiz<br />
Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz (1999).<br />
7. Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik. Dt Ärztebl<br />
2000; 97:A-525 [Heft 9].<br />
8. Edwards RG: Maturation in vitro of hum<strong>an</strong><br />
ovari<strong>an</strong> oocytes. L<strong>an</strong>cet II (1965) 926.<br />
9. Edwards RG: Europe<strong>an</strong> bioethics conference<br />
on hum<strong>an</strong> embryo <strong>an</strong>d research.<br />
Mainz (1988) 7–9.11.<br />
10. Fuchs J: Seele und Beseelung im individuellen<br />
Werden des Menschen. Stimmen der<br />
Zeit 1989; 207: 522.<br />
11. H<strong>an</strong>ak EE: Zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
aus sog. kindlicher Indikation als<br />
Grenzproblem. In: Hauser R, Rehberg J,<br />
Stratenberth G (Hrsg.): Gedächtnisschrift<br />
für Peter Noll, Schulthess, Zürich, 1984.<br />
12. H<strong>an</strong>dyside AH, Lesko JG, Tarin JJ, Winston<br />
RLM, Huges M: Birth of a normal girl<br />
after in vitro fertilization <strong>an</strong>d preimpl<strong>an</strong>tation<br />
diagnostic testing for cystic fibrosis.<br />
NEJM 1992; 327: 905.<br />
13. Hepp H: Pränatalmedizin – Anspruch auf<br />
ein gesundes Kind J<strong>an</strong>uskopf medizinischen<br />
Fortschritts. In: Jahres- und Tagungsbericht<br />
der Görresgesellschaft 1997,<br />
75.<br />
Heft 20, 19. Mai 2000<br />
Medizinethik<br />
Mindestmaß <strong>an</strong> Schutz<br />
für die Zukunft<br />
Über Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik und die Menschenrechtskonvention<br />
zur Biomedizin des Europarats wurde auf dem<br />
Ärztetag kontrovers diskutiert.<br />
Ein eigener Tagesordnungspunkt zum<br />
Thema Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD = preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis) war in diesem Jahr beim 103.<br />
Deutschen Ärztetag nicht vorgesehen.<br />
Dennoch wurde intensiv über die PGD<br />
und ihre Folgen diskutiert. Die Debatte<br />
um den von der Bundesärztekammer<br />
vorgelegten „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
(Heft 9/2000) stehe beispielhaft<br />
für die Ethikdiskussionen, die in<br />
nächster Zeit geführt werden müssten,<br />
sagte Bundesgesundheitsministerin Andrea<br />
Fischer auf der Eröffnungsver<strong>an</strong>staltung.<br />
Sie wies darauf hin, dass nach Auffassung<br />
des Bundesgesundheitsministeriums<br />
die PGD nicht erlaubt sei. Aber<br />
Gesetze ließen sich ändern. Sie sei vielmehr<br />
gegen die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
weil es damit Ärzten und potenziellen<br />
Eltern gestatten würde, über<br />
lebens- und nicht lebenswertes Leben<br />
zu entscheiden.Sie befürchtet,„dass wir<br />
von den schweren Einzelfällen rasch<br />
zur Verallgemeinerung kommen könnten<br />
und damit auf eine gefährliche<br />
Bahn, die unseren Blick auf Kr<strong>an</strong>kheit<br />
und Behinderung dramatisch verändern<br />
würde“. Es sei eine Grenze erreicht,<br />
die nicht überschritten werden<br />
dürfte.<br />
Dass die Debatte notwendig sei, betonte<br />
auch der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-<br />
Dietrich Hoppe. Schließlich würden die<br />
in der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin tätigen<br />
Ärztinnen und Ärzte regelmäßig mit<br />
dem Wunsch nach PGD konfrontiert.<br />
37
D O K U M E N T A T I O N<br />
Deshalb müsse eine Entscheidung getroffen<br />
werden, ob die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
kategorisch abgelehnt<br />
werden solle oder m<strong>an</strong> sie bei<br />
streng begrenzten Indikationen zulassen<br />
wolle.<br />
Ein Verbot der PGD würde letztlich<br />
dazu führen, dass wieder auf die Möglichkeiten<br />
der Pränataldiagnostik verwiesen<br />
würde und m<strong>an</strong> sich bei entsprechenden<br />
Ergebnissen möglicherweise<br />
für einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
entscheidet, sagte Hoppe. Seiner<br />
Auffassung nach ist eine isolierte Diskussion<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ohne eine generelle Diskussion über<br />
den Paragraphen 218 unvertretbar. Dr.<br />
med. Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery, Präsident<br />
der Ärztekammer Hamburg, befürchtet<br />
wie Fischer einen ethischen<br />
Deichbruch. Über kurz oder l<strong>an</strong>g würden<br />
bei allen In-vitro-Fertilisationsmaßnahmen<br />
PGDs nötig sein. Montgomery<br />
plädierte deshalb für ein Verbot<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik. Ein Entschließungs<strong>an</strong>trag<br />
von Dr. med. Heinz-<br />
Michael Mörlein wurde zurückgezogen.<br />
Darin hatte er vorgeschlagen, die<br />
gesetzliche und die berufsrechtliche Regelung<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
<strong>an</strong> die Regelung zur Amniozentese <strong>an</strong>zulehnen.<br />
Von den Anträgen zum Tätigkeitsbericht<br />
der Bundesärztekammer, die ethische<br />
Fragestellungen berührten, wurde<br />
insbesondere die Empfehlung des Vorst<strong>an</strong>ds<br />
der Bundesärztekammer, die<br />
Menschenrechtskonvention zur Biomedizin<br />
des Europarats zu ratifizieren,<br />
kontrovers diskutiert. Diese so gen<strong>an</strong>nte<br />
Bioethik-Konvention ermöglicht unter<br />
bestimmten Voraussetzungen die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> nicht einwilligungsfähigen<br />
Patienten. Prof. Dr. med. Eggert<br />
Beleites, Präsident der L<strong>an</strong>desärztekammer<br />
Thüringen, betonte die Notwendigkeit<br />
einer völkerrechtlich verbindlichen<br />
Konvention, um ein Mindestmaß<br />
<strong>an</strong> Schutz für die Zukunft zu<br />
gewährleisten. „Wir dürfen nicht so l<strong>an</strong>ge<br />
warten, bis wir nicht mehr mitreden<br />
dürfen.“ Durch Ratifizierung würden<br />
die auf nationaler Ebene geltenden<br />
höheren Schutzbestimmungen nicht aufgehoben.<br />
Montgomery verwies dagegen auf<br />
die Entschließung des 100. Deutschen<br />
Ärztetages in Eisenach, mit der die<br />
Bundesregierung vor einer Ratifizierung<br />
der Menschenrechtskonvention<br />
zur Biomedizin gewarnt worden war.<br />
Mit dem Verweis auf den St<strong>an</strong>dortnachteil<br />
gegenüber den Nachbarländern<br />
werde nach einer Ratifizierung<br />
der Druck von Industrie und Wissenschaft<br />
schon bald dazu führen, „das<br />
Schutzniveau bei uns herunterzufahren“.<br />
Als blauäugig bezeichnete er die<br />
Ansicht von Beleites, die Debatte um<br />
Ethik in der medizinischen <strong>Forschung</strong><br />
etwa in den USA lasse sich durch europäische<br />
Konventionen beeindrucken.<br />
Der gerade bek<strong>an</strong>nt gewordene Referentenentwurf<br />
aus dem Bundesjustizministerium,<br />
der vorsehe, Teile menschlicher<br />
Gene patentierbar zu machen,<br />
zeige zudem deutlich, dass wir auch in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d „bereits auf der schiefen<br />
Ebene sind“. Mit knapper Mehrheit<br />
lehnten die Delegierten den von Montgomery<br />
eingebrachten Änderungs<strong>an</strong>trag<br />
zur Vorst<strong>an</strong>dsvorlage ab. Sie<br />
Heft 22, 2. Juni 2000<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
stimmten jedoch einer Änderung zu,<br />
wonach die Ratifizierung der Menschenrechtskonvention<br />
zur Biomedizin<br />
nur unter der Voraussetzung erfolgen<br />
soll, dass der Schutz von nicht einwilligungsfähigen<br />
Menschen gewährleistet<br />
ist.<br />
Mit großer Mehrheit sprach sich der<br />
Deutsche Ärztetag gegen die Verwendung<br />
von Informationen über das<br />
menschliche Genom zu kommerziellen<br />
Zwecken aus. Die Patentierbarkeit von<br />
Genomen zum Schutz von biotechnologischen<br />
Erfindungen lehnten die Delegierten<br />
ab. Sie w<strong>an</strong>dten sich zudem gegen<br />
einen Auskunfts<strong>an</strong>spruch von Versicherungen<br />
auf vorliegende Informationen<br />
aus einer Gendiagnostik. Befürchtet<br />
wird, dass aus Angst vor versicherungsrechtlichen<br />
Nachteilen diese<br />
wichtige Diagnostik nicht in Anspruch<br />
genommen wird.<br />
Gisela Klinkhammer,<br />
Thomas Gerst<br />
Absage <strong>an</strong> jede Art<br />
eugenischer Zielsetzung<br />
Bundesgesundheitsministerin Fischer möchte das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz durch ein neues Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
ablösen.<br />
Die Geburt des ersten „Retortenbabys“<br />
Louise Joy Brown hatte im<br />
Jahr 1978 für weltweites Aufsehen<br />
gesorgt. Heute ist die In-vitro-<br />
Fertilisation (IvF) in vielen Ländern<br />
Routine. In Deutschl<strong>an</strong>d sind den Methoden<br />
der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin durch<br />
das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz (EschG)<br />
Grenzen gesetzt. Bundesgesundheitsministerin<br />
Andrea Fischer will dies jedoch<br />
durch ein neues Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
abgelöst sehen, da ihr<br />
die Gesetzgebung von 1991 nicht<br />
mehr zeitgemäß erscheint. Zur besseren<br />
„Entscheidungsfindung“ hatte sie<br />
Ende Mai rund 600 Ärzte, Natur- und<br />
Geisteswissenschaftler, Juristen sowie<br />
Politiker zu einem dreitägigen Symposium<br />
nach Berlin eingeladen. Dort zog<br />
sich vor allem die Problematik der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (preimpl<strong>an</strong>tation<br />
genetic diagnosis = PGD), der<br />
auch ein eigener Tagesordnungspunkt<br />
gewidmet war, wie ein roter Faden<br />
durch die Diskussion. Es ging unter <strong>an</strong>derem<br />
aber auch um den Einsatz von<br />
Keimzellspenden sowie die Gewinnung<br />
und Verwendung hum<strong>an</strong>er embryonaler<br />
Stammzellen.<br />
Mithilfe der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
könne ein Kinderwunsch Realität werden,<br />
auch wenn die biologischen Vor-<br />
38
D O K U M E N T A T I O N<br />
aussetzungen dagegen sprächen, sagte<br />
Fischer zu Beginn der Ver<strong>an</strong>staltung.<br />
„Was jedoch aus Sicht des Einzelnen ein<br />
Fortschritt ist, k<strong>an</strong>n Konsequenzen haben,<br />
die die Gesellschaft womöglich<br />
g<strong>an</strong>z grundlegend verändern.“ Die<br />
Möglichkeit, individuelles Leid zu verhindern,<br />
bedeute keine Rechtfertigung<br />
dafür, auch alles Machbare zu tun.<br />
Durch die neuen Techniken könne ein<br />
Klima entstehen, das den perfekten<br />
Menschen immer mehr zur Norm<br />
werden lasse und das es schließlich<br />
als rechtfertigungsbedürftig erscheinen<br />
lasse, wenn ein behindertes Kind zur<br />
Welt kommt. Diese Auffassung wurde<br />
von zahlreichen Teilnehmern des Symposiums<br />
geteilt. So sagte Prof. Dr. rer. biol.<br />
habil. Elmar Brähler, Leipzig, dass<br />
die Entwicklung der medizinischen<br />
Technik im Einzelfall zur programmierten<br />
Zeugung im Labor unter Einbeziehung<br />
von individuellen und sozial<br />
akzeptierten Wunschkriterien führen<br />
könnte. Die Männer würden zu Statisten<br />
degradiert, die Frauen würden zu<br />
Objekten der Lust, die Kinder zu Produkten.<br />
Mehrere Vertreter von Behindertenverbänden<br />
verwahrten sich<br />
ebenfalls dezidiert gegen jegliche Form<br />
selektiver pränataler Diagnostik.<br />
Kritik <strong>an</strong> PGD<br />
Einem „Machbarkeitswahn“ erteilte<br />
auch der Präsident der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), Prof. Dr. med. Jörg-<br />
Dietrich Hoppe, eine Absage. Er warnte<br />
aber gleichzeitig davor, die Vorteile der<br />
modernen Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin zu<br />
übersehen. So bewerteten kinderlose<br />
Ehepaare die Reproduktionsmedizin<br />
oft als letzte Möglichkeit, ihrem Leiden<br />
mit Hilfe fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizinischer<br />
Technik begegnen zu können. In<br />
Deutschl<strong>an</strong>d sei es in den letzten Jahren<br />
zu einer enormen Ausweitung im Bereich<br />
der Reproduktionsmedizin gekommen.<br />
Neue wissenschaftliche Entwicklungen<br />
und molekularbiologische<br />
Kenntnisse hätten es außerdem möglich<br />
gemacht, im Rahmen der In-vitro-Fertilisation<br />
die Anlage schwerster genetischer<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen – allerdings nur<br />
solcher – durch die PGD schon in einer<br />
sehr frühen Phase der Entwicklung<br />
menschlichen Lebens zu erkennen.<br />
Bisher keine Richtlinie<br />
In Presseberichten zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ist häufig die Rede<br />
davon, die Bundesärztekammer befürworte<br />
mittels einer Richtlinie die<br />
PGD unter strengen Auflagen. So ist<br />
es nicht. Bisher jedenfalls. Die Bundesärztekammer<br />
hat lediglich einen<br />
Diskussionsentwurf zur einer solchen<br />
Richtlinie vorgelegt; der wurde<br />
in Heft 9/2000 veröffentlicht. Dar<strong>an</strong><br />
schließt sich bis heute eine kontroverse<br />
Diskussion <strong>an</strong>. Eine Beschlussfassung<br />
der Bundesärztekammer<br />
steht aus.<br />
DÄ<br />
Doch gerade diese Art der Diagnostik<br />
stieß auf scharfe Kritik zahlreicher<br />
Kongressteilnehmer. „Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ist de facto Eugenik, unabhängig<br />
von den Absichten oder Einstellungen<br />
derjenigen, die sie praktizieren“,<br />
betonte Privatdozentin Dr. phil.<br />
Kathrin Braun, H<strong>an</strong>nover. Für Dr.<br />
med. Dr. phil. Barbara Meier, Salzburg,<br />
könnte durch die Anwendung<br />
von PGD eine fragwürdige Entwicklung<br />
von einem Wunsch nach einem<br />
Kind zu einem „Recht“ beziehungsweise<br />
einer „Pflicht“ zu einem gesunden<br />
Kind die Folge sein.<br />
Der Theologe Prof. Dr. theol. Ulrich<br />
Eibach, Bonn, sieht die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sogar als mit dem Grundgesetz<br />
unvereinbar, nach dem die „Menschenwürde<br />
un<strong>an</strong>tastbar und unverlierbar<br />
jedem Augenblick des Lebens von<br />
der Zeugung bis zum Tod zugeeignet<br />
ist“. Mit der PGD werde gegen dieses<br />
Verständnis von Menschenwürde verstoßen,„dadurch,dass<br />
eine konflikthafte<br />
Konkurrenz zwischen dem Leben des<br />
Embryos und den Lebensinteressen der<br />
Frau beziehungsweise des Paares nicht<br />
naturhaft schon vorliegt, sondern erst<br />
durch das bewusste H<strong>an</strong>deln Dritter, der<br />
Ärzte, hervorgerufen wird mit dem Ziel,<br />
die <strong>Embryonen</strong> bei m<strong>an</strong>gelnder Qualität<br />
zu verwerfen“. PGD öffne die Tore zu<br />
weitergehenden Selektionen von und<br />
M<strong>an</strong>ipulationen <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>.<br />
Hoppe betonte dagegen,dass ein sehr<br />
restriktiver Einsatz der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
eine deutliche Absage <strong>an</strong><br />
jede Art von eugenischer Zielsetzung<br />
und Selektion begründe.Da die Medizin<br />
mit dieser diagnostischen Möglichkeit<br />
in Grenzbereiche ärztlichen H<strong>an</strong>delns<br />
vordringe, habe die Bundesärztekammer<br />
durch ihren Wissenschaftlichen<br />
Beirat einen „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
vorgelegt“ (Heft 9/2000). Darauf,<br />
dass im Zusammenh<strong>an</strong>g einer Diskussion<br />
über PGD auch über den Paragraphen<br />
218 StGB neu nachgedacht<br />
werden müsse, hatte Hoppe bereits auf<br />
dem 103. Deutschen Ärztetag in Köln<br />
hingewiesen. Der Fr<strong>an</strong>kfurter Neonatologe<br />
Prof. Dr. med. Volker von Loewenich<br />
wies darauf hin, dass der menschliche<br />
Embryo im Glase strikten Schutz<br />
genieße, während er im Uterus nur sehr<br />
eingeschränkt geschützt sei. Beim nicht<br />
impl<strong>an</strong>tierten Embryo treffe der Tod ein<br />
so gut wie nicht ausdifferenziertes Individuum.<br />
Die Alternative zum Nichtimpl<strong>an</strong>tieren<br />
sei die gesetzlich mögliche<br />
Abtreibung, bei der ein viel weiter ausdifferenziertes<br />
menschliches Wesen<br />
getötet würde, über dessen Leidensfähigkeit<br />
m<strong>an</strong> nichts Genaues wisse.Vor<br />
allem aber für die betroffene Frau sei<br />
die Abtreibung die weitaus traumatischere<br />
Intervention.<br />
Braun vertrat die Auffassung, dass die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft ein einzigartiger „Umst<strong>an</strong>d“<br />
sei, der mit keinem <strong>an</strong>deren<br />
gleichgestellt werden könne. Der Embryo<br />
beziehungsweise Fötus könne nicht<br />
durch Dritte gegen den Willen der Frau<br />
geschützt werden, ohne die Würde der<br />
Frau zu verletzen. Da dies bei <strong>Embryonen</strong><br />
außerhalb des Frauenleibes nicht<br />
der Fall sei, könnten und müssten diese<br />
geschützt werden. PGD könne nicht mit<br />
Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Frau legitimiert werden.<br />
Fischer wendet sich jedenfalls gegen<br />
eine neue Diskussion über die Abtreibungsgesetzgebung.<br />
Die bestehende<br />
Regelung sei Ergebnis einer l<strong>an</strong>gwierigen<br />
und schwierigen Kompromissfindung.<br />
Es gebe keine Ver<strong>an</strong>lassung,<br />
diesen Kompromiss wieder infrage zu<br />
stellen, da die Möglichkeit der vorgeburtlichen<br />
Auswahl von <strong>Embryonen</strong><br />
nicht mit einer tatsächlich eingetretenen<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft verglichen werden<br />
könne. Die Gesundheitsministerin<br />
ist der Überzeugung, dass eine Verknüpfung<br />
mit der strafrechtlichen Bewertung<br />
des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
39
D O K U M E N T A T I O N<br />
jedwede Entscheidungsfindung in Sachen<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin unmöglich<br />
machen werde.<br />
Konstruktive Diskussion<br />
Doch sollte das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
überhaupt revidiert oder durch ein<br />
neues Gesetz abgelöst werden Ebenso<br />
wie bei der PGD gehen auch bei dieser<br />
Frage die Meinungen ausein<strong>an</strong>der. Im<br />
Bereich der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin seien<br />
Staat und Ärzteschaft gleichermaßen<br />
gefordert, sagte Hoppe. Während die<br />
Ärzteschaft „sehr frühzeitig berufsrechtliche<br />
Regelungen zur Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
erlassen hat und laufend<br />
aktualisiert, ist es Sache des Bundesgesetzgebers,<br />
die vor allem sozialrechtlich<br />
erforderlichen Rahmenbedingungen<br />
für eine ethisch vertretbare Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
zu entwickeln“. Der Gesetzgeber<br />
wäre gut beraten, „die medizinischen<br />
und naturwissenschaftlichen<br />
Fragen sowie Fragen der ärztlichen<br />
Ethik im System ärztlicher Selbstverwaltung<br />
zu belassen“.<br />
Der CDU-Bundestagsabgeordnete<br />
Hubert Hüppe lehnt jegliche Änderung<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes ab. „Über<br />
Parteigrenzen hinweg besteht Einigkeit,<br />
dass der Schutz menschlicher <strong>Embryonen</strong><br />
un<strong>an</strong>getastet bleiben muss.“ Doch<br />
eben dieser Schutz ist für Fischer durch<br />
das Gesetz offensichtlich nicht mehr<br />
eindeutig gewährleistet. Denn zum<br />
Beispiel bei der PGD gehen die Rechtsauslegungen<br />
ausein<strong>an</strong>der. Während<br />
das Bundesgesundheitsministerium die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mit dem<br />
EschG für unvereinbar hält,kommt Prof.<br />
Dr. med. Herm<strong>an</strong>n Hepp, München, zu<br />
dem Schluss, dass die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
<strong>an</strong> einer nicht mehr totipotenten<br />
Zelle mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
vereinbar sei (dazu Heft<br />
18/2000). Am Ende des Symposiums<br />
war sich Fischer in diesem Punkt sicher:<br />
Sie will in einem neuen Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
die PGD verbieten.Auch<br />
der Genehmigung einer Eizellspende<br />
stehe sie nach wie vor skeptisch gegenüber.<br />
Der möglicherweise zu regelnde<br />
Widerspruch bei der Verwendung embryonaler<br />
Stammzellen sei ihr erst auf<br />
dem Symposium wirklich deutlich geworden.<br />
Diese Problematik hatte Prof.<br />
Dr. iur. Dr. h. c. Rüdiger Wolfrum erläutert.<br />
Er hatte darauf aufmerksam gemacht,<br />
dass die fremdnützige <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> in Deutschl<strong>an</strong>d weitgehender<br />
als in <strong>an</strong>deren Staaten verboten<br />
sei. „Bleibt in Deutschl<strong>an</strong>d die Herstellung<br />
von embryonalen Stammzellen<br />
verboten, wäre es d<strong>an</strong>n nicht konsequent,<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d auch die Anwendungen<br />
aus den entsprechenden<br />
<strong>Forschung</strong>sarbeiten zu untersagen, um<br />
dem Vorwurf der doppelten Moral zu<br />
entgehen“ fragte Wolfrum.<br />
In vielen <strong>an</strong>deren Bereichen soll die<br />
Debatte, deren konstruktiven Beginn in<br />
Berlin die Ministerin begrüßte, fortgeführt<br />
werden. Deutlich wurde bei dem<br />
Symposium bereits jetzt, dass eine gesetzliche<br />
Regelung der <strong>an</strong>gesprochenen<br />
Probleme, die nach dem Willen der Gesundheitsministerin<br />
noch in dieser Legislaturperiode<br />
durchgesetzt werden soll,<br />
nicht nur den <strong>Embryonen</strong>schutz betrifft,<br />
sondern Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche<br />
Wertehaltung haben<br />
wird.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Heft 30, 28. Juli 2000<br />
Kinderwunsch<br />
Zu dem Beitrag „Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin:<br />
Absage <strong>an</strong> jede Art eugenischer Zielsetzung“<br />
von Gisela Klinkhammer in Heft 22/2000:<br />
Gesetzgebung leistet Vorschub<br />
Unter eugenischer Zielsetzung versteht<br />
m<strong>an</strong> das Bestreben, unter Anwendung<br />
medizinischer, insbesondere genetischer<br />
Erkenntnisse den Fortbest<strong>an</strong>d<br />
günstiger Erb<strong>an</strong>lagen in einer menschlichen<br />
Population zu fördern und zu sichern.<br />
Wenn auch im gen<strong>an</strong>nten Artikel schon<br />
in der Titelzeile vermittelt werden soll,<br />
dass es sich hierbei um ein unter allen<br />
Umständen aus moralischen Erwägungen<br />
abzulehnendes Verhalten h<strong>an</strong>delt,<br />
so lautet doch der nüchterne Befund,<br />
dass die bundesdeutsche Gesetzgebung<br />
g<strong>an</strong>z eindeutig dieser Zielsetzung Vorschub<br />
leistet, indem sie de facto den gezielten<br />
Abbruch behinderter Föten<br />
straflos lässt. Denn wer wollte bestreiten,<br />
dass Fruchtwasseruntersuchungen<br />
bei Schw<strong>an</strong>geren deshalb durchgeführt<br />
werden, um Fehlbildungen frühzeitig<br />
zu erkennen und den betroffenen Fötus<br />
abzutreiben, weswegen von dieser Methode<br />
ausgiebig Gebrauch gemacht<br />
wird.<br />
Der Einw<strong>an</strong>d unserer Gesundheitsministerin,<br />
dass die „Möglichkeit der vorgeburtlichen<br />
Auswahl von <strong>Embryonen</strong><br />
nicht mit einer tatsächlich eingetretenen<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft verglichen werden<br />
könne“, entbehrt jedlicher Beweiskraft<br />
. . .<br />
Wenn in dem Artikel außerdem die<br />
Rede davon ist, dass der Fötus nicht gegen<br />
den Willen der Frau geschützt werden<br />
könne, ohne ihre Würde zu verletzen,<br />
so muss sich der Urheber einer solchen<br />
Theorie (Braun) fragen lassen,<br />
warum dies nach der Geburt durchaus<br />
möglich sein soll: Eine nach der Geburt<br />
vom Vater des Kindes verlassene Frau,<br />
die daraufhin sich außerst<strong>an</strong>de sieht,<br />
das Kind alleine aufzuziehen beziehungsweise<br />
dies als gegen ihre Würde<br />
gerichtet sieht, hat jedenfalls keine<br />
Möglichkeit, ihr Kind straflos zu<br />
töten...<br />
Dr. Martin Klein<br />
Herm<strong>an</strong>n-Hesse-Weg 2<br />
97276 Margetshöchheim<br />
40
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 28–29, 17. Juli 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Nochmals: Öffentlicher Diskurs<br />
Anhaltende Diskussion im Leserkreis:<br />
Schwerpunkte sind weiterhin rechtliche und ethische Probleme.<br />
Der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der<br />
Bundesärztekammer zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
veröffentlicht in Heft 9, hat eine umf<strong>an</strong>greiche<br />
Diskussion in der Öffentlichkeit<br />
und nicht zuletzt auch im Deutschen Ärzteblatt<br />
ausgelöst. Der Zusage der Redaktion<br />
entsprechend, sich nach Kräften am öffentlichen<br />
Diskurs zu beteiligen, folgen auf diesen<br />
Seiten weitere Stellungnahmen und Kommentare.<br />
Sie beziehen sich nicht nur auf die<br />
Richtlinien selbst, sondern auf die vor<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>gene<br />
Leserdiskussion (Heft 17) sowie Berichte<br />
und Kommentare unter <strong>an</strong>derem von<br />
Dr. med. Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery sowie Prof.<br />
Dr. med. Herm<strong>an</strong>n Hepp. Einige Stellungnahmen<br />
beziehen sich zudem auf Kommentare<br />
seitens des Wissenschaftlichen Beirats der<br />
Bundesärztekammer in Heft 17. Die Redaktion<br />
hat gelegentlich unter gleichartigen Zuschriften<br />
auswählen müssen. Die nachfolgenden<br />
Stellungnahmen geben jedoch insgesamt den<br />
Diskussionst<strong>an</strong>d wieder, sofern er die Redaktion<br />
erreicht hat.<br />
Wir beenden fürs Erste die Aussprache.<br />
Kein Grund, das Tor zu öffnen<br />
Ulrike Riedel, Abteilungsleiterin<br />
für Gesundheitsfürsorge und<br />
Kr<strong>an</strong>kheitsbekämpfung im Bundesgesundheitsministerium,<br />
hat in Heft<br />
10/2000 des Deutschen Ärzteblattes den<br />
St<strong>an</strong>dpunkt vertreten, die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD ) stehe im Widerspruch<br />
zum <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
(ESchG). Auch Bundesgesundheitsministerin<br />
Andrea Fischer hat sich in diesem<br />
Sinne geäußert. In der Debatte<br />
über den Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer<br />
für eine Richtlinie zur<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik wird diese<br />
Auffassung jedoch <strong>an</strong>gezweifelt. Ferner<br />
betont der Vorsitzende des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. K.-F. Sewing, sowohl<br />
die Bioethik-Kommission des L<strong>an</strong>des<br />
Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz als auch der Wissenschaftliche<br />
Beirat seien „nach eingehender<br />
rechtlicher Prüfung zu dem Ergebnis<br />
gel<strong>an</strong>gt, dass die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
nicht mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
kollidiert“.<br />
Der Bericht der Bioethik-Kommission<br />
Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz kommt zwar in These<br />
II 10 zu dem Ergebnis, dass die PGD<br />
mit der grundlegenden Vorschrift des<br />
§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG vereinbar sei. Da<br />
sich die inhaltliche Begründung für diese<br />
Auffassung aber in einem Satz erschöpft,<br />
k<strong>an</strong>n von einer eingehenden<br />
rechtlichen Prüfung kaum die Rede<br />
sein. Der Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer<br />
für eine Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik enthält<br />
selbst auch keine argumentative Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
mit dem ESchG.Allerdings<br />
haben sich der Leiter der Arbeitsgruppe,<br />
die den Entwurf erarbeitet hat,<br />
Prof. Dr. Herm<strong>an</strong>n Hepp, und Prof. Dr.<br />
H.-L. Schreiber für den Wissenschaftlichen<br />
Beirat der Bundesärztekammer<br />
nachträglich zur Vereinbarkeit mit dem<br />
ESchG geäußert.<br />
Auch unter Berücksichtigung dieser<br />
Stellungnahmen führt eine detaillierte<br />
Prüfung jedoch zu dem Ergebnis, dass<br />
wesentliche Verfahrensschritte der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
nach dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
strafbar sind.<br />
Verbot der IVF zu<br />
diagnostischen Zwecken<br />
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG macht sich<br />
strafbar, wer „es unternimmt, eine Eizelle<br />
zu einem <strong>an</strong>deren Zweck künstlich<br />
zu befruchten, als eine Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
der Frau herbeizuführen, von der die<br />
Eizelle stammt“. Von den Befürwortern<br />
der PGD wird diese Strafbestimmung<br />
als nicht einschlägig betrachtet,<br />
da das Verfahren schließlich darauf gerichtet<br />
sei, eine Schw<strong>an</strong>gerschaft bei der<br />
betroffenen Frau herbeizuführen –<br />
wenn auch nach Durchführung diagnostischer<br />
Maßnahmen. Die Verwerfung<br />
von diagnostisch auffälligen <strong>Embryonen</strong><br />
sei lediglich „eine dem Täter höchst<br />
unerwünschte Nebenfolge“.<br />
Bei genauer Betrachtung des Verfahrens<br />
der PGD stellt sich jedoch heraus,<br />
dass die „Befruchtung der Eizelle“ – so<br />
die tatbest<strong>an</strong>dsmäßige H<strong>an</strong>dlung gem.<br />
§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG – nicht von vornherein<br />
mit dem Ziel erfolgt, eine<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft bei der Frau herbeizuführen,<br />
von der die Eizelle stammt. Die<br />
Befruchtung erfolgt zunächst ausschließlich<br />
zum Zweck der präimpl<strong>an</strong>torischen<br />
Qualitätskontrolle. Erst d<strong>an</strong>n<br />
entscheidet sich, was mit dem Embryo<br />
geschehen soll. Die Entscheidung,<br />
durch Übertragung des Embryos in die<br />
Gebärmutter eine Schw<strong>an</strong>gerschaft <strong>an</strong>zustreben,<br />
fällt nicht vor oder bei der<br />
Befruchtung, sondern erst nach der Untersuchung<br />
der befruchteten Eizelle.<br />
Dies wird auch im Richtlinienentwurf<br />
der Bundesärztekammer deutlich:<br />
„Nach PGD ist in einem erneuten<br />
Aufklärungs- und Beratungsgespräch<br />
mit dem Paar zu klären, ob und gegebenenfalls<br />
welche der <strong>Embryonen</strong> tr<strong>an</strong>sferiert<br />
werden sollen . . .“ Das g<strong>an</strong>ze<br />
Verfahren wurde schließlich entwickelt,<br />
um nicht „irgendeinen“, sondern nur einen<br />
auf bestimmte Kr<strong>an</strong>kheiten hin getesteten<br />
Embryo tr<strong>an</strong>sferieren zu können.<br />
Vor und bei der Befruchtung steht<br />
die „Qualität“ des Embryos aber noch<br />
nicht fest. Die Herbeiführung einer<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft mit dem durch IVF erzeugten<br />
Embryo ist im Zeitpunkt der<br />
Befruchtung daher nicht beabsichtigt.<br />
Wollte m<strong>an</strong> <strong>an</strong>nehmen, dass die gen<strong>an</strong>nten<br />
Bestimmungen des ESchG die<br />
Herbeiführung einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
nur als „Endziel“ eines Vorg<strong>an</strong>gs mit<br />
verschiedenen Teilschritten voraussetzen,<br />
wären in der Phase zwischen Befruchtung<br />
und Übertragung M<strong>an</strong>ipulationen<br />
jedweder Art möglich, sol<strong>an</strong>ge nur<br />
letztendlich wenigstens ein Embryo auf<br />
die Frau übertragen werden soll. Eine<br />
sachgemäße Interpretation des ESchG<br />
41
D O K U M E N T A T I O N<br />
42<br />
k<strong>an</strong>n aber nur darin bestehen, dass sich<br />
das Tatbest<strong>an</strong>dsmerkmal „Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft“ auf den<br />
einzelnen extrakorporal erzeugten Embryo<br />
bezieht. Die Formulierung des<br />
ESchG ist insoweit <strong>an</strong> Eindeutigkeit<br />
kaum zu überbieten. Es kommt darauf<br />
<strong>an</strong>, welcher Zweck konkret bei der Befruchtung<br />
der Eizelle hinsichtlich genau<br />
dieser Eizelle verfolgt wird. Wenn die<br />
Herbeiführung einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
beabsichtigt ist, ist die Befruchtung der<br />
Eizelle zulässig. Besteht diese Absicht<br />
nicht und erfolgt die Entscheidung über<br />
den Tr<strong>an</strong>sfer erst zu einem späteren<br />
Zeitpunkt – nach der Diagnose –, liegt<br />
eine nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG „missbräuchliche<br />
Anwendung von Fortpfl<strong>an</strong>zungstechniken“<br />
vor. Der zunächst<br />
ausschließlich verfolgte Zweck<br />
der künstlichen Befruchtung ist die Selektion<br />
genetisch belasteter <strong>Embryonen</strong>.<br />
Der später eventuell hinzukommende<br />
Tr<strong>an</strong>sfer auf die Frau k<strong>an</strong>n den<br />
bereits vollendeten Verstoß gegen das<br />
ESchG in seiner rechtlichen Bedeutung<br />
nicht mehr beeinflussen. Dass die Methode<br />
der IVF hier „missbraucht“ wird,<br />
ist auch dar<strong>an</strong> erkennbar, dass diejenigen<br />
Paare, für die PGD in Betracht<br />
kommt, regelmäßig in ihrer natürlichen<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsfähigkeit nicht eingeschränkt<br />
sind.<br />
Der Hinweis von Schreiber, dass das<br />
Ergebnis der Diagnostik nur eine Bedingung<br />
der Entscheidung für die Herbeiführung<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaft sei<br />
und der Arzt auch bei regulärer IVF<br />
„den <strong>an</strong>schließenden Embryotr<strong>an</strong>sfer<br />
stets von der Bedingung abhängig<br />
macht, dass sich die Patientin auch später<br />
noch bereit erklärt, diesen vornehmen<br />
zu lassen“, geht fehl. Zum einen<br />
ändert dies nichts dar<strong>an</strong>, dass der Tatbest<strong>an</strong>d<br />
des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG bereits<br />
verwirklicht ist, wenn die „Bedingung“<br />
für den Embryotr<strong>an</strong>sfer eintritt. Zum<br />
Zweiten werden hier ersichtlich zwei Situationen<br />
verglichen, die unter völlig<br />
unterschiedlichen Voraussetzungen stehen.<br />
Voraussetzung einer „normalen“<br />
IVF-Beh<strong>an</strong>dlung ist die Einwilligung<br />
der Frau in die Befruchtung und die<br />
Übertragung der Eizellen. Damit ist die<br />
„Bedingung“, mit dem Tr<strong>an</strong>sfer der<br />
<strong>Embryonen</strong> einverst<strong>an</strong>den zu sein, bei<br />
jeder IVF-Beh<strong>an</strong>dlung von vornherein<br />
gegeben. Bei der PGD ist diese Bedingung<br />
jedoch im Zeitpunkt der Befruchtung<br />
von vornherein nicht gegeben. Sie<br />
kommt erst später hinzu. Damit liegt<br />
nur im Fall der PGD eine echte „bedingte<br />
Zeugung“ vor. Aus dem Ablauf<br />
der normalen IVF-Beh<strong>an</strong>dlung lässt<br />
sich kein Argument für die PGD gewinnen.<br />
Verbot der Verwendung totipotenter<br />
Zellen zur Diagnostik<br />
Weitgehende Einigkeit besteht darin,<br />
dass ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 ESchG<br />
vorliegt, wenn totipotente Zellen (bis<br />
etwa zum 8-Zell-Stadium) zum Zweck<br />
der PGD entnommen und „verbraucht“<br />
werden. Die entnommenen totipotenten<br />
Zellen sind gem. § 8 Abs. 1 ESchG<br />
einem Embryo gleichgestellt. Ihr Verbrauch<br />
im Rahmen der Diagnose dient<br />
offensichtlich nicht dem Erhalt dieser<br />
Zellen und stellt daher einen Verstoß<br />
gegen § 2 Abs. 1 ESchG dar. Sachlich<br />
könnte m<strong>an</strong> das Verfahren auch als<br />
„Klonierung“ eines Zwillings (durch<br />
Abspalten einer totipotenten Zelle) beschreiben,<br />
der für Diagnosezwecke verbraucht<br />
werden soll. Damit ist auch der<br />
Straftatbest<strong>an</strong>d von § 6 Abs. 1 i. V. m. § 8<br />
Abs. 1 ESchG erfüllt.<br />
Verwerfung des (Rest-)Embryos<br />
bei positivem Befund<br />
Wenn die PGD ergibt, dass der getestete<br />
Embryo den befürchteten Gendefekt<br />
hat, wird er nicht auf die Frau übertragen,<br />
sondern „verworfen“. Dies ist wiederum<br />
nach § 2 Abs. 1 ESchG strafbar.<br />
Denn das „Wegschütten“ oder <strong>an</strong>derweitige<br />
Abtöten des genetisch auffälligen<br />
Embryos dient „nicht seiner Erhaltung“<br />
und wird von § 2 Abs. 1 ESchG erfasst.<br />
K<strong>an</strong>n dem entgegengehalten werden,<br />
dass die einzige Möglichkeit, sich der Bestrafung<br />
zu entziehen, nämlich die Übertragung<br />
des Embryos auf eine Frau,<br />
ebenfalls strafbar wäre (§ 6 Abs. 2<br />
ESchG) K<strong>an</strong>n das Recht jede denkbare<br />
Verhaltensalternative unterschiedslos<br />
unter Strafe stellen<br />
Die Lösung dieses Problems liegt darin,<br />
die Geltung von § 6 Abs. 2 ESchG zu<br />
hinterfragen. Wenn das Gesetz ausdrücklich<br />
in dieser Vorschrift für geklonte<br />
<strong>Embryonen</strong> eine „Tötungspflicht“<br />
vorsieht,weil sie nicht auf eine Frau übertragen<br />
werden dürfen, liegt ein Verstoß<br />
gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m.Art. 1 GG<br />
vor. In dem Bestreben, menschliche Klone<br />
zu verhindern, ist der Gesetzgeber offensichtlich<br />
über das Ziel hinausgeschossen.<br />
Das Verbot, genetisch identische<br />
Mehrlinge künstlich herzustellen, ist<br />
nachvollziehbar, berechtigt aber nicht<br />
dazu, einmal verbotswidrig entst<strong>an</strong>dene<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> per Gesetz zum<br />
Tode zu verurteilen. § 6 Abs. 2 ESchG ist<br />
daher aus verfassungsrechtlichen Gründen<br />
nicht <strong>an</strong>zuwenden. § 2 Abs. 1 ESchG<br />
bleibt damit auf den Umg<strong>an</strong>g mit denjenigen<br />
Restembryonen, die nach der Diagnostik<br />
nicht tr<strong>an</strong>sferiert werden sollen,<br />
<strong>an</strong>wendbar.<br />
Wertungswiderspruch und<br />
„PGD-Tourismus“<br />
Von den Befürwortern der PGD wird –<br />
nicht g<strong>an</strong>z zu Unrecht – <strong>an</strong>geführt, dass<br />
die Schutzbestimmungen des ESchG in<br />
einem Wertungswiderspruch zu der weitgehenden<br />
Zulässigkeit von embryopathisch<br />
motivierten Abtreibungen stünden.<br />
Ferner würden ausländische Forscherteams<br />
die Technik ohnehin <strong>an</strong>wenden.<br />
Während de facto das Problem nur<br />
ins Ausl<strong>an</strong>d verlagert werde („PGD-Tourismus“),<br />
führe ein Verbot der PGD zu<br />
einer wesentlichen Erschwerung der wissenschaftlichen<br />
Weiterentwicklung auf<br />
diesem Gebiet.<br />
Der Wertungswiderspruch zu den<br />
Abtreibungsbestimmungen ist de lege<br />
lata hinzunehmen. Er war auch dem<br />
Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Verabschiedung<br />
des ESchG bek<strong>an</strong>nt. Ob die<br />
Begründungen für die unterschiedliche<br />
Beh<strong>an</strong>dlung menschlicher <strong>Embryonen</strong><br />
im oder außerhalb des Mutterleibes<br />
tragfähig sind, k<strong>an</strong>n hier nicht erörtert<br />
werden. Differenzierungsgesichtspunkte<br />
gibt es durchaus. Jedenfalls ist es<br />
nicht zwingend, die Auflösung eines<br />
Wertungswiderspruchs in Richtung des<br />
niedrigeren Schutzniveaus zu fordern.<br />
Aus verfassungsrechtlichen Gründen,<br />
dem Benachteiligungsverbot für Behinderte<br />
(Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), wäre vielmehr<br />
das Gegenteil <strong>an</strong>gemessen. Hinzu<br />
kommt, dass durch die PGD embryopathisch<br />
motivierte Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche<br />
nicht wirklich vermieden werden<br />
können, weil „zur Absicherung“
D O K U M E N T A T I O N<br />
des Ergebnisses der PGD in der Regel<br />
eine spätere Pränataldiagnostik erforderlich<br />
ist.<br />
Auch der Verweis auf die Praxis im<br />
Ausl<strong>an</strong>d überzeugt nicht. Der deutsche<br />
Gesetzgeber k<strong>an</strong>n nur für den eigenen<br />
Zuständigkeitsbereich Regelungen treffen.<br />
Abweichende Bestimmungen im<br />
Ausl<strong>an</strong>d beeinflussen die Begründetheit<br />
der nationalen Regelung nicht. Die in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d geltenden Arbeitsschutzbestimmungen<br />
können beispielsweise nicht<br />
schon deshalb zur Disposition gestellt<br />
werden, weil in Jap<strong>an</strong> oder Indien das<br />
Schutzniveau niedriger ist. Wenn es vernünftige<br />
Gründe für Schutzbestimmungen<br />
gibt,sollten sie verwirklicht werden –<br />
und möglicherweise <strong>an</strong>deren Staaten als<br />
Beispiel dienen. Das muss auch und vor<br />
allem für den Schutz menschlichen Lebens<br />
gelten.<br />
Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass<br />
der Anwendung der PGD in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
gegenwärtig mehrere Strafvorschriften<br />
des ESchG entgegenstehen.<br />
Dies gilt nicht nur bei der Verwendung<br />
totipotenter Zellen. Die PGD stellt nach<br />
geltendem Recht generell eine missbräuchliche<br />
Anwendung von Fortpfl<strong>an</strong>zungstechniken<br />
dar.<br />
Die rechtspolitische Frage, ob die bestehenden<br />
Schutzvorschriften geändert<br />
werden sollten, ist damit zwar nicht be<strong>an</strong>twortet.Falls<br />
sich aber die gesellschaftlichen,<br />
ethischen und verfassungsrechtlichen<br />
Einschätzungen, die zum ESchG<br />
geführt haben, seit dessen Verabschiedung<br />
im Jahr 1990 nicht verändert haben,<br />
gibt es keinen Grund, das Tor zur bedingten<br />
Zeugung mit vorgepl<strong>an</strong>ter Selektion<br />
und einkalkulierter Vernichtung menschlicher<br />
<strong>Embryonen</strong> zu öffnen.<br />
Literatur beim Verfasser<br />
Rainer Beckm<strong>an</strong>n<br />
Richter am Amtsgericht<br />
Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik<br />
der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages<br />
Friedenstraße 3a, 97318 Kitzingen<br />
Wertungswidersprüche – oder<br />
widersprüchliche Wertungen<br />
In der Debatte über die Einführung der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik auf der<br />
Grundlage einer Richtlinie der Bundesärztekammer<br />
taucht, um die Zulässigkeit<br />
der <strong>PID</strong> zu begründen, immer wieder<br />
die Argumentationslinie auf, es gebe<br />
einen Wertungswiderspruch zwischen<br />
§ 218 StGB neuer Fassung und einem<br />
Verbot der <strong>PID</strong>.Es könne nicht sein,dass<br />
dem Embryo in vitro eine höhere<br />
Schutzwürdigkeit zuerk<strong>an</strong>nt wird als<br />
dem Embryo in vivo, dessen Abtreibung<br />
nach § 218 a StGB straffrei möglich sein<br />
k<strong>an</strong>n. Demgegenüber betont Hepp zu<br />
Recht, dass auf der Grundlage der<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
die Tötung eines Embryos in vivo<br />
rechtswidrig ist; insoweit besteht in<br />
der Tat kein Wertungswiderspruch.Hepp<br />
versucht d<strong>an</strong>n aber dennoch einen Wertungswiderspruch<br />
unter Berufung auf die<br />
klinische Wirklichkeit, die Möglichkeit<br />
einer „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ unter<br />
§ 218 StGB und einen auf den Zeitpunkt<br />
der <strong>PID</strong> <strong>an</strong>tizipierten Schw<strong>an</strong>gerschaftskonflikt<br />
zu konstruieren. Dagegen ist<br />
Folgendes einzuwenden:<br />
➀ Auf der Suche nach einem möglichen<br />
Wertungswiderspruch kommt es<br />
entscheidend darauf <strong>an</strong>, die richtigen Bezugspunkte<br />
zu wählen. Nicht die Nichtdurchführung<br />
der <strong>PID</strong> „zwingt“ später<br />
zu einem Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch, sondern<br />
die Durchführung der In-vitro-Fertilisation.Wenn<br />
die Rede von einem <strong>an</strong>tizipierten<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch sein<br />
soll, muss konsequent <strong>an</strong>tizipiert werden,<br />
das heißt nicht nur bis zur Möglichkeit<br />
der <strong>PID</strong>, sondern bis zum Segen der<br />
IVF. Die entscheidende Frage lautet<br />
d<strong>an</strong>n, ob im Zeitpunkt der Durchführung<br />
der IVF entweder eine Situation<br />
vorliegt, die bereits zu diesem Zeitpunkt<br />
einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch rechtfertigen<br />
würde, oder ob bereits zum Zeitpunkt<br />
der IVF feststeht, dass später ein<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch gerechtfertigt<br />
sein wird. Im ersten Fall ist die Durchführung<br />
der IVF nicht nachvollziehbar.<br />
Im zweiten Fall ist wesentlich, dass die<br />
medizinische Indikation des § 218 a Abs.<br />
2 StGB ausschließlich auf die Gesundheit<br />
der Frau und nicht auf das Kind abstellt.Zum<br />
Wegfall der früheren embryopathischen<br />
Indikation formuliert Eser in<br />
Schönke/Schröder, Kommentar zum<br />
StGB,25.Auflage:„Obgleich es schon bei<br />
der bisher (das heißt nach § 18 StGB<br />
a. F.) eingeräumten Zulassung eines<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs im Falle einer<br />
genetischen und pränatalen Schädigung<br />
des Kindes nicht um die Verhinderung<br />
erbkr<strong>an</strong>ken Nachwuchses als solches<br />
ging, sondern letztentscheidend damit<br />
allein der Schw<strong>an</strong>geren die befürchtete<br />
psychische Belastung erspart werden<br />
sollte, war damit die Gefahr nicht<br />
auszuschließen, dass dadurch l<strong>an</strong>gfristig<br />
das Tor zur platten Eugenik geöffnet<br />
werden könnte.“ . . . „Deshalb ist vor jedem<br />
Automatismus zwischen Befund<br />
und Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch zu warnen.“<br />
Was bedeutet das für einen „<strong>an</strong>tizipierten<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftskonflikt“ im<br />
Zeitpunkt der IVF Dass eine physische<br />
Gesundheitsgefahr für die Frau, die eine<br />
Abtreibung nach § 218 a Abs. 2 StGB<br />
rechtfertigt, aufgrund einer durch die<br />
<strong>PID</strong> festzustellenden Behinderung des<br />
Kindes droht, ist unwahrscheinlich. Soweit<br />
bereits im Zeitpunkt der Durchführung<br />
einer IVF bei der Gesamtwürdigung<br />
der Umstände soziale Aspekte eine<br />
Abtreibung rechtfertigen würden, wäre<br />
die Durchführung der IVF nicht nachvollziehbar.<br />
Bleiben psychische Gesundheitsgefahren<br />
für die Frau.Muss in einem<br />
solchen Fall die IVF durchgeführt werden<br />
Wenn bei einem Paar mit hohem<br />
Risiko für eine schwerwiegende Behinderung<br />
des Nachwuchses (nur d<strong>an</strong>n soll<br />
nach dem Richtlinienentwurf eine <strong>PID</strong><br />
zugelassen werden) diese Behinderung<br />
eine solche seelische Gefahr für die Mutter<br />
bedeuten würde, dass dies eine Abtreibung<br />
rechtfertigte, stellt sich die Frage,ob<br />
in dieser Situation die IVF gerechtfertigt<br />
ist.Werden hier nicht mit dem Segen<br />
einer neuen Technik Mutter und<br />
Kind in einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
getrieben Diese Fragen werden umso<br />
drängender, wenn m<strong>an</strong> bedenkt, dass der<br />
<strong>PID</strong> ausschließlich eine rationale Entscheidung<br />
zu ihrer Durchführung vor<strong>an</strong>geht,<br />
was im Fall der natürlichen Fortpfl<strong>an</strong>zung<br />
mit derselben Ausschließlichkeit<br />
nicht als Regelfall unterstellt werden<br />
k<strong>an</strong>n.Wenn üblicherweise pränatale Diagnostik<br />
und <strong>PID</strong> verglichen werden, sei<br />
hier die Frage gestellt, weshalb die IVF<br />
eine Konfliktsituation überhaupt aufbauen<br />
muss, nur weil sie sich nach einer<br />
<strong>PID</strong> möglicherweise „einfacher“ lösen<br />
lässt als nach einer <strong>PND</strong>.<br />
➁ Unter Berufung auf die in der klinischen<br />
Wirklichkeit bestehende Möglichkeit<br />
einer „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“<br />
in Verbindung mit der <strong>PND</strong> konstruiert<br />
Hepp d<strong>an</strong>n doch einen <strong>an</strong>geblichen Wer-<br />
43
D O K U M E N T A T I O N<br />
tungswiderspruch zwischen § 218 StGB<br />
und einer Nichtzulassung der <strong>PID</strong>. Dem<br />
ist entgegenzuhalten, dass aus der Möglichkeit<br />
des kalten Missbrauchs einer Regelung,<br />
die einen existenziellen Konflikt<br />
lösen soll, nicht der Schluss zulässig ist<br />
auf die Ausweitung der vom Gesetz notgedrungen<br />
zugelassenen Konfliktlösung<br />
auf Fälle des gezielten Missbrauchs. Keine<br />
Gleichheit im Unrecht!<br />
➂ Dem noch vorgängig ist die Frage,<br />
wie sich die so gen<strong>an</strong>nte „Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
auf Probe“ und eine zu prognostizierende<br />
psychische Belastung der<br />
Frau vereinbaren lassen.Auch bei einer<br />
„Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ k<strong>an</strong>n die<br />
Frau nicht sicher sein, dass eine Abtreibung<br />
zulässig sein wird. Wenn sie<br />
trotzdem eine Entscheidung für eine<br />
„Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ trifft,<br />
schreitet sie in berechnender Absicht in<br />
eine Konfliktlage, die ihr das Gesetz<br />
ausnahmsweise abnehmen will. Entweder<br />
ist der Konflikt d<strong>an</strong>n ernst, d<strong>an</strong>n ist<br />
die rationale Entscheidung für eine<br />
„Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ weder<br />
nachvollziehbar noch s<strong>an</strong>ktionierbar.<br />
Oder das mit dem Konflikt war doch<br />
nicht so ernst gemeint. D<strong>an</strong>n scheidet<br />
eine Berufung auf § 218 a Abs. 2 StGB<br />
aus. In jedem Fall lassen sich kühles<br />
Kalkül und existenzieller Konflikt nicht<br />
vereinbaren.<br />
➃ M<strong>an</strong> könne „mit Hilfe der <strong>PND</strong> die<br />
Geburt eines gesunden Kindes gleichsam<br />
erzwingen“, formuliert Hepp. Das mag<br />
schon sein, dass m<strong>an</strong> das k<strong>an</strong>n. Zu dieser<br />
Haltung passt aber nicht, dass sich Hepp<br />
direkt im nächsten Satz auf einen „Konflikt<br />
auf dem Boden der Autonomie der<br />
Mutter und der ihr durch ein kr<strong>an</strong>kes<br />
Kind nicht zumutbar erscheinenden Belastung<br />
für die Phase nach der Geburt“<br />
beruft. Muss die IVF zugelassen werden,<br />
um die Geburt eines gesunden Kindes<br />
gleichsam zu erzwingen<br />
➄ Diese Argumente zeigen, dass jedenfalls<br />
ein „Dammbruch“, ausgehend<br />
von § 218 StGB, zur Zulässigkeit der <strong>PID</strong><br />
nicht zwingend ist. Bei genauer Betrachtung,<br />
insbesondere der Tatsache, dass<br />
§ 218 a StGB nur auf die Gesundheit der<br />
Mutter schaut und dass Bezugspunkt für<br />
eine Antizipation des Konflikts nicht die<br />
<strong>PID</strong>, sondern die IVF ist, wird deutlich,<br />
dass § 218 StGB als Argument für die<br />
Zulässigkeit der <strong>PID</strong> nicht taugt. Die Berufung<br />
auf Missbrauchsmöglichkeiten in<br />
44<br />
der klinischen Wirklichkeit führt <strong>an</strong>dererseits<br />
zur Frage, ob es letztlich gar nicht<br />
um die Auflösung von Wertungswidersprüchen<br />
geht, sondern darum, den<br />
Damm etwas zu lockern. Die medizinische<br />
Machbarkeit ist dafür kein Grund.<br />
Regierungsrat Steffen Walter<br />
Ministerium für Wissenschaft, <strong>Forschung</strong> und Kunst<br />
Baden-Württemberg<br />
Königstraße 46, 70173 Stuttgart<br />
Menschenzucht<br />
Ich möchte einen Gesichtspunkt in die<br />
Diskussion einbringen, der bisher keine<br />
Beachtung f<strong>an</strong>d und wohl auch wissentlich<br />
verschwiegen wurde.<br />
Im Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD) steht im Vordergrund die Situation<br />
von kinderlosen Paaren, bei deren<br />
Kindern ein genetisches Risiko besteht.In<br />
diesen Fällen k<strong>an</strong>n nach einer Invitro-Fertilisation<br />
zu einem sehr frühen<br />
Zeitpunkt eine genetische Überprüfung<br />
des Embryos erfolgen und gegebenenfalls<br />
das kr<strong>an</strong>khafte Produkt vernichtet oder<br />
auch m<strong>an</strong>ipuliert werden. De facto reicht<br />
die Problematik weit über diese eng umgrenzte<br />
Situation hinaus, und durch keine<br />
noch so strenge Regelung wird sich die<br />
PGD auf Dauer auf diesen Bereich beschränken<br />
lassen.<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik k<strong>an</strong>n<br />
nur durchgeführt werden, wenn ein Embryo<br />
nach der Befruchtung in vitro zur<br />
Verfügung steht. Diese Situation wurde<br />
erstmals mit der Technik der In-vitro-<br />
Fertilisation (IVF) möglich. Bei diesem<br />
Verfahren erfolgt allerdings die Befruchtung<br />
der Eizelle durch eins von der Vielzahl<br />
der vorh<strong>an</strong>denen Spermien, der<br />
natürlichen Situation entsprechend unbeeinflusst.<br />
Anders ist dies bei der Technik der intracytoplasmatischen<br />
Spermieninjektion<br />
(ICSI), die nahezu zwingend eine PGD<br />
erfordert, eine artifizielle Befruchtung.<br />
Bei ICSI wird ein Spermium selektiert<br />
und gezielt m<strong>an</strong>uell gesteuert in eine Eizelle<br />
gebracht und damit der Befruchtungsprozess<br />
in G<strong>an</strong>g gesetzt. Es sei darauf<br />
hingewiesen, dass die beiden Techniken<br />
PGD und ICSI fast zeitgleich entwickelt<br />
wurden. Die primäre Indikation<br />
für ICSI ist die männlich bedingte Sterilität,<br />
das heißt in den Fällen, wo defekte,<br />
pathologische oder unreife Spermien<br />
vorliegen, die von sich aus nicht die<br />
Fähigkeit haben zu befruchten.Selbst bei<br />
einer Azoospermie k<strong>an</strong>n mit aus Hodenbiopsien<br />
gewonnenen Spermien durch<br />
intracytoplasmatische Injektion eine Befruchtung<br />
erzwungen werden. Bei dieser<br />
Ausg<strong>an</strong>gssituation ist mit einer gesteigerten<br />
Zahl von genetischen Störungen zu<br />
rechnen; nicht nur genetisch bedingte<br />
Sterilität wird weitergegeben. Welchen<br />
Einfluss die mech<strong>an</strong>ische Irritation bei<br />
der M<strong>an</strong>ipulation hat, ist letztlich nicht<br />
geklärt. Defekte und Fehlentwicklungen<br />
beim Embryo sollen d<strong>an</strong>n mit der PGD<br />
erfasst und eliminiert werden.<br />
ICSI wird zwar von den Kassen nicht<br />
bezahlt, aber dennoch in ständig steigendem<br />
Umf<strong>an</strong>g durchgeführt. Diese Praxis<br />
zeigt, welchen Einfluss gesetzgeberische<br />
Maßnahmen auf die Anwendung von<br />
neuen Techniken haben, obwohl eine<br />
Entscheidung des Bundesausschusses<br />
Ärzte und Kr<strong>an</strong>kenkassen, ICSI nicht<br />
als Kassenleistung <strong>an</strong>zuerkennen, vorliegt.<br />
Daher ist es fraglich, ob entsprechende<br />
Regelungen für PGD überhaupt<br />
greifen werden. Für die Entscheidung<br />
pro oder kontra PGD wesentlich erscheint<br />
mir die Einsicht, dass ICSI plus<br />
PGD Menschenzucht ist, der Beginn einer<br />
genetischen Selektion beim Menschen.<br />
Selektiert wird gezielt ein Spermium<br />
zur Befruchtung, und nach der Befruchtung<br />
k<strong>an</strong>n der Embryo in Abhängigkeit<br />
von der genetischen Diagnose selektiert<br />
werden. Beide Techniken sind<br />
Eugenik: ICSI im negativen Sinn, da<br />
spont<strong>an</strong> nicht zur Befruchtung taugliche<br />
Spermien zur Fertilisation m<strong>an</strong>ipuliert<br />
werden und als Folge davon mit einem<br />
Weiterreichen von Fehlinformationen<br />
<strong>an</strong> die Kinder gerechnet werden muss.<br />
PGD im „positiven“ Sinn, da hier ein<br />
Aussortieren nach der Fertilisation in<br />
vitro erfolgt.<br />
Dem Verbot einer PGD, wie von<br />
Montgomery gefordert, muss ein Verbot<br />
von ICSI vorausgehen. Der Beitrag von<br />
Montgomery ist klar und eindeutig, der<br />
von Hepp wortreich und unverbindlich.<br />
Noch so ausgeklügelte Regularien werden<br />
nicht verhindern, dass die PGD aus<br />
vielfältigen Gründen bei in vitro gezeugten<br />
<strong>Embryonen</strong> erfolgen wird.<br />
Ich hoffe, dass sich noch viele einsichtige<br />
und ver<strong>an</strong>twortungsbewusste Mediziner<br />
zum eindeutigen Nein bekennen.
D O K U M E N T A T I O N<br />
Die breite „öffentliche Meinung“ ist sicherlich<br />
überfordert. Das zeigt die unreflektierte,<br />
breite Zustimmung zu ICSI,<br />
offensichtlich ist es schwer, den qualitativen<br />
Unterschied zwischen der natürlichen<br />
Befruchtung und der künstlichen zu<br />
verstehen. ICSI und PGD sind die Techniken<br />
für eine Eugenik.<br />
„Gegen das, was der Fortschritt der<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungstechnik, der zw<strong>an</strong>gsläufig<br />
auch ein Fortschritt <strong>an</strong> Eugenik ist, <strong>an</strong><br />
moralisch Zweifelhaftem noch zu bieten<br />
hat, wird die Atombombe ein sittliches<br />
Kinderspiel gewesen sein.“ (C. Koch,<br />
Ende der Natürlichkeit. Eine Streitschrift<br />
zu Biotechnik und Bio-Moral,<br />
H<strong>an</strong>ser 1994)<br />
Prof. Dr. Gerhard Bettendorf<br />
ehem. Direktor der Abteilung für klinische und<br />
experimentelle Endokrinologie und des<br />
Reproduktionszentrums der Universität Hamburg<br />
Friedrich-Kirsten-Straße 19, 22391 Hamburg<br />
Kinderlosigkeit:<br />
Zumutbares Schicksal<br />
Es ist wohltuend, in einer ärztlich-<strong>an</strong>thropologischen<br />
Grundsatzdiskussion,<br />
die im Kontext der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) entbr<strong>an</strong>nt ist, aus dem<br />
Mund wenigstens eines Kammerpräsidenten<br />
kompetente und insofern auch<br />
mutige Worte zu hören,die einen eigenen<br />
St<strong>an</strong>dpunkt klar formulieren, der nicht<br />
unbedingt Zeitströmungen hörig ist.<br />
Dafür möchte ich dem H<strong>an</strong>seaten Montgomery<br />
d<strong>an</strong>ken und Respekt zollen, dass<br />
er aus einem tiefen ärztlichen Ver<strong>an</strong>twortungsbewusstsein<br />
heraus unpolemisch,<br />
aber unmissverständlich zur aktuellen Situation<br />
der <strong>PID</strong>-Diskussion eine prospektive<br />
Sichtweise entwickelt, die würdig<br />
neben einer solchen von Aldous<br />
Huxley steht.<br />
Gestatten Sie mir aber noch eine persönliche<br />
Ergänzung. Wie Herr Hepp im<br />
gleichen Heft schreibt, hat die <strong>PID</strong> zur<br />
Aufklärung des genetischen Status des<br />
Embryos eine In-vitro-Fertilisation zur<br />
Voraussetzung. Hier <strong>an</strong> der ursächlichen<br />
Wurzel dieser g<strong>an</strong>zen Problematik<br />
möchte ich <strong>an</strong>setzen. Ich stelle die Frage,<br />
ob in einer Welt, die bevölkerungspolitisch<br />
überquillt, überhaupt eine IVF<br />
sozialethisch zu rechtfertigen ist. Hinzu<br />
kommt, dass unsere Solidargemeinschaft<br />
im medizinischen Bereich heute<br />
bereits überfordert ist, sogar wenn es<br />
um existenziell bedrohliche Situationen<br />
geht. Im Kontext dazu möchte ich nur<br />
auf die im gleichen Heft erschienene Arbeit<br />
„Radioonkologie, Strahlenbiologie<br />
und medizinische Physik“ Bezug nehmen,<br />
wonach es „wegen des hohen fin<strong>an</strong>ziellen<br />
Aufw<strong>an</strong>des...Protonen für<br />
den klinischen Einsatz . . .“ in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
erst seit 1998 möglich war, eine<br />
Therapieeinheit zu errichten. Hier stellt<br />
sich mir als l<strong>an</strong>gjährigem Frauenarzt<br />
trotzdem die Frage, ob ein Kinderwunsch<br />
– bei Würdigung aller Fakten –<br />
Priorität haben muss beispielsweise vor<br />
der Therapie besonderer maligner Tumoren<br />
Kinderwunsch, so edel er sein<br />
mag, ist keine Existenzfrage. Verzicht<br />
auf ein Kind – ob primär oder bei Verdacht<br />
auf genetisches Risiko – ist ein zumutbares<br />
Schicksal, zumindest rechtfertigt<br />
es nicht die fin<strong>an</strong>zielle Belastung der<br />
Solidargemeinschaft. Der Kinderlosigkeit<br />
lässt sich überdies durch die Möglichkeit<br />
der Adoption eines der vielen<br />
armen Kinder auf unserer schönen neuen<br />
Welt begegnen. Dies könnte mit echter<br />
Liebe zum Kind erreicht werden, allerdings<br />
nicht durch narzisstische Liebe<br />
zu sich selbst oder Forschernarzissmus,<br />
alles möglich zu machen, koste es, was<br />
es wolle.<br />
Dr. med. Günter Link<br />
Auf der Halde 13, 87439 Kempten<br />
Die PGD kommt<br />
Sehr geehrter Herr Kollege Montgomery,<br />
Sie (und alle <strong>an</strong>deren) können dieses<br />
Thema wenden und drehen, wie Sie<br />
wollen. Die PGD kommt so bestimmt<br />
wie der nächste Winter, letzten Endes<br />
routinemäßig ohne besondere Indikation.<br />
– Nein, ich bin kein Prophet.<br />
Dr. med. Josef Sliva<br />
73117 W<strong>an</strong>gen<br />
Nachdenken über Limitierung<br />
der künstlichen Befruchtung<br />
Den Ausführungen von Dr. Montgomery<br />
ist im Hinblick auf die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
absolut zuzustimmen.Zu<br />
fragen wäre nur, ob es tatsächlich ungewollt<br />
ist, dass der genetischen Selektion<br />
die Tür geöffnet wird,wenn die Deutsche<br />
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe<br />
schon die Forcierung der Pränataldiagnostik<br />
für notwendig hält, weil<br />
immer weniger Kinder geboren werden.<br />
Der wenige Nachwuchs in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
soll d<strong>an</strong>n im Sinne des „Designer<br />
Child’s“ wenigstens gesund sein.<br />
Prof. Hepp widerspricht sich in seinem<br />
Beitrag zur PGD leider selbst.<br />
Wenn das menschliche Leben – nach<br />
einhelliger naturwissenschaftlicher Meinung<br />
– mit der Konjugation der haploiden<br />
Chromosomensätze beginnt, d<strong>an</strong>n<br />
ist die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik eine<br />
sehr frühe Form der Pränataldiagnostik<br />
und hat nichts mit der Impl<strong>an</strong>tation und<br />
dem Beginn der Schw<strong>an</strong>gerschaft zu<br />
tun. Pränataldiagnostik ist eine Untersuchung<br />
des Menschen vor seiner Geburt.<br />
Ist dies der subtile Versuch, doch<br />
eine Abstufung des Lebensrechtes zu<br />
erreichen<br />
Es ist zudem erstaunlich, dass in der<br />
Debatte um die PGD die Befruchtungskontrolle<br />
kaum erwähnt wird. Vor der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik steht bereits<br />
die Untersuchung der befruchteten Eizelle<br />
auf ihre Vorkerne. Bereits ein Abweichen<br />
von den „normalen“ zwei Vorkernen<br />
führt zur Vernichtung der Zygoten,<br />
obwohl m<strong>an</strong> weiß, dass sich mindestens<br />
14 Prozent dieser <strong>Embryonen</strong> normal<br />
entwickeln können. Die Selektion,<br />
die Vorsicht vor dem nicht g<strong>an</strong>z Normalen<br />
und die Unterscheidung zwischen lebenswert<br />
und lebensunwert beginnt damit<br />
schon vor der genetischen Untersuchung.<br />
Leider blieb bisher auch zu wenig<br />
beachtet, dass amerik<strong>an</strong>ische Fortpfl<strong>an</strong>zungsmediziner<br />
die <strong>an</strong>schließende Pränataldiagnostik<br />
zur Sicherung des Ergebnisses<br />
der PGD besonders empfehlen.<br />
Die Meldung über 50 000 vernichtete<br />
<strong>Embryonen</strong> in Engl<strong>an</strong>d – ebenfalls in<br />
Heft 18/2000 – müsste jede weitere Diskussion<br />
über die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
im Keim ersticken und – wie von<br />
Dr. Montgomery gefordert – zu einem<br />
absoluten Verbot führen.<br />
Notwendig ist zusätzlich ein intensives<br />
Nachdenken über eine gesetzliche Einschränkung<br />
der Pränataldiagnostik und<br />
Limitierung der künstlichen Befruchtung...<br />
Dr. med. Claudia Kaminski<br />
Ottmarsgässchen 8, 86152 Augsburg<br />
45
D O K U M E N T A T I O N<br />
Ethisch nicht vertretbar<br />
Herrn Dr. Montgomery ist sehr zu d<strong>an</strong>ken<br />
für sein klares Plädoyer, die Präimplatationsdiagnostik<br />
zu verbieten. Dabei<br />
bildet weniger die Diagnostik <strong>an</strong><br />
sich das Problem; vielmehr sind es die<br />
Konsequenzen, die sich aus dieser Diagnostik<br />
ableiten. Sol<strong>an</strong>ge therapeutische<br />
Möglichkeiten fehlen und sol<strong>an</strong>ge<br />
lediglich die Tötung des ungeborenen<br />
Menschen die Folge ist, lässt sich die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnosik ethisch nicht<br />
vertreten.<br />
Natürlich ist es Aufgabe eines jeden<br />
Arztes, Kr<strong>an</strong>kheit zu verhindern. Doch<br />
auch hier sind seinem H<strong>an</strong>deln ethische<br />
Grenzen gesetzt. Es ist keine Prophylaxe,<br />
eine Erkr<strong>an</strong>kte/einen Erkr<strong>an</strong>kten<br />
frühzeitig zu identifizieren und d<strong>an</strong>n zu<br />
töten.<br />
Dr. Rupert Pullen<br />
Anemonenweg 1, 42553 Velbert<br />
Alternativen<br />
In den Diskussionsbeiträgen zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> leider<br />
nicht durchweg erkennen, dass im Mittelpunkt<br />
aller Überlegungen ein Ehepaar<br />
mit Kinderwunsch steht, das ein hohes<br />
genetisches Risiko trägt und damit<br />
rechnen muss, dass eine oder eine weitere<br />
Fehlgeburt,Totgeburt oder Geburt eines<br />
schwer geschädigten oder bald sterbenden<br />
Kindes zu befürchten ist. Wir<br />
Ärzte werden zum genetischen Risiko<br />
beziehungsweise Wiederholungsrisiko<br />
gefragt,nennen die Gefahr und sind dem<br />
ärztlichen Ethos verpflichtet vorzubeugen<br />
und zu heilen.Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
bietet die Möglichkeit der<br />
Verminderung des Risikos, dass schwer<br />
defektive Nachkommen entstehen, bevor<br />
der Embryo in den Mutterleib tr<strong>an</strong>sferiert<br />
wird, bevor die Nidation als Bindung<br />
von Embryo und Mutter erfolgt<br />
und bevor Org<strong>an</strong>systeme entstehen, die<br />
das Menschenkind erst einmal lebensfähig<br />
werden lassen. Und schließlich<br />
wird ein Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch bis<br />
zur zwölften SSW (oder gar noch später)<br />
vermieden.<br />
Der BÄK-Richtlinienentwurf gibt eine<br />
simple Empfehlung, wie die ethischen<br />
Konflikte der <strong>PID</strong> vermeidbar sind: „indem<br />
betroffene Paare bewusst auf Kinder<br />
46<br />
verzichten oder sich zu einer Adoption<br />
entschließen“. Der Ethos vom Verzicht<br />
entspricht der Schicksalsergebenheit gegenüber<br />
einer höheren Gewalt. Ärztlicher<br />
Ethos erlaubt uns nicht, apathischnihilistisch<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten, Leiden und<br />
Schäden als Schicksal hinzunehmen, sol<strong>an</strong>ge<br />
Hoffnung auf Vermeidung und<br />
Heilung besteht.<br />
Der BÄK-Richtlinienentwurf nennt<br />
leider nicht die schlechten Ch<strong>an</strong>cen für<br />
eine Adoption. In Deutschl<strong>an</strong>d warten<br />
sechs bis acht Ehepaare auf ein adoptierbares<br />
Kind, die meisten warten frustriert<br />
jahrel<strong>an</strong>g, bis sie schließlich für<br />
die Adoption zu alt geworden sind. Der<br />
BÄK-Richtlinienentwurf nennt leider<br />
auch nicht eine seit über 30 Jahren in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d sehr erfolgreich praktizierte<br />
Heilbeh<strong>an</strong>dlung, die dem Rat suchenden<br />
Ehepaar unbedingt gen<strong>an</strong>nt<br />
werden sollte, die donogene (gespendete,<br />
d. Red.) Insemination und donogene<br />
IVF aus genetischer Indikation. Sie ist<br />
weder ethisch noch rechtlich unzulässig.<br />
Seit Jahren existieren Richtlinien zur<br />
Spenderauswahl und zur Verfahrensweise.<br />
Das Ehepaar muss selbst zwischen<br />
Adoption, donogener Befruchtung und<br />
Verzicht entscheiden.<br />
Prof. Dr. E. Günther<br />
Max-Steenbeck-Straße 46, 07745 Jena<br />
Anspruchsdenken verschließen<br />
Mit der In-vitro-Fertilisation hat m<strong>an</strong><br />
die Basis ärztlichen H<strong>an</strong>delns verlassen.<br />
Mit ESchG und Richtlinien zur<br />
<strong>PID</strong> versucht m<strong>an</strong> jetzt Dämme aufzurichten,<br />
die wahrscheinlich nicht l<strong>an</strong>ge,<br />
auf keinen Fall ewig halten werden. Offen<br />
wird in einzelnen Diskussionsbeiträgen<br />
bereits von eugenischen Zielsetzungen<br />
gesprochen. Zuerst wollte<br />
m<strong>an</strong> nur den Kinderwunsch von Paaren<br />
erfüllen, jetzt wird bereits von amerik<strong>an</strong>ischen<br />
Gerichten ein Recht des Kindes<br />
auf körperliche und geistige Gesundheit<br />
festgelegt, demnächst wird ein behindertes<br />
Kind seine Eltern auf Schadensersatz<br />
verklagen können. Und niem<strong>an</strong>d<br />
k<strong>an</strong>n sich damit entschuldigen,<br />
das habe er nicht gewollt.<br />
Erst 1968 wurde von der Bundesregierung<br />
das 1933 erlassene „Gesetz zur<br />
Verhütung erbkr<strong>an</strong>ken Nachwuchses“<br />
endgültig für unwirksam erklärt, vorher<br />
war es nur dispensiert. Die Idee der Eugenik<br />
geht auf Sir Fr<strong>an</strong>cis Galton<br />
zurück, welcher forderte, eine ver<strong>an</strong>twortungsvolle<br />
Menschheit müsse ihre<br />
„Zuchtwahl“ selbst in die H<strong>an</strong>d nehmen,<br />
um die Bevölkerung vor einem<br />
vermeintlichen biologischen Niederg<strong>an</strong>g<br />
zu bewahren. Und 1930 rief der<br />
Generalsekretär der Americ<strong>an</strong> Eugenics<br />
Society aus:„In Zukunft wird der<br />
Mensch auf das 20. Jahrhundert zurückblicken<br />
und es das eugenische Jahrhundert<br />
nennen. Eugenik fegt wie eine<br />
große Religion über die Welt.“ Der Medizin<br />
wuchs die Rolle des Vollstreckers<br />
des sozial Wünschenswerten und<br />
scheinbar wissenschaftlich Erforderlichen<br />
zu. Wie es geendet hat, wissen wir.<br />
Was vergessen wurde, ist die Reson<strong>an</strong>z,<br />
welche diese Ideen seinerzeit hatten.<br />
Selbst die späteren Friedensnobelpreisträger<br />
Aiva und Gunnar Myrdal<br />
forderten ein schonungsloses Sterilisationsprogramm,<br />
und der amerik<strong>an</strong>ische<br />
Physik-Nobelpreisträger W. Shockley<br />
wollte alle Menschen mit niedrigem IQ<br />
sterilisiert wissen. Zw<strong>an</strong>gssterilisationen<br />
so gen<strong>an</strong>nter Erbkr<strong>an</strong>ker f<strong>an</strong>den<br />
bis in die jüngste Zeit in europäischen<br />
Ländern statt.<br />
Und jetzt leben diese Ideen in neuem<br />
Gew<strong>an</strong>d wieder auf. Statt der Zuchtwahl<br />
geht es jetzt um die Evolution, „es sei <strong>an</strong><br />
der Zeit, dass der Mensch seine Evolution<br />
selbst in die H<strong>an</strong>d nehme“, so Nobelpreisträger<br />
James Watson auf einem<br />
Symposion der Universität von Kalifornien<br />
in Los Angeles 1998. Vordergründig<br />
wird die Notwendigkeit einer Keimbahntherapie<br />
mit dem bisherigen Misserfolg<br />
der somatischen Gentherapie begründet.James<br />
Watson stritt mögliche Erfolge<br />
der somatischen Therapieform<br />
rundweg ab, darauf könne m<strong>an</strong> warten,<br />
„bis die Sonne erlischt“.Gerade die Möglichkeit<br />
des Verwerfens von misslungenen<br />
Keimen im Blastozystenstadium wurde<br />
von allen <strong>an</strong>wesenden Wissenschaftern<br />
(Molekularbiologen, Evolutionsbiologen,<br />
Ethikern) als der große Vorteil gegenüber<br />
der unsicheren somatischen Gentherapie<br />
ohne Widerspruch begrüßt. Keimbahntherapie<br />
sei schließlich nur eine Erweiterung<br />
der somatischen Gentherapie,<br />
gab der Molekularbiologe John Campbell<br />
zu verstehen. Sie verurteilten einhellig<br />
alle Versuche von gesetzlichen Regle-
D O K U M E N T A T I O N<br />
mentierungen von Keimbahneingriffen.<br />
Gewisse Bedenken scheinen aber doch<br />
zu bestehen, denn es wurde postuliert,<br />
dass keinesfalls genetische Veränderungen<br />
zw<strong>an</strong>gsläufig von Generation zu Generation<br />
weitergegeben werden dürften,<br />
was durch den Einbau von Steuerungsmech<strong>an</strong>ismen<br />
verhindert werden soll<br />
(eine Zusammenfassung ist im Internet<br />
unter http://www.ess.ucla.edu:80/huge/<br />
report.html zugänglich).<br />
Die evolutionsbiologische Notwendigkeit<br />
genetischer Defekte sollte bei<br />
der Diskussion genetischer M<strong>an</strong>ipulationen<br />
nicht außer Acht gelassen werden.<br />
Unser Überleben beruht auf einem<br />
ständigen genetischen Lotteriespiel.<br />
Das hohe Maß genetischer Variabilität<br />
gehört zur Grundbedingung allen Lebens.<br />
Einen genetisch definierten Idealtyp<br />
gibt es nicht. Als Preis dafür haben<br />
wir die Anzahl mehr oder weniger genetischer<br />
Vari<strong>an</strong>ten zu zahlen. Aus<br />
zwingenden evolutionsbiologischen<br />
Gründen k<strong>an</strong>n kein Mensch, kein Lebewesen,<br />
genetisch völlig unbeschädigt<br />
und gesund sein. Und deshalb ist es <strong>an</strong>gemessen,<br />
selbst den Zust<strong>an</strong>d gewöhnlicher<br />
Gesundheit nicht als naturgegebene<br />
Norm <strong>an</strong>zusehen oder gar als<br />
Menschenrecht einzufordern.<br />
Die Medizin sollte sich jedem ihr<br />
<strong>an</strong>getragenen Anspruchsdenken verschließen,<br />
umso konsequenter, wenn dadurch<br />
ethische Konflikte vorprogrammiert<br />
sind. Bei Sterilität oder genetisch<br />
schwer belasteten Paaren, wie im Fall der<br />
Ethikkommission der Med. Univ. Lübeck,<br />
sollte m<strong>an</strong> von einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
abraten.<br />
Die Ethik darf sich nicht dem so gen<strong>an</strong>nten<br />
Fortschritt <strong>an</strong>passen, „die Seele<br />
ist um sehr vieles älter als der menschliche<br />
Geist“ (K. Lorenz).<br />
Literatur beim Verfasser<br />
Dr. med. Rolf Klimm<br />
Bach 2, 83093 Bad Endorf<br />
Verunglimpfung deutscher<br />
Ethikkommissionen<br />
Grundlegend falsch, schon im Titel und<br />
d<strong>an</strong>n noch mehrfach im Text, ist die <strong>an</strong>geblich<br />
von der modernen Medizin gelehrte<br />
Gleichsetzung von „menschlich<br />
sein“ mit „Mensch sein“. Spermien, Eizellen<br />
und <strong>Embryonen</strong> des Menschen<br />
sind zwar menschlich, aber sie sind noch<br />
kein halber oder g<strong>an</strong>zer Mensch. Diese<br />
frühesten Entwicklungsformen menschlichen<br />
Lebens haben weder die laut Bibel<br />
(Buch Genesis) notwendige Form<br />
noch den göttlichen Odem. Wenn die<br />
katholische Amtskirche durch ihr Verbieten<br />
von Kondom und Pille (und jetzt<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik) diese Frühestformen<br />
schützen möchte, so können<br />
(und werden) den Kirchenoberen hierbei<br />
selbst von ihren eigenen Gläubigen<br />
nur noch wenige folgen.<br />
Auch <strong>Embryonen</strong> sind mit Sicherheit<br />
in den ersten zwei Wochen keine Kinder<br />
oder Menschen, weil ein Mensch nicht<br />
zu zwei Menschen, der Embryo in diesem<br />
Zeitraum aber noch zu eineiigen<br />
Zwillingen werden k<strong>an</strong>n – er ist also<br />
noch nicht einmal ein In-dividu-um, ein<br />
Unteilbares. Zudem ist das typische<br />
Schicksal von <strong>Embryonen</strong>, wie auch von<br />
Keimzellen, der frühe Tod: mindestens<br />
zwei Drittel sterben vor der Monatsblutung<br />
und gehen in der Regel mit der Regel<br />
unbemerkt ab.<br />
In unserer Zeit der höchstentwickelten<br />
medizinischen Fürsorge für Frühgeborene<br />
den Vorwurf der „dumpfen<br />
Mentalität . . . für das... nicht behinderte<br />
und kräftige Leben“ aufzustellen,<br />
zeugt von Unkenntnis oder Missachtung.<br />
Wird für behinderte Kinder und<br />
Erwachsene heute nicht get<strong>an</strong>, was<br />
früher schlicht unmöglich war Wie<br />
hoch war denn in der Zeit vor der heutigen<br />
Medizin die Kindersterblichkeit, als<br />
die Menschen mit Gebeten und Gottes<br />
Hilfe auskommen mussten<br />
Da Kardinal Meisner die Kollaboration<br />
deutscher Ärzte mit dem Nazi-Regime<br />
<strong>an</strong>spricht, so darf dar<strong>an</strong> erinnert<br />
werden, dass der Vatik<strong>an</strong> als erster Staat<br />
jene Machtergreifung mit dem Konkordat<br />
völkerrechtlich <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nte und dieser<br />
Vertrag immer noch gültig ist . . .<br />
Bemerkenswert auch,dass ein Kardinal<br />
zweimal im Namen der Christen redet,<br />
obwohl er wissen müsste, dass die<br />
meisten christlichen Religionen die extreme<br />
Position der katholischen Amtskirche<br />
auf dem Gebiet der Fortpfl<strong>an</strong>zung<br />
keineswegs zu teilen vermögen...<br />
Dr. M<strong>an</strong>fred Schleyer<br />
Diplom-Biologe, Institutstraße 22,<br />
81241 München-Pasing<br />
Kultur des Lebens<br />
Positiv und beachtenswert ist die Entschiedenheit,<br />
mit der Joachim Kardinal<br />
Meisner, Erzbischof von Köln, seine<br />
Stimme für den Schutz allen menschlichen<br />
Lebens erhebt. Ich freue mich, dass<br />
er sich für Klarheit in der Debatte um<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik auf diese<br />
Weise engagiert.<br />
Gerade eine „Schärfung des Problembewusstseins“<br />
ist bei dieser Diskussion<br />
<strong>an</strong>gesagt. Die Debatte für und<br />
wider die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sollte dabei auf den freiheitlichen<br />
Grundsätzen dieses Rechtsstaates beruhen.<br />
Vor allem die deutsche Staatsidee,<br />
die sich in Artikel eins des Grundgesetzes<br />
niederschlägt, stellt einen hohen moralischen<br />
Anspruch, der ver<strong>an</strong>twortungsbewusstes<br />
H<strong>an</strong>deln voraussetzt.<br />
Daher geht es in erster Linie nicht um<br />
„Einzelfallentscheidungen“, sondern<br />
vielmehr um den grundsätzlichen Primat<br />
des Schutzes allen menschlichen<br />
Lebens.<br />
Ich bin sicher, dass es nicht nur mir,<br />
als hoffentlich <strong>an</strong>gehender Medizinstudentin,<br />
sondern vielen ein Anliegen ist,<br />
jene ethisch-moralischen und naturrechtlichen<br />
Werte in dieser Gesellschaft<br />
ohne Abstriche aufrechtzuerhalten. Leben<br />
ist zu bejahen. Daraus erwächst das<br />
Gebot, die Schwachen und Hilflosen in<br />
ihrer G<strong>an</strong>zheit zu akzeptieren und zu<br />
fördern.<br />
Die Geste seitens der Bundesärztekammer,<br />
zu einem offenen und sachlichen,<br />
gleichwohl kritischen Dialog mit<br />
der Öffentlichkeit beizutragen, zeigt,<br />
dass sogar bei der Forderung nach einem<br />
sehr restriktiven Einsatz der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik nicht über<br />
die Köpfe hinweg entschieden werden<br />
darf und ein Entgegenkommen ihrerseits<br />
möglich ist.<br />
Alice K<strong>an</strong>g<br />
Rheinstraße 39, 53179 Bonn<br />
47
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 47, 24. November 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Ethisches Dilemma der<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
Ärzte, Politiker, Juristen und Theologen diskutierten bei einer<br />
öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission des<br />
Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin“ über<br />
Ch<strong>an</strong>cen und Risiken der PGD.<br />
Eine schottische Familie mit fünf<br />
Kindern verlor durch einen Unfall<br />
die einzige Tochter. Sie möchte jetzt<br />
mithilfe von Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(preimpl<strong>an</strong>tation genetic diagnosis<br />
= PGD) gar<strong>an</strong>tiert wieder ein<br />
Mädchen bekommen. Diesen „Fall“ der<br />
zurzeit in Großbrit<strong>an</strong>nien diskutiert<br />
wurde, trug der Vorsitzende des Marburger<br />
Bundes und Präsident der Ärztekammer<br />
Hamburg, Dr. med. Fr<strong>an</strong>k<br />
Ulrich Montgomery, in Berlin vor.<br />
„Direkter Weg zum<br />
qualitätsgesicherten Kind“<br />
Auch wenn in Deutschl<strong>an</strong>d die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
nicht zur Geschlechtswahl<br />
genutzt werden soll, so<br />
hält Montgomery die PGD dennoch für<br />
den „direkten Weg zum qualitätsgesicherten<br />
Kind“. Bei einer öffentlichen<br />
Anhörung der Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen Medizin“<br />
drückte er die Befürchtung aus,<br />
dass die PGD nicht auf die Paare begrenzt<br />
werden könne, die erbgebundene<br />
Kr<strong>an</strong>kheitsgeschichten vorwiesen.<br />
„Über kurz oder l<strong>an</strong>g werden bei allen<br />
In-vitro-Fertilisations-Maßnahmen<br />
PGDs nötig sein“, so Montgomery. Die<br />
Entschlüsselung des menschlichen Genoms<br />
stehe kurz vor ihrer Vollendung.<br />
Damit aber liege eine mindestens abstrakte<br />
Genkarte vor, in der Aberrationen,<br />
Variationen und Strickmuster<strong>an</strong>omalien<br />
des Menschen beschrieben<br />
sind. „Jeder von uns ist Träger solcher<br />
Anomalien – auch der Gesundeste.“<br />
Der Grundged<strong>an</strong>ke der genetischen Selektion,<br />
der dem g<strong>an</strong>zen Verfahren innewohne,<br />
werde zu einer natürlichen<br />
„Ausmerzung aller Anomalien“ führen.<br />
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Medizinische<br />
Universität zu Lübeck, hält diese<br />
Befürchtungen für unbegründet. So sei<br />
ein Screening auf mehrere monogenetische<br />
Veränderungen allein aufgrund des<br />
normalen Hintergrundrisikos in der Bevölkerung<br />
wenig sinnvoll.Die weltweiten<br />
Zahlen demonstrierten außerdem eindrucksvoll,<br />
dass die PGD immer noch eine<br />
in der Anwendung sehr begrenzte<br />
Technik sei. Um einem Missbrauch vorzubeugen,<br />
habe die Bundesärztekammer<br />
(BÄK) im März einen Diskussionsentwurf<br />
zur PGD (Deutsches Ärzteblatt,<br />
Heft 9/2000) vorgelegt, in dem ein Diagnosenkatalog<br />
eindeutig abgelehnt und<br />
in klarer Weise die Diagnostik vorgegeben<br />
werde. Durch eine Beibehaltung des<br />
Verbots der PGD würden möglicherweise<br />
deutsche Paare zu kommerziell orientierten<br />
Einrichtungen im Ausl<strong>an</strong>d getrieben,<br />
auf deren ethische und medizinische<br />
St<strong>an</strong>dards m<strong>an</strong> keinerlei Einfluss habe,<br />
befürchtet Priv.-Doz. Dr. med. Wolfram<br />
Henn, Homburg/Saar.<br />
Doch ist es eigentlich gerechtfertigt,<br />
einem Embryo, bei dem Behinderungen<br />
festgestellt wurden, das Lebensrecht zu<br />
verwehren Nein – ist die deutliche Antwort<br />
von Karl Finke, Behindertenbeauftragter<br />
des L<strong>an</strong>des Niedersachsen. Er<br />
betrachtet es „mit Sorge und Kritik, dass<br />
Behinderung zunehmend als ein mit modernen<br />
medizintechnologischen Methoden<br />
aus der Welt zu schaffendes Übel <strong>an</strong>gesehen<br />
wird. Menschen mit Behinderungen<br />
erlebten dies schon heute als eine<br />
m<strong>an</strong>gelnde Akzept<strong>an</strong>z gegenüber denjenigen,<br />
die dem gesellschaftlichen Leitbild<br />
von Gesundheit, Leistungsfähigkeit<br />
und Fitness nicht entsprechen.“ Führende<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmediziner und Biologen,<br />
wie kürzlich der Nobelpreisträger<br />
James Watson, sprächen bereits von einem<br />
Recht auf ein nichtbehindertes<br />
Kind, so Finke. Ein Recht, das sich zu einer<br />
Pflicht zur eugenischen Selektion<br />
verkehren könne. Die PGD intensiviere<br />
die schon in der pränatalen Diagnostik<br />
<strong>an</strong>gelegte Tendenz zur eugenisch motivierten<br />
Auslese behinderten Lebens und<br />
öffne gleichzeitig die Tür zur positiven<br />
Eugenik. Studien zeigten zum Beispiel,<br />
dass in mehr als 90 Prozent der Fälle, in<br />
denen einer Frau im Rahmen von pränataler<br />
Diagnostik mitgeteilt wird, sie erwarte<br />
ein Kind mit Down-Syndrom, eine<br />
Abtreibung vorgenommen werde.<br />
Doch diese Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche,<br />
die bei festgestellter Behinderung<br />
nach pränataler Diagnostik aufgrund<br />
der medizinischen Indikation bis<br />
zum Ende der Schw<strong>an</strong>gerschaft möglich<br />
sind, könnten gerade durch PGD<br />
verhindert werden, erläuterte Prof. Dr.<br />
jur. Joachim Renzikowski, Universität<br />
Halle-Wittenberg. Ein später Abbruch<br />
einer „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ sei<br />
nichts <strong>an</strong>deres als eine künstliche Frühgeburt<br />
und mit erheblichen Belastungen<br />
für die Mutter und die Leibesfrucht<br />
verbunden, so der Jurist.<br />
Eindeutige gesetzliche<br />
Regelung gefordert<br />
Dr. Hildburg Wegener, Netzwerk gegen<br />
Selektion durch Pränataldiagnostik,<br />
wies allerdings darauf hin, dass die Methode<br />
der PGD ebenso fehler<strong>an</strong>fällig<br />
wie aufwendig sei. Deshalb werde der<br />
schw<strong>an</strong>geren Frau im Richtlinienentwurf<br />
der BÄK zur Absicherung des<br />
Ergebnisses eine Fruchtwasseruntersuchung<br />
empfohlen. Ein Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
müsse also eventuell<br />
trotz Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik vorgenommen<br />
werden. Wegener vertritt<br />
außerdem die Auffassung, dass die In<strong>an</strong>spruchnahme<br />
einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und ein Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
nach pränataler Diagnostik gar<br />
nicht mitein<strong>an</strong>der verglichen werden<br />
dürften: „Bei einem Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
reagieren die Beteiligten auf eine<br />
schicksalhaft vorgegebene Situation.<br />
Bei der PGD liegt keine Schw<strong>an</strong>ger-<br />
48
D O K U M E N T A T I O N<br />
Baby genetisch<br />
ausgewählt<br />
In Fr<strong>an</strong>kreich ist zum ersten Mal ein<br />
genetisch ausgewähltes Kind zur Welt<br />
gekommen. Das Baby wurde im<br />
Béclère-Kr<strong>an</strong>kenhaus im südlich von<br />
Paris gelegenen Departement Hautsde-Seine<br />
geboren. Damit wurde in<br />
Fr<strong>an</strong>kreich erstmals die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
<strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dt. Das Kind<br />
ist nicht von der unheilbaren Kr<strong>an</strong>kheit<br />
betroffen, die einer der Elternteile<br />
in sich trägt und möglicherweise<br />
übertragen hätte.<br />
afp<br />
schaft vor. Die Beteiligten reagieren auf<br />
eine Situation, die sie selbst im Wissen<br />
um die sich daraus ergebenden Entscheidungen<br />
erst herbeigeführt haben.“<br />
Auch von Juristen wird diese Einschätzung<br />
geteilt. „Die Situation des<br />
(ungewollt) gezeugten Embryos in vivo<br />
ist mit der Situation eines (bewusst und<br />
gewollt) erzeugten Embryos in vitro in<br />
keiner Weise vergleichbar“, sagte Dr.<br />
iur. Elke H. Mildenberger, Universität<br />
Münster. Deshalb sei es konsequent,<br />
wenn das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
(ESchG) eine künstlich befruchtete Eizelle<br />
bereits vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung<br />
<strong>an</strong> schütze, im Paragraphen<br />
218 dagegen dem Interesse einer<br />
ungewollt schw<strong>an</strong>geren Frau Vorr<strong>an</strong>g<br />
eingeräumt und nidationsverhütende<br />
Maßnahmen nicht bestraft würden.<br />
Ihrer Ansicht nach ist die PGD mit dem<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz nicht vereinbar.<br />
Prof. Dr. med. Karl Friedrich Sewing,<br />
Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats<br />
der BÄK, teilt diese Auffassung<br />
nicht. Dennoch plädierte er für eine eindeutige<br />
gesetzliche Regelung, um „bestehende<br />
Wertungswidersprüche aufzuheben<br />
oder diese gar nicht aufkommen zu<br />
lassen. Die gesetzlichen Regelungen sollten<br />
sich aber auch im Blick auf das europäische<br />
Ausl<strong>an</strong>d ausrichten mit dem<br />
Ziel, ethische Schieflagen zu vermeiden,<br />
etwa in dem Sinne, dass es nicht unbedingt<br />
ethischen Normen folgt, wenn wir<br />
im eigenen L<strong>an</strong>d Entwicklungen unterbinden,<br />
die im Ausl<strong>an</strong>d gewonnenen Ergebnisse<br />
jedoch im eigenen L<strong>an</strong>d nutzen<br />
wollen.“ Sobald die gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />
klar seien, werde zu<br />
Heft 48, 1. Dezember 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Unterschiedliche<br />
Schutzwürdigkeit<br />
prüfen sein, ob und gegebenenfalls in<br />
welcher Weise berufsrechtliche Regeln zu<br />
erarbeiten oder zu modifizieren seien.Sewing<br />
betonte, dass <strong>an</strong> der prinzipiellen<br />
Schutzwürdigkeit des Embryos festgehalten<br />
werden müsse. Es sei allerdings nicht<br />
auszuschließen, dass in Einzelfällen eine<br />
Güterabwägung getroffen werden müsse.<br />
Dagegen vertritt Finke die Auffassung,<br />
dass der dem Grundgesetz zugrunde<br />
liegende Menschenwürdeged<strong>an</strong>ke davon<br />
ausgehe, dass ein Embryo vom Moment<br />
seines Entstehens <strong>an</strong> schützenswert<br />
sei. Der niedersächsische Behindertenbeauftragte<br />
wies darauf hin, dass ein abgestufter<br />
Schutzstatus des Embryos je<br />
nach Entwicklungsstadium im Gegensatz<br />
zu <strong>an</strong>deren Staaten in der Bundesrepublik<br />
nicht vorgesehen sei. Das deutsche<br />
Rechtssystem schütze den Embryo<br />
als solchen, betonte auch der Theologe<br />
Prof. Dr. Dietmar Mieth,Tübingen.<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
begrüßte die „ergebnisoffene“ Diskussion<br />
bei der Anhörung. „Das ethische<br />
Dilemma, Paaren mit hohen genetischen<br />
Risikofaktoren neue Perspektiven<br />
öffnen zu können, damit zugleich<br />
aber ethische Tabus zu berühren, erfordert<br />
eine gesamtgesellschaftliche Wertediskussion<br />
auf breiter Grundlage“, so<br />
Hoppe. Er räumte ein, dass ein Patentrezept<br />
für diese Fragen nicht in Sicht sei.<br />
Schließlich dürfe m<strong>an</strong> nicht ignorieren,<br />
dass die betroffenen Paare in der Regel<br />
weder bewusst auf Kinder verzichten<br />
noch sich zu einer Adoption entschließen,<br />
sondern die PGD in <strong>an</strong>deren<br />
Staaten in Anspruch nehmen. Wenn die<br />
PGD in Deutschl<strong>an</strong>d zugelassen werden<br />
sollte, d<strong>an</strong>n nur, so der Diskussionsentwurf<br />
der BÄK, wenn Rechtssicherheit<br />
und ein hohes Schutzniveau über strenge<br />
und restriktiv zu fassende Zulassungskriterien<br />
erreicht werden können.<br />
Über die rein medizinischen Aspekte<br />
dieses Verfahrens hinaus sei es unverzichtbar,<br />
dass der Bundesgesetzgeber<br />
die im Zivil- und Strafrecht notwendigen<br />
Regelungen vornehme, forderte der<br />
BÄK-Präsident. Gisela Klinkhammer<br />
Auf Wertungswidersprüche weist der Vorsitzende des<br />
Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer hin.<br />
Unzulässig ist die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis = PGD) in Portugal,<br />
Österreich und der Schweiz. In den meisten<br />
europäischen Ländern ist sie entweder<br />
gesetzlich erlaubt, oder entsprechende<br />
Gesetzesvorhaben sind in Vorbereitung.<br />
In Deutschl<strong>an</strong>d ist es umstritten,<br />
ob die PGD mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
vereinbar ist. In einem<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz, das demnächst<br />
möglicherweise das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
ablösen wird,soll nach Vorstellung<br />
von Bundesgesundheitsministerin<br />
Andrea Fischer die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
verboten werden.<br />
Nach Ansicht von Prof. Dr. med. Karl-<br />
Friedrich Sewing,Vorsitzender des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesärztekammer,<br />
verstößt die PGD nicht<br />
gegen das bestehende <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.<br />
Er kritisierte Bestrebungen,<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik explizit<br />
zu verbieten, obwohl ein eventueller<br />
„PGD-Tourismus“ kein Argument<br />
dafür sei, diese Methode zu gestatten.<br />
Er hält es jedoch generell für<br />
ethisch fragwürdig, Wissen, das im Ausl<strong>an</strong>d<br />
entwickelt wurde, <strong>an</strong>schließend in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d zu nutzen.<br />
Zwar müsse gerade in Deutschl<strong>an</strong>d in<br />
Fragen des Lebensschutzes ein hoher<br />
49
D O K U M E N T A T I O N<br />
St<strong>an</strong>dard gelten, betonte Dr. med. Christi<strong>an</strong>e<br />
Woopen, Mitglied des Wissenschaftlichen<br />
Beirats, <strong>an</strong>lässlich der Medica<br />
in Düsseldorf vor Journalisten. Einen<br />
Wertungswiderspruch sieht sie jedoch<br />
in der unterschiedlichen Schutzwürdigkeit<br />
des Embryos in vitro und in<br />
vivo. „Ein Gesetzgeber, der nidationsverhütende<br />
Maßnahmen nicht verbietet,<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaftabbrüche nach<br />
Pränataldiagnostik nicht verbietet, der<br />
die Schw<strong>an</strong>gerschaftsvermeidung durch<br />
die ,Pille d<strong>an</strong>ach‘ nicht der Beratungsregelung<br />
zum Schutz des ungeborenen Lebens<br />
unterwirft, k<strong>an</strong>n die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
nicht mit der Begründung<br />
verbieten, es gehe um den Schutz des<br />
Embryos.“ Den Hinweis darauf, dass bei<br />
bestehender Schw<strong>an</strong>gerschaft in vivo<br />
der Embryo unter dem realen Schutz<br />
der Frau stehe, hält Woopen für realitätsfern.<br />
So begännen 53,6 Prozent der<br />
Frauen mit einem bek<strong>an</strong>nten hohen Risiko<br />
für eine schwere genetisch bedingte<br />
Kr<strong>an</strong>kheit oder Behinderung des Kindes<br />
eine Schw<strong>an</strong>gerschaft nur im Hinblick<br />
auf eine Pränataldiagnostik mit<br />
möglicherweise folgendem Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch.<br />
Auch wenn m<strong>an</strong> so gen<strong>an</strong>nte<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche auf<br />
Probe als problematisch erachte, müsse<br />
m<strong>an</strong> im Rahmen rechtlicher Regelungsmöglichkeiten<br />
das geringere Übel nicht<br />
verbieten, fordert die Medizinethikerin.<br />
Gesellschaftlicher Diskurs<br />
Auch Sewing ist dieser Auffassung.<br />
Wenn der Embryo einen uneingeschränkten<br />
Schutz besäße, so sei dieser<br />
auch uneingeschränkt bis zur Geburt zu<br />
be<strong>an</strong>spruchen. Mit der Begründung einer<br />
symbiotischen Situation in vivo<br />
werde dieser Schutz im Sinne einer Güterabwägung<br />
beim straffreien Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
allerdings eingeschränkt.<br />
Sewing und Woopen begrüßten den<br />
gesellschaftlichen Diskurs. „Auf breiter<br />
Ebene sollte deutlich werden, dass es<br />
nicht nur um Detailfragen der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
geht. Vielmehr geht<br />
es um Prinzipien übersteigende grundsätzliche<br />
Fragen über unsere Haltungen<br />
zu menschlichem Leben in all seiner<br />
Vielfalt und seinen Entwicklungsstufen“,<br />
sagte Woopen. Gisela Klinkhammer<br />
Heft 51–52, 25. Dezember 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Zunehmendes Lebensrecht<br />
Genetische Untersuchungen am Embryo in vitro<br />
im medizinischen und juristischen Kontext*<br />
Rudolf Neidert<br />
Vor dem Hintergrund biomedizinischer<br />
Umbrüche – die „Entschlüsselung“<br />
des menschlichen<br />
Genoms und die Stammzellgewinnung<br />
durch Klonen von <strong>Embryonen</strong> – spielt<br />
sich in der deutschen Fachöffentlichkeit<br />
eine kontroverse Diskussion um<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (preimpl<strong>an</strong>tation<br />
genetic diagnosis = PGD)<br />
ab; zum ersten Mal wurde sie durch den<br />
„Lübecker Fall“ im Jahr 1995 in die Öffentlichkeit<br />
gebracht. Angestoßen hat<br />
die aktuelle medizinisch-ethisch-juristische<br />
Debatte die Bundesärztekammer<br />
(BÄK) im Februar dieses Jahres mit<br />
ihrem Diskussionsentwurf einer PGD-<br />
Musterrichtlinie (1). Verstärkt wurde<br />
dieser Diskurs durch ein dreitägiges<br />
fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizinisches Symposium<br />
des Bundesministeriums für Gesundheit<br />
Ende Mai in Berlin (2). Auch<br />
die Enquete-Kommission „Recht und<br />
Ethik der modernen Medizin“ des<br />
Deutschen Bundestages hat sich mit<br />
diesem Thema beschäftigt. Die intensive<br />
Kontroverse, die sich vor allem im<br />
Deutschen Ärzteblatt zwischen März<br />
und Juli niedergeschlagen hat, zeigt leider<br />
noch das Trennende stärker als das<br />
Verbindende; dasselbe gilt für die Vorträge<br />
und Diskussionen auf dem Symposium.<br />
Dabei gehen die Fronten quer<br />
durch die „Lager“ der Theologen, Ethiker,<br />
Ärzte und Juristen (3).<br />
Der vorliegende Aufsatz möchte<br />
deshalb die Diskussion – im Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
werdenden Lebens in vitro<br />
und in vivo – durch einen empirischen<br />
Zug<strong>an</strong>g zu der Problematik vor<strong>an</strong>bringen,<br />
und zwar auf zweifache Weise: indem<br />
er zunächst die medizinischen Gegebenheiten<br />
der embryonal-fetalen<br />
Entwicklung des Ungeborenen, zum<br />
* Zum Diskussionsentwurf einer Muster-Richtlinie der Bundesärztekammer<br />
in Heft 9/2000 und den dazu erschienenen<br />
Beiträgen in den Heften 9, 10, 14, 16–18, 22 und 28–29<br />
<strong>an</strong>deren die wichtigsten juristischen,<br />
vor allem gesetzlichen Gegebenheiten<br />
herausarbeitet. Im Zentrum seiner Betrachtungen<br />
steht dabei das nicht nur<br />
nach dem Grundgesetz oberste Rechtsgut:<br />
menschliches Leben – das Leben<br />
des geborenen und das erst „werdende<br />
Leben“ des ungeborenen Menschen.<br />
Medizinische Gegebenheiten<br />
Das genetische Diagnostikverfahren<br />
der PGD (4) umfasst drei Abschnitte:<br />
Erzeugung von bis zu drei <strong>Embryonen</strong><br />
mit herkömmlicher In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF), und zwar meist durch Mikroinjektion<br />
(ICSI); die genetische Untersuchung<br />
von je einer oder zwei aspirierten<br />
Embryonalzellen (nach dem Stadium<br />
der Totipotenz); schließlich der<br />
Tr<strong>an</strong>sfer der nicht geschädigten oder –<br />
und darin liegt der ethische Angelpunkt<br />
– das Absterbenlassen der geschädigten<br />
<strong>Embryonen</strong>. Insgesamt ein aufwendiges<br />
und die Frau belastendes Verfahren –<br />
was erklärt, dass die Fallzahlen weltweit<br />
auch zehn Jahre nach den ersten Verfahren<br />
in engen Grenzen geblieben sind.<br />
Das Gesamtverfahren der PGD<br />
spielt sich meist in den ersten drei Tagen<br />
nach Beginn der „künstlichen“ Befruchtung<br />
ab, nachdem die <strong>Embryonen</strong><br />
das Acht- bis 14-Zell-Stadium erreicht<br />
haben. Die embryonalen Entwicklungen<br />
sind keine plötzlichen Schritte, sondern<br />
Prozesse: so ist schon die Konzeption<br />
eine „Befruchtungskaskade“ mit<br />
14 Schrittfolgen, und die Expression<br />
der Gene des neuen Individuums zeigt<br />
sich erst im Acht-Zell-Stadium. Setzt<br />
m<strong>an</strong> den Beginn embryonalen und<br />
menschlichen Lebens bei der Befruchtung<br />
<strong>an</strong> und definiert m<strong>an</strong> ihn zugleich<br />
genetisch – Vereinigung zweier haploider<br />
Chromosomensätze zu einem di-<br />
50
D O K U M E N T A T I O N<br />
ploiden Genom –, muss m<strong>an</strong> die „Unschärfe“<br />
dieses circa drei Tage währenden<br />
Vorg<strong>an</strong>gs konstatieren.<br />
Vorab ein kurzer Blick auf den „Beginn<br />
vor dem Beginn“ embryonalen Lebens!<br />
Auch die Gameten von Frau und<br />
M<strong>an</strong>n, Ei- beziehungsweise Samenzelle,<br />
„leben“, aber noch nicht im konstitutiven<br />
Sinn eines Individuums; dies tun sie<br />
erst nach der Kernverschmelzung zum<br />
Embryo. Von dem Her<strong>an</strong>wachsen des<br />
Ungeborenen k<strong>an</strong>n hier nur weniges <strong>an</strong>gedeutet<br />
werden: Im Übrigen verweise<br />
ich auf die Stellungnahme des Wissenschaftlichen<br />
Beirates der BÄK über<br />
„Pränatale und perinatale Schmerzempfindung“<br />
(5). Unbewusste Schmerzempfindung<br />
mit Reaktionen des Ungeborenen<br />
beginnt bereits in der frühen Fetalzeit<br />
– noch in den ersten zwölf Wochen –<br />
und nimmt kontinuierlich zu. Ab der<br />
22. Woche post conceptionem (p. c.) ist<br />
ein bewusstes Schmerzerlebnis des Fetus<br />
zunehmend wahrscheinlich. Insgesamt<br />
wird die pränatale Schmerzempfindung<br />
als „werdende Funktion“ beschrieben –<br />
also auch hier keine festen Einschnitte.<br />
Ungefähr zur selben Zeit – ab der 20.<br />
bis 22. Woche p. c. – hat der Fetus die so<br />
gen<strong>an</strong>nte extrauterine Lebensfähigkeit<br />
erreicht, k<strong>an</strong>n d<strong>an</strong>n also nach einem<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch überleben.<br />
Auf diese schockierenden „Spätabbrüche“<br />
hat die Bundesärztekammer<br />
mit der „Erklärung zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
nach Pränataldiagnostik“<br />
und mit der gemeinsamen Empfehlung<br />
der einschlägigen Fachgesellschaften<br />
zur „Frühgeburt <strong>an</strong> der Grenze<br />
der Lebensfähigkeit“ von 1998 reagiert<br />
(6). Die Erklärung der BÄK empfiehlt<br />
dem Arzt, die extrauterine Lebensfähigkeit<br />
in der Regel als zeitliche Begrenzung<br />
für einen Abbruch <strong>an</strong>zusehen, weil<br />
sich zu diesem Zeitpunkt „der Schutz<strong>an</strong>spruch<br />
des ungeborenen Kindes aus<br />
ärztlicher Sicht nicht von demjenigen<br />
des geborenen unterscheidet“. Die<br />
Empfehlung stellt den Grundsatz auf,<br />
lebenserhaltende Maßnahmen seien zu<br />
ergreifen, wenn für das Kind auch nur<br />
eine kleine Ch<strong>an</strong>ce zum Leben bestehe.<br />
Das Ausmaß, in dem embryonal-fetales<br />
Leben „geopfert“ wird, zeigt sich<br />
in folgenden Zahlen (7): 1999 (mindestens)<br />
130 471 legale Abbrüche, davon<br />
97,2 Prozent nach der Beratungsregelung<br />
– also ohne Indikation – in den ersten<br />
zwölf Wochen p. c. (§ 218 a Abs.<br />
StGB).Auf die medizinische Indikation<br />
(§ 218 a Abs. 2) entfielen 3 661 Abbrüche<br />
(= 2,8 Prozent), teils vor, teils<br />
nach der 13. Woche (von Woche 13 bis<br />
22 noch 1,4 Prozent; ab Woche 23 – der<br />
Zeit der „Spätabbrüche“ – 0,1 Prozent,<br />
absolut „nur“ 164 Fälle). Die amtliche<br />
Statistik schweigt zu den Abbrüchen<br />
aufgrund pränataldiagnostischer Befunde.<br />
Für 1994 werden mehr als 800<br />
solcher Abbrüche aufgrund fetaler Pathologien<br />
oder auffälliger genetischer<br />
Befunde <strong>an</strong>gegeben (8) – die meisten<br />
wohl ab der 13.Woche.<br />
Rechtliche Gegebenheiten<br />
Während naturwissenschaftliche Fakten<br />
als solche keine moralischen Grenzen<br />
aufzeigen, sind gesetzliche Gegebenheiten<br />
Normsetzungen – zwar keine<br />
ethischen, aber rechtliche. Dabei<br />
zählt nicht nur ein Steinchen des<br />
Rechts, sondern letztlich das g<strong>an</strong>ze Mosaik<br />
eines Rechtsgebietes: bei der PGD<br />
nicht nur ein Paragraph des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
(ESchG) oder dieses<br />
g<strong>an</strong>ze Gesetz, sondern die Gesamtheit<br />
der menschliches Leben regelnden<br />
Normen.<br />
Das ESchG ist ein sehr abstraktes<br />
Strafgesetz, selbst für Juristen schwer<br />
auszulegen (9). Unbestritten strafbar ist<br />
es, für die genetische Diagnostik eine<br />
noch totipotente,das heißt zur Entwicklung<br />
des g<strong>an</strong>zen Individuums fähige<br />
Zelle zu verwenden, da das Gesetz diese<br />
einem Embryo gleichstellt (10). Für<br />
das rechtliche Hauptproblem – das<br />
„Verwerfen“ eines genetisch geschädigten<br />
Embryos – gilt Folgendes: Nach § 2<br />
Abs. 1 macht sich strafbar, wer einen extrakorporal<br />
erzeugten Embryo „zu einem<br />
nicht seiner Erhaltung dienenden<br />
Zweck . . . verwendet“. Ein Verwenden<br />
durch Unterlassen – das Absterbenlassen<br />
eines geschädigten Embryos durch<br />
Nichtübertragen – ist jedoch nicht tatbest<strong>an</strong>dsmäßig;<br />
§ 2 Abs. 1 trifft schon<br />
deshalb nicht zu. Außerdem fehlt es <strong>an</strong><br />
dem „Zweck“, das heißt <strong>an</strong> der Absicht<br />
des Täters, die mehr ist als Vorsatz: es<br />
müsste ihm gerade darauf <strong>an</strong>kommen,<br />
den Embryo nicht zu erhalten; tatsächlich<br />
ist ihm dies jedoch höchst unerwünscht.<br />
M<strong>an</strong> wird dem Paar, das eine<br />
PGD vornehmen lässt, nur gerecht,<br />
wenn m<strong>an</strong> seinen – meist sehnlichsten –<br />
Kinderwunsch moralisch ernst nimmt,<br />
auch sein Bemühen, diesem Kind eine<br />
absehbare schwerste Kr<strong>an</strong>kheit zu ersparen.<br />
Es kommt auf den Gesamtvorg<strong>an</strong>g<br />
„IVF mit PGD“ <strong>an</strong>, nicht auf unselbstständige<br />
Teilakte. Den „Täter“<br />
Arzt würde m<strong>an</strong> sonst, obwohl er aus<br />
ärztlichem Ethos der Kr<strong>an</strong>kheitsverhütung<br />
Patienten hilft und Mitver<strong>an</strong>twortung<br />
für künftiges Leben übernimmt,<br />
mit Freiheitsstrafe bis zu drei<br />
Jahren bedrohen. „Die Aufgabe des<br />
Strafrechts beschränkt sich auch sonst<br />
darauf, das ethische Minimum festzulegen<br />
. . .“ (11).<br />
Das ESchG gilt nur für die wenigsten<br />
<strong>Embryonen</strong>, die in vitro gezeugten – und<br />
für diese nur von der Befruchtung bis zur<br />
Nidation. In derselben Entwicklungsphase<br />
genießen die natürlich gezeugten<br />
<strong>Embryonen</strong> keinerlei Lebensschutz,<br />
weshalb nidationshemmende Mittel<br />
straflos vertrieben und <strong>an</strong>gewendet werden<br />
dürfen. Unter dem Gesichtspunkt<br />
des „Lebensschutzes von Anbeginn“ eine<br />
widersprüchliche Rechtslage! (12)<br />
Mit dem Abschluss der Einnistung<br />
des Embryos in der Gebärmutter<br />
(§ 218 a Abs.1 StGB) beginnt das Recht<br />
des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs. In den<br />
ersten zwölf Wochen p. c. gilt die so gen<strong>an</strong>nte<br />
Beratungsregelung (§ 218 a<br />
Abs. 1) – praktisch eine „Fristenregelung<br />
mit Beratungspflicht“ (13); der abbrechende<br />
Arzt h<strong>an</strong>delt ohne Indikation,<br />
auf Wunsch der Frau. Hinter deren<br />
Selbstbestimmungsrecht lässt das Gesetz<br />
das Lebensrecht des Ungeborenen<br />
zurücktreten, wenn auch unter dem<br />
Verdikt der Rechtswidrigkeit. Fast alle<br />
<strong>an</strong>deren legalen Abbrüche fallen unter<br />
die medizinische Indikation (§ 218 a<br />
Abs. 2), die den Abbruch für „nicht<br />
rechtswidrig“ erklärt.<br />
Auch der Lebensschutz des Ungeborenen<br />
durch die medizinische Indikation<br />
ist gering, lässt der Tatbest<strong>an</strong>d des<br />
§ 218 a Abs. 2 doch außer der Gefahr<br />
für das Leben der Schw<strong>an</strong>geren auch eine<br />
solche für deren körperlichen oder<br />
seelischen Gesundheitszust<strong>an</strong>d genügen<br />
– das Leben des bereits her<strong>an</strong>gewachsenen<br />
Kindes gilt dem Gesetz somit<br />
weniger als die Gesundheit der<br />
Frau! Diese Rechtslage erstreckt sich<br />
sogar über den Zeitpunkt der extraute-<br />
51
D O K U M E N T A T I O N<br />
rinen Lebensfähigkeit des Nasciturus<br />
hinaus bis – theoretisch – zur Geburt.<br />
D<strong>an</strong>n, mit dem Ende der für das Ungeborene<br />
so lebensgefährlichen Zeit der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft, macht die Rechtsordnung<br />
gleichsam einen Sprung: „Die<br />
Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt<br />
mit Vollendung der Geburt“ (§ 1 BGB);<br />
und zugleich gewährt das StGB dem<br />
nunmehr geborenen Menschen mit seinen<br />
Tötungsparagraphen 211 und 212<br />
vollen Lebensschutz.<br />
Ansätze einer vermittelnden<br />
Lösung<br />
52<br />
Sowohl die medizinischen als auch die<br />
rechtlichen Gegebenheiten lassen –<br />
trotz gravierender Inkonsequenzen der<br />
Gesetzeslage – in etwa eine gemeinsame<br />
Linie erkennen, <strong>an</strong> der eine <strong>an</strong> der<br />
Empirie orientierte und von ihr legitimierte<br />
Lösung der PGD-Frage <strong>an</strong>setzen<br />
k<strong>an</strong>n.<br />
Die Embryonal- und Fetalentwicklung<br />
zeigt sich als „stufenloses Kontinuum“<br />
(14); signifik<strong>an</strong>te Entwicklungsschritte<br />
k<strong>an</strong>n nur die ethische Bewertung<br />
des empirischen Substrats<br />
festmachen. Hervorzuheben ist die bewusste<br />
Schmerzempfindung; es ist ja<br />
gerade dieser erste Ausdruck einer<br />
leib-seelischen Einheit, wor<strong>an</strong> ethischrechtlich<br />
eine erhöhte Schutzbedürftigkeit<br />
von Embryo und Fetus <strong>an</strong>zuknüpfen<br />
haben. Schließlich sind es die potenzielle<br />
Lebensfähigkeit außerhalb<br />
des mütterlichen Körpers und als Abschluss<br />
dieser Entwicklung die Geburt.<br />
Über den Beginn embryonalen Lebens<br />
sollte Konsens herrschen: die Entstehung<br />
eines genetisch neuen Individuums<br />
mit Verschmelzung von Ei- und<br />
Samenzelle – zwar erst potenzielles Leben<br />
als Mensch, aber kontinuierlich<br />
wachsendes Leben, bis dieses sich vollem<br />
menschlichen Leben vor der Geburt<br />
<strong>an</strong>genähert und mit dieser vollendet<br />
hat (15).<br />
Die vergleichbare Linie des geltenden<br />
Rechtes verläuft ebenfalls im Sinne<br />
wachsenden Schutzes, allerdings in groben<br />
Stufen: widersprüchlich in der ersten<br />
Stufe von der Befruchtung bis zur<br />
Einnistung: verfassungsrechtlich volles<br />
menschliches Leben, einfachgesetzlich<br />
nur im „Ausnahmefall“ (in vitro) geschützt.<br />
Als zweite, große Stufe folgt<br />
d<strong>an</strong>n die frühe Schw<strong>an</strong>gerschaftszeit<br />
von der Nidation bis zur zwölften Woche:<br />
mit dem fragilen Schutz des Embryos<br />
durch das Beratungskonzept des<br />
Bundesverfassungsgerichts. Ab der 13.<br />
Woche p. c. (dritte Stufe) schränkt das<br />
Gesetz die Abbruchmöglichkeit auf die<br />
ungleich strengere medizinische Indikation<br />
ein.<br />
Mag sich übrigens das Verfassungsgerichtsurteil<br />
von 1993 im Sinne von<br />
Menschenwürde und Lebensschutz<br />
noch so kategorisch lesen – letztlich<br />
rechtfertigt es die Beratungslösung – eine<br />
„Quasi-Freigabe“ embryonalen Lebens.<br />
Dahinter verbirgt sich, dass das<br />
Gericht ungeborenes Leben mitnichten<br />
als absolutes Rechtsgut (wie die Menschenwürde)<br />
begreift, das keiner Güterabwägung<br />
fähig wäre; vielmehr lässt<br />
es in der Zwölf-Wochen-Frist dessen<br />
fast völlige Verdrängung durch das Entscheidungrecht<br />
der Frau zu, setzt bezeichnenderweise<br />
aber für die Zeit d<strong>an</strong>ach<br />
durch die medizinische Indikation<br />
höhere Anforderungen <strong>an</strong> eine Abwägung<br />
zulasten des Nasciturus. Kurzum:<br />
Gesetz und Rechtsprechung <strong>an</strong>erkennen<br />
tatsächlich, wenn auch zum Teil uneingest<strong>an</strong>den,<br />
die Notwendigkeit eines<br />
höheren Rechtsschutzes bei höherem<br />
Alter des Ungeborenen (16).<br />
In den konkreten Vorschriften, die<br />
für ungeborenes Leben gelten, drückt<br />
sich der ethische und rechtliche Status<br />
aus, der im geltenden Recht dem Embryo<br />
beziehungsweise Fetus zugebilligt<br />
wird. Wo dieses gesetzliche Recht Widersprüche<br />
in sich oder zum Verfassungsrecht<br />
aufweist, ist durch Auslegung,<br />
erforderlichenfalls durch Gesetzesänderung,<br />
Widerspruchsfreiheit herzustellen:<br />
orientiert am Prinzip der Einheit<br />
unserer Rechtsordnung. In der<br />
Phase zwischen Zeugung und Einnistung<br />
lässt sich die Diskrep<strong>an</strong>z zwischen<br />
dem Schutz des natürlich und des<br />
„künstlich“ gezeugten Embryos nur<br />
zum Teil durch dessen in vitro höhere<br />
Verletzlichkeit erklären – rechtfertigen<br />
lässt sie sich nicht, geht es doch hier wie<br />
dort um dasselbe embryonale Leben.<br />
Der verbleibende Widerspruch zeigt<br />
nur allzu deutlich die im rechtlichen<br />
Kontext schwer zu integrierende<br />
Schutzhöhe künstlich gezeugten Lebens<br />
bis zur Nidation. Gemessen <strong>an</strong><br />
dem hehren verfassungsgerichtlichen<br />
Prinzip einer Gleichwertigkeit ungeborenen<br />
und geborenen Lebens (17),<br />
klafft allerdings die Schere zwischen<br />
dem Lebensschutzpostulat und dem –<br />
trotz Schutzkonzept – schwachen<br />
Schutz durch die Beratungsregelung<br />
(ab der Nidation) empfindlich ausein<strong>an</strong>der.<br />
Immerhin soll der Abbruch in<br />
dieser Zeit von der Rechtsordnung missbilligt<br />
sein und lediglich straflos bleiben<br />
– <strong>an</strong>ders als der vom Gesetz für „nicht<br />
rechtswidrig“ erklärte Abbruch aus medizinischer<br />
Indikation, die nach den ersten<br />
zwölf Wochen praktisch allein zum<br />
Tragen kommt.<br />
Mit der extrauterinen Lebensfähigkeit<br />
des Nasciturus ist d<strong>an</strong>n der<br />
„Durchbruch“ in der Entwicklung ungeborenen<br />
Lebens erreicht, dem höchste<br />
Rechtserheblichkeit zukommt. Eine<br />
Erstreckung der Indikation des § 218 a<br />
Abs. 2 – eigentlich einer medizinisch-sozialen<br />
– auf diese Endphase des Ungeborenen<br />
als eines selbstständig Lebensfähigen<br />
verträgt sich schlechterdings<br />
nicht mit dem hier vertretenen und empirisch<br />
belegten, auf ein volles<br />
Menschsein hin wachsenden Leben<br />
des Embryos und Fetus. In dieser „vierten<br />
Stufe“ müsste deshalb dem Lebensrecht<br />
des Ungeborenen vergleichbares<br />
Gewicht wie der Rechtsposition der<br />
Schw<strong>an</strong>geren beigemessen werden – zu<br />
realisieren nur durch eine Einschränkung<br />
des § 218 a Abs. 2 (18). Ohne<br />
einen „zeitlichen Sicherheitsabst<strong>an</strong>d“<br />
zwischen der medizinischen Indikation,<br />
die eine Tötung des Ungeborenen<br />
rechtfertigt, und dem Tötungsverbot<br />
des Strafgesetzbuchs ab der Geburt<br />
würde die innere Akzept<strong>an</strong>z eben dieses<br />
Verbotes unterhöhlt.<br />
Zusammengefasst bedeutet der<br />
skizzierte Lösungs<strong>an</strong>satz Folgendes:<br />
grundsätzliches Lebensrecht des Embryos<br />
ab der Befruchtung mit Rücksicht<br />
auf seine Möglichkeit, Mensch zu werden<br />
(Potenzialität), jedoch zwischen<br />
Zeugung und Geburt ein entwicklungsbedingtes<br />
Her<strong>an</strong>wachsen aus rudimentären<br />
Anfängen bis zum sich auf die<br />
Geburt hin vollendenden Rechtsstatus<br />
– ein zwischen den Extrempositionen<br />
vermittelndes Konzept. Selbstver<strong>an</strong>twortung<br />
und -entscheidung der Frau<br />
verdienen umso mehr Berücksichtigung,<br />
je früher der Embryo in seiner
D O K U M E N T A T I O N<br />
Entwicklung steht; umgekehrt fordert<br />
das Lebensrecht des her<strong>an</strong>wachsenden<br />
Fetus umso größere Achtung, je mehr<br />
sich dieser dem geborenen Menschen<br />
<strong>an</strong>nähert. Dies hat gegenläufige Konsequenzen:<br />
für die Schlussphase der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft eine grundsätzliche<br />
Unzulässigkeit der Spätabtreibung lebensfähiger<br />
Kinder, für den ersten Abschnitt<br />
die Möglichkeit einer Güterabwägung<br />
auch zulasten des eben erst gezeugten<br />
embryonalen Lebens.<br />
In den ersten Tagen spielt sich ja die<br />
PGD ab; doch welches Gewicht soll das<br />
keimende Lebensrecht der winzigen<br />
Morula in der Petrischale besitzen Ein<br />
einfacher Umkehrschluss von dem<br />
zweiten, unter der Beratungslösung stehenden<br />
Abschnitt – Alleinentscheidung<br />
der Frau erst recht hier! – wäre voreilig.<br />
Gewiss überzeugt die gegen die PGD<br />
vorgetragene These von der Unvergleichbarkeit<br />
der Situationen in vitro<br />
und in vivo (19) im Wesentlichen nicht:<br />
denn hier wie dort sieht sich die Frau<br />
mit dem Dilemma konfrontiert, ein<br />
schwerstgeschädigtes Kind austragen<br />
zu sollen – bei einer PGD würde dieser<br />
Konflikt nur „<strong>an</strong>tizipiert“, aber gleichwohl<br />
real erlebt. Zudem wäre es ein<br />
rechtlicher Widerspruch, denselben geschädigten<br />
Embryo in vitro nicht absterben,<br />
in vivo dagegen durchaus abtreiben<br />
lassen zu dürfen – ein zu Recht<br />
häufig vorgebrachtes Argument.<br />
Allerdings ist in der Petrischale das<br />
„künstlich gezeugte“ Leben tatsächlich<br />
wesentlich gefährdeter, da seine Abtötung<br />
ohne ärztlichen Eingriff im Körper<br />
der Mutter möglich ist. Deshalb sollte<br />
eine rechtliche Regelung dieser Diagnostik<br />
von einer engen genetischen Indikation<br />
ausgehen, die in einem formellen<br />
Verfahren – nach Billigung durch eine<br />
Ethikkommission – festzustellen wäre.<br />
Dies hat der Wissenschaftliche Beirat<br />
der Bundesärztekammer mit seinem<br />
restriktiven und ver<strong>an</strong>twortungsvollen<br />
Diskussionsentwurf vorgeschlagen. Die<br />
<strong>an</strong> einer PGD Beteiligten würden d<strong>an</strong>n<br />
rechtmäßig h<strong>an</strong>deln.<br />
Eine vom Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
– nach Ablauf der Diskussionsphase<br />
– verabschiedete Muster-<br />
Richtlinie müsste von der jeweiligen<br />
Ärztekammer umgesetzt werden; da<br />
nach hier begründeter Auffassung die<br />
PGD nicht strafbar ist, wäre dies auch<br />
ohne weiteres möglich. Allerdings sollte<br />
dieses Verfahren von erheblicher<br />
Grundrechtsrelev<strong>an</strong>z durch den Gesetzgeber<br />
über eine gesetzliche Klarstellung,<br />
wenn auch in engen Grenzen,<br />
ausdrücklich erlaubt werden.<br />
Anmerkungen<br />
Mein D<strong>an</strong>k für Hinweise auf Literatur bzw. zum M<strong>an</strong>uskript<br />
dieses Aufsatzes gilt den Professoren K. Bayertz<br />
(Ethik), H. M. Beier, K. Diedrich und W. Holzgreve (Medizin)<br />
sowie F. Hufen und H.-L. Schreiber (Recht).<br />
1. DÄBl v. 3. 3. 2000, S. A-525 ff. Die ver<strong>an</strong>twortliche<br />
Arbeitsgruppe der BÄK st<strong>an</strong>d unter der Federführung<br />
von H. Hepp. Der „Lübecker Fall“ (von K. Diedrich und<br />
E. Schwinger wegen Mukoviszidose-Belastung des<br />
Paares be<strong>an</strong>tragte PGD) f<strong>an</strong>d durch die dortige Ethik-<br />
Kommission 1996 ein zwiespältiges Votum (ethisch<br />
ja, nach ESchG nein).<br />
2. Zwei Tagungsbände „Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d“ dürften Anf<strong>an</strong>g 2001 bei Nomos, Baden-Baden,<br />
erscheinen (Wiss. Red. D. Arndt, Berlin,<br />
und G. Obe, Essen). Kritik <strong>an</strong> dem Symposium übt H.<br />
M. Beier in: Reproduktionsmedizin 2000/16, S. 332 ff.<br />
3. Die folgenden Kurzbelege sind exemplarisch und notwendigerweise<br />
subjektiv: Für die Theologen Rendtorff<br />
eher pro und Mieth eher kontra (R. auf dem Symposium,<br />
M. in: Ethik Med, Bd. 11, Suppl. 1); für die Ethiker<br />
Bayertz pro, Graum<strong>an</strong>n kontra (beide auf dem Symposium);<br />
für die Naturwissenschaftler Ludwig/Diedrich<br />
pro, Kollek kontra (L./D. in: Gynäkologie 4/98, S. 353 ff.,<br />
K.: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, Tüb. u. Basel, 2000);<br />
für die Juristen Schreiber pro, Laufs kontra (Schr. in:<br />
DÄBl v. 28. 4. 2000, S. A-1135 ff., Laufs im Symposium<br />
und in: Ethik Med 1999/11, S. 55 ff.).<br />
4. Zum Verfahren ausführlich R. Kollek (Fußnote 3, S.<br />
27 ff.), M. Ludwig/B. Schöpper/K. Diedrich in: Reproduktionsmedizin<br />
1999/15, S. 65 ff., und H. M. Beier:<br />
Assistierte Reproduktion, München 1997 („Befruchtungskaskade“,<br />
S. 10 f.).– Ende 1999 gab es insgesamt<br />
nur 424 nach PGD geborene Kinder aufgrund<br />
von 499 Schw<strong>an</strong>gerschaften bei 1 317 Patientinnen<br />
(Mitteilung Prof. Diedrich).<br />
5. DÄBl v . 21. 11. 1991, S. A-4157 ff.<br />
6. DÄBl v. 20. 11. 1998, S. A-3013 ff. Die Arbeitsgruppe<br />
des Wiss. Beirates der BÄK st<strong>an</strong>d wie diejenige zur<br />
PGD unter der Federführung von H. Hepp. Gemäß<br />
Empfehlung in: Frauenarzt 12/1998, S. 1803 ff. (unter<br />
Mitwirkung u. a. von H. Hepp und W. Holzgreve).<br />
7. Statistisches Bundesamt, Gesundheitswesen, Fachserie<br />
12, Reihe 3 1999 (zur Methodik – Untererfassung<br />
– dort 2.3); die Dauer der abgebrochenen<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft ist p. c. berechnet (2.4.).<br />
8. M. Ludwig/K. Diedrich in: Ethik Med 1999/11, Suppl.<br />
1, S. 38 ff. (39): 838 Fälle für 1994.<br />
9. Bei den Juristen gegen Strafbarkeit H.-L. Schreiber<br />
(Mitglied der BÄK-AG) in: DÄBl v. 28. 4. 2000, S. A-<br />
1135 f., Ch. Rittner in: DÄBl v. 28. 4. 2000, S.A-1130 f.,<br />
R. Ratzel in: DÄBl v. 28. 4. 2000, S.A-1125 f., S. Schneider<br />
in: MedR 2000/8, S. 360 ff., B. Tag in: Kämmerer/<br />
Speck, Geschlecht und Moral, Heidelberg 1999, S. 87<br />
ff., R. Neidert in: MedR 1998/8, S. 347 ff., Bericht der<br />
Bioethik-Kommission Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz v. 20. 6. 1999,<br />
Teil II Vorbem. und Thesen II. 8 ff., im Ergebnis auch<br />
M. Frommel (Symposium); für Strafbarkeit A. Laufs in:<br />
Ethik Med 1999/11, S. 55 ff., R. Beckm<strong>an</strong>n in: DÄBl<br />
v. 17. 7. 2000, S. A-1959 ff., U. Riedel in: DÄBl v. 10. 3.<br />
2000, S. A-586 f., R. Röger in: Schriftnr. der Juristenv.<br />
Lebensrecht e.V., Nr. 17 (2000), S. 55 ff. – Bei den juristischen<br />
Laien gegen Strafbarkeit insb. H. Hepp (im<br />
Anschluss u. a. <strong>an</strong> Schreiber) in: DÄBl v. 5. 5. 2000, S.<br />
C-930 ff.; für Strafbarkeit R. Kollek (Fußnote 3), Kap. 6<br />
(jedoch zum Teil ohne zureichende juristische Interpretation).<br />
10. § 8 Abs. 1 ESchG. – Ende der Totipotenz nach dem 8-<br />
Zell-Stadium (H. M. Beier in: Reproduktionsmedizin<br />
1998/14, S. 41 ff. und 2000/16, S. 332 ff.). Im Ausl<strong>an</strong>d<br />
punktiert m<strong>an</strong> schon vor dem 8-Zell-Stadium; allerdings<br />
ist die Diagnostik auch noch d<strong>an</strong>ach möglich.<br />
11. H.-L.Günther im Komm. Zum ESchG von Keller/Günther/Kaiser<br />
1992, Rz. 34 zu § 2.<br />
12. So – über den Gegenst<strong>an</strong>d der Entscheidung (§ 218)<br />
hinaus – das Bundesverfassungsgericht am 28. 5.<br />
1993 (Bd. 88, S. 203 ff., 251 f.) und u. a. A. Laufs<br />
(Fußnote 3).<br />
13. H. Tröndle, Komm. zum StGB, Rz 14 b vor § 218. Mit<br />
seinem Beratungskonzept verfolgt das BVerfG immerhin<br />
das Ziel, dem Lebensschutz des Ungeborenen<br />
in der Frühphase der Schw<strong>an</strong>gerschaft durch austragungsorientierte<br />
Beratung statt durch Strafdrohung<br />
zu dienen (Fußnote 12, S. 264 ff.).<br />
14. Stellungnahme des Wiss. Beirates der BÄK (Fußnote<br />
5), Ziffer 2.<br />
15. So ausdrücklich auch der Ethiker K. Bayertz (Symposium,<br />
Fußnote 3), der eine „gradualistische Auffassung“<br />
vertritt: wachsender, graduell abgestufter Status<br />
zwischen Befruchtung und Geburt. Dass auf der<br />
leiblich-seelischen Grundlage von Personalität der<br />
Gradualismus auch von einem Moraltheologen vertreten<br />
werden k<strong>an</strong>n, zeigt das Beispiel von B. Irrg<strong>an</strong>g,<br />
dargestellt von P. Fonk: Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe<br />
. . . in: Ethica 7 (1999), S. 29 ff. und 143 ff. (161 f.).<br />
16. Ansatzweise E. G. Mahrenholz und B. Sommer in ihrer<br />
abweichenden Meinung zu BVerfGE 88, S. 203 ff.<br />
(342). Auch das eigentliche Urteil <strong>an</strong>erkennt, dass<br />
das Lebensrecht nicht absolut gilt (S. 253 f.); sogar in<br />
das „Recht auf Leben“ des (geborenen) Menschen<br />
darf aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden<br />
(Art. 2 Abs. 2 GG). Der in der ethischen Diskussion oft<br />
unkritische Umg<strong>an</strong>g mit der (absoluten) „Würde des<br />
Menschen“ (Art. 1 Abs. 1 GG) verdiente eine gesonderte<br />
verfassungsrechtliche Widerlegung.<br />
17. BVerfGE 39 (S. 1 ff., 37 f.) und E 88 (S. 203 ff., 251 f.)<br />
sowie H. Tröndle (Fußnote 13), Rz. 19 vor § 218, mit<br />
weiteren Nachweisen.<br />
18. Eine Änderung fordert auch A. Laufs (Symposium,<br />
Fußnote 3). Mögliche Ansatzpunkte einer Änderung:<br />
Befristung der medizinischen Indikation, übergesetzlicher<br />
Notst<strong>an</strong>d. E. G. Mahrenholz und B. Sommer<br />
(Fußnote 16, S. 345) weisen auf das niederländische<br />
StGB hin (Abbruch nur bis zur 24. Woche).<br />
19. Insbesondere R. Kollek (Symposium der Ärztekammer<br />
Berlin am 11. 4. 2000, auch Publikation Fußnote<br />
3, S. 210 f.). Überzeugend gegen diese These Chr.<br />
Woopen, Zeitschr. für med. Ethik 1999, S. 233 ff. (mit<br />
einem Überblick über die Vertreter der Nichtvergleichbarkeits-These).<br />
Dieselbe Autorin erörtert Argumente<br />
zur ethischen Bewertung der PGD und deren<br />
Folgen in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik,<br />
Bd. 5, 2000, S. 117 ff. (auch zu Kriterien für ein abgestuftes<br />
Schutzkonzept, S. 119).<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dt Ärztebl 2000; 97: A 3483–3486 [Heft 51–52]<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Ministerialrat a. D. Dr. jur. Rudolf Neidert<br />
Herrengarten 15<br />
53343 Wachtberg<br />
53
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 14, 6. April 2001<br />
DISKUSSION<br />
Lebensrecht-Kompromiss<br />
birgt viele Risiken<br />
„Zunehmendes Lebensrecht“ – diese Begriffsprägung<br />
setzt den Ged<strong>an</strong>ken vom<br />
„werdenden“ beziehungsweise „wachsenden<br />
Leben des Embryos und Fetus“<br />
voraus „auf ein volles Menschenleben<br />
hin“. Nicht notwendigerweise logisch,<br />
das g<strong>an</strong>ze Ged<strong>an</strong>kengebäude jedoch erhellend,<br />
wird „die Entstehung eines genetisch<br />
neuen Individuums mit Verschmelzung<br />
von Ei- und Samenzelle“ mit<br />
dem Terminus „potenzielles Leben als<br />
Mensch“ in Verbindung gebracht. Dieser<br />
nun ist nichts <strong>an</strong>deres als interessenorientierte<br />
und somit gewollte Irreführung: Es<br />
entsteht nach Verschmelzung von Ei und<br />
Samenzelle kein potenzielles, sondern<br />
einsehr reales Leben, ein sehr potentes<br />
dazu, dessen ungeheure Entwicklungsmöglichkeiten<br />
und ras<strong>an</strong>tes Entwicklungstempo,<br />
dessen Verletzlichkeit aber<br />
auch dem Betrachter nahe legen, dass gerade<br />
in den frühesten Entwicklungsphasen<br />
dieses Menschen eine besondere<br />
Schutzbedürftigkeit bestehen könnte.<br />
Denn fest steht: So eindeutig wie es kein<br />
potenzielles und kein werdendes Leben<br />
gibt, so eindeutig ist das durch die Verschmelzung<br />
der Keimzellen Entst<strong>an</strong>dene<br />
eben Leben und von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> Mensch,<br />
ja ein einmaliges und unverwechselbares<br />
Individuum.<br />
Wie trivial, ethisch-rechtlich eine erhöhte<br />
Schutzbedürftigkeit <strong>an</strong> einer Schmerzempfindung,<br />
<strong>an</strong> einer potenziellen Lebensfähigkeit<br />
außerhalb des mütterlichen<br />
Körpers oder <strong>an</strong> der Geburt festmachen<br />
zu wollen: Schmerzen können provoziert,<br />
aber auch genommen werden; der Zeitpunkt<br />
der Überlebensfähigkeit außerhalb<br />
des Mutterleibes verschiebt sich pro Dekade,<br />
ja bald von Jahr zu Jahr, weiter vor<br />
zu immer früheren Schw<strong>an</strong>gerschaftsstadien;<br />
und nicht erst das Dilemma der<br />
Spätabtreibungen hat aufgezeigt, wie<br />
54<br />
zu dem Beitrag<br />
Zunehmendes<br />
Lebensrecht<br />
von<br />
Ministerialrat a. D. Dr. jur.<br />
Rudolf Neidert<br />
wahrhaft abwegig es ist, das Recht, ein<br />
Menschenleben beenden zu dürfen, auf<br />
die Tatsache der noch nicht erfolgten Geburt<br />
zu beziehen, wohingegen Frühgeborene<br />
gleicher Behinderung oder Erkr<strong>an</strong>kung<br />
volles Lebensrecht zugeschrieben<br />
wird und voller Schutz<strong>an</strong>spruch.<br />
Wie gern gehen <strong>an</strong> diesem Punkt die<br />
Ged<strong>an</strong>ken auf die schiefe Bahn. Was<br />
heißt denn auch schon lebensfähig Wie<br />
lebensfähig ist denn ein Neugeborenes,<br />
gar ein behindertes Neugeborenes Doch<br />
nur in dem Maße, wie sich Mutter und Vater<br />
und gegebenenfalls Ärzte und Schwestern<br />
ihm zuwenden beziehungsweise eine<br />
Pflegefamilie, eine bestellte Person, eine<br />
gesellschaftliche Einrichtung, im weitesten<br />
Sinn: die Solidargemeinschaft.Wie<br />
aber ist es um die Solidargemeinschaft<br />
mit Behinderten und Kr<strong>an</strong>ken in einer<br />
Gesellschaft bestellt, die Spätabtreibungen<br />
rechtlich ver<strong>an</strong>kern ließ Hat uns Peter<br />
Singers Ged<strong>an</strong>kengut nicht bereits soweit<br />
infiziert, dass die Bereitschaft<br />
wächst, das Lebensrecht Neugeborener<br />
mit Behinderung zur Disposition zu stellen<br />
Mag der Wunsch nach einer vermittelnden<br />
Lösung auch noch so verständlich<br />
sein, ein Kompromiss in Sachen Lebensrecht<br />
birgt viele Risiken, wie auch aus<br />
der Formulierung eines zunehmenden<br />
Lebensrechtes ersichtlich wird. Es bedarf<br />
nur des Perspektivwechsels vom späten<br />
zum früheren Lebensstadium hin, und es<br />
wird ein abnehmendes Lebensrecht daraus.<br />
Gibt es d<strong>an</strong>n vielleicht auch ein maximales<br />
Lebensrecht, etwa zum Zeitpunkt<br />
der vollen H<strong>an</strong>dlungs- und Leistungsfähigkeit,<br />
der vollen Gesundheit und des<br />
vollen Wohlbefindens (entsprechend dem<br />
„vollen Menschsein“), dem mit Rückg<strong>an</strong>g<br />
dieser Fähigkeiten und Eigenschaften<br />
Abnahme verordnet wird Die <strong>an</strong>geblich<br />
von Gesetz und Rechtsprechung <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nte<br />
„Notwendigkeit“ eines altersbezogenen<br />
abgestuften Rechtsschutzes der<br />
Ungeborenen ist auch nur politisch verordnet.<br />
Dr. med. Gerhard Haasis<br />
Max-Reger-Straße 40<br />
28209 Bremen<br />
Unklare Begriffe,<br />
zweifelhafte Schlüsse<br />
In allem, was Rudolf Neidert über Feten<br />
schreibt, gebe ich ihm gern Recht. Bei seinen<br />
Thesen über Zygoten und <strong>Embryonen</strong><br />
jedoch sehe ich zwei Schwierigkeiten.<br />
Erstens können auch nach mehr als einer<br />
Woche noch (ohne dass es dazu eines<br />
menschlichen Eingriffs bedürfte) aus einem<br />
Embryo eineiige Zwillinge entstehen.<br />
Zumindest so l<strong>an</strong>ge haben wir es mit<br />
einem „Dividuum“ zu tun. Was den Zeitraum<br />
nach den ersten beiden Wochen post<br />
conceptionem (p. c.) betrifft, so bin ich mir<br />
nicht sicher,ob es einen Begriff von Individualität<br />
gibt, der sich auf etwas ohne Zentralnervensystem<br />
(ZNS) und ohne persönliche<br />
Geschichte <strong>an</strong>wenden lässt.<br />
Zweitens ist der Ausdruck „unbewusste<br />
Schmerzempfindung“ recht dunkel.<br />
„Es tut weh, aber ich merke davon nichts“<br />
ist eine widersprüchliche Auskunft. Der<br />
Hinweis auf „Reaktionen des Ungeborenen“<br />
trägt nicht zur Aufklärung bei. Es<br />
gibt keinen Schmerz ohne Bewusstsein<br />
(von Schmerz), und es gibt kein Bewusstsein<br />
ohne ein ZNS oder ein ZNS-Äquivalent.<br />
Und Letzteres fehlt im frühen Embryonalstadium<br />
nachweislich.<br />
Sol<strong>an</strong>ge die Begriffe, die wir benutzen,<br />
unklar bleiben, sind die Schlüsse, die wir<br />
aus ihnen ziehen, zweifelhaft.<br />
Andreas Scholtz M. A.<br />
Bredowstraße 18<br />
10551 Berlin<br />
Klärung vor Vermittlung<br />
Die Idee des zunehmenden Lebensschutzes<br />
ist zumindest genauso plausibel<br />
wie absurd. Das Paradox wird durch unterschiedliche<br />
Perspektiven ausgelöst:<br />
zwar mag die intrauterine Entwicklung eine<br />
Tendenz der Zunahme nahe legen, <strong>an</strong>dererseits<br />
geschieht jene in einer so engen<br />
zeitlichen Abfolge, dass jegliche Abstufungen<br />
genauso unzulässig sein dürften.<br />
Die eine Sichtweise mag eine Unterscheidung<br />
bei einem Abst<strong>an</strong>d von wenigen Wochen,<br />
ja Tagen sogar für zulässig erklären,<br />
die <strong>an</strong>dere lässt fragen, was dieser Abst<strong>an</strong>d<br />
<strong>an</strong> der Bal<strong>an</strong>ce zwischen dem Lebensrecht<br />
des Kindes und der Selbstver<strong>an</strong>twortung<br />
(„Lebensinteressen“) der<br />
Mutter ändern k<strong>an</strong>n. Meine Kritik ist<br />
nicht, dass der Autor nur die eine Perspektive<br />
dargestellt hatte. Dass diese jedoch<br />
zur „vermittelnden Lösung“ erklärt<br />
wurde, empfinde ich intellektuell als befremdend.<br />
Methodologisch ist zu fragen, ob hier<br />
der Vermittlungsversuch überhaupt begründet<br />
sei und nicht eher vor der
D O K U M E N T A T I O N<br />
Klärung der Frage der eventuellen PGD<br />
der gesetzliche Lebensschutz revidiert<br />
werden müsste.Wenn in Berlin jede dritte<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft abgebrochen wird, d<strong>an</strong>n<br />
ist ernsthaft zu fragen, ob das Beratungskonzept<br />
seine Aufgabe erfüllt. Sonst setzen<br />
wir das gleiche Modell fort: hoher Anspruch<br />
in der Theorie und eine verheerende<br />
Praxis.Also Klärung vor Vermittlung!<br />
Dr. med. Rafael Mikolajczyk<br />
Friedrichrodaer Straße 121<br />
12249 Berlin<br />
Kaum absehbare<br />
Auswirkungen<br />
Rudolf Neidert will mit seinem Beitrag<br />
die Diskussion um die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
„durch einen empirischen Zug<strong>an</strong>g“<br />
vor<strong>an</strong>bringen. Als Lösungs<strong>an</strong>satz<br />
propagiert er einen „Gleichkl<strong>an</strong>g“ zwischen<br />
dem kontinuierlichen Her<strong>an</strong>wachsen<br />
des ungeborenen Kindes und dessen<br />
rechtlichem Schutz. Am Anf<strong>an</strong>g der vorgeburtlichen<br />
Entwicklung soll das Lebensrecht<br />
des Embryos in weitem Umf<strong>an</strong>g<br />
zur Disposition stehen. In späteren<br />
Stadien verdiene der Embryo umso<br />
größere Achtung, „je mehr sich dieser<br />
dem geborenen Menschen <strong>an</strong>nähert“.<br />
Dieser Ansatz wirkt auf den ersten Blick<br />
in sich stimmig.Tatsächlich gibt es für diesen<br />
„Gleichkl<strong>an</strong>g“ biologischer Wachstumsprozesse<br />
mit rechtlichen Schutzbestimmungen<br />
weder einen rational nachvollziehbaren<br />
Grund, noch wird dieses<br />
Prinzip von seinen Verfechtern selbst<br />
ernst genommen.<br />
Der Mensch macht während seines<br />
Lebens eine ausgeprägte Entwicklung<br />
durch. Er wird bek<strong>an</strong>ntlich nicht vom<br />
Klapperstorch gebracht, fällt also nicht<br />
„fertig“ vom Himmel. Er entsteht, wie alle<br />
Lebewesen, aus kleinsten Anfängen<br />
heraus, entwickelt sich allmählich und<br />
kontinuierlich zu einer – individuell sehr<br />
unterschiedlichen – „ausgewachsenen“<br />
Form, altert, verliert wieder <strong>an</strong> Leistungsfähigkeit<br />
und stirbt schließlich. Es<br />
ist keineswegs einleuchtend, irgendeiner<br />
Phase dieses Lebens allein aufgrund der<br />
biologischen Entwicklungsstufe größeren<br />
rechtlichen Schutz <strong>an</strong>gedeihen zu<br />
lassen als einer <strong>an</strong>deren. Bei der Suche<br />
nach einer <strong>an</strong>gemessenen rechtlichen<br />
Bewertung der vorgeburtlichen Entwicklung<br />
des Menschen lautet die<br />
Grundfrage: Geht es um den Schutz<strong>an</strong>spruch<br />
des menschlichen Lebewesens<br />
als solches oder um die Wertschätzung<br />
bestimmter Bewusstseinszustände und<br />
Fähigkeiten Schmerzempfinden findet<br />
sich auch bei den Tieren. Soll also der<br />
empfindungslose Embryo rechtlich weniger<br />
Schutz genießen als ein ausgewachsener<br />
Hund, ein Schwein oder ein Huhn<br />
– wie der australische Bioethiker Peter<br />
Singer meint In vielen Leistungsbereichen<br />
haben Haustiere einen weiten Vorsprung<br />
vor ungeborenen – aber auch<br />
neugeborenen – Kindern. Soll es wirklich<br />
darauf <strong>an</strong>kommen D<strong>an</strong>n müsste Kleinkindern<br />
noch bis zum Alter von ein bis<br />
zwei Jahren das Lebensrecht abgesprochen<br />
werden.<br />
Unsere Rechtsordnung basiert auf der<br />
Un<strong>an</strong>tastbarkeit der Menschenwürde.<br />
Sie ist das Fundament der Verfassung.<br />
Die Würde des Menschen k<strong>an</strong>n aber<br />
nicht mit dem Körperwachstum, der physischen<br />
oder der intellektuellen Leistungsfähigkeit<br />
<strong>an</strong>wachsen und gegebenenfalls<br />
auch wieder abnehmen. Würde<br />
und (Nutz-)Wert unterscheiden sich<br />
prinzipiell. Deshalb k<strong>an</strong>n aus einzelnen<br />
biologischen Entwicklungen auf dem<br />
Weg zum „fertigen“ Menschen (w<strong>an</strong>n ist<br />
der Mensch „fertig“) ein unterschiedlicher<br />
Grundstatus nicht abgeleitet werden.<br />
Gerade das Recht auf Leben, die<br />
Voraussetzung und Basis aller <strong>an</strong>deren<br />
Grundrechte, k<strong>an</strong>n von der „Nützlichkeit“<br />
oder Leistungsfähigkeit des einzelnen<br />
Menschen nicht abhängen. Neidert<br />
nimmt das von ihm postulierte Prinzip<br />
„wachsendes Leben gleich wachsender<br />
Schutz“ selbst nicht wirklich ernst, weil<br />
er es auf den Zeitraum vor der Geburt<br />
beschränkt. Die „Logik des Wachsens“<br />
überschreitet diese Grenze. Die Geburt<br />
ist sicher ein wichtiger Einschnitt im Leben<br />
des Menschen, seine biologische<br />
Entwicklung bleibt <strong>an</strong> diesem Punkt<br />
aber keineswegs stehen. Die Leistungsfähigkeit<br />
des Neugeborenen befindet<br />
sich fast auf dem Nullpunkt. Der Säugling<br />
ist von der Hilfe und Zuwendung <strong>an</strong>derer<br />
völlig abhängig. Sowohl körperlich<br />
als auch geistig ist er noch meilenweit<br />
vom Entwicklungsst<strong>an</strong>d eines Erwachsenen<br />
entfernt. Warum sollte d<strong>an</strong>n das<br />
Recht auf Leben nicht auch nachgeburtlich<br />
noch „wachsen“ oder in Alter und<br />
Kr<strong>an</strong>kheit sowie im Falle einer Behinderung<br />
„abnehmen“ Wer hier nicht konsequent<br />
seinen Begründungs<strong>an</strong>satz für das<br />
Lebensrecht durchhält, setzt sich dem<br />
Verdacht aus, nur ein bestimmtes Ergebnis<br />
erzielen zu wollen.<br />
Die von Neidert <strong>an</strong>geführten Stufen<br />
der menschlichen Entwicklung (Schmerzempfinden,<br />
extrauterine Lebensfähigkeit),<br />
die er für rechtlich relev<strong>an</strong>t hält,<br />
sind auch für sich genommen nicht geeignet,<br />
eine Abstufung des Lebensrechts zu<br />
rechtfertigen.<br />
Ansatz- und begründungslos bezeichnet<br />
Neidert die „bewusste Schmerzempfindung“<br />
als „ersten Ausdruck einer leibseelischen<br />
Einheit“. Die Seele hat er in der<br />
Schilderung der „medizinischen Gegebenheiten“<br />
nicht erwähnt. Ich bezweifle, dass<br />
die Seele Gegenst<strong>an</strong>d der medizinischen<br />
Wissenschaft ist oder mit den naturwissenschaftlichen<br />
Methoden der Medizin beschrieben<br />
oder erfasst werden k<strong>an</strong>n.Wenn<br />
Neidert aber von der Existenz einer Seele<br />
ausgeht, warum sollte d<strong>an</strong>n die Schmerzempfindung<br />
das erste Erkennungszeichen<br />
dieser Seele sein Die Seele als geistiges<br />
Sein- und Wirkprinzip (oder wie m<strong>an</strong> sie<br />
auch immer definieren mag) könnte bereits<br />
l<strong>an</strong>ge vor dem Beginn der Schmerzempfindlichkeit<br />
vorh<strong>an</strong>den sein, zum Beispiel<br />
in dem zehn- oder zwölfzelligen<br />
Frühembryo, den Neidert im Rahmen der<br />
PGD zu opfern bereit ist.Wäre es nicht nahe<br />
liegend <strong>an</strong>zunehmen, dass der Embryo<br />
von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> beseelt ist, da er die Fähigkeit<br />
zu bewusster Schmerzempfindung<br />
hervorbringt Die von Neidert behauptete<br />
„Relev<strong>an</strong>z“ der Schmerzempfindlichkeit<br />
für die Frage der rechtlichen Schutzwürdigkeit<br />
entbehrt einer sachlichen Begründung.<br />
Eine solche wird auch nicht zu finden<br />
sein. Schließlich führt eine beeinträchtigte<br />
oder aufgehobene Schmerzempfindlichkeit<br />
bei geborenen Menschen auch<br />
nicht zu einer Minderung des Rechts auf<br />
Leben.<br />
Den „Durchbruch“ in der Entwicklung<br />
ungeborenen Lebens sieht Neidert<br />
erst mit der extrauterinen Lebensfähigkeit<br />
erreicht. Ihr spricht er „höchste<br />
Rechtserheblichkeit“ zu. Die Fähigkeit,<br />
außerhalb des Mutterleibes überleben zu<br />
können, ist aber ebenfalls ungeeignet, die<br />
Schutzwürdigkeit ungeborener Kinder zu<br />
beeinflussen. Je nach der individuellen<br />
Konstitution des ungeborenen Kindes<br />
k<strong>an</strong>n diese Überlebensfähigkeit schon<br />
nach dem fünften Schw<strong>an</strong>gerschaftsmonat<br />
gegeben sein. Der Zeitpunkt lässt sich<br />
aber nicht abstrakt für alle Fälle einheitlich<br />
bestimmen. Die extrauterine Lebensfähigkeit<br />
ist aber kein Wesensmerkmal<br />
des Embryos, sondern hängt von den medizinischen<br />
Kenntnissen des beh<strong>an</strong>delnden<br />
Arztes und der technischen Aus-<br />
55
D O K U M E N T A T I O N<br />
stattung der Klinik ab. Ein Kind, das auf<br />
der neonatologischen Abteilung eines<br />
deutschen Kr<strong>an</strong>kenhauses im sechsten<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsmonat „überlebensfähig“<br />
ist, wird im gleichen Entwicklungsstadium<br />
in einem L<strong>an</strong>d der „Dritten<br />
Welt“ nicht überleben, weil die notwendigen<br />
Geräte und Medikamente fehlen.<br />
Das Kind ist aber unabhängig vom Ort<br />
der Geburt dasselbe. Während noch vor<br />
dreißig bis vierzig Jahren viele Kinder<br />
im siebten Schw<strong>an</strong>gerschaftsmonat als<br />
Frühgeborene nicht überlebensfähig waren,<br />
wären sie es heute ohne weiteres. Das<br />
k<strong>an</strong>n aber nicht bedeuten, dass heute<br />
Kinder während der Entwicklung im<br />
Mutterleib „schneller“ zu schutzwürdigen<br />
Menschen werden als in den 60er-<br />
Jahren. Der Zeitpunkt der extrakorporalen<br />
Überlebensfähigkeit sagt etwas über<br />
das ärztliche Können und den St<strong>an</strong>d der<br />
medizinischen Technik, aber nichts über<br />
die „Menschqualität“ oder die rechtliche<br />
Schutzwürdigkeit eines Lebewesens aus.<br />
Das Kriterium der Lebensfähigkeit wäre<br />
im Übrigen ein Argument für den stärkeren<br />
strafrechtlichen Schutz künstlich erzeugter<br />
<strong>Embryonen</strong> durch das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz,<br />
den Neidert als problematisch<br />
<strong>an</strong>sieht. Im Rahmen der In-vitro-<br />
Fertilisation werden schließlich menschliche<br />
<strong>Embryonen</strong> einige Tage außerhalb<br />
des Mutterleibes am Leben erhalten. Sie<br />
müssten somit nach dem Kriterium der<br />
„extrauterinen Lebensfähigkeit“ in diesem<br />
frühen Entwicklungsstadium besonderen<br />
rechtlichen Schutz genießen. Nach<br />
dem Tr<strong>an</strong>sfer des Embryos in die Gebärmutter<br />
müsste der Schutzstatus wieder<br />
abnehmen, um gegen Ende der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
erneut <strong>an</strong>zusteigen – ein zwar<br />
tatsächlich aus Rechtsvorschriften ableitbares<br />
Auf und Ab des Lebensschutzes,<br />
das allerdings rationaler Logik entbehrt.<br />
Die Abhängigkeit von günstigen Umgebungsbedingungen<br />
für das Weiterleben<br />
ändert <strong>an</strong> der Qualität des Subjekts<br />
nichts und k<strong>an</strong>n daher auch kein Kriterium<br />
für den rechtlichen Schutz<strong>an</strong>spruch<br />
sein. Unterschiedliche Schutzbestimmungen<br />
sind daher – wenn überhaupt –<br />
nur mit <strong>an</strong>deren Argumenten zu begründen.<br />
Fragwürdig ist auch der „empirische Zug<strong>an</strong>g“<br />
Neiderts zu den Rechtsfragen. Die<br />
unterschiedlichen Rechtsfolgen in einzelnen<br />
gesetzlichen Regelungen müssen keineswegs<br />
Ausdruck eines unterschiedlichen<br />
Grundrechtsstatus hinsichtlich diverser<br />
vorgeburtlicher Entwicklungsstadien des<br />
56<br />
Menschen sein. Vor allem lässt sich aus widersprüchlichen<br />
Regelungen im einfachen<br />
Recht kein Schluss auf die grundrechtliche<br />
Schutzwürdigkeit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)<br />
ziehen.Neidert erkennt selbst <strong>an</strong>,dass dort,<br />
wo Widersprüche zu <strong>an</strong>deren Gesetzen<br />
oder zum Verfassungsrecht bestehen, „erforderlichenfalls<br />
durch Gesetzesänderung“<br />
Widerspruchsfreiheit herzustellen sei. In<br />
welche Richtung die Gesetzesänderungen<br />
gehen müssten, k<strong>an</strong>n sich nicht aus dem<br />
einfachen Recht, sondern nur aus einer<br />
Orientierung am Verfassungsrecht ergeben.<br />
Ein abgestuftes Lebensrecht lässt sich<br />
aus der Verfassung nicht begründen. Das<br />
Bundesverfassungsgericht hat vielmehr<br />
entschieden, dass „die von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> im<br />
menschlichen Sein <strong>an</strong>gelegten potenziellen<br />
Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde<br />
zu begründen“. „Liegt die Würde<br />
des Menschseins auch für das ungeborene<br />
Leben im Dasein um seiner selbst willen,<br />
verbieten sich jegliche Differenzierungen<br />
der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter<br />
und Entwicklungsst<strong>an</strong>d dieses Lebens.“<br />
Der menschliche Embryo hat daher auch<br />
im Frühstadium seiner Entwicklung vor der<br />
Nidation Anteil am Schutz der Menschenwürde<br />
und des Rechts auf Leben und darf<br />
im Rahmen der PGD nicht zur Disposition<br />
gestellt werden.<br />
Neidert gibt letztlich nur vor, eine<br />
„vermittelnde Lösung“ <strong>an</strong>zubieten. Der<br />
von ihm favorisierte gradualistische Ansatz<br />
endet schlicht in einer Befürwortung<br />
der PGD. Dies stellt keine „mittlere“ Position<br />
dar – auch nicht, wenn die PGD nur<br />
unter einschränkenden Bedingungen zugelassen<br />
werden soll. Zwischen Leben<br />
und Tod gibt es keine Mitte. Diejenigen<br />
<strong>Embryonen</strong>, die im Rahmen der PGD<br />
„aussortiert“ werden, bleiben nicht in einem<br />
Zwischenstadium hängen, sondern<br />
sterben ab. Das ist dem Verfahren imm<strong>an</strong>ent<br />
und wird von allen Beteiligten von<br />
vornherein einkalkuliert.<br />
Wenn – wie Neidert es vorschlägt –<br />
„Selbstver<strong>an</strong>twortung und -entscheidung<br />
der Frau“ umso mehr Berücksichtigung<br />
verdienen, „je früher der Embryo in seiner<br />
Entwicklung steht“, d<strong>an</strong>n sind nennenswerte<br />
Restriktionen im Umg<strong>an</strong>g mit<br />
<strong>Embryonen</strong> überhaupt nicht begründbar.<br />
D<strong>an</strong>n müssen sie nicht nur für das<br />
vermeintliche „Recht auf ein gesundes<br />
Kind“, sondern auch für <strong>an</strong>dere, sicherlich<br />
„hochwertige“ Interessen in <strong>Forschung</strong><br />
und Therapie geopfert werden.<br />
Die Entscheidung über die Zulassung der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik ist daher eine<br />
Grundsatzentscheidung mit kaum absehbaren<br />
Auswirkungen für den weiteren<br />
Umg<strong>an</strong>g mit dem menschlichen Leben.<br />
Literatur beim Verfasser<br />
Rainer Beckm<strong>an</strong>n<br />
Richter am Amtsgericht, Mitglied der<br />
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages<br />
„Recht und Ethik der modernen Medizin“<br />
Friedenstraße 3 a, 97318 Kitzingen<br />
Schlusswort<br />
Vier Leserzuschriften, eine eher pro, die<br />
<strong>an</strong>deren kontra; drei echte Leserbriefe,<br />
ein Gegen-Aufsatz von über fünf Spalten<br />
– was lässt sich darauf „kurz“ <strong>an</strong>tworten<br />
Nun denn: Ich gäbe eine vermittelnde Lösung<br />
nur vor (Mikolajczyk, Beckm<strong>an</strong>n).<br />
Gewiss vermittle ich nicht zwischen Ja<br />
und Nein zur <strong>PID</strong>,wohl aber zwischen den<br />
Extremen „volles Lebensrecht ab Zeugung“<br />
und „erst ab Geburt“. – Dass Haasis<br />
nicht einmal Potenzialität gelten lassen<br />
will, entzieht seiner eigenen Position<br />
„Leben von Anbeginn“ den Boden;<br />
<strong>PID</strong>-Gegner stützen sich sonst gerade<br />
darauf. – Die „Logik des Wachsens“<br />
überschreite die Grenze der Geburt<br />
(Beckm<strong>an</strong>n). Ich begründe das gewachsene<br />
Schutzbedürfnis des Fetus mit<br />
Schmerzempfindung und Lebensfähigkeit<br />
(etwa 20 Wochen vor der Geburt!)<br />
und fordere ein strengeres Abtreibungsrecht<br />
zugunsten reifer Feten. – „Unbewusste<br />
Schmerzempfindung“ (dies zu<br />
Scholtz) ist ein sinnvoller Begriff, den der<br />
in Fußnote 14 zitierte Wissenschaftliche<br />
Beirat der BÄK verwendet.<br />
Letztlich geht es mir um Konsequenz<br />
und Ehrlichkeit <strong>an</strong>gesichts unseres (auch<br />
vom BVerfG gebilligten) Abtreibungsrechts.<br />
„Menschenwürde“ wird zur Phrase,<br />
wenn m<strong>an</strong> sie für <strong>Embryonen</strong> in vitro<br />
fordert, aber in vivo über 130 000 Abbrüche<br />
im Jahr zulässt. Da wünschte ich<br />
mir mehr Einsatz für Leben und Würde<br />
lebensfähiger Feten und gegen die Barbarei<br />
der Spätabtreibungen – auch dies ist<br />
meine Konsequenz zunehmenden Lebensrechts!<br />
Dr. jur. Rudolf Neidert<br />
Herrengarten 15<br />
53343 Wachtberg
D O K U M E N T A T I O N<br />
Mirjam Zimmerm<strong>an</strong>n<br />
Ruben Zimmerm<strong>an</strong>n<br />
Heft 51–52, 25. Dezember 2000<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Gibt es das Recht auf<br />
ein gesundes Kind<br />
Eine ethische Anfrage zum „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer<br />
Die Bundesärztekammer (BÄK)<br />
hat in ihrem „Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
(Deutsches Ärzteblatt<br />
9/2000) die fächerübergreifende<br />
Tragweite der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(preimpl<strong>an</strong>tation genetic diagnosis<br />
= PGD) ben<strong>an</strong>nt und zu einer gesamtgesellschaftlichen<br />
Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
mit dem Thema aufgerufen. Zentral ist<br />
dabei folgende Frage: Welche ethische<br />
Bedeutung hat der Wunsch der betroffenen<br />
Eltern nach einem (gesunden)<br />
Kind<br />
Die prinzipielle Schutzbedürftigkeit<br />
des ungeborenen Lebens wird im Vorwort<br />
zum Diskussionsentwurf hervorgehoben.<br />
Wenn aus diesem Grundsatz<br />
zugleich die zerstörende „Untersuchung<br />
von <strong>Embryonen</strong> im Stadium zellulärer<br />
Totipotenz“ und „fremdnützige<br />
Verwendung von <strong>Embryonen</strong>“ verworfen<br />
werden, k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> folgern, dass die<br />
Verfasser auf die Nennung eines zeitlichen<br />
Beginns dieser Schutzbedürftigkeit<br />
des ungeborenen Lebens verzichten.<br />
Keine subjektive Notlage<br />
Der Embryo ist von Beginn, das heißt<br />
ab dem Zeitpunkt der Fertilisation,<br />
schutzbedürftig im Sinne von Grundgesetz<br />
Art. 2 Abs. 2: „Jeder hat das Recht<br />
auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“<br />
Hier folgt der Wissenschaftliche<br />
Beirat der BÄK der geltenden Gesetzeslage,<br />
wie sie etwa im <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
(EschG) § 8 Abs. 1 oder im<br />
Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
vom 28. Mai 1993 zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
festgeschrieben wurde.<br />
Die Verwerfung eines Embryos in vitro,<br />
<strong>an</strong> dem ein genetischer Defekt diagnostiziert<br />
wurde, muss demnach als<br />
rechtswidrige Tötung eines menschlichen<br />
Lebens betrachtet werden.<br />
Allerdings besteht zum Beispiel<br />
nach Meinung der juristischen Vertreter<br />
der Bioethik-Kommission Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz<br />
in ihrem Bericht zur PGD<br />
„das Recht auf Leben nach Artikel 2<br />
Abs. 2 GG nicht uneingeschränkt, sondern<br />
unterliegt gesetzlichen Schr<strong>an</strong>ken.<br />
Es muss gegen <strong>an</strong>dere, verfassungsrechtlich<br />
gar<strong>an</strong>tierte Rechte, wie<br />
das Persönlichkeitsrecht, die Gesundheit<br />
der Mutter und das Elternrecht abgewogen<br />
werden“ (Bericht 1999, These<br />
II 4).<br />
Die entscheidende Frage in der Einschätzung<br />
der PGD lautet deshalb:<br />
K<strong>an</strong>n es Gründe geben,die das prinzipielle<br />
Lebensrecht des Embryos so relativieren,<br />
dass im Falle eines Nicht-<br />
Tr<strong>an</strong>sfers – das entspräche dem Sterbenlassen<br />
des Embryos im Sinne einer<br />
passiven Tötung – von der Strafverfolgung<br />
abgesehen werden k<strong>an</strong>n K<strong>an</strong>n also<br />
<strong>an</strong>alog zur gängigen Rechtspraxis<br />
beim Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch nach<br />
Pränataldiagnostik die Verwerfung eines<br />
erkr<strong>an</strong>kten Embryos in vitro nach<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik als „rechtswidrig,<br />
aber straffrei“ eingestuft werden<br />
Bei der Tötung ungeborenen<br />
menschlichen Lebens in vivo – das<br />
heißt der Abtreibung – sieht der Gesetzgeber<br />
lediglich wegen einer subjektiven<br />
Notlage der Mutter nach<br />
Pflichtberatung von einer Strafe ab.<br />
Im Blick auf den Embryo in vitro besteht<br />
diese subjektive Notlage zunächst<br />
nicht, weil er sich in der H<strong>an</strong>d Dritter<br />
(Biologe/Arzt) befindet. Es wäre also<br />
zu fragen, ob bei schwerer genetischer<br />
Belastung der Eltern der bei einer<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft die Straffreiheit begründende<br />
Konflikt als Rechtfertigung<br />
für eine PGD <strong>an</strong>tizipierbar ist. Die<br />
BÄK bejaht dies, wenn es in der Richtlinie<br />
heißt: „Ausschlaggebend ist, dass<br />
diese Erkr<strong>an</strong>kung zu einer schwerwiegenden<br />
gesundheitlichen Beeinträchtigung<br />
der künftigen Schw<strong>an</strong>geren<br />
beziehungsweise der Mutter führen<br />
könnte.“ (Abs. 2: Indikationsgrundlage)<br />
Dabei wird allerdings außer Acht gelassen,<br />
dass im Fall des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
nach Pränataldiagnostik<br />
eine Schw<strong>an</strong>gerschaft bereits besteht<br />
und ein schon existierendes erkr<strong>an</strong>ktes<br />
Kind den gen<strong>an</strong>nten Konflikt<br />
für die Mutter auslöst. Ärztlicher Rat<br />
und ärztliches H<strong>an</strong>deln reagieren hierbei<br />
auf eine schon bestehende Kr<strong>an</strong>kheitssituation.<br />
Anders im Fall der PGD: Hier wird<br />
der mögliche schwere Konflikt erst<br />
durch ärztliches Tun herbeigeführt,<br />
denn durch die assistierte Reproduktion<br />
entsteht mit „hohem Risiko“, wie<br />
der Richtlinienentwurf vorschreibt, ein<br />
Kind, durch dessen Schädigung eine<br />
schwerwiegende Beeinträchtigung der<br />
Mutter zu befürchten ist. Ist es mit dem<br />
Ethos ärztlichen H<strong>an</strong>delns vereinbar,<br />
eine solche Konfliktsituation absichtlich<br />
herbeizuführen Rechtfertigt es die<br />
Notlage der zukünftigen Mutter, eine<br />
Situation künstlich herbeizuführen, die<br />
mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung<br />
eines menschlichen Embryos zur<br />
Folge hat<br />
„Lebensinteressen“<br />
In der ethisch-rechtlichen Bewertung<br />
ist jedoch nicht die Gesundheit der<br />
Mutter <strong>an</strong>gesichts eines erkr<strong>an</strong>kten<br />
Kindes mit dem Lebensrecht des Em-<br />
57
D O K U M E N T A T I O N<br />
bryos aufzurechnen (wie beim Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch),<br />
sondern die Frage<br />
heißt, wie Prof. Dr. med. Herm<strong>an</strong>n<br />
Hepp als Vorsitzender des BÄK-<br />
Arbeitskreises erläutert, „ob mit Rücksicht<br />
auf die gesundheitlichen und/<br />
oder sozialen Lebensinteressen der<br />
Mutter die Schutzbedürftigkeit (des<br />
kr<strong>an</strong>ken Embryos in vitro) einer positiven<br />
Güterabwägung unterworfen<br />
werden darf und daraus ein abgestufter<br />
Rechtsschutz resultiert.“ (Hepp<br />
2000, 218).<br />
Wenn m<strong>an</strong> also die Rechte der Mutter<br />
geltend machen will, d<strong>an</strong>n geht es<br />
um „Lebensinteressen“, sei es die<br />
Angst, „<strong>an</strong> der Furcht vor einem genetisch<br />
bedingt schwerstkr<strong>an</strong>ken Kind<br />
gesundheitlich zu zerbrechen“ (Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie,<br />
Vorwort), sei es um die Hoffnung auf<br />
ein gesundes Kind. In jedem Fall wird<br />
die schwere Konfliktsituation gegenwärtig<br />
nur <strong>an</strong>tizipiert. Die entscheidende<br />
Frage lautet also, ob und in welchem<br />
Maß die Wünsche und Interessen der<br />
Mutter, die sich auf einen zukünftigen<br />
Sachverhalt beziehen, ethische Bedeutung<br />
erl<strong>an</strong>gen können. Die Ethik-Kommission<br />
des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz<br />
versichert, dass der Wunsch eines Paares<br />
mit hohen genetischen Risikofaktoren<br />
„ein eigenes gesundes Kind zu erhalten,<br />
(. . .) sittliche Qualität“ hat<br />
(These III 2 a).<br />
Doch wie hoch ist diese „sittliche<br />
Qualität“ Darf sich der „Kinderwunsch“<br />
ausdrücklich auf „Wunschkinder“,<br />
nämlich gesunde eigene Kinder<br />
beschränken Wenn sich der Wunsch<br />
allgemein auf Kinder beziehen würde,<br />
wäre entweder durch Verzicht auf biologische<br />
Elternschaft (Adoption, Besamung)<br />
oder durch Inkaufnahme eines<br />
behinderten Kindes die PGD überflüssig.<br />
Der Wunsch der Eltern bezieht sich<br />
folglich auf eigene gesunde Kinder, sofern<br />
m<strong>an</strong> „gesund“ im Sinne der Abwesenheit<br />
der zu befürchtenden genetischen<br />
Schädigung definiert.<br />
Hedonismus-Prinzip<br />
58<br />
In rechtlicher Hinsicht etwa nach Art. 6<br />
Abs. 2 GG sind zwar „Pflege und Erziehung<br />
der Kinder (. . .) das natürliche<br />
Recht der Eltern“, allerdings wird dabei<br />
die Existenz der Kinder selbstverständlich<br />
vorausgesetzt. Können Eltern<br />
hingegen auch Rechte auf die Existenz<br />
gesunder Kinder geltend machen,<br />
oder k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> diesem Wunsch zumindest<br />
hohe sittliche Qualität bescheinigen<br />
Wer dazu beiträgt, das Leid einer betroffenen<br />
Familie (durch Vermeidung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe oder<br />
durch Nicht-Tr<strong>an</strong>sfer eines kr<strong>an</strong>ken<br />
Kindes) zu verringern beziehungsweise<br />
das Glück der Eltern durch ein gesundes<br />
Kind zu vermehren, ist dem so gen<strong>an</strong>nten<br />
Hedonismus-Prinzip verpflichtet:<br />
Nach dieser Maxime ist es ethisch<br />
geboten, Leid zu verringern und Glück<br />
zu vergrößern. „Der klassische Utilitarist<br />
betrachtet eine H<strong>an</strong>dlung als richtig,<br />
wenn sie ebenso viel oder mehr Zuwachs<br />
<strong>an</strong> Glück für alle Betroffenen<br />
produziert als jede <strong>an</strong>dere H<strong>an</strong>dlung,<br />
und als falsch, wenn sie das nicht tut“<br />
(Singer 1994, 17).<br />
Präferenz-Utilitarismus<br />
Da sich die ethische Bewertung allerdings<br />
zunächst nicht auf eine schon existierende<br />
H<strong>an</strong>dlung bezieht, sondern<br />
auf einen Wunsch beziehungsweise ein<br />
bestimmtes Interesse der Eltern, h<strong>an</strong>delt<br />
es sich bei dieser Argumentation<br />
um eine Spielart des klassischen Utilitarismus,<br />
dem „Präferenz-Utilitarismus“,<br />
wie er beispielsweise von Richard<br />
Marvin Hare (Oxford) vertreten<br />
wurde. Nach dieser Vari<strong>an</strong>te werden<br />
nicht die H<strong>an</strong>dlungen, sondern die<br />
Präferenzen, das heißt die Interessen<br />
und Wünsche, der betroffenen Personen<br />
gegenein<strong>an</strong>der abgewogen. Eine<br />
H<strong>an</strong>dlung wird nach dem Grad der<br />
Übereinstimmung ihrer zu erwartenden<br />
Folgen mit den Wünschen der betroffenen<br />
Personen bewertet. In dieser<br />
Weise k<strong>an</strong>n dem „Interesse (der Mutter),<br />
kein missgebildetes Kind zu haben,<br />
das die normale Entwicklung der<br />
übrigen Familie verhindern oder stark<br />
beeinträchtigen k<strong>an</strong>n“ (Hare 1992,<br />
376), hohe sittliche Qualität zugesprochen<br />
werden.<br />
Das Hedonismus-Prinzip wird gerade<br />
von Vertretern des Präferenz-Utilitarismus<br />
mit der Perspektive der „Total<strong>an</strong>sicht“<br />
(total view) verknüpft: Den<br />
moralischen Wert einer H<strong>an</strong>dlung k<strong>an</strong>n<br />
<strong>an</strong> nur aus der Gesamtsumme des<br />
Glücks aller Betroffenen eruieren.<br />
Nach Hare und Singer spielt es keine<br />
Rolle, ob die Gesamtsumme des Glücks<br />
durch die Lustvermehrung existierender<br />
Wesen oder durch die Vermehrung<br />
lustfähiger Wesen <strong>an</strong>gestrebt wird (Singer<br />
1994, 139).<br />
Wenn es ethisch gerechtfertigt<br />
scheint, mit dem Ziel der Leidverringerung<br />
gesunde <strong>Embryonen</strong> zu produzieren,<br />
kr<strong>an</strong>ke aber zu verwerfen, d<strong>an</strong>n<br />
findet exakt die Argumentation des<br />
Präferenz-Utilitarismus mit Hedonismus-Prinzip<br />
und Total<strong>an</strong>sicht Anwendung.<br />
Denn, so Singer, „für den Präferenz-Utilitarismus<br />
ist das dem getöteten<br />
Wesen zugefügte Unrecht nur ein<br />
zu beachtender Faktor, und die Präferenz<br />
des Opfers könnte m<strong>an</strong>chmal<br />
durch die Präferenzen von <strong>an</strong>deren<br />
aufgewogen werden“ (Singer 1994,<br />
130). Wenn m<strong>an</strong> die bei Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
gestellte Problematik als<br />
„Interessenkonflikt“ definiert, bei dem<br />
„Lebensinteressen“ der Mutter und<br />
Lebensinteresse des Embryos abgewogen<br />
werden müssen, d<strong>an</strong>n unterstreicht<br />
das die Beobachtung, dass die Argumentation<br />
des Präferenz-Utilitarismus<br />
bemüht wird.<br />
Peter Singer und Richard Marvin<br />
Hare befürworten aber nicht nur die selektive<br />
Ch<strong>an</strong>ce des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs,<br />
sie sind auch der Auffassung,<br />
dass die Eliminierung von leidenden<br />
Menschen auch nach der Geburt, zum<br />
Beispiel bei behinderten Säuglingen,<br />
möglich sein sollte. „Säuglinge zu töten<br />
k<strong>an</strong>n nicht gleichgesetzt werden mit<br />
dem Töten normaler menschlicher<br />
Wesen oder <strong>an</strong>derer selbstbewusster<br />
Wesen. (. . .) Das Leben eines Neugeborenen<br />
hat für dieses weniger Wert<br />
als das Leben eines Schweins, eines<br />
Hundes oder eines Schimp<strong>an</strong>sen für das<br />
nichtmenschliche Tier“ (Singer 1994,<br />
233.219).<br />
Ethische Dammbrüche<br />
Die Ethik Singers beruht auf Voraussetzungen<br />
(wie Speziezismuskritik, reduktionistisches<br />
Menschenbild, vgl. dazu<br />
Zimmerm<strong>an</strong>n 1996 und 1997), die von<br />
den Verfassern des Diskussionsent-
D O K U M E N T A T I O N<br />
wurfs nicht geteilt werden. Dennoch<br />
sollte es zu denken geben, dass sich<br />
die durch die Argumentation begründete<br />
abgestufte Schutzwürdigkeit des Embryos<br />
in vitro problemlos auf <strong>an</strong>dere<br />
Bereiche menschlichen Lebens übertragen<br />
lässt. In dem Maß, wie m<strong>an</strong> dem<br />
Hedonismus-Prinzip Raum gewährt,<br />
wird m<strong>an</strong> sich bei konsistenter Argumentation<br />
kaum gegen ethische<br />
Dammbrüche in <strong>an</strong>deren Bereichen<br />
wehren können.<br />
Die Argumentation in der medizinischen<br />
Praxis läuft auf einer <strong>an</strong>deren<br />
Ebene: Die Verfechter der PGD wollen<br />
mit hohem Ethos Menschen helfen, und<br />
zwar Menschen, die „<strong>an</strong> der Furcht vor<br />
einem genetisch bedingt schwerstkr<strong>an</strong>ken<br />
Kind gesundheitlich zu zerbrechen<br />
drohen“ (Bundesärztekammer,<br />
Vorwort zum Richtlinienentwurf).<br />
Wenn die Hilfe für die betroffenen<br />
Menschen jedoch darin besteht, ihnen<br />
zu einem „gesunden“ eigenen Kind zu<br />
verhelfen, dient die Erzeugung (und<br />
Verwerfung) der <strong>Embryonen</strong> letztlich<br />
fremden Zwecken.<br />
Imm<strong>an</strong>uel K<strong>an</strong>t wollte dieser Verzweckung<br />
des menschlichen Lebens einen<br />
Riegel vorschieben. Eine Formulierung<br />
seines so gen<strong>an</strong>nten kategorischen<br />
Imperativs in der „Grundlegung<br />
der Metaphysik der Sitten“ lautet:<br />
„H<strong>an</strong>dle so, dass du die Menschheit in<br />
deiner Person als in der Person eines jeden<br />
<strong>an</strong>deren, jederzeit zugleich als<br />
Zweck, und niemals bloß als Mittel gebrauchst“<br />
(K<strong>an</strong>t 1991, 79). Der Mensch,<br />
und das gilt auch für das Kind und den<br />
Embryo in jedem Entwicklungsstadium,<br />
„existiert als Zweck <strong>an</strong> sich selbst“.<br />
Ein Embryo k<strong>an</strong>n deshalb nicht zum<br />
Heft 8, 23. Februar 2001<br />
Medizinische Ethik<br />
Zu dem Beitrag „Gibt es das Recht auf ein gesundes<br />
Kind“ von Dr. theol. Mirjam Zimmerm<strong>an</strong>n<br />
und Dr. theol. Ruben Zimmerm<strong>an</strong>n in Heft<br />
51–52/2000:<br />
Nichts für Nichtmediziner!<br />
Mittel der Furchtbekämpfung seiner<br />
Eltern <strong>an</strong>gesichts ihres Wunsches auf<br />
ein gesundes eigenes Kind eingesetzt<br />
werden.<br />
„Praktische Ethik“<br />
Fazit: Weder die klinische Notwendigkeit<br />
noch der Hinweis auf die Praxis in<br />
Nachbarländern können als ethisches<br />
Argument hinreichen (Hepp 2000,<br />
1221). Ebenso wenig k<strong>an</strong>n der Wunsch<br />
der Eltern nach einem gesunden Kind<br />
eine ethische Validität be<strong>an</strong>spruchen,<br />
die das Lebensrecht <strong>an</strong>deren menschlichen<br />
Lebens außer Kraft setzen könnte.<br />
Wenn m<strong>an</strong> <strong>an</strong>erkennt, dass die<br />
Schutzwürdigkeit des menschlichen<br />
Embryos vom Zeitpunkt der Fertilisation<br />
<strong>an</strong> besteht, d<strong>an</strong>n könnte das<br />
Lebensrecht des Embryos nur d<strong>an</strong>n<br />
einer positiven Güterabwägung mit<br />
den Interessen der Mutter unterworfen<br />
werden, wenn der spätere, die<br />
Straffreiheit bei Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
begründende Konflikt im Analogieschluss<br />
bereits bei der PGD <strong>an</strong>tizipiert<br />
wird. Eine ethische Argumentation,<br />
die dies bejaht, stützt sich<br />
auf utilitaristische Maximen wie Interessenabwägung,<br />
Hedonismus-Prinzip<br />
und Total<strong>an</strong>sicht unter Einbeziehung<br />
noch nicht existierender Wesen. Wem<br />
diese „praktische Ethik“ <strong>an</strong>gemessen<br />
erscheint, der findet darin einen moralischen<br />
Rückhalt zur Begründung der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik. Wer jedoch<br />
gegenüber dieser Moralphilosophie<br />
mit ihren bek<strong>an</strong>nten Konsequenzen<br />
(vgl. Peter Singers Euth<strong>an</strong>asie-Thesen)<br />
skeptisch bleibt, sollte die<br />
Bei diesem Thema ist eine sachliche<br />
Diskussion geboten. Leider vermitteln<br />
die Autoren dieses Artikels durch ihre<br />
Ausdrucksweise, dass es ihnen weniger<br />
auf eine solide Bewertung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(PGD) – eventuell<br />
unter Einbeziehung der Erfahrungen<br />
<strong>an</strong>derer Länder – als auf eine polemische<br />
Debatte <strong>an</strong>kommt. Bereits die<br />
Überschrift „Recht auf das gesunde<br />
Kind“ ist einer ernsthaften Debatte in<br />
einer medizinischen Zeitschrift un<strong>an</strong>gemessen.Auch<br />
die Autoren wissen<br />
natürlich, dass es bei der PGD nicht um<br />
„Gesundheit“ des Kindes schlechthin<br />
geht, sondern nur um die Vermeidung<br />
von bestimmten Kr<strong>an</strong>kheiten, die wir<br />
heute erkennen können (deren Liste<br />
ethische Argumentation in der Begründung<br />
der PGD noch einmal überdenken.<br />
Literatur<br />
1. Hare RM: Das missgebildete Kind. Moralische Dilemmata<br />
für Ärzte und Eltern. In: Leist A (Hg.): Um Leben<br />
und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher<br />
Befruchtung, Euth<strong>an</strong>asie und Selbstmord,<br />
Fr<strong>an</strong>kfurt a. M.: Suhrkamp, 3. Aufl. 1992; 374–383<br />
(zuerst: The Abnormal Child: Moral Dilemmas of Doctors<br />
<strong>an</strong>d Parents, <strong>Dokumentation</strong> in Medical Ethics 3,<br />
1974).<br />
2. Hepp H: Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der<br />
Bundesärztekammer: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik –<br />
medizinische, ethische und rechtliche Aspekte, Dt<br />
Ärztebl 2000; 97: A-1213–1221 [Heft 18].<br />
3. Höffe O: Einführung in die utilitaristische Ethik, Tübingen,<br />
²1992.<br />
4. K<strong>an</strong>t I: Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785),<br />
Stuttgart, 1991.<br />
5. Ministerium der Justiz Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz (Hg.): Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Thesen zu den medizinischen,<br />
rechtlichen und ethischen Problemstellungen.<br />
Bericht der Bioethik-Kommission des L<strong>an</strong>des Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz<br />
vom 20. Juni 1999, Alzey, 1999.<br />
6. Singer P: Praktische Ethik. Neuausgabe, Stuttgart:<br />
Reclam, 1994 (orig. Cambridge 1993).<br />
7. Zimmerm<strong>an</strong>n M, Zimmerm<strong>an</strong>n R: Präferenz-Utilitarismus.<br />
Zur Neuausgabe der „Praktischen Ethik“ von Peter<br />
Singer, Zeitschrift für Ev<strong>an</strong>gelische Ethik 40 (1996),<br />
295–307.<br />
8. Zimmerm<strong>an</strong>n M: Geburtshilfe als Sterbehilfe Zur<br />
Beh<strong>an</strong>dlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten<br />
Neugeborenen und Frühgeborenen, Fr<strong>an</strong>kfurt a. M.<br />
u. a., 1997.<br />
9. Zimmerm<strong>an</strong>n M, Zimmerm<strong>an</strong>n R: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
Ch<strong>an</strong>ce oder Irrweg, Zeitschrift für Ev<strong>an</strong>gelische<br />
Ethik 45 (2001), 47–57.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dt Ärztebl 2000; 97: A 3487–3489 [Heft 51–52]<br />
Anschrift der Verfasser:<br />
Dr. theol. Mirjam Zimmerm<strong>an</strong>n<br />
Dr. theol. Ruben Zimmerm<strong>an</strong>n<br />
Nadlerstraße 17<br />
69226 Nußloch<br />
E-Mail: ir8@ix.urz.uni-heidelberg.de<br />
mit der Zeit sicherlich zunehmend länger<br />
werden wird).Auch geht es nicht<br />
um „kr<strong>an</strong>ke“ <strong>Embryonen</strong>, sondern um<br />
solche mit früh erkennbaren genetischen<br />
Schäden. Polemisch ist auch die<br />
Behauptung, mit der Erlaubnis der<br />
PGD würde einer weitergehenden Eugenik<br />
Tür und Tor geöffnet. Jede medizinisch-technische<br />
Entwicklung hat ihre<br />
Missbrauchsmöglichkeiten. Gab es<br />
nicht auch ernsthafte Menschen, die vor<br />
den Gefahren der Narkose gewarnt haben<br />
✁<br />
59
D O K U M E N T A T I O N<br />
Die Ansicht, die PGD missachte ethische<br />
Normen unserer Gesellschaft,<br />
missachtet gröblich die Einzelschicksale<br />
betroffener Eltern und Kinder.Wer<br />
k<strong>an</strong>n sich das Recht nehmen, sich über<br />
die Sorgen der Betroffenen hinwegzusetzen.<br />
Ich denke, dass in unserer Gesellschaft<br />
das Wohl des Einzelnen das<br />
höchste Gut ist. Oder wollen wir tatsächlich<br />
wieder eine Unterordnung des<br />
Individualwohls unter den gesellschaftlichen<br />
Nutzen Das hat, gleich unter<br />
welchem Vorzeichen, das freiheitliche<br />
Denken noch nie gefördert.<br />
Beispielhaft zeigt dieser Artikel das Dilemma<br />
der Ethik der Naturwissenschaften<br />
auf: sie k<strong>an</strong>n nicht selbst Neues erschaffen,<br />
sondern k<strong>an</strong>n nur wissenschaftliche<br />
Ergebnisse <strong>an</strong>derer Wissenschaften<br />
bewerten. Die Basis der Bewertung bleibt<br />
oft unklar, so auch in diesem Artikel.Wie<br />
ein Journalist sucht der Ethiker Beispiele<br />
aus der Literatur, die seinen St<strong>an</strong>dpunkt<br />
untermauern, ohne ein Für und Wider<br />
umfassend zu berücksichtigen. Dazu<br />
gehören auch abschreckende Beispiele<br />
von Autoren, die über das jeweilige Ziel<br />
hinaus gedacht haben, wie der in diesem<br />
Artikel zitierte Autor Singer.<br />
Ich plädiere dafür, Fragen der medizinischen<br />
Ethik nicht in die Hände von<br />
Nichtmedizinern zu legen. Diejenigen,<br />
die eine Entwicklung vor<strong>an</strong>treiben, sind<br />
ver<strong>an</strong>twortlich für deren Richtung,<br />
denn nur sie kennen die Möglichkeiten,<br />
die in dieser Entwicklung stecken. Diese<br />
Wissenschaftler müssen sich über die<br />
ethischen Auswirkungen ihrer Technik<br />
Ged<strong>an</strong>ken machen. Die Delegation <strong>an</strong><br />
Ethiker gleich welcher Herkunft, die<br />
sich mühsam mit der Anwendung solcher<br />
Techniken vertraut machen müssen,<br />
bedeutet fast immer einen Schritt<br />
zurück. Es bedeutet auch, wichtige<br />
Aspekte der Wissenschaft aus der H<strong>an</strong>d<br />
zu geben.<br />
Prof. Dr. med. W. Krause, Klinik für Andrologie und<br />
Venerologie, Universitäts-Hautklinik,<br />
Deutschhausstraße 9, 35037 Marburg<br />
Menschenwürde<br />
nicht t<strong>an</strong>giert<br />
Ich empfehle den Autoren, die Frage<br />
einmal umgestellt zu diskutieren: Gibt<br />
es das Recht des Kindes auf Gesundheit<br />
Ich denke, die Theologen werden<br />
mit ihrem insinuiertem „Hedonismus-<br />
Prinzip“ Schwierigkeiten bekommen. In<br />
der Tat: Die Deutschen holen in der<br />
Gen-Technik auf. Das ist erfreulich und<br />
auch notwendig, denn Engländer und<br />
Fr<strong>an</strong>zosen sind schon weiter.Wir haben<br />
die reelle Ch<strong>an</strong>ce, die Vererbung<br />
furchtbarer Kr<strong>an</strong>kheiten und Missbildungen<br />
zu vermeiden.Wenn das gelänge,<br />
welch ein Segen und welch ein Triumph<br />
für die biomedizinische <strong>Forschung</strong>!<br />
Die Einsprüche und Bedenken der Moralisten<br />
aller Konfessionen können den<br />
wissenschaftlichen Fortschritt allenfalls<br />
verzögern, aber ihn nicht aufhalten. Der<br />
ethische Diskurs ist ein Faktum, er mag<br />
die <strong>Forschung</strong> begleiten, aber er soll sie<br />
nicht behindern. Die Menschenwürde,<br />
von der stets die Rede ist, wird durch die<br />
Impl<strong>an</strong>tationstechnik nicht t<strong>an</strong>giert,<br />
wenngleich die Wertvorstellungen von<br />
L<strong>an</strong>d zu L<strong>an</strong>d, von Kontinent zu Kontinent<br />
unterschiedlich bleiben werden.<br />
Der Gesetzgeber ist nun aufgefordert,<br />
eindeutige und verbindliche Regeln zu<br />
treffen. Im Gesetz soll sich die vertretbare<br />
(nicht die wahre oder falsche)<br />
Bioethik wiederfinden. Schiller im Wallenstein:<br />
„Das g<strong>an</strong>z Gemeine ist’s, das<br />
ewig Gestrige, was immer war und immer<br />
wiederkehrt, und morgen gilt, weil’s<br />
heute hat gegolten ...“<br />
Dr. Alfons Werner Reuke, Sommerhalde 42, 71672<br />
Marbach am Neckar<br />
Eugenische Selektion<br />
Als Eltern von drei Kindern, darunter<br />
eines mit Down-Syndrom, sehen wir<br />
mit zunehmender Sorge die Entwicklung<br />
auf dem Gebiet der Pränataldiagnostik.<br />
Unter der Ehrfurcht gebietenden<br />
Maske der „Medizinischen Indikation“<br />
kommt die altbek<strong>an</strong>nte Fratze der<br />
eugenischen Selektion zum Vorschein.<br />
Es ist erschreckend, wie gelassen und<br />
routiniert Spätabtreibungen von Feten<br />
mit Trisomie 21 abgewickelt und inzwischen<br />
kaum noch hinterfragt werden.<br />
Leider ist es so, dass Frauen oftmals zu<br />
einer Amniozentese gedrängt werden<br />
(mit allen fatalen Konsequenzen),<br />
Frauen, die einem solchen Eingriff <strong>an</strong>f<strong>an</strong>gs<br />
vielleicht unentschlossen oder gar<br />
ablehnend gegenüberst<strong>an</strong>den („Ich<br />
empfehle Ihnen eine Fruchtwasseruntersuchung.“).<br />
Es wird der Anschein erweckt,<br />
die Amniozentese sei Best<strong>an</strong>dteil<br />
einer modernen Schw<strong>an</strong>gerschaftsvorsorge<br />
(für Frauen ab 35). Etwas<br />
mehr Sorgsamkeit seitens der „beratenden“<br />
Ärzte wäre hier <strong>an</strong>gebracht. Diese<br />
sind m<strong>an</strong>gels eigener Anschauung und<br />
Reflexion vielfach nicht in der Lage, die<br />
liebenswerte Individualität eines Kindes<br />
mit Down-Syndrom zu würdigen.<br />
Die Entscheidung zur Spätabtreibung<br />
demonstriert scheinbar Selbstbestimmung,<br />
verheißt Befreiung und Ungebundenheit,<br />
entlässt die Betroffenen<br />
aber häufig in schwere Krisen, die, auch<br />
wenn m<strong>an</strong> sie aus eigener Kraft überwunden,<br />
pharmakologisch gemeistert<br />
oder psychotherapeutisch ausbeh<strong>an</strong>delt<br />
glaubt, doch Narben im Gemüt hinterlassen.<br />
Unser Erleben in der Familie<br />
und die Erfahrung vieler Eltern zeigen<br />
g<strong>an</strong>z klar, dass es durchaus Sinn macht<br />
und tiefe Freude bereitet, teilnehmend<br />
die Entwicklung eines Down-Kindes zu<br />
begleiten, unterstützt durch vielfältige<br />
und hervorragende Fördermöglichkeiten.<br />
Das Down-Syndrom lässt sich eben<br />
nicht auf die Auflistung typischer Stigmata<br />
reduzieren ...Kein unbedeutender<br />
Lichtblick in einer Welt, die in vielen<br />
Bereichen als kalt, abweisend und<br />
hart empfunden wird. Es mag schon<br />
sein, dass ein Mensch mit Down-Syndrom<br />
außerst<strong>an</strong>de ist, die Anforderungen<br />
unserer Leistungsgesellschaft zu erfüllen.<br />
K<strong>an</strong>n dies aber seine vorgeburtliche<br />
Tötung in irgendeiner Weise<br />
rechtfertigen<br />
Dres. med. Isabel und Christoph Starz, Valentin-<br />
Becker-Straße 2, 97769 Bad Brückenau<br />
60
3., erweiterte Auflage<br />
der <strong>Dokumentation</strong><br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong><br />
Aufsätze<br />
Berichte<br />
Diskussionsbeiträge<br />
Kommentare<br />
im Deutschen Ärzteblatt<br />
Beiträge aus 2001<br />
www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung
V O R W O R T<br />
Dossier zur <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
<strong>Embryonen</strong><br />
Das Deutsche Ärzteblatt gibt eine erweiterte <strong>Dokumentation</strong><br />
heraus, die im Internet abgerufen werden k<strong>an</strong>n.<br />
Ein Ende der Diskussion<br />
über Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
ist nicht in Sicht.<br />
Als das Deutsche Ärzteblatt im Jahr 2002 seine<br />
erweiterte <strong>Dokumentation</strong> zu embryonaler<br />
Stammzellforschung, pränataler Diagnostik<br />
(<strong>PND</strong>) und Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) vorlegte, war die Diskussion über diese<br />
Themen in vollem G<strong>an</strong>ge. Ein Ende ist nach wie<br />
vor nicht in Sicht. Ausgelöst wurde der öffentliche<br />
Diskurs durch den vom Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
vorgelegten „Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
im März 2000.<br />
Von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> hat sich das Deutsche Ärzteblatt<br />
<strong>an</strong> der Debatte beteiligt und die unterschiedlichsten<br />
Stimmen zu Wort kommen lassen. In einem<br />
Sonderdruck aus dem Jahr 2001 wurden diese<br />
Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Unmerklich verlagerte<br />
sich der Schwerpunkt d<strong>an</strong>n von der Diskussion<br />
über die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zur <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> und mit <strong>Embryonen</strong> und zur Gewinnung<br />
von Stammzellen. Die<br />
Meinungsbildung in der Ärzteschaft<br />
spiegelt sich in der<br />
Berichterstattung und Kommentierung<br />
des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider,wie die ein<br />
Jahr später publizierte Materialsammlung beweist.Auch<br />
dieser Sonderdruck war – ebenso wie<br />
die erste Auflage – schnell vergriffen.<br />
Inzwischen sind im Deutschen Ärzteblatt zahlreiche<br />
weitere Beiträge zu der Thematik erschienen.<br />
Darin wird deutlich, dass nach wie vor großer<br />
Diskussionsbedarf besteht. So berichtete das DÄ<br />
beispielsweise über die Beschlusslage zur internationalen<br />
Klonkonvention. Bisher gibt es noch keine<br />
Einigung.Im November 2003 gingen die Vertreter<br />
der UN-Mitgliedstaaten ergebnislos ausein<strong>an</strong>der,<br />
sie verschoben die Verh<strong>an</strong>dlungen um weitere<br />
zwei Jahre. Es geht immer noch um die Frage, ob<br />
nur das reproduktive Klonen oder auch das therapeutische<br />
Klonen weltweit geächtet werden<br />
soll. Inzwischen ist es einem Team der südkore<strong>an</strong>ischen<br />
Nationaluniversität Seoul gelungen,<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> zu klonen. Als „Durchbruch<br />
in der Medizin“ haben die Forscher ihr Experiment<br />
bezeichnet. Auf seiner Basis wollen sie<br />
Ersatzgewebe „therapeutisch klonen“, um Kr<strong>an</strong>ke<br />
zu heilen. Für Kritiker ist dieser Menschenversuch<br />
Anlass, noch vehementer ein internationales Klonverbot<br />
zu fordern. Doch die Haltung Deutschl<strong>an</strong>ds<br />
ist uneinheitlich. Während sich der Bundestag für<br />
ein absolutes Klonverbot ausgesprochen hatte,<br />
unterstützte die Regierung dies nicht. Während<br />
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn<br />
betonte, dass das therapeutische Klonen in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten sei und<br />
es auch bleibe, sprach sich<br />
Bundesjustizministerin Brigitte<br />
Zypries vor kurzem für<br />
eine Lockerung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
aus. Dies<br />
stieß auf teilweise scharfe Kritik<br />
aus der Ärzteschaft, bei Kirchen, aber auch Politikern.Ausführlich<br />
berichtet wurde im Deutschen<br />
Ärzteblatt auch über die Pläne der EU-Kommission,<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
mit Milliardensummen fin<strong>an</strong>ziell zu fördern.<br />
Im Bereich der pränatalen Diagnostik besteht<br />
ebenfalls weiterhin Klärungsbedarf. So werden<br />
zunehmend Forderungen erhoben, die Abtreibungsregelung<br />
zu ändern, da durch den Wegfall<br />
der embryopathischen Indikation Spätabtreibungen<br />
bis zur Geburt möglich geworden sind.<br />
Die Beiträge der DÄ-Redakteurinnen und<br />
-Redakteure zu diesen Themen sowie Aufsätze<br />
und Kommentare von Ärzten, Wissenschaftlern<br />
und Theologen mit teilweise konträren Ansichten<br />
sind in dieser erweiterten <strong>Dokumentation</strong> veröffentlicht.<br />
Sie ist inzwischen so umf<strong>an</strong>greich geworden,<br />
dass eine Publikation als Sonderdruck<br />
den Rahmen sprengen würde, sodass sich die Redaktion<br />
entschlossen hat, sie online zu veröffentlichen.<br />
Zusätzlich können unter <strong>an</strong>derem<br />
auch der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, wichtige Gesetze,<br />
wie das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz und das<br />
Stammzellgesetz, Positionspapiere und Stellungnahmen<br />
sowie die Entschließungen der Deutschen<br />
Ärztetage zu dieser Thematik abgerufen<br />
werden.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Die Meinungsbildung in der<br />
Ärzteschaft spiegelt sich in<br />
der Berichterstattung und<br />
Kommentierung des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider.<br />
62
D O K U M E N T A T I O N<br />
Vorwort zur 1. Auflage<br />
Beiträge zum Diskurs<br />
Als der Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
den „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
vorlegte, rief er zugleich zu einem<br />
öffentlichen Diskurs auf. Der läuft seit<br />
nunmehr rund eineinhalb Jahren und<br />
hat einen kaum noch fassbaren Niederschlag<br />
in der Presse gefunden. Inzwischen<br />
bringen auch Funk und Fernsehen<br />
fast täglich Diskussionen nicht mehr<br />
nur zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>), sondern auch zur <strong>Embryonen</strong>forschung.<br />
Das Deutsche Ärzteblatt hat sich<br />
von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> <strong>an</strong> dem Diskurs beteiligt<br />
und die unterschiedlichsten Stimmen<br />
zu Wort kommen lassen. In diesem<br />
Sonderdruck sind diese Beiträge, beginnend<br />
mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Die Redaktion hat<br />
sich sehr um Vollständigkeit bemüht,<br />
gleichwohl k<strong>an</strong>n nicht ausgeschlossen<br />
werden, dass vielleicht ein Leserbrief<br />
oder eine kleinere Notiz fehlen. Die<br />
Diskussion ist im Übrigen keineswegs<br />
abgeschlossen. Weitere Beiträge für<br />
spätere Hefte des Deutschen Ärzteblattes<br />
sind in Satz – Stoff genug für eine<br />
allfällige erweiterte Auflage des Sonderdrucks.<br />
Der <strong>Dokumentation</strong> der im Deutschen<br />
Ärzteblatt erschienenen Beiträge<br />
sind vor<strong>an</strong>gestellt ein Interview mit dem<br />
Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
und des Deutschen Ärztetages, geführt<br />
im Vorfeld des in diesen Tagen beginnenden<br />
104. Deutschen Ärztetages, sowie<br />
der Bericht über die einschlägige<br />
Diskussion beim vor<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>genen 103.<br />
Deutschen Ärztetag.<br />
Im Grunde genommen müsste eine<br />
vollständige <strong>Dokumentation</strong> über die<br />
Auffassungen der Ärzteschaft in der mit<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zusammenhängenden<br />
Thematik weitaus früher beginnen,<br />
zumindest mit dem 88. Deutschen<br />
Ärztetag, der 1985 in Lübeck-Travemünde<br />
seine Haltung zur In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF) formulierte. Bereits damals<br />
wurden die daraus entstehenden<br />
Probleme der <strong>Embryonen</strong>forschung klar<br />
erk<strong>an</strong>nt, der Umg<strong>an</strong>g mit den so gen<strong>an</strong>nten<br />
überzähligen <strong>Embryonen</strong> diskutiert.<br />
Der Ärztetag sprach sich schließlich<br />
mit großer Mehrheit zugunsten von IVF<br />
aus. Zur <strong>Embryonen</strong>forschung stellte er<br />
fest: „Experimente mit <strong>Embryonen</strong> sind<br />
grundsätzlich abzulehnen, soweit sie<br />
nicht der Verbesserung der Methode<br />
oder dem Wohle des Kindes dienen.“<br />
Diese Formulierung war ein wenig strenger<br />
als die Vorst<strong>an</strong>dsvorlage, entsprach<br />
aber noch einer zugleich vorgelegten<br />
Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Bundesärztekammer zur IVF (veröffentlicht<br />
in Heft 22/1985), die der Ärztetag<br />
pauschal „begrüßte“. In einer weiteren<br />
Richtlinie äußerte sich der Wissenschaftliche<br />
Beirat später, ohne Zutun des<br />
Ärztetages, zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> frühen<br />
menschlichen <strong>Embryonen</strong> (veröffentlicht<br />
in Heft 50/1985). D<strong>an</strong>ach dürfen<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> „grundsätzlich“<br />
nicht mit dem Ziel der Verwendung<br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken erzeugt werden.<br />
Mit der Formel „grundsätzlich“ wurden<br />
erhebliche Sp<strong>an</strong>nungen innerhalb des<br />
Beirates zu dieser Frage überdeckt. Die<br />
Richtlinien sprechen sich hingegen eindeutig<br />
für Untersuchungen, die der<br />
Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
des jeweiligen Embryos und gleichzeitig<br />
dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn<br />
dienen,aus,sofern Nutzen und Risiken<br />
mitein<strong>an</strong>der sorgfältig abgewogen<br />
werden.<br />
Der 91. Deutsche Ärztetag beschloss<br />
1988 in Fr<strong>an</strong>kfurt eine Änderung der<br />
(Muster-)Berufsordnung. Die Delegierten<br />
entschieden sich für einen Mittelweg:<br />
Die Erzeugung von <strong>Embryonen</strong> für<br />
<strong>Forschung</strong>szwecke wurde untersagt und<br />
dem ein weiterer Satz hinzugefügt:<br />
„Grundsätzlich verboten ist auch die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen <strong>Embryonen</strong>.“<br />
Bei Einhaltung strikter Kriterien<br />
wurden allerdings <strong>Forschung</strong>en für<br />
zulässig gehalten,sofern sie der Deklaration<br />
von Helsinki entsprechen.<br />
Machen wir einen Sprung zum 100.<br />
Deutschen Ärztetag 1997 in Eisenach.<br />
Die damals neu strukturierte, bis heute<br />
geltende (Muster-)Berufsordnung verbietet<br />
gleichfalls die Erzeugung von menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken.Verboten<br />
sind ferner diagnostische<br />
Maßnahmen <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>, „es sei<br />
denn, es h<strong>an</strong>delt sich um Maßnahmen<br />
zum Ausschluss schwerwiegender geschlechtsgebundener<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen im<br />
Sinne § 3 <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz“.<br />
Und das gehört der Vollständigkeit<br />
halber dazu: Seit 1991 gilt das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
mit seinen strengen<br />
Regeln – strengeren als sie 1985 von der<br />
ärztlichen Selbstverwaltung und ihren<br />
wissenschaftlichen Beratern formuliert<br />
worden waren.<br />
Norbert Jachertz<br />
Impressum<br />
<strong>Dokumentation</strong> „<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>“<br />
Chefredakteur:<br />
Chefs vom Dienst:<br />
Redaktion:<br />
Technische Redaktion:<br />
Schlussredaktion:<br />
Verlag:<br />
Norbert Jachertz, Köln<br />
(ver<strong>an</strong>twortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der<br />
gesetzlichen Bestimmungen)<br />
Gisela Klinkhammer, Herbert Moll<br />
Norbert Jachertz, Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet)<br />
Jörg Kremers, Michael Peters<br />
Helmut Werner<br />
Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln<br />
63
I N H A L T<br />
<strong>Dokumentation</strong> in chronologischer Reihenfolge<br />
Vorwort zur 3. Auflage:<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />
Vorwort zur 1. Auflage:<br />
Beiträge zum Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />
Beiträge aus dem Jahr 2001<br />
Medizinische Ethik:<br />
Weiterhin Diskussionsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
Gisela Klinkhammer<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz: Englische Verführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
Norbert Jachertz<br />
Bioethik: CDU lotet noch Grenzen aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67<br />
Meinungsaustausch mit dem Bundesk<strong>an</strong>zler:<br />
Kurskorrekturen bei den Budgets im Gespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />
Sabine Rieser<br />
Gentechnik: Der Zweck heiligt die Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Medizinethik: Irritationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin:<br />
Die Gewichte verschieben sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Medizinische Ethik: Auf Schlingerkurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Biomedizin: Kein „Hirtenwort“,<br />
sondern Diskussions<strong>an</strong>stoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Bischofskonferenz:<br />
Warnung vor Missbrauch der Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Ärztinnenbund: Dammbruch befürchtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
Fortschritt der Biomedizin:<br />
Die Politik steht vor der Quadratur des Kreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74<br />
Andreas Kuhlm<strong>an</strong>n<br />
<strong>PID</strong>: „Glasklare Regelung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik: G<strong>an</strong>z am Anf<strong>an</strong>g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Einmal Gott spielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />
Streit um die <strong>Embryonen</strong>:<br />
Was tun, wenn m<strong>an</strong> sich nicht einigen k<strong>an</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Urb<strong>an</strong> Wiesing<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung in Europa:<br />
Gesundheit ist nicht das höchste Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />
Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach<br />
Diskussion: Gesundheit ist nicht das höchste Gut . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />
<strong>PID</strong>: „Ein Verfahren zur Selektion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
<strong>PID</strong>: Motivsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
Dr. med. Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery<br />
Diskussion: <strong>PID</strong>: Motivsuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />
Zum 104. Deutschen Ärztetag:<br />
„Eine Sieger-Besiegten-Stimmung darf nicht aufkommen“. . . 87<br />
DÄ-Interview mit Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe<br />
Gestaffeltes Schutzkonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />
Dr. jur. Tade M. Spr<strong>an</strong>ger<br />
104. Deutscher Ärztetag: Gesp<strong>an</strong>ntes Abwarten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />
Norbert Jachertz<br />
Gesundheits- und Sozialpolitik:<br />
Freiheit und Ver<strong>an</strong>twortung in der modernen Medizin. . . . . . . . . 90<br />
TOP I: Ethik: Die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens . . . . . . . 92<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Entschließungen:<br />
Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 94<br />
Diskussion: 104. Deutscher Ärztetag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />
Gentechnikdebatte im Bundestag: Wo ist die Grenze . . . . . . . . . 97<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Embryonale Stammzellforschung: Die Mech<strong>an</strong>ismen<br />
entschlüsseln und auf adulte Zellen <strong>an</strong>wenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />
DÄ-Interview mit Prof. Dr. med. Oliver Brüstle<br />
Bioethik-Diskussion: Gespaltene Fraktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Stammzellen: Was Forscher wollen, was sie dürfen. . . . . . . . . . . . . . 102<br />
Dr. med. Peter Bartm<strong>an</strong>n<br />
Embryonale Stammzellen:<br />
Entscheidung über Import vertagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104<br />
Gisela Klinkhammer, Dr. med. Eva A. Richter<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz:<br />
Keine Entscheidung ohne qualifizierte Beratung . . . . . . . . . . . . . . . 106<br />
Priv.-Doz. Dr. med. Wolfram Henn et al.<br />
Stammzellforschung: „Ethik des Heilens“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Hum<strong>an</strong>ismusstreit: Vom Überschreiten des Rubikon. . . . . . . . . . . 108<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Embryonale Stammzellforschung:<br />
Unterschiedliche Wertvorstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Deutsche Bischofskonferenz: Kein „Zellhaufen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Reproduktionsmedizin:<br />
Fachgesellschaften für klare Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />
Dr. Renate Leinmüller<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik: Anf<strong>an</strong>g ohne Ende . . . . . . . . . . . . . . . . 112<br />
Stammzellen-Import: Signal auf Stopp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Stammzellen-Import: Druck von allen Seiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Stammzellforschung: Perfektes Timing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />
Norbert Jachertz<br />
Stammzellforschung (I):<br />
Abschied von der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />
Priv.-Doz. Dr. med. S<strong>an</strong>tiago Ewig<br />
<strong>Dokumentation</strong>: Stellungnahme der Zentralen<br />
Ethikkommission zur Stammzellforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118<br />
Stammzellforschung (II):<br />
Menschenrecht auf Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119<br />
Prof. Dr. theol. Hartmut Kreß<br />
64
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 1–2, 8. J<strong>an</strong>uar 2001<br />
Medizinische Ethik<br />
Weiterhin<br />
Diskussionsbedarf<br />
Die deutschen Ärzte sind sich weitgehend einig. Die Gesetze<br />
sollten nicht alles erlauben, was medizinisch möglich ist.<br />
Die Niederländer legalisieren die<br />
aktive Sterbehilfe, in Großbrit<strong>an</strong>nien<br />
ist soeben das therapeutische<br />
Klonen genehmigt worden, in zahlreichen<br />
europäischen Staaten ist die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik erlaubt. In<br />
Deutschl<strong>an</strong>d sind sich Ärzte und Politiker<br />
weitgehend einig: Es soll nicht alles<br />
erlaubt werden, was möglich ist. So will<br />
zum Beispiel Bundesgesundheitsministerin<br />
Andrea Fischer die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(preimpl<strong>an</strong>tation genetic<br />
diagnosis = PGD) unmissverständlich<br />
in einem neuen Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
verbieten. Dies soll das bisher<br />
geltende <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
ablösen. In G<strong>an</strong>g gesetzt wurde die Diskussion<br />
über diese Methode der<br />
vorgeburtlichen Diagnostik durch einen<br />
von der Bundesärztekammer vorgelegten,<br />
von deren Wissenschaftlichem<br />
Beirat ausgearbeiteten „Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“.<br />
Nach dem Entwurf<br />
k<strong>an</strong>n eine streng auf den Einzelfall<br />
bezogene Indikationsstellung zur PGD<br />
infrage kommen. Das Spektrum möglicher<br />
Indikationen ist äußerst eng gefasst<br />
und bezieht sich ausschließlich auf<br />
Paare, bei deren Nachkommen nachgewiesenermaßen<br />
ein hohes Risiko für eine<br />
schwerwiegende, genetisch bedingte<br />
Erkr<strong>an</strong>kung besteht.<br />
Das Bundesgesundheitsministerium<br />
lehnt eine Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
dagegen unter <strong>an</strong>derem deswegen ab,<br />
weil die Gefahr bestehe, dass in der Gesellschaft<br />
eine Erwartungshaltung für<br />
gesunde Kinder entstehen könnte und<br />
es Eltern schwer gemacht werde, sich<br />
für ein behindertes Kind zu entscheiden.<br />
Auch in der Bundesärztekammer<br />
(BÄK) sei die Meinungsbildung über<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik keineswegs<br />
abgeschlossen, betont deren Präsident,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich<br />
Hoppe. Vielmehr habe die BÄK die<br />
Diskussion <strong>an</strong>geregt, um zu entscheiden,<br />
ob und inwieweit die PGD in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d Anwendung finden soll.<br />
Ein Argument, das für die Anwendung<br />
der PGD <strong>an</strong>geführt wird, ist, dass sie<br />
Spätabtreibungen verhindern könnte.<br />
Bei festgestellter Behinderung nach<br />
pränataler Diagnostik sind derzeit aufgrund<br />
der medizinischen Indikation<br />
Abtreibungen bis zum Ende der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft möglich. Dazu erklärte<br />
Andrea Fischer, dass es zwischen den<br />
beteiligten Ministerien und dem Bundestag<br />
Arbeitsgruppen gebe, die sich<br />
mit dieser Problematik beschäftigten.<br />
„Dort wird darüber nachgedacht, dass<br />
Spätabtreibungen nur in bestimmten<br />
Zentren gemacht werden sollen, mit<br />
entsprechender vorheriger Beratung.<br />
Dies soll Spätabtreibungen sehr stark<br />
einschränken.“<br />
Auch zum therapeutischen Klonen,<br />
das durch das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
(ESchG) verboten ist, fordert Hoppe eine<br />
gesellschaftliche Diskussion. Eine<br />
Lockerung des ESchG hält er für den<br />
falschen Weg. Es müsste vielmehr geklärt<br />
werden, ob nicht auch mit körpereigenen<br />
erwachsenen Stammzellen<br />
neue Therapien für bisher unheilbare<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten entwickelt werden könnten.<br />
Nach Hoppes Überzeugung wird<br />
das Klonen von <strong>Embryonen</strong> erhebliche<br />
Auswirkungen auf „unser Verständnis<br />
von Menschenwürde und schützenswertem<br />
Leben“ haben. Ministerin Fischer<br />
teilt diese Auffassung: „Wenn wir die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
erlauben, würde dies den Einstieg in<br />
die Produktion überzähliger <strong>Embryonen</strong><br />
bedeuten. Das ist zurzeit aber nicht<br />
erlaubt, und ich meine auch nicht, dass<br />
wir diesen Weg gehen sollten.“ Sie<br />
räumt aber ebenso wie die CDU-Parteivorsitzende<br />
Angela Merkel ein, dass es<br />
eine Grauzone im ESchG gibt: Im Ausl<strong>an</strong>d<br />
gewonnene embryonale Stammzellen<br />
können nach Deutschl<strong>an</strong>d importiert<br />
werden. „Trotzdem k<strong>an</strong>n sich ein<br />
L<strong>an</strong>d dafür entscheiden, dass es <strong>an</strong> dieser<br />
Erforschung nicht <strong>an</strong> vorderster<br />
Stelle teilnimmt, die Ergebnisse später<br />
jedoch nutzt“, sagte Merkel.<br />
In den Niederl<strong>an</strong>den hat Ende November<br />
2000 das Parlament ein Gesetz<br />
beschlossen, wonach aktive Sterbehilfe<br />
unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt<br />
sein soll.Auch in Deutschl<strong>an</strong>d gibt<br />
es, so Hoppe, eine Bewegung, die auf die<br />
Abschaffung des § 216 des Strafgesetzbuches<br />
hinarbeitet, in dem die Tötung<br />
auf Verl<strong>an</strong>gen unter Strafe gestellt ist.<br />
Bundesjustizministerin Herta Däubler-<br />
Gmelin sprach sich strikt gegen solche<br />
Bestrebungen aus. Die BÄK hatte aktiver<br />
Euth<strong>an</strong>asie in ihren Grundsätzen<br />
zur ärztlichen Sterbebegleitung ebenfalls<br />
eine deutliche Absage erteilt.<br />
Ärzte sollten Leben erhalten und nicht<br />
töten.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Heft 3, 19. J<strong>an</strong>uar 2001<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz<br />
Englische<br />
Verführung<br />
Das Feuilleton der Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeinen<br />
Zeitung hat neuerdings einen<br />
gewissen Ruf, gegenüber dem Fortschritt<br />
in der Biotechnologie besonders<br />
aufgeschlossen zu sein und die tradierte<br />
Ethik, <strong>an</strong>gesichts allerlei hoch gesp<strong>an</strong>nter<br />
Hoffnungen, infrage zu stellen. Die<br />
Lehre vom Segen der reinen Marktwirtschaft<br />
schwappt so vom Wirtschaftsund<br />
Fin<strong>an</strong>zteil ins Kulturelle.<br />
G<strong>an</strong>z in diesem Sinne erschien dort<br />
am 29. Dezember letzten Jahres ein Artikel<br />
„gegen eine Ethik mit Scheuklappen“,<br />
in dem Karl-Friedrich Sewing die<br />
Entscheidung des britischen Unterhauses<br />
zum so gen<strong>an</strong>nten therapeutischen<br />
Klonen verständnisvoll würdigte und<br />
Kritiker aus Deutschl<strong>an</strong>d als „verbale<br />
Schnellfeuergewehre“ abtat. Lediglich<br />
65
D O K U M E N T A T I O N<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Schröder bekam ein<br />
Lob wegen seiner „Ansätze einer differenzierten<br />
Betrachtungsweise“.<br />
Sewing spricht sich für <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
embryonalen Stammzellen aus, „überzählige“<br />
<strong>Embryonen</strong>, die bei der künstlichen<br />
Befruchtung <strong>an</strong>fielen, sollten<br />
eingesetzt werden dürfen. Die traditionellen<br />
Verfahren hätten wohl ausgedient,<br />
der Aufbruch zu neuen Ufern<br />
sei gerechtfertigt, begründet Sewing.<br />
Wenn im Ausl<strong>an</strong>d mit embryonalen<br />
Stammzellen geforscht werde, dürfe<br />
sich die deutsche medizinische Wissenschaft<br />
nicht verweigern.<br />
Sewing firmiert in der Fr<strong>an</strong>kfurter<br />
Allgemeinen als Vorsitzender des Wissenschaftlichen<br />
Beirates der Bundesärztekammer,<br />
nicht als Privatm<strong>an</strong>n.<br />
Dem würde m<strong>an</strong> selbstverständlich die<br />
Freiheit zubilligen, seine Meinung in<br />
dieser Weise zu artikulieren und gegen<br />
(<strong>an</strong>gebliche) ethische Scheuklappen<br />
aufzufahren. Für den Vorsitzenden<br />
einer offiziellen Einrichtung der Ärzteschaft<br />
gelten <strong>an</strong>dere Spielregeln.<br />
Sewing vertritt Auffassungen, die<br />
vielleicht von interessierten Forschern<br />
geteilt werden, nicht aber von der verfassten<br />
Ärzteschaft. Er segelt somit unter<br />
falscher Flagge. Er segelt freilich im<br />
Strom des Zeitgeistes, gehört er doch zu<br />
jenen, die <strong>an</strong>gestrengt d<strong>an</strong>ach suchen,<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>, die bisher<br />
nicht erlaubt und ärztlich umstritten ist,<br />
zu rechtfertigen.<br />
Lockt Sewing mit dem noch relativ<br />
schlichten Hinweis auf das Ausl<strong>an</strong>d,<br />
d<strong>an</strong>n der neue Kulturstaatsminister in<br />
des Bundesk<strong>an</strong>zlers Kabinett mit philosophischen<br />
Versuchungen, was nahe<br />
liegt, ist doch Juli<strong>an</strong> Nida-Rümelin Professor<br />
für Bioethik: Für ihn (so sein<br />
Artikel im Berliner Tagesspiegel vom<br />
3. J<strong>an</strong>uar) ist das ausschlaggebende Kriterium<br />
die Menschenwürde.<br />
So weit, so gut. Doch d<strong>an</strong>n kommt’s.<br />
Die rhetorische Frage, ob das Klonen<br />
eines Embryos die Menschenwürde beschädige,<br />
be<strong>an</strong>twortet er: „Die Antwort<br />
ist für mich: zweifellos nein.“ Denn, so<br />
Nida-Rümelins Rechtfertigung: „Die<br />
Achtung der Menschenwürde ist dort<br />
<strong>an</strong>gebracht, wo die Voraussetzungen<br />
erfüllt sind, dass ein menschliches<br />
Wesen entwürdigt werde, ihm seine<br />
Selbstachtung genommen werden<br />
k<strong>an</strong>n. Daher lässt sich das Kriterium<br />
66<br />
Heft 7, 16. Februar 2001<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz<br />
Zu dem Kommentar „Englische Verführung“<br />
von Norbert Jachertz in Heft 3/2001:<br />
Journalistische Schlittenfahrt<br />
Im Deutschen Ärzteblatt hat dessen<br />
Chefredakteur Norbert Jachertz meinen<br />
Aufsatz „Warum nicht <strong>Embryonen</strong><br />
Gegen eine Ethik mit Scheuklappen“<br />
in der Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeinen<br />
Zeitung vom 29. Dezember 2000 „kommentiert“.<br />
Die Äußerungen von Jachertz<br />
(inhaltlich hat er sich mit dem<br />
Aufsatz überhaupt nicht ausein<strong>an</strong>der<br />
gesetzt) zeigen, dass es in ihm Gott sei<br />
D<strong>an</strong>k wenigstens einen Menschen in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d gibt, der auf die schwierigen<br />
Fragen der modernen Medizin eine<br />
Antwort weiß. Er wird auch sicherlich<br />
Gleichgesonnene finden, die ihm die<br />
Richtigkeit seiner Denke bestätigen. Im<br />
Namen der von ihm gleichermaßen wie<br />
ich gescholtenen interessierten Forscher<br />
(Diese haben der Ärzteschaft seit<br />
Jahrhunderten durch ihre Arbeit ermöglicht,<br />
ihre Patienten auf hohem wissenschaftlichem<br />
und technischem Niveau<br />
erfolgreich zu beh<strong>an</strong>deln.) entschuldige<br />
ich mich dafür, dass sie <strong>an</strong>ders<br />
denken als Jachertz. Ob Jachertz wohl<br />
weiß, dass nicht gerade die dümmsten<br />
Ärzte, Naturwissenschaftler, Juristen,<br />
Theologen und Philosophen zurzeit in<br />
den verschiedensten Gremien (Wissenschaftlicher<br />
Beirat der Bundesärztekammer,<br />
Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft,<br />
Europe<strong>an</strong> Science Foundation)<br />
um einen sachgerechten und ethisch<br />
und rechtlich vertretbaren Umg<strong>an</strong>g mit<br />
den modernen medizinischen Problemen<br />
ringen Bei solchen Äußerungen<br />
des Chefredakteurs des Deutschen Ärzteblattes<br />
darf sich niem<strong>an</strong>d wundern,<br />
wenn die Diskussion um die brennenden<br />
Themen der modernen Medizin auf<br />
hohem sachkundigem und ethischem<br />
Niveau (wenn m<strong>an</strong> von den Äußerungen<br />
von Nida-Rümelin einmal absieht,<br />
mit dem Jachertz mich gerne ged<strong>an</strong>klich<br />
zu identifizieren versucht) nicht im<br />
der Menschenwürde nicht auf <strong>Embryonen</strong><br />
ausweiten. Die Selbstachtung eines<br />
<strong>Embryonen</strong> lässt sich nicht beschädigen.“<br />
Das ist die <strong>an</strong>spruchsvolle Verbrämung<br />
des Bioethikers Nida-Rümelin<br />
von Sewings schlichtem Utilitarismus.<br />
Die Schlittenfahrt hat begonnen.<br />
Norbert Jachertz<br />
Deutschen Ärzteblatt, sondern (auch<br />
von Ärzten) in den großen Tages- und<br />
Wochenzeitungen geführt wird. Eine<br />
journalistische Schlittenfahrt nach<br />
Jachertzschem Strickmuster schadet der<br />
deutschen Ärzteschaft, nicht aber<br />
demjenigen, den er im Fadenkreuz<br />
seines „Kommentars“ hat.<br />
Prof. Dr. med. Karl-Friedrich Sewing, Vorsitzender<br />
des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer,<br />
Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln<br />
Wer ist die deutsche<br />
Ärzteschaft<br />
Herr Jachertz greift den Vorsitzenden<br />
des Wissenschaftlichen Beirats der<br />
Bundesärztekammer, Prof. Dr. Sewing,<br />
wegen seines Aufsatzes in der FAZ<br />
massiv <strong>an</strong>, indem er die Behauptung<br />
aufstellt – als Chefredakteur des Deutschen<br />
Ärzteblattes als solcher gekennzeichnet<br />
–, dass Sewings Auffassungen<br />
zwar „von interessierten Forschern“,<br />
aber nicht von der „verfassten Ärzteschaft“<br />
geteilt würden.<br />
Wer ist das Die gesamte deutsche<br />
Ärzteschaft Der Deutsche Ärztetag<br />
Der Präsident/Vizepräsident der Bundesärztekammer<br />
W<strong>an</strong>n hat eine Abstimmung<br />
über das therapeutische Klonen<br />
stattgefunden Das müsste mir<br />
entg<strong>an</strong>gen sein!<br />
Es ehrt die Herren Prof. Hoppe und<br />
Dr. Montgomery, wenn sie für die Beibehaltung<br />
des deutschen <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
plädieren, das therapeutisches<br />
Klonen verbietet. Dennoch<br />
h<strong>an</strong>delt es sich dabei nur um ihre persönliche<br />
Meinung.Auch dem Chefredakteur<br />
des Mitteilungsblattes aller<br />
deutschen Ärztinnen und Ärzte steht<br />
eine solche apodiktische Feststellung<br />
nicht zu. Sie hat eine herabsetzende<br />
Tendenz, die gerade bei einem so sensiblen<br />
Thema Herrn Jachertz nicht gut zu<br />
Gesicht steht.Warum nicht den ethischen<br />
Diskurs im Deutschen Ärzteblatt<br />
eröffnen, wie zur <strong>PID</strong> geschehen Warum<br />
nicht ein Leserforum, wo jeder zu<br />
Wort kommt Es sind im Übrigen
D O K U M E N T A T I O N<br />
längst nicht nur „interessierte (etwa<br />
profitorientierte) Forscher“, die sich<br />
mutig dafür aussprechen, dass Deutschl<strong>an</strong>d<br />
nicht bei dem Anspruch verharrt,<br />
eine Insel höchster ethischer Maßstäbe<br />
in Europa bleiben zu wollen und dabei<br />
die Entwicklung eines der aussichtsreichsten<br />
therapeutischen Ansätze dieses<br />
Jahrtausends zu verpassen.<br />
Prof. Dr. med. Ch. Rittner, Institut für<br />
Rechtsmedizin, Joh<strong>an</strong>nes Gutenberg-Universität<br />
Mainz, Am Pulverturm 3, 55131 Mainz<br />
Heft 10, 9. März 2001<br />
Unter falscher Flagge<br />
Mit scharfen Worten kritisiert Jachertz<br />
die in der FAZ getätigte Meinungsäußerung<br />
zur Stammzellenforschung von Sewing,<br />
dem Chef des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesärztekammer. Er habe<br />
nicht „die Meinung der verfassten<br />
Ärzteschaft“ wiedergegeben und „segele<br />
unter falscher Flagge“. Ziel der <strong>Forschung</strong><br />
mit (pluri-, nicht toti-potenten!)<br />
hum<strong>an</strong>en Stammzellen ist die Entwicklung<br />
von Therapien für bisher nicht beh<strong>an</strong>delbare<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten. Dies ist wohl<br />
zunächst ein akzeptables, ja respektables<br />
Ansinnen eines Arztes. Dasselbe gilt für<br />
Konzepte des therapeutischen Klonens,<br />
mit dessen Hilfe klinisch dringend<br />
benötigtes Gewebe, keine <strong>Embryonen</strong><br />
hergestellt werden sollen. Ebenfalls eine<br />
Absicht, die ein Vorsitzender des Wissenschaftlichen<br />
Beirates der verfassten<br />
deutschen Ärzteschaft wohl (auch öffentlich)<br />
äußern darf, vielleicht sogar<br />
muss ().<br />
Gegen diese (zukünftigen) Heilmethoden,<br />
deren Erforschung unter Verwendung<br />
embryonaler Stammzellen in<br />
den USA, in Engl<strong>an</strong>d und Fr<strong>an</strong>kreich<br />
auch mittels therapeutischen Klonens<br />
mittlerweile politisch akzeptiert sind,<br />
steht das deutsche <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.<br />
Dieses spricht jeder befruchteten<br />
hum<strong>an</strong>en Eizelle, gleich welchen<br />
Stadiums und wo immer sich diese befindet,<br />
den vollen Umf<strong>an</strong>g der Menschenwürde<br />
zu. Gleichzeitig verschreibt<br />
und impl<strong>an</strong>tiert die „verfasste<br />
deutsche Ärzteschaft“ Millionen von<br />
Frauen Spiralen zur Kontrazeption, die<br />
nichts <strong>an</strong>deres tun, als solche „<strong>Embryonen</strong>“<br />
unter dem Schutz der gesellschaftlichen<br />
Akzept<strong>an</strong>z zu töten.<br />
Gleichzeitig vollzieht die „verfasste<br />
deutsche Ärzteschaft“ unter dem<br />
Schutz des Gesetzgebers jährlich über<br />
200 000 Abtreibungen <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong><br />
in weitaus fortgeschritteneren Entwicklungsstadien.<br />
Wer segelt hier unter falscher Flagge<br />
Der Diskurs macht doch unmissverständlich<br />
deutlich, dass die Definition<br />
der „Würde des Embryos“ dringend<br />
neu bedacht werden will. Eine abstufende<br />
Einschätzung des „moral status<br />
of the embryo“, wie von der Europäischen<br />
Kommission definiert, stellt wohl<br />
die einzig intelligente und praktikable<br />
Lösung dar. Ein Umdenken in diese<br />
Richtung scheint dringend geboten und<br />
folgt nicht der „englischen Verführung“,<br />
sondern dem St<strong>an</strong>d der medizinischen<br />
Wissenschaft.Auf der Insel<br />
wurde seit l<strong>an</strong>gem und sehr sorgfältig<br />
diskutiert, ob auf diese Weise (hoffentlich)<br />
verfügbare Beh<strong>an</strong>dlungsverfahren<br />
für englische Patienten in Großbrit<strong>an</strong>nien<br />
entwickelt werden sollen oder ob<br />
m<strong>an</strong> sie importiert beziehungsweise<br />
Kr<strong>an</strong>ke im Ausl<strong>an</strong>d beh<strong>an</strong>deln lässt.<br />
Prof. Dr. med. Axel Haverich,<br />
Klinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie, MHH,<br />
Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 H<strong>an</strong>nover<br />
Anmerkung (zugleich zu den Briefen von<br />
Sewing und Rittner in Heft 7): Mein<br />
Kommentar „Englische Verführung“ kritisierte,<br />
dass Sewing als Vorsitzender des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesärztekammer Auffassungen<br />
vertrat, die der Beschlusslage der<br />
verfassten Ärzteschaft nicht entsprechen. Als<br />
Vorsitzender eines offiziellen Gremiums der<br />
Bundesärztekammer hätte sich Sewing <strong>an</strong> die<br />
Beschlusslage halten oder deutlich machen<br />
müssen, dass er sich als Privatm<strong>an</strong>n äußerte.<br />
Die verfasste Ärzteschaft ist ein eingeführter<br />
Begriff. Gemeint ist in diesem Fall die in<br />
Ärztekammern und in der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Ärztekammern, nämlich der<br />
Bundesärztekammer, org<strong>an</strong>isierte Ärzteschaft;<br />
sie hat im Deutschen Ärztetag, der Hauptversammlung<br />
der Bundesärztekammer, eine<br />
aus demokratischen Wahlen hervorgeg<strong>an</strong>gene<br />
oberste Repräsent<strong>an</strong>z. Der Deutsche<br />
Ärztetag hat sich bisher gegen therapeutisches<br />
Klonen und <strong>Embryonen</strong>forschung ausgesprochen.<br />
Norbert Jachertz<br />
Heft 4, 26. J<strong>an</strong>uar 2001<br />
Bioethik<br />
CDU lotet noch<br />
Grenzen aus<br />
Mahnende Stimmen bei einem<br />
Kongress in Berlin<br />
Angela Merkel hat eine breite öffentliche<br />
Debatte über die ethische<br />
Ver<strong>an</strong>twortung der Wissenschaft und die<br />
Grenzen der Gentechnik gefordert.<br />
Die CDU-Vorsitzende äußerte sich beim<br />
Bioethik-Kongress ihrer Partei im Dezember<br />
in Berlin. Er st<strong>an</strong>d unter dem<br />
Motto: „Auch in Zukunft menschenwürdig<br />
leben – Ethik und Gentechnologie im<br />
21. Jahrhundert“.<br />
Merkel zeigte sich sowohl gegenüber<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik wie gegenüber<br />
Gentests skeptisch. Im Fall derartiger<br />
Tests müsse der Gesetzgeber verhindern,<br />
dass Arbeitgeber und Versicherer<br />
Zug<strong>an</strong>g zu Daten von Kunden oder ihren<br />
Mitarbeitern erhielten.<br />
Der stellvertretende Vorsitzende der<br />
CDU, Jürgen Rüttgers, bezeichnete es als<br />
sk<strong>an</strong>dalös, dass derzeit wieder offen gegen<br />
die Geburt behinderter Kinder votiert<br />
werde. Grundüberzeugungen von der<br />
Würde des Menschen und seiner unbedingten<br />
Schutzwürdigkeit dürften nicht<br />
zugunsten „postmoderner Beliebigkeit“<br />
aufgegeben werden.<br />
Rie<br />
67
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 4, 26. J<strong>an</strong>uar 2001<br />
Meinungsaustausch mit dem Bundesk<strong>an</strong>zler<br />
Kurskorrekturen bei den<br />
Budgets im Gespräch<br />
Ein Treffen zwischen Gerhard Schröder, Jörg-Dietrich Hoppe und<br />
M<strong>an</strong>fred Richter-Reichhelm war seit längerem eingepl<strong>an</strong>t, der Wechsel<br />
im Bundesgesundheitsministerium <strong>an</strong>geblich nicht. Nun wird mit<br />
Ulla Schmidt um die Umsetzung ärztlicher Forderungen gerungen.<br />
Freundlich, inhaltsreich, unvoreingenommen<br />
– so beschrieben Prof. Dr.<br />
Jörg-Dietrich Hoppe und Dr. M<strong>an</strong>fred<br />
Richter-Reichhelm übereinstimmend<br />
die Atmosphäre beim Meinungsaustausch<br />
mit dem Bundesk<strong>an</strong>zler am<br />
18. J<strong>an</strong>uar. Gerhard Schröder hatte den<br />
Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
(BÄK) und den Ersten Vorsitzenden<br />
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung<br />
(KBV) schon vor einigen Wochen eingeladen.<br />
Nun nahmen auch die neue Bundesgesundheitsministerin<br />
Ulla Schmidt<br />
teil sowie die Parlamentarische Staatssekretärin<br />
im BMG, Gudrun Schaich-<br />
Walch, und der Beauftragte für die Bel<strong>an</strong>ge<br />
der Behinderten, Karl-Herm<strong>an</strong>n<br />
Haack, alle SPD.<br />
Dennoch: „Eine <strong>an</strong>genehme Atmosphäre<br />
reicht nicht. Es müssen Ergebnisse<br />
her“, sagte Richter-Reichhelm gegenüber<br />
dem Deutschen Ärzteblatt.<br />
Das habe m<strong>an</strong> auch deutlich gemacht.<br />
Der K<strong>an</strong>zler wisse, dass die Ärzteschaft<br />
die Konfrontation nicht suche, aber zu<br />
Aktionen bereit sei. Hoppe ist der Auffassung,<br />
dass ein wichtiger Antrieb für<br />
Gespräche wie das gerade geführte der<br />
Wunsch Schröders sei, durch die Lösung<br />
der gröbsten Probleme die Gesundheitspolitik<br />
aus Wahlkämpfen herauszuhalten.<br />
Für h<strong>an</strong>dfeste Ergebnisse reicht ein<br />
einstündiges Gespräch nicht aus, ebenso<br />
wenig eine K<strong>an</strong>zlerzusage. Um die<br />
Probleme zu beseitigen, die die Ärzteschaft<br />
belasten, sind Mehrheiten in den<br />
Parlamenten von Bund und Ländern<br />
erforderlich. Einige Themen wurden jedoch<br />
am 18. J<strong>an</strong>uar zumindest problematisiert<br />
und mögliche Alternativen<br />
besprochen.<br />
68<br />
So soll geprüft werden, ob die Honorar-<br />
und Arzneimittelbudgets durch <strong>an</strong>dere<br />
sinnvolle Alternativen ersetzt werden.<br />
Richter-Reichhelm sagte, m<strong>an</strong> habe<br />
budgetablösende individuelle Richtgrößen<br />
für die Arzneimittelversorgung<br />
in der Gesetzlichen Kr<strong>an</strong>kenversicherung<br />
(GKV) als Ziel gen<strong>an</strong>nt. Was die<br />
Honorarbudgets <strong>an</strong>bel<strong>an</strong>gt, so wurde<br />
im Kern über Regelleistungsvolumina<br />
gesprochen. Noch für diese Woche sind<br />
dazu weitere Gespräche zwischen Vertretern<br />
der Ärzteschaft und dem BMG<br />
<strong>an</strong>gesetzt.<br />
Schröder hat zugesagt, sich dafür einzusetzen,<br />
dass noch in dieser Legislaturperiode<br />
das Wohnortprinzip eingeführt<br />
wird. Damit wäre die Zahlung der ärztlichen<br />
Vergütung nach dem Kassensitz<br />
abgeschafft.<br />
Erörtert wurde weiterhin, welche<br />
Konsequenzen sich für die Ärzte aus<br />
dem Kr<strong>an</strong>kenkassenwechsel von immer<br />
mehr Versicherten und aus Steuerungsinstrumenten<br />
wie dem Risikostrukturausgleich<br />
ergeben. Ebenso war die besondere<br />
Situation von Ärztinnen und<br />
Ärzten in den fünf neuen Bundesländern<br />
Thema.<br />
Breiten Raum nahm nach den Worten<br />
Hoppes das Gespräch über medizinethische<br />
Fragen ein.Schröder ließ in der offiziellen<br />
Erklärung des Bundesk<strong>an</strong>zleramtes<br />
unter <strong>an</strong>derem verbreiten, m<strong>an</strong><br />
stimme mit der Ärzteschaft überein,dass<br />
nur die ethisch vertretbaren Potenziale<br />
der Gentechnik für die Beh<strong>an</strong>dlung von<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten genutzt werden sollen.<br />
Politische Beobachter glauben dennoch,dass<br />
Schröder und Schmidt auf diesem<br />
Feld gewisse Lockerungen <strong>an</strong>streben<br />
(siehe auch „Seite eins“ in diesem<br />
Heft). Dem Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
zufolge hat Schröder erklärt,<br />
er wolle in Sachen <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
keine Regelung wie in Großbrit<strong>an</strong>nien.<br />
Gesetzesinitiativen, die die derzeitige<br />
Rechtslage verändern, sind wohl nicht<br />
gepl<strong>an</strong>t, damit auch keine Verschärfungen.<br />
Schröder will sich jedoch offenbar<br />
mittelfristig die Option offen halten, <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen in<br />
einem gewissen Rahmen zu erlauben,<br />
ebenso den eng begrenzten Einsatz der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik. Diese Möglichkeit<br />
favorisiert der Wissenschaftliche<br />
Beirat der BÄK; eine Beschlussfassung<br />
des Verb<strong>an</strong>des der Bundesärztekammer<br />
steht bisher aus. Im Gespräch ist derzeit<br />
im Übrigen ein neuer Ethikrat,der direkt<br />
beim K<strong>an</strong>zler <strong>an</strong>gesiedelt würde.<br />
Bei diesen und <strong>an</strong>deren Fragen wird<br />
in Zukunft neben Schmidt und Schaich-<br />
Walch der zweite Staatssekretär Dr.<br />
Klaus Theo Schröder ein Wort mitzureden<br />
haben (dazu auch „Seite eins“).<br />
Richter-Reichhelm, zugleich KV-<br />
Vorsitzender in Berlin, kennt ihn als<br />
ruhigen, sachlichen Gesprächspartner.<br />
Auch zu Gudrun Schaich-Walch habe<br />
m<strong>an</strong> einen guten Draht. „Sie ist seit l<strong>an</strong>gem<br />
in diesem Themenfeld sachkundig“,<br />
bekräftigt Hoppe. Er sieht eine<br />
Ch<strong>an</strong>ce darin, dass das Bundesgesundheitsministerium<br />
nun in der H<strong>an</strong>d des<br />
großen Koalitionspartners ist.<br />
Ulla Schmidt auf Schröders Linie<br />
Einfach wird es aber auch in Zukunft<br />
nicht. Denn innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion<br />
sind die Meinungen, welche<br />
gesundheitspolitischen Reformen
D O K U M E N T A T I O N<br />
die richtigen sind, geteilt. Schröder steht<br />
für einen eher wirtschaftsfreundlichen,<br />
„modernen“ Kurs; er wird sich kaum eine<br />
Ministerin ausgesucht haben, die eine<br />
völlig <strong>an</strong>dere Linie vertritt. Schaich-<br />
Walchs Position ist schwer zu bestimmen.<br />
Sie hat sich in letzter Zeit zum Beispiel<br />
für eine Überprüfung des Leistungskatalogs<br />
der GKV ausgesprochen<br />
wie auch für Alternativen zur jetzigen<br />
Budgetpolitik. Ihr jüngster Vorschlag<br />
zielte darauf ab, den Ärzten mehr Zeit<br />
einzuräumen, ein überzogenes Arzneimittel-Jahresbudget<br />
auszugleichen. Vieles<br />
traf in ihrer Fraktion keinesfalls<br />
auf Zustimmung. Dort stehen Klaus<br />
Kirschner, der Vorsitzende des Bewertungsausschusses<br />
für Gesundheit, und<br />
Regina Schmidt-Zabel, die neue gesundheitspolitische<br />
Sprecherin, eher für<br />
eine traditionelle Haltung. Und was ist<br />
von Ulla Schmidt zu erwarten Da sie<br />
keine gesundheitspolitische Erfahrung<br />
besitzt, weiß m<strong>an</strong> über ihre Absichten<br />
noch nicht viel. Schröder hat jedoch im<br />
Gespräch mit Hoppe und Richter-<br />
Reichhelm bekräftigt, dass in der nächsten<br />
Legislaturperiode eine Reform der<br />
GKV nach dem Muster der Rentenversicherung<br />
<strong>an</strong>steht. Für diese Thematik<br />
wäre die neue Ministerin, die als ausgewiesene<br />
Rentenexpertin gilt, d<strong>an</strong>n gut<br />
gerüstet.<br />
Sabine Rieser<br />
Heft 4, 26. J<strong>an</strong>uar 2001<br />
Gentechnik<br />
Der Zweck heiligt die Mittel<br />
Das Ziel, Gewebe aus embryonalen Stammzellen zu züchten<br />
und Therapien zu entwickeln, lässt ethische Bedenken in den Hintergrund treten.<br />
Die Karten in der Gesundheitspolitik<br />
werden neu gemischt. Das<br />
betrifft auch die Gentechnik. Die<br />
Parlamentarische Staatssekretärin im<br />
Bundesgesundheitsministerium, Gudrun<br />
Schaich-Walch (SPD), kündigte bereits<br />
<strong>an</strong>, dass es keine übereilten gesetzlichen<br />
Neuregelungen geben werde,<br />
damit wohl auch kein neues Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
in dieser Legislaturperiode.<br />
Bisher hatte Ex-Gesundheitsministerin<br />
Andrea Fischer als<br />
„Bremse“ in Sachen Gentechnik gegolten.<br />
Ihr Eckpunktepapier sah vor,<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik und das<br />
Klonen von menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
zu verbieten. Wenn es nun bei dem aus<br />
dem Jahr 1990 stammenden <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
bleibt, wird auch der<br />
Import und damit die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
erlaubt bleiben.<br />
Diskussion im EU-Parlament<br />
„Das erste geklonte Baby wird früher<br />
zur Welt kommen, als dem ersten Parkinson-Patienten<br />
durch embryonale<br />
Stammzellen wirksam geholfen wird“,<br />
meint Dr. med. Peter Liese (CDU),<br />
Mitglied des Europäischen Parlaments,<br />
<strong>an</strong>gesichts dieser Entwicklung. „Wir<br />
müssen die Ch<strong>an</strong>cen der Gentechnik<br />
nutzen, aber die Menschenwürde muss<br />
das oberste Prinzip sein.“ Am 16. J<strong>an</strong>uar<br />
hat im Europäischen Parlament der<br />
Ausschuss „Hum<strong>an</strong>genetik und die <strong>an</strong>deren<br />
neuen Technologien in der modernen<br />
Medizin“ seine Arbeit aufgenommen.<br />
36 Mitglieder aus allen politischen<br />
Fraktionen werden sich ein Jahr<br />
l<strong>an</strong>g mit den Möglichkeiten und Gefahren<br />
der DNA-Analyse, der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sowie mit den Fragen<br />
des Klonens von menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
und der Patentierung von biotechnologischen<br />
Erfindungen beschäftigen.<br />
Das Europäische Parlament lehnt<br />
das Klonen von Menschen grundsätzlich<br />
ab. Liese befürchtet dennoch bald<br />
einen Dammbruch in Europa. Der<br />
Grund: Die britische Regierung will<br />
das Herstellen von menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> durch die gleiche Methode<br />
erlauben, die zum geklonten Schaf<br />
Dolly führte. Am 20. Dezember 2000<br />
hat sie dafür die Unterstützung des<br />
Unterhauses (jedoch nicht des Oberhauses)<br />
bekommen. Die Methode sei<br />
notwendig, um Patienten mit Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
wie Parkinson oder Diabetes<br />
zu helfen, argumentieren die Befürworter<br />
des therapeutischen Klonens.<br />
Indes hofft Liese auf den entschiedenen<br />
Widerst<strong>an</strong>d von Staats- und Regierungschefs<br />
gegen die britische Initiative.<br />
Geklontes Baby ist nicht weit<br />
Wenn einmal das Ziel, dem Menschen<br />
zu helfen, über den ethischen Bedenken<br />
stünde, sei das Klonen nicht mehr aufzuhalten,<br />
meinen Kritiker. Ein Beispiel<br />
dafür ist Baby Adam in den USA.Adam<br />
wurde durch Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und In-vitro-Fertilisation so selektiert,<br />
dass er seiner <strong>an</strong> Leukämie erkr<strong>an</strong>kten<br />
Schwester als Zellspender dienen<br />
konnte.<br />
Für die Hoffnung auf Hilfe dürfe<br />
nicht der <strong>Embryonen</strong>schutz geopfert<br />
werden: „Es ist viel einfacher, geklonte<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> in den Uterus<br />
einzupfl<strong>an</strong>zen, als aus menschlichen<br />
embryonalen Stammzellen wirksame<br />
Therapien zu entwickeln“, gibt Liese zu<br />
bedenken. Trotzdem gebe es Alternativen.<br />
Für aussichtsreich hält Liese die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten Stammzellen.<br />
Diese könnten beispielsweise aus der<br />
Nabelschnur gewonnen werden, wogegen<br />
sonst der Embryo zerstört würde.<br />
Große deutsche Pharma-Unternehmen<br />
investieren bereits in die adulte Stammzellforschung.<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
69
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 4, 26. J<strong>an</strong>uar 2001<br />
Medizinethik<br />
Irritationen<br />
Zunächst sah es so aus, als bahne sich<br />
in der Regierungskoalition bei der<br />
Einstellung zu medizinethischen<br />
Fragen ein Kurswechsel <strong>an</strong>. Bundesk<strong>an</strong>zler<br />
Gerhard Schröder hatte Ende<br />
letzten Jahres vor „ideologischen<br />
Scheuklappen“ bei Fragen der Gentechnik<br />
gewarnt. Juli<strong>an</strong> Nida-Rümelin<br />
hatte noch vor seinem Amts<strong>an</strong>tritt als<br />
neuer Kulturstaatsminister <strong>Embryonen</strong><br />
eine Menschenwürde abgesprochen.<br />
Die neue Parlamentarische Staatssekretärin<br />
im Bundesgesundheitsministerium,<br />
Gudrun Schaich-Walch (SPD),<br />
grenzte sich von der Linie der bisherigen<br />
Gesundheitsministerin Andrea Fischer<br />
ab. Schaich-Walch hält es nämlich<br />
nicht für erforderlich, noch in dieser Legislaturperiode<br />
ein Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
zu verabschieden. Darin<br />
wollte Fischer die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
unmissverständlich verbieten.<br />
Das therapeutische Klonen ist zwar<br />
nicht erlaubt, eine Lücke im Gesetz ermöglicht<br />
jedoch das Forschen mit embryonalen<br />
Stammzellen aus dem Ausl<strong>an</strong>d.<br />
Die Äußerungen der Politiker<br />
stießen allerdings sogar in den eigenen<br />
Reihen auf Protest. So bezeichnete der<br />
Parlamentarische Geschäftsführer der<br />
SPD, Wilhelm Schmidt, die Ankündigungen<br />
Schaich-Walchs als „verfrüht“.<br />
Auch die Bündnisgrünen sind irritiert:<br />
Darüber müsse in der Koalition zunächst<br />
geredet werden, teilten sie mit.<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
registrierte, dass der Bundesk<strong>an</strong>zler<br />
die wirtschaftlichen und therapeutischen<br />
Aspekte offensichtlich gegenüber<br />
dem Lebensschutz stärker gewichte als<br />
Andrea Fischer.<br />
Möglicherweise überrascht von diesen<br />
Reaktionen, bekräftigte Schröder inzwischen,<br />
dass „Deutschl<strong>an</strong>d auf die <strong>Forschung</strong><br />
mit adulten Stammzellen setzt“.<br />
Bundesjustizministerin Herta Däubler-<br />
Gmelin (SPD) betonte ebenfalls, dass es<br />
keinen Kurswechsel geben werde. Sie<br />
warnte davor,dass Gentests bei <strong>Embryonen</strong><br />
zu einer „Selektion von Menschen“<br />
führen könnten. Es bleibt allerdings zu<br />
bezweifeln, ob die Bundesregierung nicht<br />
letztlich doch die Gentechnik vorwiegend<br />
unter ökonomischen Gesichtspunkten<br />
bewerten wird. Gisela Klinkhammer<br />
Obwohl eine Novellierung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
vorerst in<br />
die Ferne gerückt ist, bleibt die<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin ein bris<strong>an</strong>tes<br />
Thema. Besonderer Streitpunkt: die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>). Das<br />
Positionspapier von Ex-Bundesgesundheitsministerin<br />
Andrea Fischer, das unter<br />
<strong>an</strong>derem das Verbot der <strong>PID</strong> vorgesehen<br />
hatte, ist inzwischen in einer<br />
Schublade des BMG verschwunden.<br />
Konkrete Vorstellungen, in welchen<br />
Punkten das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
geändert werden sollte, liegen jedoch<br />
auch von <strong>an</strong>deren Seiten vor.<br />
Bei einer Podiumsdiskussion der<br />
Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft,<br />
der Gesellschaft für Geburtshilfe<br />
und Gynäkologie und der Kaiserin-<br />
Friedrich-Stiftung tauschten sich Ende<br />
J<strong>an</strong>uar in Berlin Ärzte, Ethiker, Naturwissenschaftler,<br />
Juristen und Politiker<br />
über aktuelle Entwicklungen und Kontroversen<br />
innerhalb der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
aus. Prof. Dr. med. Heribert<br />
Kentenich, Chefarzt der Frauenklinik<br />
der DRK-Kliniken Westend,<br />
Berlin, stellte sein Konzept zur Änderung<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
vor, das großen Zuspruch f<strong>an</strong>d.<br />
Kentenich plädierte für eine „limitierte,<br />
jedoch positive Regelung der<br />
<strong>PID</strong> in Deutschl<strong>an</strong>d“. Die Information<br />
und Beratung der Paare müsse verbes-<br />
Heft 7, 16. Februar 2001<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
Die Gewichteverschieben sich<br />
Ob die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
zugelassen werden soll, ist weiterhin umstritten. Die<br />
Zahl der Befürworter nimmt jedoch zu.<br />
sert werden, um es ihnen zu ermöglichen,<br />
sowohl den Weg der <strong>PID</strong> als auch<br />
den „normalen“ Weg zu einer Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
zu gehen, sagte der Gynäkologe.<br />
Im Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
müsse es hierfür eine klare gesetzliche<br />
Regelung geben. Die Grenzen, die das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz derzeit setzt,<br />
hält Kentenich für „unzeitgemäß und<br />
<strong>an</strong> die Konfliktsituation nicht konkret<br />
genug adaptiert“. Die spezifische Geschichte<br />
Deutschl<strong>an</strong>ds dürfe nicht dazu<br />
führen, dass die Reproduktionsmedizin<br />
generell in Deutschl<strong>an</strong>d einer sehr restriktiven<br />
Regelung unterworfen werde.<br />
Paare würden im Zweifelsfalle die<br />
<strong>PID</strong> im Ausl<strong>an</strong>d vornehmen lassen oder<br />
eine „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ eingehen.<br />
„Die <strong>PID</strong> k<strong>an</strong>n nicht unabhängig von<br />
der Pränataldiagnostik diskutiert werden“,<br />
betonte der Präsident der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), Prof. Dr. med.<br />
Jörg-Dietrich Hoppe. Die moment<strong>an</strong>e<br />
„Unlogik im Schutz des Lebens“ hätte<br />
er auch beim K<strong>an</strong>zlergespräch Anf<strong>an</strong>g<br />
J<strong>an</strong>uar dargestellt und auf den dringenden<br />
Regelungsbedarf hingewiesen. Die<br />
Meinung innerhalb der BÄK zur <strong>PID</strong><br />
sei heterogen, aber würde prinzipiell dem<br />
im Frühjahr 2000 vorgelegten Diskussionsentwurf<br />
entsprechen, so Hoppe.<br />
„Vor dem Hintergrund der „Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
auf Probe“ müsste die <strong>PID</strong> erlaubt<br />
sein“, meinte Dr. med. Christi<strong>an</strong>e<br />
Woopen, Institut für Geschichte und<br />
Ethik in der Medizin der Universität<br />
Köln, Mitglied des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der BÄK. In dessen Arbeitsgruppe<br />
„Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
sei über mögliche Änderungen des Entwurfs<br />
gesprochen worden, berichtete<br />
sie. So müsse der Screeningeffekt bei<br />
der <strong>PID</strong> noch deutlicher ausgeschlossen<br />
70
D O K U M E N T A T I O N<br />
und die psychosoziale Beratung verstärkt<br />
werden.<br />
Dass der Forderung nach einer hum<strong>an</strong>genetischen<br />
Beratung vor einer <strong>PID</strong><br />
im Diskussionsentwurf der BÄK nicht<br />
genügend Rechnung getragen werde,<br />
monierte Prof. Dr. rer. nat. Karl Sperling,<br />
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft<br />
für Hum<strong>an</strong>genetik. Im Übrigen<br />
vertrete seine Fachgesellschaft die Ansicht,<br />
dass die <strong>PID</strong> grundsätzlich allen<br />
Frauen zur Verfügung stehen sollte, die<br />
ein erhöhtes genetisches Risiko für eine<br />
schwerwiegende kindliche Erkr<strong>an</strong>kung<br />
tragen. Die <strong>PID</strong> sei eine Möglichkeit<br />
der vorgeburtlichen Diagnostik, die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche und die damit<br />
verbundene Belastung der Betroffenen<br />
vermeiden könne. „Eine <strong>PID</strong> darf<br />
jedoch nur unter Einhaltung strikter<br />
Richtlinien erfolgen“, betonte Sperling.<br />
Prof. Dr. jur. Friedhelm Hufen, Lehrstuhl<br />
für öffentliches Recht der Universität<br />
Mainz, plädierte nicht nur für die<br />
Zulassung der <strong>PID</strong>. Er ging sogar noch<br />
weiter: „Da die Pränataldiagnostik zur<br />
Nachgefragt<br />
DÄ: Die Bundesregierung will<br />
eine Überarbeitung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
vorerst<br />
auf Eis legen. Halten Sie eine<br />
Novellierung zurzeit für nötig<br />
Ulrike Flach: Das wäre nur<br />
die zweitbeste Lösung. Besser<br />
wäre ein neues Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz,<br />
das diesen<br />
Bereich umfassend regelt.<br />
Die <strong>Forschung</strong> und die medizinischen<br />
Anwendungsmöglichkeiten<br />
rasen vor<strong>an</strong>, das Recht<br />
humpelt hinterher. Eine Verschiebungsstrategie<br />
ist grundfalsch.<br />
Die FDP meint, dass<br />
wir noch in dieser Legislaturperiode<br />
entweder ein Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
oder eine<br />
Novellierung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
brauchen.<br />
DÄ: In welchen Punkten würden<br />
Sie das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
ändern<br />
Ulrike Flach: Wir wollen eine<br />
offene, fraktionsübergreifende<br />
Diskussion zur Schaffung von<br />
rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
für die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>). Dieses<br />
Verfahren ist ja nach Meinung<br />
<strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nter Rechtsexperten<br />
prinzipiell im <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
schon vorgesehen.<br />
Die <strong>PID</strong> könnte bei Invitro-Fertilisation<br />
generell <strong>an</strong>wendbar<br />
sein, müsste aber in<br />
der Entscheidungsgewalt der<br />
Eltern bleiben. Gleichzeitig<br />
müssten natürlich Missbrauchschr<strong>an</strong>ken<br />
eingebaut werden.<br />
Die <strong>PID</strong> muss auf die Verhinderung<br />
genetischer Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
dort beschränkt werden,<br />
wo die Eltern das Risiko sehen<br />
und begründen können.<br />
DÄ: Gibt es für Sie Tabus<br />
Ulrike Flach: Natürlich! Tabu<br />
ist beispielsweise die<br />
Züchtung von Menschen. Tabu<br />
sind auch alle M<strong>an</strong>ipulationen,<br />
die darauf zielen, Kinder<br />
nach Wunsch mit blauen<br />
oder grünen Augen, blonden<br />
oder schwarzen Haaren zu<br />
schaffen. Außerdem müssen<br />
wir uns immer fragen: Rechtfertigt<br />
das Ziel den Eingriff<br />
Die Erfüllung des Kinderwunsches<br />
für Eltern mit hohen genetischen<br />
Risiken rechtfertigt<br />
ihn, nicht aber die Züchtung<br />
von Zwitterwesen aus<br />
Mensch und Tier. Wir werden<br />
Verfügung steht, ist ein absolutes Verbot<br />
der <strong>PID</strong> un<strong>an</strong>gemessen.“ Aus verfassungsrechtlicher<br />
Sicht bedürfe nicht<br />
die Zulassung, sondern das Verbot der<br />
<strong>PID</strong> einer Rechtfertigung.<br />
Auch <strong>an</strong>dere Änderungen des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes,für<br />
die sich Kentenich<br />
in der Berliner Ver<strong>an</strong>staltung einsetzte,<br />
wären nach Ansicht Hufens verfassungsrechtlich<br />
in vollem Umf<strong>an</strong>g<br />
möglich. Kentenich forderte unter <strong>an</strong>derem<br />
die Zulassung der Eizellspende.<br />
Es sei ein „Sk<strong>an</strong>dal“, dass die Eizellgewinnung<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d schwieriger sei<br />
als die Samenzellgewinnung und sich<br />
ein Arzt potenziell strafbar mache,<br />
wenn er die Adresse eines Beh<strong>an</strong>dlungszentrums<br />
im Ausl<strong>an</strong>d weitergebe.<br />
Für die Samenzellspende forderte Kentenich<br />
klare gesetzliche Regelungen.<br />
Ferner sprach er sich dafür aus, die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> und ihre Selektion<br />
unter strengen Limits zu erlauben.<br />
Gegner der <strong>PID</strong> waren bei der Podiumsdiskussion<br />
in Berlin nicht <strong>an</strong>wesend.<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
aber noch oft vor einem Abwägungskonflikt<br />
stehen.<br />
DÄ: Unter welchen Bedingungen<br />
würden Sie die <strong>PID</strong><br />
erlauben<br />
Ulrike Flach: Die Bundesärztekammer<br />
hat einen Entwurf<br />
vorgelegt, den ich als Grundlage<br />
für geeignet halte. Darin<br />
sind klare Zulassungsbedingungen<br />
und berufsrechtliche<br />
Voraussetzungen enthalten.<br />
DÄ: Ist die <strong>PID</strong> nicht der erste<br />
Schritt zum „Designer-Baby“<br />
Ulrike Flach: <strong>PID</strong> ist eine<br />
Methode für einen sehr eingeschränkten<br />
Kreis von Eltern.<br />
Wenn keine medizinischen<br />
Gründe vorliegen, sondern<br />
einfach das „Wunschkind“<br />
geschaffen werden soll, würde<br />
ich keine Zustimmung zur<br />
Anwendung geben. Freilich:<br />
Die technischen Möglichkeiten<br />
für das „Designer-Baby“<br />
gibt es. Die Gesellschaft muss<br />
sich darüber einigen, welche<br />
Werteorientierung gelten soll.<br />
<strong>PID</strong> ist ja nur ein Werkzeug; es<br />
kommt darauf <strong>an</strong>, zu welchem<br />
Zweck es verwendet wird.<br />
Die Fragen stellte Dr. med. Eva A. Richter<br />
Heft 8, 23. Februar 2001<br />
Medizinische Ethik<br />
Auf<br />
Schlingerkurs<br />
Wohin die Bundesregierung<br />
bei der Gentechnik steuert,<br />
bleibt unklar.<br />
Ein möglicher Kurswechsel der Bundesregierung<br />
in der Gentechnik<br />
zeichnet sich bereits seit längerem ab.<br />
In einer Antwort auf eine kleine Anfrage<br />
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die<br />
letzte Woche vorgelegt wurde,bezieht die<br />
Regierung Stellung unter <strong>an</strong>derem zu<br />
den Themen Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
und gepl<strong>an</strong>te Einrichtung eines nationalen<br />
Ethikrates. Klare Aussagen lässt<br />
die Koalition jedoch vermissen.<br />
Die damalige Bundesgesundheitsministerin<br />
Andrea Fischer wollte noch in dieser<br />
Legislaturperiode ein Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
verabschieden, in dem unter<br />
<strong>an</strong>derem die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
eindeutig verboten werden sollte.Um<br />
möglichst schnell zu klaren Positionen zu<br />
kommen, hatte das Bundesgesundheitsministerium<br />
im letzten Jahr ein hochkarätiges<br />
Symposium ver<strong>an</strong>staltet. Doch<br />
Fischers Bestrebungen finden zurzeit offenbar<br />
keine Fortsetzung.<br />
Ausweichend fällt jedenfalls die Stellungnahme<br />
zu einem künftigen Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
aus. Die Bundesregierung:<br />
Auf dem Symposium sei<br />
der „derzeitige Meinungsst<strong>an</strong>d der medizinischen<br />
Wissenschaft und Praxis, der<br />
<strong>Forschung</strong>, Ethik, Rechtswissenschaft<br />
und Sozialwissenschaft von den unterschiedlichen<br />
St<strong>an</strong>dpunkten aus dargestellt<br />
und kontrovers diskutiert“ worden.<br />
Vor der Entscheidung über gesetzliche<br />
Regelungen sollte nach Auffassung der<br />
Bundesregierung die Debatte im Bundestag<br />
intensiv fortgesetzt werden. Und<br />
bei dem von Andrea Fischer vorgelegten<br />
Eckpunktepapier,in dem sie ihre Vorstellungen<br />
dargelegt hatte, habe es sich nicht<br />
„um ein innerhalb der Bundesregierung<br />
abgestimmtes Konzept für ein mögliches<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz geh<strong>an</strong>delt,<br />
sondern um ein Positionspapier, das die<br />
71
D O K U M E N T A T I O N<br />
Meinung der damaligen Bundesministerin<br />
für Gesundheit wiedergab“.<br />
Andrea Fischers strikte Auffassung<br />
werde jetzt nicht mehr geteilt, sagte der<br />
Präsident der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich<br />
Hoppe, der Katholischen Nachrichten-<br />
Agentur. Hoppe glaubt indessen nicht<br />
<strong>an</strong> einen generellen Kurswechsel der<br />
Bundesregierung in der Biomedizin. So<br />
haben sich beispielsweise Bundesjustizministerin<br />
Herta Däubler-Gmelin und<br />
Bundesforschungsministerin Edelgard<br />
Bulmahn deutlich gegen das Klonen von<br />
<strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken ausgesprochen.<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard<br />
Schröder und Bundesgesundheitsministerin<br />
Ulla Schmidt seien jedoch möglicherweise<br />
bereit, die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
in sehr eng gefassten Grenzen<br />
zu gestatten, so der BÄK-Präsident.<br />
Ob bereits wenige Tage alten <strong>Embryonen</strong><br />
eine Menschenwürde zugesprochen<br />
werden k<strong>an</strong>n, lässt die Bundesregierung<br />
ebenfalls offen. Sie dist<strong>an</strong>ziert sich jedenfalls<br />
nicht ausdrücklich von Äußerungen<br />
des Kulturstaatsministers Juli<strong>an</strong> Nida-<br />
Rümelin (SPD), der die Auffassung vertritt,<br />
dass sich „das Kriterium Menschenwürde<br />
nicht auf <strong>Embryonen</strong> ausweiten“<br />
lässt. „Ethische Argumente sind keine<br />
rechtlichen Argumente“, heißt es dazu in<br />
der Stellungnahme der Bundesregierung.<br />
In der internationalen Philosophie würden<br />
Begriffe wie zum Beispiel der der<br />
Menschenwürde gelegentlich <strong>an</strong>ders verwendet<br />
als im verbindlichen deutschen<br />
Verfassungsrecht. Die Bundesregierung<br />
sehe sich in ihrem H<strong>an</strong>deln auch künftig<br />
verfassungsrechtlich verpflichtet, die<br />
Würde des Menschen, wie sie in der<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
ihren Ausdruck gefunden hat, zu<br />
achten und zu schützen.<br />
Auch zur Zulässigkeit von Gentests<br />
und ihrer Verwertung wurde die Bundesregierung<br />
befragt. Sie sieht „für die<br />
Verwertung von aus genetischen Tests<br />
gewonnenen Erkenntnissen beim Zug<strong>an</strong>g<br />
zu Sozialversicherungen keinen<br />
Raum“. Die Bundesregierung bewertet<br />
es positiv, dass „in der privaten Kr<strong>an</strong>ken-,<br />
Unfall- und Lebensversicherung<br />
Gentests gegenwärtig nicht als Voraussetzung<br />
für den Abschluss von Versicherungsverträgen<br />
verl<strong>an</strong>gt werden“.<br />
Darauf hätte sich die deutsche Versicherungswirtschaft<br />
verständigt.<br />
Heft 10, 9. März 2001<br />
Biomedizin<br />
Diese Äußerung stieß auf Kritik bei<br />
den Bundestagsabgeordneten Hubert<br />
Hüppe und Annette Widm<strong>an</strong>n-Mauz<br />
(beide CDU). Sie erklären, dass die<br />
Bundesregierung offenbar ungerührt<br />
scheine von den Sorgen der Bürger, die<br />
mit Recht eine verlässlichere Grundlage<br />
erwarteten als Absprachen unter Wirtschaftsunternehmen.<br />
Nicht nur bei Oppositionspolitikern,<br />
sondern auch in<br />
den eigenen Reihen stieß die Ankündigung<br />
Schröders, einen nationalen Ethikrat<br />
einzurichten, auf Kritik. Dieser solle,<br />
so die Bundesregierung, „die verschiedenen<br />
gesellschaftlichen Positionen<br />
widerspiegeln“. Während Ulla<br />
Schmidt die Einrichtung eines Ethikrates<br />
begrüßt, hält Monika Knoche<br />
(Bündnis 90/Die Grünen) ihn nicht<br />
für erforderlich. Ethikräte hätten keine<br />
Definitionshoheit darüber, was das<br />
ethisch Ver<strong>an</strong>twortbare sei. Außerdem<br />
gebe es bereits einen bei dem Bundesgesundheitministerium<br />
zugeordneten<br />
Ethikbeirat sowie die vom Bundestag<br />
eingesetzte Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen Medizin“.<br />
Doch offensichtlich, so Hüppe und<br />
Widm<strong>an</strong>n-Mauz, „passt deren Arbeit<br />
Schröder nicht“. Gisela Klinkhammer<br />
Kein „Hirtenwort“, sondern<br />
Diskussions<strong>an</strong>stoß<br />
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat ein<br />
Thesenpapier zur Bioethik vorgelegt.<br />
Das Zentralkomitee der deutschen<br />
Katholiken (ZdK) will die Überarbeitung<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
oder die Erarbeitung eines<br />
neuen Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetzes<br />
begleiten – und zwar ohne ideologische<br />
Scheuklappen. Dabei hält die katholische<br />
Laienorg<strong>an</strong>isation prinzipiell <strong>an</strong><br />
ihren Positionen fest, wünscht sich jedoch<br />
eine breite gesellschaftliche Debatte.<br />
Unter dem hohen Tempo des biomedizinischen<br />
Erkenntnisgewinns sowie<br />
dem Druck auf die Politiker, die<br />
strengen deutschen St<strong>an</strong>dards im <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
zu „nivellieren“, gerate<br />
der ethische Diskurs zunehmend in die<br />
Defensive, warnt das ZdK.<br />
„Nicht nur die Kritiker, sondern auch<br />
die Befürworter des biomedizinischen<br />
Fortschritts müssen die Gründe für ihr<br />
H<strong>an</strong>deln offen legen“, heißt es im Thesenpapier<br />
„Der biomedizinische Fortschritt<br />
als Herausforderung für das<br />
christliche Menschenbild“, das das ZdK<br />
am 1. März in Berlin vorstellte. Darin<br />
werden die katholischen Orientierungen<br />
ben<strong>an</strong>nt und begründet (www.zdk.de).<br />
Die neun „Orientierungen im<br />
Zeitalter der Biomedizin“ des ZdK:<br />
● Die Würde des Menschen ist un<strong>an</strong>tastbar; vom<br />
Moment der Zeugung bis zum Tod.<br />
● Das menschliche Leben ist der Verfügbarkeit<br />
des Menschen entzogen; niem<strong>an</strong>d darf darüber<br />
urteilen, wer lebenswert oder lebensunwert ist.<br />
● Das menschliche Leben ist unteilbar; vorgeburtliche<br />
Phase und der erste Lebensabschnitt unterscheiden<br />
sich nur graduell.<br />
● Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene<br />
und Neuronen.<br />
● Der christliche Glaube stellt Menschen mit<br />
Behinderungen, Kr<strong>an</strong>kheiten und Benachteiligungen<br />
in den Mittelpunkt; Gendiagnostik darf<br />
nur nach Einwilligung erfolgen.<br />
● Der Mensch bedarf der Erlösung; nahezu religiöse<br />
Verheißungen der Medizin und der Technik<br />
sind realitätsferne Illusionen.<br />
● Biomedizinische Fortschritte müssen dem Wohl<br />
der Patienten dienen.<br />
● Jeder Mensch ist für sein H<strong>an</strong>deln ver<strong>an</strong>twortlich;<br />
Forscher, Anwender und Nutzer müssen<br />
sich ein eigenes Urteil bilden.<br />
● Der Staat ist auf die Menschenwürde verpflichtet;<br />
sie darf nicht der <strong>Forschung</strong>sfreiheit und<br />
Marktinteressen geopfert werden.<br />
72
D O K U M E N T A T I O N<br />
Das ZdK wolle nicht belehren, sondern<br />
einen Denk- und Diskussions<strong>an</strong>stoß<br />
zum „Jahr der Lebenswissenschaften“<br />
2001 liefern, betonte Dr. Thomas Sternberg,<br />
Sprecher des kulturpolitischen Arbeitskreises<br />
des ZdK.<br />
Dass es den Katholiken mit der Diskussion<br />
Ernst ist, zeigte die öffentliche<br />
Vorstellung des Thesenpapiers. Diese<br />
war nicht als Frontal-, sondern als Diskussionsver<strong>an</strong>staltung<br />
konzipiert,zu der<br />
Politiker verschiedener Fraktionen, Befürworter,<br />
aber auch Gegner der katholischen<br />
Position eingeladen waren. Von<br />
ihnen mussten die Verfasser des Papiers<br />
einige Kritik einstecken. Bereits die mit<br />
der Biomedizin verbundenen Visionen<br />
seien zu negativ dargestellt, bef<strong>an</strong>d Dr.<br />
Martin Hrabe de Angelis, München, einer<br />
der vier Koordinatoren des deutschen<br />
Hum<strong>an</strong>-Genom-Projektes. Die<br />
Ch<strong>an</strong>cen, die die Gentechnik den Menschen<br />
bietet, dürften nicht verschwiegen<br />
werden. Die katholische Laienorg<strong>an</strong>isation<br />
benennt die „Reproduktionsvision“<br />
(Gar<strong>an</strong>tie für die genetische Gesundheit<br />
der Neugeborenen), die<br />
„Steuerungsvision“ (frühzeitiges Erkennen<br />
von Kr<strong>an</strong>kheiten) und die „Heilungsvision“.<br />
Gleichzeitig warnte sie davor,<br />
dass hinter diesen Visionen häufig<br />
ökonomische Interessen stehen könnten.<br />
Ferner bestehe die Gefahr, dass sich<br />
unter dem Deckm<strong>an</strong>tel der Gesundheit<br />
<strong>an</strong>dere Gesichtspunkte einschleichen,<br />
wie eine „effizientere Ressourcenverwertung“<br />
oder der Wunsch nach „Verbesserung<br />
der Evolution“.<br />
Dass die Heilung von Menschen die<br />
biomedizinische <strong>Forschung</strong> rechtfertigt,<br />
erschien auch der <strong>an</strong>wesenden ehemaligen<br />
Bundesgesundheitsministerin Andrea<br />
Fischer (Grüne) zu „trivial“: „Heilung<br />
ist kein Wert, der <strong>an</strong>deres irrelev<strong>an</strong>t<br />
werden lässt“, sagte die Verfechterin eines<br />
restriktiven <strong>Embryonen</strong>schutzes.<br />
Leiden in Kauf zu nehmen, hält Angelis<br />
dagegen für problematisch: „Wenn es die<br />
Möglichkeit gibt zu heilen, müssen wir<br />
dies tun.“ Er warnte davor, dass jetzt das<br />
„ethische Ross zu hoch gesattelt wird“.<br />
Wo die Menschenwürde beginnt, die es<br />
zu schützen gelte, blieb schließlich offen.<br />
Die Katholiken gehen davon aus, dass<br />
das menschliche Leben „im biologischen<br />
Sinn“ und damit die Menschenwürde mit<br />
der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle<br />
beginnt. Jede Grenzziehung sei willkürlich.<br />
Fischer sieht dies ähnlich; m<strong>an</strong><br />
dürfe jedoch keine Norm daraus ableiten;<br />
graduelle Abstufungen seien möglich.<br />
So ist es straffrei, die Nidation des<br />
Embryos in den Uterus während der ersten<br />
14 Tage zu verhindern. Der Berliner<br />
Philosoph Prof. Dr. Volker Gerhardt,<br />
Vorsitzender der Bioethik-Kommission<br />
der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft,<br />
plädierte dafür, die Grenze für das<br />
„Menschsein“ bei der Geburt zu ziehen.<br />
Die vorgeburtliche Zeit dürfe jedoch<br />
nicht ignoriert werden, schränkte er ein.<br />
Heft 11, 16. März 2001<br />
Bischofskonferenz<br />
Ärztinnenbund<br />
Dammbruch befürchtet<br />
Für zweckmäßig hält er graduelle<br />
Schutzbestimmungen. Diese sähe das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz bereits vor,<br />
betonte Wolf-Michael Catenhusen<br />
(SPD), Parlamentarischer Staatssekretär<br />
im Bundesforschungsministerium.<br />
Zur Position der SPD äußerte er sich<br />
nicht. M<strong>an</strong> dürfe jedoch nicht jede<br />
Art von <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> erlauben.<br />
Um einen gesamtgesellschaftlichen<br />
Konsens zu finden, könne m<strong>an</strong> allerdings<br />
nicht auf Fundamentalisten<br />
eingehen.<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Warnung vor Missbrauch<br />
der Gentechnik<br />
Die katholischen Bischöfe lehnen Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und therapeutisches Klonen ab.<br />
Der Mensch: sein eigener Schöpfer“<br />
ist der Titel einer Schrift, die<br />
von der Deutschen Bischofskonferenz<br />
letzte Woche in Augsburg vorgestellt<br />
wurde. Die Antwort lautet erwartungsgemäß<br />
„nein“, und dies wird auch<br />
gleich zu Beginn des Papiers begründet:<br />
Heft 9, 2. März 2001<br />
„Menschliches Leben ist heilig und<br />
steht weder <strong>an</strong> seinem Anf<strong>an</strong>g noch <strong>an</strong><br />
seinem Ende zur Disposition. Das Leben<br />
ist der Verfügbarkeit des Menschen<br />
entzogen; da alle Menschen unter Gottes<br />
Schutz stehen, darf sich keiner am<br />
Leben des <strong>an</strong>deren vergreifen.“ ✁<br />
Ärztinnen sprechen sich gegen Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik aus.<br />
Der Deutsche Ärztinnenbund lehnt die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>)<br />
ab. Dabei beruft er sich auf eine Stellungnahme seines Ausschusses für<br />
Ethikfragen. Darin heißt es, dass m<strong>an</strong> mit Einführung der Methode befürchten<br />
müsse, dass ihre Anwendung auch auf weniger schwerwiegende<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten und <strong>an</strong>dere genetische Merkmale ausgeweitet werde. Das<br />
Hauptargument der Befürworter der <strong>PID</strong> sei, dass dadurch ein Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
und das damit verbundene Trauma für die Mutter vermieden<br />
werden könne. Die Mutter müsse jedoch bis zum Zeitpunkt der Bek<strong>an</strong>ntgabe<br />
der Ergebnisse der pränatalen Diagnostik damit rechnen, dass das ungeborene<br />
Kind eine erkennbar schwere Erkr<strong>an</strong>kung aufweise. Daher könne es auch<br />
nach <strong>PID</strong> zu einem Abbruch kommen. Die Stellungnahme k<strong>an</strong>n abgerufen<br />
werden unter: www.aerztinnenbund.de<br />
73
D O K U M E N T A T I O N<br />
Folgerichtig wird von den Bischöfen<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik als „Tötung<br />
menschlichen Lebens“ kategorisch<br />
abgelehnt. Sie sei ein „eindeutiges Instrument<br />
zur Selektion“, da genetisch<br />
belastete <strong>Embryonen</strong> aussortiert und<br />
vernichtet würden. Sie müsse daher in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d auch weiterhin verboten<br />
bleiben, fordert die Bischofskonferenz.<br />
Beim therapeutischen Klonen werde<br />
menschliches Leben, das immer zugleich<br />
personales und von Gott bejahtes<br />
Leben ist, zum Ersatzteillager degradiert.Auch<br />
medizinischer Nutzen könne<br />
kein Verfahren mit menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
rechtfertigen, das die un<strong>an</strong>tastbare<br />
Würde dieses Lebens infrage stelle.<br />
Das reproduktive Klonen wird ebenfalls<br />
abgelehnt, unter <strong>an</strong>derem weil der Embryo<br />
instrumentalisiert würde.<br />
Die Gentherapie wird allerdings nicht<br />
grundsätzlich von den Bischöfen verurteilt.<br />
Schon jetzt würden in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
Gentests für mehr als hundert Kr<strong>an</strong>kheiten<br />
<strong>an</strong>geboten. Mit ihrer Hilfe könne<br />
m<strong>an</strong> nicht nur bestehende Kr<strong>an</strong>kheiten<br />
feststellen, sondern auch Ver<strong>an</strong>lagungen<br />
für Kr<strong>an</strong>kheiten, die sich mit einer gewissen<br />
Wahrscheinlichkeit erst in Zukunft<br />
auswirken würden. Das Recht auf Nichtwissen<br />
gehöre allerdings zu den verfassungsmäßig<br />
verbrieften Persönlichkeitsrechten.<br />
Prädiktive Gentests dürfen nach<br />
Auffassung der Bischöfe weder von Arbeitgebern<br />
noch von Versicherungen<br />
verl<strong>an</strong>gt, <strong>an</strong>genommen oder verwertet<br />
werden. Bei der pränatalen Diagnostik<br />
heben die Bischöfe die Möglichkeit einer<br />
vorzeitigen Therapie hervor.Es könne jedoch<br />
nicht gebilligt werden, einen Embryo<br />
abzutreiben, bei dem eine Kr<strong>an</strong>kheit<br />
oder Behinderung festgestellt wurde.<br />
Gegen die Keimbahntherapie sprechen<br />
nach Ansicht der Bischöfe vor allem<br />
drei Argumente: die noch unausgereifte<br />
Methode; die für die Entwicklung notwendige<br />
verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
und die Gefahr des Missbrauchs<br />
zur Menschenzüchtung.<br />
Die Bischofskonferenz fordert den<br />
Bundestag auf, den Missbrauch der Gentechnik<br />
durch Gesetze zu verhindern.<br />
Unterstützung für ihr Anliegen erhielten<br />
sie unter <strong>an</strong>derem vom Ratsvorsitzenden<br />
der Ev<strong>an</strong>gelischen Kirche in Deutschl<strong>an</strong>d,<br />
Präses M<strong>an</strong>fred Kock. „In diesen<br />
Fragen passt kein Blatt Papier zwischen<br />
uns“, sagte er. Gisela Klinkhammer<br />
Heft 11, 16. März 2001<br />
Fortschritt der Biomedizin<br />
Die Politik steht vor der<br />
Quadratur des Kreises<br />
Unser Verhältnis zu Zeugung, Geburt und Tod hat sich<br />
radikal verändert. In dem Buch „Politik des Lebens – Politik des<br />
Sterbens“ beschreibt Andreas Kuhlm<strong>an</strong>n diese Umwälzungen<br />
und macht Vorschläge für Reaktionen der Politik. Das Deutsche<br />
Ärzteblatt veröffentlicht einen auszugsweisen Vorabdruck.<br />
Durch den Fortschritt der Biomedizin<br />
können Kr<strong>an</strong>kheitsverläufe<br />
besser begriffen und beeinflusst,<br />
im günstigen Fall abgewehrt und Leiden<br />
kuriert werden. Dieser Fortschritt<br />
rüttelt aber zugleich <strong>an</strong> den Grundfesten<br />
des menschlichen Selbstverständnisses:<br />
Das Verhältnis zur eigenen Physis,<br />
zu Zeugung, Geburt und Tod, zu versehrter<br />
Existenz muss neu bestimmt<br />
werden. Mit der Erkenntnis wächst<br />
nicht nur der Aktionsradius, sondern<br />
auch die Definitionsmacht des Menschen<br />
in Bezug auf seine eigene Natur.<br />
Je mehr er nämlich über die physischen<br />
Gesetzmäßigkeiten seines Daseins erfährt,<br />
desto größer wird zugleich sein<br />
H<strong>an</strong>dlungsspielraum: Mehr und mehr<br />
als Naturwesen beschrieben und begriffen,<br />
wird der Mensch zum Subjekt wie<br />
zum Objekt gezielter M<strong>an</strong>ipulation –<br />
zum Artefakt.<br />
Hinsichtlich Zeugung und Elternschaft<br />
ist gut zw<strong>an</strong>zig Jahre nach der ersten<br />
erfolgreichen Laborbefruchtung<br />
buchstäblich nichts mehr so, wie es einmal<br />
war. <strong>Embryonen</strong> können zu einem<br />
bestimmten Datum produziert und der<br />
Frau impl<strong>an</strong>tiert werden, sie können<br />
aber auch eingefroren und zu einem<br />
späteren Zeitpunkt übertragen werden<br />
– selbst d<strong>an</strong>n, wenn die Ei- und Samenspender<br />
inzwischen tot sind. Schließlich<br />
wird der Embryo zum Gegenst<strong>an</strong>d der<br />
Merkmalsselektion und -pl<strong>an</strong>ung. Pränatale<br />
Diagnostik und Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
erlauben es schon heute,<br />
die Geburt von Kindern mit bestimmten<br />
schweren Erkr<strong>an</strong>kungen zu verhindern.<br />
In dem Maße, in dem das menschliche<br />
Genom entschlüsselt und die<br />
Funktionsweise der einzelnen Gene offenbar<br />
wird, nimmt auch die Möglichkeit<br />
zu, Ver<strong>an</strong>lagungen zu diagnostizieren<br />
und eine entsprechende Auswahl zu<br />
treffen. Die Optimierung des Nachwuchses<br />
durch Genm<strong>an</strong>ipulation ist als<br />
ein Zukunftsszenario, das von m<strong>an</strong>chen<br />
Fachleuten nach Kräften ausgemalt<br />
wird, in der Öffentlichkeit schon sehr<br />
präsent. Lassen sich unter dem Einfluss<br />
der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin mehrere<br />
frühe Lebensstadien unterscheiden,<br />
über deren Eigenschaften und Status zu<br />
befinden ist, so führt die Intensivmedizin<br />
dazu, dass sich auch am Ende des<br />
Lebens menschliche Existenz vervielfältigt<br />
und ausdifferenziert. Die meisten<br />
entwickelten Gesellschaften sehen es<br />
inzwischen als legitim <strong>an</strong>, den Menschen<br />
Org<strong>an</strong>e zu entnehmen, wenn das<br />
Gehirn nicht mehr arbeitet, der Kreislauf<br />
aber durch Apparate aufrechterhalten<br />
werden k<strong>an</strong>n.<br />
Vor der Org<strong>an</strong>entnahme müssen die<br />
Ärzte sich vergewissern, dass es sich bei<br />
dem Patienten tatsächlich um einen<br />
Hirntoten h<strong>an</strong>delt. Das verl<strong>an</strong>gt ihnen<br />
wie dem Pflegepersonal ein zutiefst paradoxes<br />
Verhalten ab: Weil und obwohl<br />
der Patient noch lebendig aussieht – er<br />
atmet, ist durchblutet, zeigt bestimmte<br />
Reflexe –, muss ihm mitgespielt werden,<br />
als h<strong>an</strong>dle es sich um eine Leiche.<br />
Damit m<strong>an</strong> sicher sein k<strong>an</strong>n, dass der<br />
Hirnstamm nicht mehr funktioniert,<br />
wird der Körper auf dem Operationstisch<br />
in einer Weise malträtiert, die<br />
m<strong>an</strong> einem Lebenden nur zumuten<br />
würde, wenn das irgendeinen therapeutischen<br />
Nutzen für diesen selbst verspräche.<br />
Durch apparative Tests, vor al-<br />
74
D O K U M E N T A T I O N<br />
lem aber durch Drücken, Stechen,<br />
Kneifen, durch Einspülen von Eiswasser<br />
in die Gehörgänge oder Reizung des<br />
Atemzentrums mit Kohlendioxyd soll<br />
bestätigt werden, dass der Körper nicht<br />
mehr in signifik<strong>an</strong>ter Weise reagiert.<br />
Fällt der Test positiv aus, erklärt m<strong>an</strong><br />
den Patienten für hirntot und gibt ihn<br />
zur Expl<strong>an</strong>tation frei.<br />
Für die Org<strong>an</strong>entnahme wird der<br />
Körper in vielen Fällen vom Brust- bis<br />
zum Schambein aufgeschnitten wie ein<br />
Kadaver, den m<strong>an</strong> nach Belieben ausweiden<br />
k<strong>an</strong>n. Auf diese Prozedur reagiert<br />
der „tote“ Leib aber durch Ansteigen<br />
des Blutdrucks, Hautrötung,<br />
Schwitzen und Muskelkontraktionen.<br />
Dagegen werden Betäubungsmittel<br />
und muskelentsp<strong>an</strong>nende Pharmaka<br />
verabreicht, die die Restaktivität des<br />
Körpers unterdrücken. Da aber gar<strong>an</strong>tiert<br />
sein muss, dass die Org<strong>an</strong>e frisch<br />
bleiben, wird <strong>an</strong>dererseits der Kreislauf<br />
medikamentös unterstützt, damit der<br />
Körper weiterhin seinen Dienst tun<br />
k<strong>an</strong>n. Hirntoddiagnostik und Org<strong>an</strong>expl<strong>an</strong>tation<br />
schaffen also eine Sphäre<br />
zwischen Leben und Tod: Die Akteure<br />
müssen von dem, was sie sehen, abstrahieren<br />
und sich sagen, dass der Patient<br />
nichts mehr empfindet. Bevor sie expl<strong>an</strong>tieren<br />
können, müssen sie sich und<br />
<strong>an</strong>deren dies bestätigen, indem sie die<br />
Leiblichkeit desselben Patienten vehement<br />
stimulieren, <strong>an</strong>statt ihm, der doch<br />
„tot“ ist, seine Ruhe zu lassen.<br />
Entfesselte Dynamik einer<br />
<strong>an</strong>onymen Technologie<br />
Die bereits existierenden, zu erwartenden<br />
oder auch nur mutmaßlichen<br />
Neuerungen der Biomedizin drohen<br />
das menschliche Selbstverständnis und<br />
die menschlichen Lebensweisen radikal<br />
zu verändern. Das meiste, was offiziell<br />
als „Politik“ gilt, erscheint dagegen<br />
relativ bedeutungslos. Medizintechnologische<br />
Innovationen werden<br />
fast immer weitgehend unbemerkt von<br />
der Öffentlichkeit in den wissenschaftlichen<br />
Labors entwickelt. Wenn sie<br />
d<strong>an</strong>n plötzlich zum Gegenst<strong>an</strong>d einer<br />
hektischen und geradezu wuchernden<br />
Erörterung werden, geraten die Dispute<br />
über Präferenzen und Befürchtungen<br />
häufig eher diffus. Die moderne<br />
Medizin erscheint in den Augen ihrer<br />
Kritiker als „Biomacht“, die die Patienten<br />
erbarmungslos der eigenen Funktionslogik<br />
unterwirft. Diese werde durch<br />
unterschiedlichste Faktoren bestimmt:<br />
den Zw<strong>an</strong>g zur optimalen Anpassung<br />
der Menschen <strong>an</strong> soziale Erfordernisse,<br />
die entfesselte Dynamik einer <strong>an</strong>onymen<br />
Technologie sowie die Profit- und<br />
Profilierungsinteressen von Wissenschaftlern,<br />
Ärzten und des medizinisch-industriellen<br />
Komplexes. Das alles<br />
forciere den „Fortschritt“ und degradiere<br />
den Einzelnen zum bloßen<br />
Opfer, dessen Wünsche und Bedürfnisse<br />
keinerlei Berücksichtigung mehr finden<br />
würden.<br />
Dieses gerade in Deutschl<strong>an</strong>d so verbreitete,<br />
mit herrschaftskritischem Furor<br />
und mit allen Mitteln politischer<br />
Rhetorik beschworene Szenario einer<br />
menschenfeindlichen Medizin sieht sich<br />
notorisch mit dem Einw<strong>an</strong>d konfrontiert,<br />
dass viele therapeutische Neuerungen<br />
sehr wohl für sich in Anspruch<br />
nehmen können, den Interessen und<br />
Hoffnungen g<strong>an</strong>z bestimmter Patienten<br />
zu dienen. Der Verweis, dass Institutionen<br />
und Technologien die Autonomie<br />
und das Wohlergehen von Individuen<br />
bedrohen, ignoriert häufig mit frappierender<br />
Hartnäckigkeit, welche Bedeutung<br />
dem Heilungs- oder Präventionswunsch<br />
konkreter Personen für die Legitimierung<br />
selbst risk<strong>an</strong>ter oder<br />
ethisch fragwürdiger wissenschaftlicher<br />
und therapeutischer Bemühungen zukommt.<br />
In säkularisierten Gesellschaften<br />
gilt die Gesundheit des Einzelnen als<br />
weithin <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nter und hoch ver<strong>an</strong>schlagter<br />
Wert. Einwände, die den<br />
medizinischen Fortschritt infrage stellen,<br />
sind dagegen meistens machtlos.<br />
Gemeinwesen, die sich verfassungsgemäß<br />
als Sozialstaaten verstehen, ist<br />
ja das g<strong>an</strong>z elementare, gerade auch<br />
physische Wohlergehen ihrer Bürger<br />
glücklicherweise nicht gleichgültig. In<br />
solch einem sozialen Rahmen muss das<br />
Heilsversprechen der Medizin auf<br />
fruchtbaren Boden fallen. Gewiss, die<br />
frohe Botschaft der Fortschrittslobbyisten<br />
wird häufig geradezu milit<strong>an</strong>t<br />
verbreitet. Was sich <strong>an</strong> ernstlichen<br />
Warnungen selbst dem nur vagen Versprechen<br />
auf therapeutische Errungenschaften<br />
in den Weg stellt, wird<br />
förmlich niedergewalzt mit dem forschen<br />
Verweis, dass Recht hat, wer heilt<br />
oder das Heilen – eventuell – befördert.<br />
Die berechtigte Kritik <strong>an</strong> einem<br />
solchen Fortschrittsfuror sollte aber<br />
nicht darüber hinwegtäuschen, in welchem<br />
Maße dieser mit der Akzept<strong>an</strong>z<br />
der – meist schweigenden – Mehrheit<br />
rechnen k<strong>an</strong>n.<br />
Hinter der Vorstellung, Wunschkinder<br />
„fabrizieren“, Fortpfl<strong>an</strong>zung „m<strong>an</strong>agen“<br />
und auch das Sterben souverän<br />
„beherrschen“ zu können, verbergen<br />
sich Extremvisionen persönlicher Autonomie.<br />
Daraus werden Forderungen<br />
abgeleitet, die sich mitunter nicht nur<br />
als ethisch fragwürdig, sondern schlicht<br />
als unrealistisch erweisen. Als wäre die<br />
Verfügungsmacht, die der biomedizinische<br />
Komplex bereitstellt, nicht schon<br />
eindrucksvoll genug, wird in verzerrender<br />
Weise die Kontrollierbarkeit<br />
kreatürlicher Prozesse <strong>an</strong>gepriesen –<br />
und unterschlagen, dass spont<strong>an</strong>e, nicht<br />
voraussehbare und deshalb nicht kalkulierbare<br />
physische und psychische<br />
Ereignisse sich zweifellos auch weiterhin<br />
geltend machen. M<strong>an</strong> mag das bedauern<br />
oder erleichtert konstatieren –<br />
es zu ignorieren k<strong>an</strong>n jedoch zur Folge<br />
haben, dass das proklamierte Prinzip<br />
der Selbstbestimmung krass verletzt<br />
und den Einzelnen Gewalt <strong>an</strong>get<strong>an</strong><br />
wird.<br />
M<strong>an</strong> darf sich nichts vormachen: Darüber,ob<br />
eine therapeutische Maßnahme<br />
der Selbstbestimmung des Einzelnen<br />
förderlich ist oder nicht, lässt sich selten<br />
Einigkeit erzielen. Kontrovers sind<br />
Möglichkeiten der Biomedizin häufig<br />
vor allem deshalb, weil die Meinungen<br />
ausein<strong>an</strong>der gehen, was unter Autonomie<br />
überhaupt zu verstehen ist. Was<br />
heißt es, selbstbestimmt zu leben, und<br />
was heißt es, selbstbestimmt zu sterben<br />
Die Antworten stehen sich allerdings<br />
nicht in abstrakter, säuberlich ausbuchstabierter<br />
Form gegenüber. Umstritten<br />
sind zumeist Situationsdeutungen: Beim<br />
Disput darüber, welche neuen diagnostischen,<br />
prognostischen und therapeutischen<br />
Verfahren zulässig und erwünscht<br />
sind, versuchen die Kontrahenten<br />
jene Ch<strong>an</strong>cen und Risiken möglichst<br />
<strong>an</strong>schaulich zu vergegenwärtigen, die<br />
für die Patienten mit dem Einsatz solcher<br />
Verfahren einhergehen. Der Hum<strong>an</strong>genetiker,<br />
der die Präimpl<strong>an</strong>tati-<br />
75
D O K U M E N T A T I O N<br />
onsdiagnostik <strong>an</strong>preist, erzählt von Paaren,<br />
die schon ein Kind oder gar zwei<br />
Kinder mit Mukoviszidose haben, diese<br />
auch mit aller Liebe und Fürsorge großziehen,<br />
sich nun aber sehnlichst noch ein<br />
gesundes Kind wünschen – nicht zuletzt<br />
deshalb, weil Menschen mit Mukoviszidose<br />
nur über eine eingeschränkte Lebenserwartung<br />
verfügen. Diese Eltern<br />
nun, so lautet der Bericht, haben schon<br />
zwei Kinder im fünften Schw<strong>an</strong>gerschaftsmonat<br />
abtreiben lassen, weil sich<br />
nach pränataler Diagnose herausstellte,<br />
dass sie wieder kr<strong>an</strong>k sein würden. Um<br />
ihnen eine abermalige Frustration nach<br />
begonnener Schw<strong>an</strong>gerschaft zu ersparen,<br />
soll den Eltern nun die nach Auffassung<br />
der Beteiligten weniger belastende<br />
Labordiagnostik von <strong>Embryonen</strong> <strong>an</strong>geboten<br />
werden.<br />
Kritikern dieses av<strong>an</strong>cierten Selektionsverfahrens<br />
fällt es erstaunlich<br />
leicht, solche konkreten Wünsche auszublenden.<br />
Für sie ist die Frau vor allem<br />
das Opfer m<strong>an</strong>ipulativer Strategien:<br />
Schon das bloße Angebot, diagnostizieren<br />
zu lassen, setze die Frauen<br />
nur schwer erträglichen Entscheidungszwängen<br />
aus; die Durchführung<br />
der Tests und die Mitteilung abstrakter<br />
Risikozahlen verunsichere sie darüber<br />
hinaus massiv. Und bei „positivem“ Befund<br />
bleibe ihnen in Wirklichkeit gar<br />
keine Wahl: Der Druck von Ärzten und<br />
Juristen und der Einfluss eines behindertenfeindlichen<br />
sozialen Umfelds<br />
führten dazu, dass sie das aller Voraussicht<br />
nach geschädigte Kind – g<strong>an</strong>z<br />
gleich, was sie selbst sich wünschen –<br />
nicht zur Welt bringen.<br />
Noch kontroverser wird die Meinungsbildung,<br />
wenn moralische Normen<br />
ins Spiel kommen, die mit dem Autonomieprinzip<br />
konkurrieren. Um zu<br />
demonstrieren, dass ein medizinisches<br />
Verfahren die Grundfesten der menschlichen<br />
Zivilisation bedroht, setzt m<strong>an</strong><br />
Werte immer wieder wie Trumpfkarten<br />
ein. Ob Achtung der Menschenwürde,<br />
unbedingter Lebensschutz, Recht auf<br />
„natürliche“ Abstammung oder Schutz<br />
intakter Familienstrukturen – all das<br />
wird beschworen, als verstünde es sich<br />
von selbst, dass zum Beispiel Praktiken<br />
der „therapeutischen“ Selektion, der<br />
Genveränderung oder der Org<strong>an</strong>tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
mit diesen Prinzipien unvereinbar<br />
seien. Doch solche magischen<br />
76<br />
B<strong>an</strong>nsprüche, die alle Erklärungen<br />
überflüssig zu machen scheinen, verlieren<br />
in der öffentlichen Debatte oft allzu<br />
schnell ihre Eindeutigkeit:Was die Achtung<br />
der Menschenwürde eigentlich<br />
konkret gebietet und ob es wirklich ausnahmslos<br />
oberstes Gebot sein k<strong>an</strong>n,<br />
menschliches Leben um jeden Preis zu<br />
erhalten, erweist sich d<strong>an</strong>n als unklar<br />
und fragwürdig.<br />
Wenn es um revolutionäre Neuerungen<br />
geht, ist die Reaktion meist noch relativ<br />
einhellig. Auf die Geburt des ersten<br />
„Retortenbabys“ im Jahre 1978<br />
reagierte ein großer Teil der Bevölkerung<br />
mit Abscheu oder Befremden.<br />
Dass hier die „Würde“, genauer die<br />
physische und psychische Integrität, der<br />
Frau bedroht sei und dass außerdem<br />
frühe Stadien menschlichen Lebens in<br />
unzulässiger Weise instrumentalisiert<br />
werden könnten, schien intuitiv einzuleuchten.<br />
Je mehr jedoch die Erfolgsmeldungen<br />
überwogen, desto schwieriger<br />
wurde es, <strong>an</strong> der ursprünglichen kategorischen<br />
Ablehnung festzuhalten.<br />
Was sollte eigentlich so verdammenswert<br />
dar<strong>an</strong> sein, wenn infertile Paare<br />
mit Kinderwunsch medizinische Hilfe<br />
bei der Zeugung in Anspruch nahmen<br />
Was sprach umgekehrt dafür, die<br />
„natürliche“ Fortpfl<strong>an</strong>zung für sakros<strong>an</strong>kt<br />
zu erklären Ohnehin wurde mit<br />
der fortschreitenden Etablierung der<br />
Laborbefruchtung, die m<strong>an</strong> bei Sterilität<br />
mittlerweile als Routineverfahren<br />
einsetzte, immer undeutlicher, was „unnatürlich“<br />
in diesem Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
eigentlich zu bedeuten hatte.<br />
Politik, die biomedizinische Innovationen<br />
zu regulieren sucht, muss mit<br />
umstrittenen Situationsdeutungen wie<br />
mit konkurrierenden moralischen Prinzipien<br />
umgehen. Entziehen k<strong>an</strong>n sie<br />
sich dieser Aufgabe nicht. Denn dass reguliert<br />
werden muss, erkennen auch die<br />
Verfechter der neuen Verfahren <strong>an</strong>. Sie<br />
möchten selbst genau wissen, was zulässig<br />
ist und was nicht: Dürfen bei der<br />
künstlichen Fertilisation Gameten genutzt<br />
werden, die nicht einem der beiden<br />
Partner entstammen, und ist die<br />
Herkunft dieser Keimzellen zu dokumentieren<br />
und bei Verl<strong>an</strong>gen später<br />
dem Kind mitzuteilen Was darf oder<br />
muss mit <strong>Embryonen</strong> geschehen, die<br />
bei der Laborbefruchtung „übrig bleiben“<br />
Wie muss der Arzt bei Risikoschw<strong>an</strong>gerschaften<br />
aufklären, um<br />
sich vor Regress<strong>an</strong>sprüchen nach der<br />
Geburt eines behinderten Kindes zu<br />
schützen Wie lässt sich der Hirntod mit<br />
hundertprozentiger Sicherheit feststellen,<br />
und wie muss diese Diagnose belegt<br />
werden Unter welchen Voraussetzungen<br />
darf expl<strong>an</strong>tiert werden, und <strong>an</strong><br />
wen können die Org<strong>an</strong>e weitergegeben<br />
werden<br />
Die einzelnen Praktiken enthalten eine<br />
kaum überschaubare Fülle von<br />
Aspekten,die rechtlich definiert werden<br />
müssen, will m<strong>an</strong> nicht der Willkür Tür<br />
und Tor öffnen. Bei jeder Gesetzgebung<br />
stellt sich d<strong>an</strong>n aber zugleich die Grundsatzfrage,<br />
ob das neue Verfahren mit<br />
„der Moral“ der Gesellschaft im Einkl<strong>an</strong>g<br />
steht. Das zu entscheiden, überfordert<br />
staatliche Inst<strong>an</strong>zen in aller Regel.<br />
Zumeist werden sie ohnehin erst<br />
d<strong>an</strong>n mit dieser Frage konfrontiert,<br />
wenn durch die Entwicklung und Einführung<br />
einer Diagnostik oder Therapie<br />
die Weichen bereits gestellt sind. Die<br />
Entwicklung, die schon voll im G<strong>an</strong>ge<br />
ist, k<strong>an</strong>n d<strong>an</strong>n nur nachträglich „abgesegnet“<br />
und in einem begrenzten Maß<br />
k<strong>an</strong>alisiert, kaum aber noch grundsätzlich<br />
umgelenkt oder aufgehalten werden.<br />
Für eine qualifizierte Prognose der<br />
mittel- und l<strong>an</strong>gfristigen Konsequenzen<br />
der Innovationen – die auch bei den<br />
Fachleuten selbst umstritten sind – fehlt<br />
den Politikern meist die nötige Sachkenntnis.<br />
Zudem fließen in die Entscheidung<br />
über die Zulässigkeit biomedizinischer<br />
Verfahren so vielfältige und tief verwurzelte<br />
Werthaltungen ein, dass es unter<br />
den Vorzeichen des welt<strong>an</strong>schaulichen<br />
Pluralismus höchst schwierig ist,<br />
zu konsensfähigen Beschlüssen zu gel<strong>an</strong>gen.<br />
Stellungnahmen, die aus der<br />
Sicht einer der Parteien besonders<br />
überzeugend und nahe liegend erscheinen,<br />
stoßen oft allgemein auf wenig Akzept<strong>an</strong>z.<br />
Das heißt: Je zwingender ein<br />
Urteil für die Verfechter oder Kritiker<br />
einer Option ausfällt, desto unwahrscheinlicher<br />
ist es, dass es mit allgemeiner<br />
Zustimmung rechnen k<strong>an</strong>n. Die<br />
Wertmaßstäbe und Tatsachenbehauptungen,<br />
die in diese Urteile einfließen,<br />
sind nämlich derart spezifisch, dass sie<br />
in einer wertpluralen Gesellschaft immer<br />
nur von einzelnen Fraktionen des<br />
Gemeinwesens akzeptiert werden. M<strong>an</strong>
D O K U M E N T A T I O N<br />
k<strong>an</strong>n sagen: Je partikularer eine Überzeugung,<br />
desto schwieriger ist es für ihre<br />
Anhänger hinzunehmen, dass sie den<br />
Lauf der Dinge nicht entscheidend beeinflussen<br />
können.<br />
Die Frage nach dem <strong>an</strong>gemessenen<br />
Umg<strong>an</strong>g mit Zeugung, Geburt, Kr<strong>an</strong>kheit,<br />
Sterben und Tod provoziert quasireligiöse<br />
Vorstellungen von Gut und Böse,<br />
die sich nicht einfach wegrationalisieren<br />
und in die private Sphäre der Bürger abdrängen<br />
lassen. Das liberale Credo, dass<br />
politische Entscheidungen wertneutral<br />
ausfallen müssen, wird damit auf eine<br />
harte Probe gestellt.Permissive Regelungen,<br />
das heißt Gesetze, die möglichst wenig<br />
verbieten, sind zwar den liberalen<br />
Grundwerten westlicher Gesellschaften<br />
insofern eher <strong>an</strong>gemessen, als sie den<br />
Bürgern weitgehend die Wahl lassen, ob<br />
sie von gewissen Möglichkeiten Gebrauch<br />
machen wollen oder nicht. Doch<br />
unparteiisch sind solche Regelungen deshalb<br />
keineswegs. Denn auch sie basieren<br />
auf g<strong>an</strong>z bestimmten Wertüberzeugungen:<br />
Dass Ärzte mit gespendeten Keimzellen<br />
im Labor ein Kind zeugen und diese<br />
vielleicht sogar nach besonderen medizinischen<br />
St<strong>an</strong>dards auswählen oder<br />
dass ein g<strong>an</strong>zes Geschwader von Chirurgen<br />
<strong>an</strong> einen „hirntoten“ Patienten mit<br />
einem Wunschzettel her<strong>an</strong>tritt, ihn aufschneidet<br />
und ihm Zellmaterial und Org<strong>an</strong>e<br />
entnimmt – all das k<strong>an</strong>n nur d<strong>an</strong>n<br />
zulässig erscheinen, wenn m<strong>an</strong> menschliches<br />
Leben in einer g<strong>an</strong>z bestimmten<br />
Weise definiert und damit das totale Verfügen<br />
über frühe und späte Lebensstadien<br />
als moralisch akzeptabel deklariert.<br />
Wunsch, Menschen zu heilen,<br />
entfaltet ungeheure Kräfte<br />
Die Politik steht deshalb vor einem Dilemma,<br />
und was ihr abverl<strong>an</strong>gt wird,<br />
mutet nicht selten <strong>an</strong> wie die Quadratur<br />
des Kreises: Sie ist gut beraten, möglichst<br />
wenig restriktiv zu verfahren, um<br />
nicht die Wahlfreiheit der Bürger zu<br />
verletzen. Zugleich aber darf sie nicht<br />
den Verdacht aufkommen lassen, dass<br />
sie mit solcher Liberalität einzelne<br />
Welt<strong>an</strong>schauungen privilegiert oder<br />
den Wünschen einzelner Interessengruppen<br />
– den Forschern, der Wirtschaft,<br />
den Patienten – nachgibt. Entscheidungsträger<br />
müssen den häufig berechtigten<br />
oder doch gut nachvollziehbaren<br />
Vorbehalten gegenüber dem radikalen<br />
W<strong>an</strong>del im Umg<strong>an</strong>g mit Leben<br />
und Sterben Gehör schenken, ohne ihnen<br />
doch in der Weise nachgeben zu<br />
können, dass sie g<strong>an</strong>ze therapeutische<br />
Entwicklungsstränge durch staatliche<br />
Order einfach kappen.<br />
Es ist deshalb schwer vorstellbar,dass<br />
das extrem restriktive deutsche <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
Best<strong>an</strong>d haben<br />
wird. Das Verbot der <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
beschränkt nicht nur den Verhaltensspielraum<br />
von Wissenschaftlern,<br />
sondern es erstickt auch eine Fülle medizinisch-therapeutischer<br />
Möglichkeiten.<br />
Mit dem Selbstverständnis liberaler<br />
Gesellschaften, sich und ihren Bürgern<br />
ein breites Spektrum von Entwicklungswegen<br />
offen zu halten, ist dies sol<strong>an</strong>ge<br />
unvereinbar, wie hiermit nicht eindeutig<br />
die elementaren Interessen konkreter<br />
Personen verletzt werden. Dass aber<br />
frühe menschliche <strong>Embryonen</strong> in gleicher<br />
Weise unbedingten Schutz ihrer Integrität<br />
verdienen wie voll entwickelte<br />
Personen, wird wohl kaum eine Mehrheit<br />
der Bevölkerung bejahen.<br />
Erweist sich das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
als zu restriktiv, so muss das deutsche<br />
Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tations medizingesetz<br />
gerade aus liberaler Sicht als zu permissiv<br />
gelten. Dem Postulat, dass die persönlichen<br />
Wertentscheidungen jedes<br />
Einzelnen zu respektieren sind, hätte<br />
m<strong>an</strong> Rechnung tragen können, ohne<br />
damit der Org<strong>an</strong>spende und Org<strong>an</strong>tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
ein Ende zu bereiten.<br />
Weil es eben nach wie vor strittig<br />
ist, ob „hirntote“ Personen „richtig“ tot<br />
sind oder nicht, k<strong>an</strong>n nur jeder selbst<br />
entscheiden, ob ihm seine Org<strong>an</strong>e in<br />
diesem Zust<strong>an</strong>d, in den er womöglich<br />
einmal gerät, entnommen werden dürfen.<br />
Hier h<strong>an</strong>delt es sich um eine solch<br />
gravierende Entscheidung, dass sie nicht<br />
– wie nach deutschem Recht erlaubt – <strong>an</strong><br />
Angehörige delegiert werden darf, die<br />
hiermit im Augenblick des Abschiednehmens<br />
vom todkr<strong>an</strong>ken Patienten<br />
häufig auch psychisch völlig überfordert<br />
sind. Das Argument, dass mit einer<br />
„engen“ Regelung das ohnehin unzureichende<br />
„Org<strong>an</strong>aufkommen“ abermals<br />
stark zurückgehen würde, zeigt die<br />
ungeheure Versuchung, der m<strong>an</strong> nicht<br />
erliegen darf: dass nämlich im Namen<br />
des zu erzielenden therapeutischen<br />
Nutzens die Persönlichkeitssphäre des<br />
Einzelnen verletzt wird. Die Medizinverbrechen<br />
des zurückliegenden Jahrhunderts<br />
können uns – <strong>an</strong>ders, als häufig<br />
behauptet wird – nicht darüber belehren,<br />
welche neuen medizinischen<br />
Verfahren verwerflich und welche wünschenswert<br />
sind. Die Geschichte zeigt<br />
jedoch, was für eine ungeheuer exp<strong>an</strong>sive<br />
und destruktive Kraft der – echte<br />
oder vorgebliche – Wunsch entfalten<br />
k<strong>an</strong>n, Menschen zu heilen. Dieser Dynamik<br />
fallen d<strong>an</strong>n allzu schnell jene<br />
zum Opfer, die als unheilbar gelten.<br />
M<strong>an</strong> sollte sich hier<strong>an</strong> erinnern, damit<br />
der „therapeutische Imperativ“ nicht<br />
als ein „kategorischer Imperativ“ missverst<strong>an</strong>den<br />
wird und inhum<strong>an</strong>en Interventionen<br />
Tür und Tor öffnet. ✮<br />
Heft 13, 30. März 2001<br />
<strong>PID</strong><br />
„Glasklare<br />
Regelung“<br />
BÄK-Präsident fordert Rechtssicherheit.<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
Präsident der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), fordert eine<br />
„glasklare gesetzliche Regelung zur<br />
<strong>PID</strong>“. Wenn die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) in Deutschl<strong>an</strong>d zugelassen<br />
werden sollte, d<strong>an</strong>n nur, wie<br />
es der Diskussionsentwurf der BÄK<br />
vom Februar 2000 vorsehe, wenn<br />
Rechtssicherheit und ein hohes<br />
Schutzniveau über strenge und restriktiv<br />
zu fassende Zulassungskriterien<br />
erreicht werden könnten.<br />
Bundesjustizministerin Herta<br />
Däubler-Gmelin wies in einem<br />
Schreiben <strong>an</strong> einen Gynäkologen<br />
auf die Strafbarkeit von „<strong>PID</strong>-Tourismus“<br />
hin: Ein Arzt, der eine Frau<br />
zur <strong>PID</strong> <strong>an</strong> den ausländischen Kollegen<br />
vermittele oder die Patientin<br />
im Rahmen der hormonellen Stimulation<br />
betreue, unterstütze eine<br />
strafbare H<strong>an</strong>dlung. Er könne sich<br />
als Gehilfe strafbar machen. Das<br />
gelte auch, wenn die <strong>PID</strong> in dem<br />
L<strong>an</strong>d, in dem sie vorgenommen<br />
werde, nicht strafbar sei.<br />
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Heft 12, 23. März 2001<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
G<strong>an</strong>z am Anf<strong>an</strong>g<br />
Das Bundesgesundheitsministerium möchte vor<br />
einer gesetzlichen Regelung die Frage der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik auf breiter Basis diskutieren.<br />
Eine Entscheidung, ob die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d zugelassen werden<br />
soll, wird in nächster Zeit nicht fallen.<br />
Dies verdeutlichte die Parlamentarische<br />
Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium<br />
(BMG), Gudrun<br />
Schaich-Walch (SPD), bei der Diskussionsver<strong>an</strong>staltung<br />
„Berliner Dialog<br />
Biomedizin“ der Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung am 13. März. „Wir stehen<br />
g<strong>an</strong>z am Anf<strong>an</strong>g der Diskussion und<br />
müssen keine Eile haben“, sagte sie.<br />
„Im wissenschaftlichen Bereich werden<br />
wir nichts verpassen.“ Dass die<br />
neue Führung des Bundesgesundheitsministeriums<br />
das Positionspapier<br />
des ursprünglichen Ministeriums unter<br />
Andrea Fischer nicht als Diskussionsgrundlage<br />
verwende, läge nicht <strong>an</strong><br />
einer großzügigeren Haltung gegenüber<br />
biomedizinischen Fragen. M<strong>an</strong><br />
wolle allerdings in der Debatte nicht<br />
vorgeben, dass die <strong>PID</strong> verboten werden<br />
solle.<br />
Auch wenn Zeitpunkt und Ergebnis<br />
offen sind – äußern wird sich der<br />
Gesetzgeber zur <strong>PID</strong> gewiss. Um eine<br />
Entscheidung zu fällen, sei rechtliche<br />
Klarheit erforderlich, so Schaich-Walch.<br />
Zurzeit ist das Gegenteil der Fall: Die<br />
Rechtsauffassungen, ob das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
die <strong>PID</strong> zulässt oder<br />
verbietet, gehen ausein<strong>an</strong>der. Das<br />
BMG will daher ein Gesetz erarbeiten,<br />
das einen Konsens im Bundestag und in<br />
der Bevölkerung findet. Die Frage der<br />
Zulässigkeit der <strong>PID</strong> soll klar geregelt<br />
und nicht nur Auslegungssache sein. Eine<br />
Regelung durch die Richtlinien der<br />
Bundesärztekammer und das Berufsrecht<br />
lehnt Schaich-Walch ab.<br />
Auch der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich<br />
Hoppe, plädiert für eine gesetzliche<br />
Klarstellung. Die Ver<strong>an</strong>twortung dürfe<br />
nicht allein auf die Ärzte übertragen<br />
werden. „Wenn der Gesetzgeber die<br />
<strong>PID</strong> will, brauchen wir zunächst<br />
Rechtsklarheit; d<strong>an</strong>ach sind wir gern<br />
bereit, eine berufsrechtliche Regelung<br />
zu finden“, betonte er in Berlin.<br />
Erst eine gesetzliche, d<strong>an</strong>n<br />
eine berufsrechtliche Regelung<br />
Einmal Gott spielen<br />
Reproduktives Klonen ist für<br />
Experten „reine Scharlat<strong>an</strong>erie“.<br />
Nicht die therapeutischen Möglichkeiten, sondern<br />
die Idee, den Menschen zu optimieren, stünde <strong>an</strong>scheinend<br />
bisl<strong>an</strong>g im Mittelpunkt der Bemühungen<br />
um das Klonen, warnte der Kulturstaatsminister<br />
Prof. Dr. Juli<strong>an</strong> Nida-Rümelin bei den „Berliner Wissenschaftsgesprächen“,<br />
die am 12. März von der<br />
Berliner Zeitung und der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) ver<strong>an</strong>staltet wurden. Das therapeutische<br />
Klonen könne den Einstieg in das Projekt<br />
des „optimierten Menschen“ bedeuten. Sol<strong>an</strong>ge<br />
diese Gefahr bestehe, wende auch er sich gegen diese<br />
Bemühungen. Sobald das Risiko aber ausgeschlossen<br />
sei, habe er keine grundsätzlichen Einwände<br />
gegen das therapeutische Klonen. Zugleich<br />
räumte der Minister auf der Ver<strong>an</strong>staltung ein, sich<br />
möglicherweise im J<strong>an</strong>uar missverständlich ausgedrückt<br />
zu haben. Damals hatte er im „Tagesspiegel“<br />
Für eine solche Reihenfolge sprach sich<br />
während der Podiumsdiskussion auch<br />
Dr. Carola Reim<strong>an</strong>n (SPD), Biotechnologin<br />
und Mitglied der Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin“, aus. Die Kommission<br />
hätte zwar am Vortag mehrheitlich die<br />
<strong>PID</strong> als unvereinbar mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
beurteilt; bei diesem<br />
Thema seien jedoch keine Mehrheiten,<br />
sondern ein Konsens erforderlich. Dazu<br />
müsse die Schutzwürdigkeit der <strong>Embryonen</strong><br />
diskutiert werden. Die Kernfrage<br />
laute: Ist ein Embryo in vitro<br />
schutzwürdiger als in vivo Die Spirale<br />
als legale Verhütungsmethode, die die<br />
Nidation des Embryos in vivo verhindert,<br />
und die Möglichkeit der straffreien<br />
Abtreibung nach § 218 StGB würden<br />
von den Frauen nicht leichtfertig <strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dt.<br />
Schon dass die In-vitro-Fertilisation<br />
mit erheblichen Nebenwirkungen<br />
verbunden sei, würde die Anwendung<br />
der <strong>PID</strong> nach Ansicht Reim<strong>an</strong>ns begrenzen.<br />
Voraussetzung sei allerdings,<br />
die <strong>PID</strong> auf bestimmte Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
einzuengen und eine ausführliche psychosoziale<br />
Beratung <strong>an</strong>zubieten. Eine<br />
„Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ durch die<br />
Möglichkeiten der Pränataldiagnostik<br />
bezeichnete Reim<strong>an</strong>n als „frauenverachtend“.<br />
Sowohl die <strong>PID</strong> als auch die Pränataldiagnostik<br />
hält Dr. med. Alfred Sonnenfeld,<br />
Theologe und Medizinethiker<br />
der Charite´ Berlin, für unvertretbar.<br />
M<strong>an</strong> müsse sich der Herausforderung<br />
stellen, den Embryo schon als vollständigen<br />
Menschen zu sehen. Auch Hoppe<br />
stellte klar, dass es sich in jedem Fall um<br />
menschliches Leben h<strong>an</strong>dele und die<br />
<strong>PID</strong> eine Selektionsmethode sei. Eine<br />
unterschiedliche Schutzwürdigkeit der<br />
<strong>Embryonen</strong> in vivo und in vitro sieht er<br />
jedoch nicht.Ferner scheint es ihm nicht<br />
sinnvoll zu sein, Grenzen der <strong>PID</strong> <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d<br />
einer Diagnosenliste zu ziehen.<br />
Zweckmäßiger sei eine individuelle<br />
ärztliche Beratung. Dr. med. Eva A. Richter<br />
<strong>Embryonen</strong> im frühen Stadium die Menschenwürde<br />
abgesprochen. Menschenwürde sei jedoch nicht mit<br />
Schutzwürdigkeit gleichzusetzen, betonte der Philosoph<br />
jetzt in Berlin. Die Schutzwürdigkeit des Embryos<br />
bestünde von Anbeginn <strong>an</strong> und nähme im Reifungsprozess<br />
graduell zu.<br />
Das Vorhaben der italienischen Forschergruppe<br />
um Severino Antinori, einen Menschen zu klonen,<br />
bezeichnete Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident<br />
der DFG, als „reine Scharlat<strong>an</strong>erie“. Das Klonen<br />
eines vollständigen Org<strong>an</strong>ismus sei inakzeptabel.<br />
Bereits der Weg dahin sei unvertretbar, weil<br />
Tierversuche gezeigt hätten, dass viele <strong>Embryonen</strong><br />
sterben und Jungtiere missgebildet oder lebensunfähig<br />
zur Welt kämen. Auch der Benefit des therapeutischen<br />
Klonens läge noch in weiter Ferne. Eine<br />
Alternative sieht der DFG-Präsident hingegen in<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten Stammzellen. Eine Änderung<br />
des deutschen <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes, in<br />
dem das therapeutische Klonen verboten wird,<br />
lehnt Winnacker ab. Deutschl<strong>an</strong>d dürfe sich allerdings<br />
innerhalb der internationalen Wissenschaft<br />
nicht isolieren.<br />
ER<br />
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D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 14, 6. April 2001<br />
Streit um die <strong>Embryonen</strong><br />
Was tun, wenn m<strong>an</strong> sich<br />
nicht einigen k<strong>an</strong>n<br />
Nach den Äußerungen des Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
in der Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeinen stellt sich die Frage:<br />
Welche Rolle kommt der Ärzteschaft zu<br />
Urb<strong>an</strong> Wiesing<br />
Dem Leser „<strong>an</strong>spruchsvoller“ Zeitungen<br />
wird seit einigen Monaten<br />
ein erbitterter Kampf aufgefallen<br />
sein. Gestritten wird um neuere Technologien<br />
wie die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
oder die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen, vor allem aber um die<br />
grundlegende Frage, welcher Schutz<br />
dem ungeborenen menschlichen Leben<br />
zukommen soll. Anlässe zu dieser Debatte<br />
gab es mehrere: Die Bundesärztekammer<br />
hatte einen Entwurf einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) vorgestellt, in der sie diese innerhalb<br />
strenger Grenzen befürwortet.<br />
Ein Mitglied der Bundesregierung,<br />
Staatsminister Juli<strong>an</strong> Nida-Rümelin, hatte<br />
sich gegen die gleiche Zuschreibung<br />
der Menschenwürde <strong>an</strong> menschliche<br />
<strong>Embryonen</strong> in den ersten 14 Tagen vor<br />
der Impl<strong>an</strong>tation ausgesprochen. Seither<br />
wechseln sich wöchentlich, zuweilen täglich<br />
die Stellungnahmen für und gegen<br />
den Lebensschutz von <strong>Embryonen</strong> ab.<br />
Die Argumente sind seit<br />
l<strong>an</strong>gem bek<strong>an</strong>nt<br />
Die St<strong>an</strong>dpunkte und die <strong>an</strong>geführten<br />
Argumente zum Lebensrecht des ungeborenen<br />
menschlichen Lebens sind<br />
nicht neu, sondern seit l<strong>an</strong>gem bek<strong>an</strong>nt.<br />
Alles, was in den letzten Monaten für<br />
und wider den Lebensschutz von <strong>Embryonen</strong><br />
zu lesen war, lässt sich schon<br />
seit geraumer Zeit in der einschlägigen<br />
moralphilosophischen Literatur finden.<br />
Neu ist allenfalls die Aufgeregtheit <strong>an</strong>gesichts<br />
der Tatsache, dass ein Mitglied<br />
der Bundesregierung den Lebensschutz<br />
von <strong>Embryonen</strong> relativiert hat. Dabei<br />
hat Nida-Rümelin nur das öffentlich gesagt,<br />
was in der Moralphilosophie – der<br />
Staatsminister ist hier ausgewiesener<br />
Experte – zu den ausführlich diskutierten<br />
Positionen gehört.<br />
M<strong>an</strong> wird sich nicht<br />
einigen können<br />
Bei der Debatte war eines schon vorab<br />
klar: M<strong>an</strong> wird sich am Ende nicht einigen<br />
können. M<strong>an</strong> hätte gleich eing<strong>an</strong>gs<br />
vor der Illusion warnen sollen, es ließe<br />
sich zum moralischen Status des ungeborenen<br />
menschlichen Lebens ein Konsens<br />
finden. Die Positionen zwischen den Befürwortern<br />
eines uneingeschränkten<br />
Schutzes der <strong>Embryonen</strong> ab Verschmelzung<br />
von Samen- und Eizelle und den<br />
Befürwortern eines abgestuften, wachsenden<br />
Schutzes der <strong>Embryonen</strong> liegen<br />
so weit ausein<strong>an</strong>der, dass sie nicht zu<br />
vermitteln sind. Selbst ein Rückgriff auf<br />
das Grundgesetz und die darin ver<strong>an</strong>kerte<br />
Menschenwürde k<strong>an</strong>n die Kontroverse<br />
nicht entschärfen. Zwar schützt<br />
das Grundgesetz nach Ansicht der meisten<br />
Rechtsgelehrten menschliches Leben<br />
ab der Verschmelzung von Samenund<br />
Eizelle, doch auch hier erhebt sich<br />
Widerspruch.Für Norbert Hoerster lässt<br />
die Verfassung keine eindeutigen Rückschlüsse<br />
zu, und für Reinhard Merkel ist<br />
das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz gar verfassungswidrig.<br />
Es bestätigt sich, was im<br />
Grunde seit l<strong>an</strong>gem bek<strong>an</strong>nt ist: M<strong>an</strong><br />
wird sich nicht einig, und dar<strong>an</strong> dürfte<br />
sich auch in Zukunft nichts ändern. Für<br />
mehrere Positionen zum Schutz des ungeborenen<br />
Lebens lassen sich plausible<br />
Argumente <strong>an</strong>führen.Wenn es eines Beweises<br />
bedurft hätte,dass wir uns in einer<br />
wertepluralen Gesellschaft befinden,<br />
hier ist er. Was folgt aus dieser ernüchternden<br />
Diagnose Die Debatte um den<br />
moralischen Status des ungeborenen<br />
menschlichen Lebens führt uns mit<br />
Deutlichkeit vor Augen, dass in dieser<br />
Frage eine politische Entscheidung gefällt<br />
werden muss, da kein moralischer<br />
Konsens erwartet werden darf.Der Staat<br />
in Form seiner demokratisch legitimierten<br />
Institutionen muss sich Fragen jenseits<br />
der verschiedenen Überzeugungen<br />
stellen. Erstens: Auf welchen Prämissen<br />
basieren die jeweiligen Positionen zum<br />
Lebensschutz des ungeborenen Lebens,<br />
und inwieweit sind diese Vor<strong>an</strong>nahmen –<br />
zum Beispiel religiöser Art – für alle verbindlich<br />
Zweitens: Nicht die Frage, welche<br />
Vorgehensweise ist moralisch die<br />
einzig richtige, stellt sich, sondern: Welche<br />
H<strong>an</strong>dlungen soll der Staat erlauben<br />
Im Grunde hat sich der Gesetzgeber so<br />
bereits beim § 218 verhalten. Dieses Gesetz<br />
ist einzig ein politischer Kompromiss,der<br />
dem moralischen Dissens in unserer<br />
Gesellschaft nicht beikommen<br />
konnte.<br />
Auch die Konsequenzen aus der notorischen<br />
Uneinigkeit beim <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
sind l<strong>an</strong>ge bek<strong>an</strong>nt. Schon<br />
vor über zehn Jahren beendete Anton<br />
Leist seine Untersuchung zum moralischen<br />
Status des ungeborenen Lebens<br />
mit der Feststellung, dass sie in die Frage<br />
der Toler<strong>an</strong>z münden würde. Was<br />
soll erlaubt werden, ohne die Zumutbarkeit<br />
der Vertreter <strong>an</strong>derer Ansichten<br />
zu überfordern Wenn gute Argumente<br />
für einen gestuften Lebensschutz<br />
von <strong>Embryonen</strong> <strong>an</strong>geführt werden<br />
können und die Gegenargumente<br />
zumeist auf bedingt verallgemeinerungsfähigen<br />
Vor<strong>an</strong>nahmen beruhen,<br />
d<strong>an</strong>n sollte m<strong>an</strong> den Schutz der <strong>Embryonen</strong><br />
in der frühesten Phase<br />
zumindest gegen <strong>an</strong>dere hochr<strong>an</strong>gige<br />
Güter zur Abwägung stellen. Dass diese<br />
Überlegungen nicht g<strong>an</strong>z folgewidrig<br />
sind, sei mit Verweis auf die Realität<br />
untermauert: Die Tötung von<br />
<strong>Embryonen</strong> geschieht beispielsweise<br />
durch die Spirale millionenfach, ohne<br />
dass sie sonderlich kontrovers wäre.<br />
Entweder die Spirale müsste verboten<br />
werden, oder die Überlegungen der<br />
79
D O K U M E N T A T I O N<br />
Bundesärztekammer zur <strong>PID</strong> sind<br />
nicht g<strong>an</strong>z abwegig. Zudem schließen<br />
liberale rechtliche Regelungen nicht<br />
aus, dass für zahlreiche Bürger aufgrund<br />
von moralischen, hoch respektablen<br />
Überzeugungen eine <strong>PID</strong> oder<br />
ein Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch nicht infrage<br />
kommen.<br />
In die Diskussion haben sich Ärzte<br />
und Vertreter der verfassten Ärzteschaft<br />
eingeschaltet – mit deutlicher Reson<strong>an</strong>z.<br />
Insbesondere ein Artikel des<br />
Präsidenten der Bundesärztekammer,<br />
Jörg-Dietrich Hoppe, in der Fr<strong>an</strong>kfurter<br />
Allgemeinen Zeitung hat zahlreiche<br />
Reaktionen provoziert. Nicht zuletzt<br />
von ihm selbst, wurde doch sein Artikel<br />
ohne Rücksprache gekürzt, entstellend<br />
überschrieben und redaktionell vernichtend<br />
kommentiert: Seine Ausführungen<br />
seien „in weiten Teilen ein<br />
Dokument der Hilflosigkeit“.<br />
Das bitterböse Urteil des redaktionellen<br />
Kommentars richtete sich unter<br />
<strong>an</strong>derem gegen Hoppes Äußerung, die<br />
aufgeworfenen Fragen könnten nur von<br />
der „Gesamtgesellschaft“ be<strong>an</strong>twortet<br />
werden. Dem hielt wenig später Steph<strong>an</strong><br />
Sahm entgegen, es zähle „zu den<br />
vornehmsten ärztlichen Pflichten [. . .],<br />
zu den ethischen Herausforderungen<br />
medizinischer Praxis einen St<strong>an</strong>dpunkt<br />
zu finden“ .<br />
Unweigerlich drängt sich die Frage<br />
auf, welche Rolle der Ärzteschaft bei<br />
der Ausein<strong>an</strong>dersetzung zukommt.<br />
Zweierlei sollte m<strong>an</strong> sich vergegenwärtigen.<br />
Erstens: Wen betreffen die Entscheidungen<br />
Und zweitens: Gibt es eine<br />
Gruppe, die über einen privilegierten<br />
Zug<strong>an</strong>g zu einer besseren und in höherem<br />
Maße verbindlichen Moral verfügt<br />
Die erste Frage lässt sich leicht be<strong>an</strong>tworten:<br />
Die Auswirkungen neuer<br />
Technologien in der Medizin betreffen<br />
alle potenziellen Kr<strong>an</strong>ken, also im Prinzip<br />
alle Bürger. Die Frage, wie eine<br />
Gesellschaft mit dem ungeborenen<br />
menschlichen Leben umgehen soll, betrifft<br />
gleichermaßen alle Bürger. Hier<br />
steht kein professionsinternes, sondern<br />
ein „gesamtgesellschaftliches“ Problem<br />
zur Debatte.<br />
Bei der Frage nach einem privilegierten<br />
Zug<strong>an</strong>g zu einer Moral wird m<strong>an</strong> auf<br />
Grund<strong>an</strong>nahmen unseres Gemeinwesens<br />
verweisen müssen. Zu diesen<br />
gehört, dass ein jeder Bürger in Sachen<br />
80<br />
Moral zunächst einmal selbst Experte<br />
ist. Als sittliche Subjekte sind wir in hohem<br />
Maße auf uns selbst verwiesen, und<br />
darin sind sich alle Bürger gleich. Es ist<br />
mit dem Selbstverständnis einer demokratischen<br />
und offenen Gesellschaft daher<br />
kaum zu vereinbaren, dass einer Berufsgruppe<br />
exklusive moralische Fähigkeiten<br />
zugest<strong>an</strong>den werden, und Gleiches<br />
gilt für exklusive moralische Befugnisse.<br />
Wer es <strong>an</strong>ders sieht, müsste es begründen<br />
– und das dürfte kaum gelingen.<br />
Kurzum: Die Frage, wie eine Gesellschaft<br />
mit dem ungeborenen Leben umgehen<br />
soll, lässt sich nicht von einer Profession<br />
lösen. Erstens geht sie alle <strong>an</strong>,<br />
und zweitens verfügt ein Berufsst<strong>an</strong>d<br />
über keinerlei besondere Fähigkeiten<br />
und Befugnisse in moralischen Fragen.<br />
Die Ärzteschaft – Spiegel einer<br />
wertepluralen Gesellschaft<br />
Demokratische Gesellschaften halten<br />
die Zuständigkeit von Professionen gezielt<br />
begrenzt: Für die moralischen Probleme<br />
in ihrem Arbeitsbereich und vor<br />
allem für die Grundhaltungen des ärztlichen<br />
Ethos wird der Profession zwar<br />
ein Formulierungsrecht, beim ärztlichen<br />
Ethos gar ein Vorschlagsrecht eingeräumt.<br />
Die Berufsordnung – in<br />
Selbstverwaltung erstellt – muss jedoch<br />
stets von einem Minister gezeichnet<br />
werden. Anderes wäre in einem demokratischen<br />
Rechtsstaat auch schwerlich<br />
zu vertreten. Ärzte können die moralischen<br />
Normen ihres H<strong>an</strong>delns formulieren,<br />
argumentativ untermauern und<br />
für sie werben. Ihre Gültigkeit festlegen<br />
können sie als Profession jedoch nicht.<br />
Zuständig sind die demokratisch legitimierten<br />
Institutionen der Gesellschaft.<br />
Dieser Aufteilung von Zuständigkeit<br />
wird stets der hohe Sachverst<strong>an</strong>d der<br />
Professionen entgegengehalten. Nur sie<br />
verfügten über die Kenntnisse, die <strong>an</strong>gemessene<br />
und sachgerechte Urteile erlauben.<br />
Und in der Tat ist der öffentliche<br />
Diskurs vom Sachverst<strong>an</strong>d der Experten<br />
abhängig – allerdings nur in<br />
technischen Fragen. Nichts <strong>an</strong>deres ist<br />
mit dem Selbstverständnis einer Demokratie<br />
zu vereinbaren, als dass die Diskussion<br />
um die Medizin im öffentlichen<br />
Raum stattfindet, dass die Vertreter der<br />
St<strong>an</strong>desorg<strong>an</strong>isationen ein Diskussionspartner<br />
unter vielen sind, dass von<br />
ihnen zwar technischer Sachverst<strong>an</strong>d<br />
verl<strong>an</strong>gt werden k<strong>an</strong>n, ihnen aber kein<br />
privilegierter Zug<strong>an</strong>g auf eine überlegene<br />
oder bindende Moral zusteht.<br />
Ein Vergleich drängt sich auf: M<strong>an</strong><br />
stelle sich das Befremden vor, wenn die<br />
militärische Führung der Bundeswehr<br />
feststellen würde, es gehöre zu den vornehmsten<br />
Pflichten des Militärs, in Sachen<br />
Kriegsführung einen St<strong>an</strong>dpunkt<br />
zu finden und entsprechend zu entscheiden.<br />
Wenn demokratische Gesellschaften<br />
beständig darauf beharren,<br />
dass Soldaten „Bürger in Uniform“<br />
sind und ihnen keinerlei Sonderstellung<br />
zukommt, d<strong>an</strong>n ist doch nicht einzusehen,<br />
was so schlecht dr<strong>an</strong> ist, wenn sich<br />
die Ärzte als „Bürger im weißen Kittel“<br />
verstehen.<br />
Insofern war es nur zu <strong>an</strong>gemessen,<br />
wenn die Bundesärztekammer zunächst<br />
einen Entwurf zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
zur Diskussion gestellt<br />
hat. Den Kritikern dieser Vorgehensweise<br />
sei gesagt, dass alles <strong>an</strong>dere ungleich<br />
mehr Proteste hervorgerufen hätte.<br />
Jörg-Dietrich Hoppe hat nicht nur die<br />
„Gesamtgesellschaft“ als Forum des Diskurses<br />
<strong>an</strong>geführt, sondern realistischerweise<br />
hinzugefügt, dass es um ethische<br />
Grundfragen gehe, „über die gesamtgesellschaftlich<br />
keine Einigkeit erzielt werden<br />
k<strong>an</strong>n“.Ist es vor diesem Hintergrund<br />
nicht völlig abwegig, von den Ärzten zu<br />
verl<strong>an</strong>gen – wie im redaktionellen Kommentar<br />
der Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeinen –,<br />
was der Gesellschaft nicht mehr gelingt<br />
Die Ärzteschaft spiegelt auch nur die<br />
Gesellschaft wider, und es wäre g<strong>an</strong>z illusorisch<br />
<strong>an</strong>zunehmen, dass sich alle Ärzte<br />
in der Frage des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
oder der <strong>PID</strong> einig wären. (Noch<br />
nicht einmal innerhalb der Vorst<strong>an</strong>des<br />
der Bundesärztekammer, wie der Kommentar<br />
von Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery,<br />
gleichfalls in der Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeinen,<br />
verdeutlicht!) Die Ärzteschaft einer<br />
wertepluralen Gesellschaft ist keine vollständig<br />
homogene Gruppe, bei der es zu<br />
schwierigen und komplexen Themen nur<br />
eine Meinung gibt.<br />
Dem Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
wurde überdies der Verweis<br />
auf eine Äußerung von Herm<strong>an</strong>n-Josef<br />
Hepp vorgeworfen, in dieser Situation<br />
könne es „ein schuldfreies Arztsein“<br />
nicht mehr geben. M<strong>an</strong> mag über den
D O K U M E N T A T I O N<br />
Begriff „schuldfrei“ streiten, vermutlich<br />
wäre „konfliktfrei“ treffender. Gleichwohl,<br />
in der Sache steht jedoch völlig<br />
außer Zweifel, dass die Herausforderungen<br />
der modernen Medizin – auch<br />
die <strong>PID</strong> – eben nicht einfach zu lösen<br />
sind, sondern die Unsicherheit, die Abwägung<br />
und der Kompromiss zur Regelung<br />
dieser Verfahren gehören. Viele<br />
Aspekte sind zu berücksichtigen, und<br />
bei einer Entscheidung müssen bestimmte<br />
Aspekte zurücktreten – so oder<br />
so mit Folgen für die Beteiligten. Zu loben<br />
ist, wer sich dazu bekennt, und<br />
nicht, wer das verleugnet.<br />
Heft 14, 6. April 2001<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung in Europa<br />
Gesundheit ist nicht<br />
das höchste Gut<br />
Die unterschiedlichen Auffassungen von Menschenwürde<br />
haben ihre Ursache in verschiedenen geistigen Traditionen.<br />
Ulrich Eibach<br />
Hilflosigkeit oder Eingeständnis<br />
der Schwierigkeiten<br />
Wenn der redaktionelle Kommentar<br />
der Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeinen die Ausführungen<br />
Hoppes als „hilflos“ bezeichnet,<br />
so mag m<strong>an</strong> dem in gewissem<br />
Maße zustimmen.Aber eignet sich diese<br />
Eigenschaft eines Diskussionsbeitrags<br />
als Vorwurf Wer ist denn in dieser<br />
Situation nicht hilflos Die, die vorgeben,<br />
es nicht zu sein, berufen sich zumeist<br />
auf Prämissen, die schwerlich zu<br />
verallgemeinern sind, oder sie scheuen<br />
die Komplexität der Sachverhalte. Sie<br />
erklären ihren eigenen St<strong>an</strong>dpunkt<br />
zum Maßstab für alle <strong>an</strong>deren und<br />
glauben, die Tiefe ihrer persönlichen<br />
Überzeugtheit gebiete zw<strong>an</strong>gsläufige<br />
Allgemeinverbindlichkeit. Sie können<br />
sich beispielsweise auf religiöse Überzeugung<br />
zurückziehen, aber in einem<br />
Rechtsstaat mit Religionsfreiheit sind<br />
damit die Schwierigkeiten einer allgemeinen<br />
Regelung nicht behoben. Ein<br />
Eingeständnis der Schwierigkeiten,<br />
will m<strong>an</strong> in einer wertepluralen Gesellschaft<br />
hochkomplizierte Methoden der<br />
Medizin regeln, ist kein Ausdruck der<br />
Hilflosigkeit, sondern ein Ausdruck<br />
der Redlichkeit und ein erster Schritt.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dt Ärztebl 2001; 98: A 896–898 [Heft 14]<br />
Literatur beim Verfasser<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Urb<strong>an</strong> Wiesing<br />
Lehrstuhl für Ethik in der Medizin<br />
Universität Tübingen<br />
Keplerstraße 15<br />
72074 Tübingen<br />
Der Begriff Menschenwürde spielt in<br />
vielen Verfassungen von Staaten<br />
und internationalen Übereinkommen<br />
eine zentrale Rolle. Es gibt jedoch<br />
selbst in Europa recht unterschiedliche<br />
Auffassungen über das, was unter diesem<br />
„Prädikat“ zu verstehen ist. Im <strong>an</strong>gelsächsischen<br />
Bereich bezeichnet m<strong>an</strong><br />
„frühe <strong>Embryonen</strong>“ als „Präimpl<strong>an</strong>tationsprodukte“<br />
und Leben,das endgültig<br />
ohne Bewusstsein ist, als „hum<strong>an</strong> vegetable“.<br />
M<strong>an</strong> unterscheidet also zwischen<br />
biologisch menschlichem und personalem<br />
Leben. Entsprechend bleibt in dem<br />
Übereinkommen des Europarats die<br />
Frage nach dem Beginn und dem Ende<br />
des Lebens offen, wohingegen die deutsche<br />
Gesetzgebung das Ende des personalen<br />
Lebens im Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationsgesetz<br />
mit dem Hirntod und seinen Beginn im<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz mit der Bildung<br />
der Zygote gegeben sieht. Frühen <strong>Embryonen</strong><br />
k<strong>an</strong>n d<strong>an</strong>ach eine Teilhabe <strong>an</strong><br />
der Menschenwürde nicht abgesprochen<br />
werden. Diese unterschiedlichen Auffassungen<br />
haben ihren Grund in verschiedenen<br />
geistigen Traditionen.<br />
Religiös-tr<strong>an</strong>szendentes<br />
Verständnis<br />
Die nach dem Grundgesetz un<strong>an</strong>tastbare<br />
Würde des Menschen (Art. 1) konkretisiert<br />
sich nach Art. 2 im Recht auf Freiheit,<br />
Leben und körperliche Unversehrtheit,<br />
unabhängig vom Grad der Behinderung<br />
(Art. 3 Abs. 3.). Dieses Verständnis<br />
von Menschenwürde ist maßgeblich geprägt<br />
durch die jüdisch-christliche Vorstellung<br />
von der „Gottebenbildlichkeit“<br />
des Menschen. Sie gründet in der besonderen<br />
Beziehung Gottes zum Geschöpf<br />
Mensch. Der Mensch konstituiert sich<br />
weder in seinem Leben noch in seiner<br />
Würde selbst. Er „verd<strong>an</strong>kt“ sein Leben,<br />
sein Personsein und seine Würde <strong>an</strong>deren,<br />
letztlich nicht den Eltern, sondern<br />
Gott. Demnach sind Personsein und<br />
Menschenwürde keine empirischen Qualitäten,<br />
sondern „tr<strong>an</strong>szendente“ Größen,<br />
die – von Gott her – dem g<strong>an</strong>zen Leben<br />
vom Beginn bis zum Tod zugesprochen<br />
sind. Kein menschliches Leben<br />
muss erst selbst den Erweis erbringen,<br />
dass es der Prädikate Person und Menschenwürde<br />
würdig ist. Deshalb muss<br />
ihm die Menschenwürde auch nicht erst<br />
von Menschen zuerk<strong>an</strong>nt werden, vielmehr<br />
ist sie von allen Menschen zugleich<br />
mit dem Gegebensein von Leben <strong>an</strong>zuerkennen,<br />
unabhängig vom Grad<br />
seiner seelisch-geistigen Fähigkeiten. In<br />
dieser Begründung der Menschenwürde<br />
in „Tr<strong>an</strong>szendenz“,in Gott,ist der Grund<br />
zu suchen, dass alles Leben einer totalen<br />
ge- und verbrauchenden Verfügung von<br />
Menschen entzogen sein soll.<br />
Menschenwürde ist demnach keine<br />
empirische Größe, die im Mikroskop<br />
oder sonst wie sinnlich fassbar wäre.Fragt<br />
m<strong>an</strong> nach dem „<strong>an</strong>atomischen Substrat“,<br />
dem die Menschenwürde nach dieser<br />
Sicht zukommt, so ist es die g<strong>an</strong>ze Leiblichkeit,<br />
der Lebensträger (= Org<strong>an</strong>ismus).<br />
W<strong>an</strong>n org<strong>an</strong>ismisches Leben beginnt,k<strong>an</strong>n<br />
nur auf der Grundlage der Erkenntnisse<br />
der Biologie ermittelt werden.<br />
Für die biologische Definition von individuellem<br />
Leben bei höheren Lebewesen<br />
mit geschlechtlicher Fortpfl<strong>an</strong>zung<br />
sind folgende Kriterien entscheidend: (1)<br />
Es muss eine genetische Individualität<br />
vorliegen. Dieses Kriterium ist mit der<br />
81
D O K U M E N T A T I O N<br />
Bildung der Zygote erfüllt. (2) Es muss<br />
ein zu einer G<strong>an</strong>zheit integriertes, also<br />
org<strong>an</strong>ismisches Lebensgeschehen feststellbar<br />
sein, das in Interaktion mit seiner<br />
Umwelt (beispielsweise Eileiter, Gebärmutter)<br />
zu einer eigenständigen Lebensdynamik<br />
fähig ist (unter <strong>an</strong>derem Stoffwechsel,Wachstum).<br />
Es wird oft behauptet,<br />
frühe <strong>Embryonen</strong> erfüllten dieses<br />
Kriterium nicht, sie seien ein bloßer<br />
„Zellhaufen“.Aber die „Totipotenz“ der<br />
Zellen im frühesten Embryonalstadium<br />
widerspricht nicht der Erkenntnis,dass es<br />
sich von der Bildung der Zygote <strong>an</strong> um<br />
eine sich selbst org<strong>an</strong>isierende und differenzierende<br />
funktionelle „G<strong>an</strong>zheit“<br />
h<strong>an</strong>delt. Dass nur aus einem Teil dieser<br />
Zellen der Embryo, aus <strong>an</strong>deren der Trophoblast<br />
entsteht, widerspricht dem auch<br />
nicht, weil dieses Differenzierungsgeschehen<br />
nicht determiniert ist, m<strong>an</strong> also<br />
nicht vorwegsagen k<strong>an</strong>n, welche der totipotenten<br />
Zellen zu was werden.<br />
Schutzrechte des Embryos<br />
Wird die Menschenwürde dem g<strong>an</strong>zen<br />
Lebensträger zugesprochen, so können<br />
frühen <strong>Embryonen</strong> zumindest nicht die<br />
Teilhabe <strong>an</strong> der Menschenwürde und<br />
Schutzrechte g<strong>an</strong>z abgesprochen werden.<br />
Das grundlegende Recht ist dabei<br />
das Recht auf Leben. Es ist umstritten,<br />
inwieweit dieses christlich geprägte Verständnis<br />
von Menschenwürde ohne die<br />
religiösen Voraussetzungen zu begründen<br />
ist. Jedoch ist auch in der deutsches<br />
Rechtsverständnis maßgeblich prägenden<br />
Philosophie Imm<strong>an</strong>uel K<strong>an</strong>ts festgehalten,<br />
dass das Prädikat Person dem<br />
Menschen als „Natur- und Gattungswesen“<br />
zuzuordnen ist. Zwar ist K<strong>an</strong>ts Verständnis<br />
von Menschenwürde stark <strong>an</strong><br />
der Freiheit orientiert, doch ist diese<br />
nach ihm ein Postulat der praktischen<br />
Vernunft,also eine „tr<strong>an</strong>szendente“ und<br />
keine empirische Größe.<br />
Eine grundsätzlich abweichende Sicht<br />
wird d<strong>an</strong>n vertreten, wenn Personsein<br />
und Menschenwürde als empirisch feststellbare<br />
seelisch geistige Qualitäten<br />
des Lebens (zum Beispiel Selbstbewusstsein,<br />
bewusste Interessen) verst<strong>an</strong>den<br />
werden, wie es in der <strong>an</strong>gelsächsischen<br />
positivistisch-empiristischen Philosophie<br />
der Fall ist, die die internationale<br />
Diskussion über Bioethik<br />
82<br />
prägt. Fragt m<strong>an</strong> nach dem <strong>an</strong>atomischen<br />
Substrat, dem diese empirischen<br />
Qualitäten zuzuordnen sind, so ist es<br />
nicht mehr der g<strong>an</strong>ze Lebensträger, sondern<br />
es sind nur bestimmte Bereiche<br />
des Großhirns. Dies besagt einerseits,<br />
dass dem Leben frühestens ab dem<br />
Zeitpunkt eine Teilhabe <strong>an</strong> der Menschenwürde<br />
zugesprochen werden k<strong>an</strong>n,<br />
ab dem die entsprechenden Strukturen<br />
des Gehirns ausgebildet sind, und <strong>an</strong>dererseits,<br />
dass deren Fehlen beziehungsweise<br />
Verlust infolge Kr<strong>an</strong>kheit gleichzusetzen<br />
ist mit dem Fehlen beziehungsweise<br />
Verlust des Personseins, das damit<br />
nur biologisch-menschliches Leben ist.<br />
Der Ged<strong>an</strong>ke einer unverlierbaren<br />
und unverrechenbaren Menschenwürde<br />
allen menschlichen Lebens ist diesem<br />
Denk<strong>an</strong>satz fremd. Die Teilhabe <strong>an</strong> der<br />
Menschenwürde wird je nach Entwicklungsgrad<br />
des Lebens abgestuft gedacht.<br />
Da nicht mehr das Leben in sich, sondern<br />
nur die seelisch- geistigen Qualitäten<br />
zu schützen sind, k<strong>an</strong>n Leben, sofern<br />
es noch nicht zum Besitz dieser Qualitäten<br />
her<strong>an</strong>gereift ist (<strong>Embryonen</strong>, Feten)<br />
oder sie nie besessen (behindert Geborene)<br />
oder sie durch Kr<strong>an</strong>kheit verloren<br />
hat, gegen <strong>an</strong>dere Güter und Interessen<br />
verrechnet werden.<br />
Mit abnehmender „Wertigkeit“ ist das<br />
Leben immer weniger zu schützen, darf<br />
es zunehmend als Mittel zum Zweck<br />
(zum Beispiel therapeutischer oder auch<br />
rein wissenschaftlicher Art) ge- und verbraucht<br />
werden. Nur auf der Basis eines<br />
empiristischen Menschenbilds k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong><br />
von frühen <strong>Embryonen</strong> als einem „Zellhaufen“<br />
reden, da <strong>an</strong> ihm in der Tat im<br />
Mikroskop keine empirische Menschenwürde<br />
zu beobachten ist.<br />
Der Streit um die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong><br />
in Europa ist nicht zu verstehen<br />
ohne die aufgezeigten unterschiedlichen<br />
geistigen Traditionen. Es geht<br />
demnach um grundsätzliche Fragen des<br />
Menschenbilds und der Interpretation<br />
des Grundgesetzes.<br />
Entscheidungen, die für den Bereich<br />
der „fremdnützigen“ <strong>Forschung</strong> mit <strong>Embryonen</strong><br />
gefällt werden, haben eine weit<br />
über diesen Fachbereich hinausgehende<br />
Bedeutung. Begründet m<strong>an</strong> sie mit dem<br />
empiristischen Menschenbild, so werden<br />
damit zugleich negative Lebenswerturteile<br />
über menschliches Leben gerechtfertigt,<br />
und „minderwertiges“, <strong>an</strong>geblich<br />
bloß biologisch menschliches Leben wird<br />
in einer Güterabwägung verrechenbar<br />
gegen Interessen <strong>an</strong>derer. Dieses Vorgehen<br />
wird sich nicht auf früheste Stadien<br />
des Lebens begrenzen lassen, es wird –<br />
wenn die zu seiner Rechtfertigung <strong>an</strong>geführten<br />
therapeutischen und sonstigen<br />
Interessen stark genug sind – auch fortgeschrittene<br />
Lebensstadien, selbst geborenes<br />
Leben umfassen. Eine mit derartigen<br />
Argumenten gerechtfertigte therapeutische<br />
<strong>Forschung</strong> k<strong>an</strong>n zur Aushöhlung<br />
des für den Schutz des Lebens fundamentalen<br />
Verständnisses von Menschenwürde<br />
führen. Es könnte sich erneut<br />
bewahrheiten, was der bedeutende<br />
Arzt Viktor von Weizsäcker <strong>an</strong>lässlich<br />
der „Nürnberger Ärzteprozesse“<br />
schrieb, dass ein „tr<strong>an</strong>szendenzloses“,<br />
rein empirisches Verständnis des Menschenlebens<br />
zw<strong>an</strong>gsläufig zur Vorstellung<br />
vom „lebensunwerten“ Leben führt<br />
und dass der ungeheure Kampf für die<br />
Gesundheit einerseits und der experimentelle<br />
und vernichtende Umg<strong>an</strong>g mit<br />
„unheilbarem“ Leben <strong>an</strong>dererseits nur<br />
die zwei Seiten ein und derselben Medaille<br />
seien, der Glorifizierung von Gesundheit<br />
und diesseitigem Leben.Wo der<br />
wissenschaftliche und therapeutische<br />
Fortschritt die vor allem für den Schutz<br />
der schwächsten Glieder der Gesellschaft<br />
grundlegenden Rechte,wie das <strong>an</strong>gedeutete<br />
Verständnis von Menschenwürde,<br />
infrage stellt, muss die Gesellschaft<br />
bereit sein, auf mögliche therapeutische<br />
Fortschritte zu verzichten,und dies<br />
auch durch rechtliche Verbote einfordern.<br />
Die Gesundheit ist nicht das höchste<br />
und erst recht nicht das einzige zu<br />
schützende Gut.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dt Ärztebl 2001; 98: A 899–900 [Heft 14]<br />
Literatur<br />
1. Bayertz K: (Ed.) (1996) S<strong>an</strong>ctity of Life <strong>an</strong>d Hum<strong>an</strong><br />
Dignity, (Kluwer) Dordrecht (NL).<br />
2. Eibach U: (2000) Menschenwürde <strong>an</strong> den Grenzen<br />
des Lebens, (Neukirchener Verlagshaus) Neukirchen-<br />
Vluyn.<br />
3. Rager G (Hrsg.) (1998): Beginn, Personalität und<br />
Würde des Menschen, (Alber) Freiburg, 2. Aufl.<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach<br />
Ev<strong>an</strong>gelisch-<strong>Theologische</strong> Fakultät der Universität Bonn<br />
und Pfarrer <strong>an</strong> den Universitätskliniken Bonn<br />
Sigmund-Freud-Straße 25, Haus 30, 53105 Bonn<br />
E-Mail: eibach@uni-bonn.de
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 27, 6. Juli 2001<br />
DISKUSSION<br />
zu dem Beitrag<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung<br />
in Europa<br />
Gesundheit ist nicht<br />
das höchste Gut<br />
von<br />
Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach<br />
in Heft 14/2001<br />
Keine stichhaltigen<br />
Argumente<br />
Der Verfasser argumentiert gegen die<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung nach bewährtem<br />
Muster. Er begründet die Menschenwürde<br />
mit der Gottebenbildlichkeit des<br />
Menschen und behauptet, dass ohne religiöse<br />
Voraussetzungen das christlich<br />
geprägte Verständnis dieser Menschenwürde<br />
schwierig zu begründen sei, um<br />
d<strong>an</strong>n nahezu überg<strong>an</strong>gslos die „empiristische“<br />
Position zu kritisieren, die nicht<br />
mehr den g<strong>an</strong>zen Menschen zum Subjekt<br />
der ethischen Betrachtung mache,<br />
sondern nur noch Teile des Großhirns.<br />
Ohne weiteres sieht er in dieser philosophischen<br />
Position einen schlüpfrigen<br />
Abh<strong>an</strong>g, der über die Diskussion des<br />
„minderwertigen“ zum „lebensunwürdigen“<br />
Leben führe.<br />
Leider enthält der g<strong>an</strong>ze Artikel<br />
kaum einen Ged<strong>an</strong>ken, den m<strong>an</strong> als<br />
stichhaltiges Argument bezeichnen<br />
könnte. Denn wenn m<strong>an</strong> das Verbot,<br />
frühe <strong>Embryonen</strong> zu „verbrauchen“,mit<br />
der Notwendigkeit der Befolgung eines<br />
göttlichen Willens begründet, so sind <strong>an</strong><br />
diese Regelung mehrere Voraussetzungen<br />
geknüpft:Es müsste zum Beispiel ein<br />
Gott existieren, wovon viele Menschen<br />
nicht überzeugt sind, und dieser Gott<br />
müsste die Tötung von <strong>Embryonen</strong> verboten<br />
haben. Dass darüber hinaus noch<br />
zu fragen wäre, inwiefern wir Menschen<br />
diese Gebote zu befolgen hätten, soll<br />
hier nicht weiter diskutiert werden.<br />
Aber selbst wenn diese Voraussetzungen<br />
erfüllt wären, müsste noch die<br />
Frage be<strong>an</strong>twortet werden, wieso dieser<br />
göttliche Wille für <strong>Embryonen</strong> gültig<br />
wäre, nicht aber zum Beispiel für passive<br />
Sterbehilfe, Notwehr, Tötungen im<br />
Verteidigungskrieg oder sogar die Todesstrafe,<br />
die von der katholischen Kirche<br />
bek<strong>an</strong>ntlich gebilligt wird.<br />
Darüber hinaus ist bei konsequenter<br />
Befolgung des Menschenwürdeprinzips,<br />
wie es Eibach vertritt, völlig unklar,<br />
wieso nicht massivster Widerst<strong>an</strong>d<br />
gegen millionenfache Tötungen von<br />
unschuldigen <strong>Embryonen</strong> im frühen<br />
Stadium (durch Gebrauch von Intrauterinpessaren)<br />
vonseiten der offiziellen<br />
Kirchenvertreter erfolgt. Immerhin<br />
h<strong>an</strong>delt es sich bei der Nichtbeachtung<br />
des Tötungsverbotes der Bibel um eine<br />
Todsünde, die nach zumindest katholischer<br />
Lehre den ewigen Tod in der Hölle<br />
bedeutet, wenn „sie nicht durch Reue<br />
und göttliche Vergebung wieder gutgemacht<br />
wird“ (Katechismus der katholischen<br />
Kirche 1993, 1860). Bei konsequenter<br />
Sichtweise wäre d<strong>an</strong>n sogar der<br />
Einsatz des verstorbenen Apostelnachfolgers<br />
Dyba, der außer verbaler Kritik<br />
<strong>an</strong> der Abtreibung noch die Kirchenglocken<br />
zu unpassenden Zeiten betätigte,<br />
als zu gemäßigt zu qualifizieren. Hier<br />
bleibt also für Professor Dr. theol. U.<br />
Eibach noch einiges zu tun.<br />
Die von ihm konstruierte Verbindung<br />
„empiristische Philosophie“ und<br />
„lebensunwertes Leben“ dagegen bedarf<br />
eigentlich kaum eines Kommentars.<br />
Wer keine besseren Argumente<br />
hat, greift zum nächst verfügbaren: dem<br />
Dammbruchargument. Es ist deshalb<br />
bei Menschen, die gewohnt sind, wenig<br />
Zeit mit Nachdenken zu verbringen, so<br />
erfolgreich, weil es prinzipiell unwiderlegbar<br />
ist : Es ist nämlich keine ethische<br />
Entscheidung vorstellbar, die nicht zumindest<br />
theoretisch den Gefahren des<br />
Dammbruchs ausgesetzt wäre.<br />
Dr. med. Martin Klein,<br />
Herm<strong>an</strong>n Hesse Weg 2, 97276 Margetshöchheim<br />
Zustimmung<br />
Ich k<strong>an</strong>n den Ausführungen von Herrn<br />
Eibach nur vollstens zustimmen. Das<br />
starke <strong>Forschung</strong>sinteresse und das methodisch<br />
Interess<strong>an</strong>te und Machbare<br />
dürfen unsere Gesellschaft nicht dazu<br />
verleiten, in ihren ethischen Grundsätzen<br />
unscharf zu werden. Je laxer wir mit<br />
der Definition des Lebens umgehen, desto<br />
stärker machen wir uns selbst zum<br />
„Schöpfer“ von Leben und Tod. Dies wäre<br />
ein fataler Irrtum. Auch k<strong>an</strong>n es uns<br />
zum Bumer<strong>an</strong>g im Alter werden, wenn<br />
uns das Recht auf Leben einmal verneint<br />
wird, zum Beispiel weil unsere „seelischgeistigen“<br />
Qualitäten nachlassen.<br />
Dr. med. Mathias Brinschwitz,<br />
Georg-Voigt-Straße 21, 35039 Marburg<br />
Widersprüche<br />
Ohne die grundsätzlichen Feststellungen<br />
Eibachs zur Un<strong>an</strong>tastbarkeit der<br />
Menschenwürde infrage stellen zu wollen,<br />
sehe ich doch in zwei Punkten seiner<br />
Ausführungen Widersprüche:<br />
✁ Eibach äußert, Voraussetzung für<br />
„individuelles Leben“ sei, dass „ein zu<br />
einer G<strong>an</strong>zheit integriertes, also org<strong>an</strong>ismisches<br />
Lebensgeschehen feststellbar<br />
sein (muss), das in Interaktion mit<br />
seiner Umwelt (beispielsweise Eileiter,<br />
Gebärmutter) zu einer eigenständigen<br />
Lebensdynamik fähig ist (Stoffwechsel,<br />
Wachstum)“.<br />
Nun liegt es aber auf der H<strong>an</strong>d, dass<br />
das nach der Befruchtung entstehende<br />
Zellkonglomerat ohne Nidation nicht<br />
lebensfähig ist.Wird die Nidation durch<br />
natürliche oder künstliche Umstände<br />
verhindert, geht der Zellverb<strong>an</strong>d zugrunde.<br />
✁ Eibach wendet sich gegen den<br />
St<strong>an</strong>dpunkt der Abhängigkeit einer<br />
Teilhabe <strong>an</strong> der Menschenwürde von<br />
der Entwicklung bestimmter Bereiche<br />
des Großhirns.<br />
Es besteht aber spätestens seit der<br />
Verabschiedung des Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationsgesetzes<br />
vom 5. November 1997 ein allgemeiner<br />
Konsens, dass mit dem Hirntod<br />
der Individualtod des Menschen<br />
eingetreten ist und d<strong>an</strong>ach Teile des<br />
menschlichen Org<strong>an</strong>ismus für medizinische<br />
Zwecke verwendet werden dürfen.<br />
Wenn m<strong>an</strong> also der Linie Eibachs<br />
konsequent folgen wollte, verstieße sowohl<br />
der Gebrauch der Spirale zur<br />
Empfängnisverhütung als auch die Org<strong>an</strong>entnahme<br />
zu Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationszwecken<br />
beim hirntoten Org<strong>an</strong>ismus<br />
gegen die Menschenwürde.<br />
Meines Erachtens muss ein ethisches<br />
Prinzip unabhängig von seinen Wurzeln<br />
in sich schlüssig sein, um den Anspruch<br />
83
D O K U M E N T A T I O N<br />
allgemeiner Verbindlichkeit erheben<br />
und als Vorgabe für den Gesetzgeber<br />
dienen zu können.<br />
Prof. Dr. med. habil. H. W. Opderbecke,<br />
Kesslerplatz 10, 90489 Nürnberg<br />
Präventivmedizinische<br />
Aufgabe<br />
84<br />
In seinem Beitrag fordert Eibach, dass<br />
Gesundheit beziehungsweise ihre Wiederherstellung<br />
nicht durch Verletzung<br />
der Menschenwürde erkauft werden<br />
dürfe. Damit wird auf ein immer auffälliger<br />
werdendes Grundproblem in der<br />
Medizin hingewiesen, dass nämlich Gesundheit<br />
und Menschenwürde, <strong>an</strong>statt<br />
sich zu ergänzen, in ein gegensätzliches,<br />
beinahe sich ausschließendes Verhältnis<br />
zuein<strong>an</strong>der geraten könnten.<br />
Während die medizinischen, die Menschenwürde<br />
verletzenden Übergriffe<br />
im Nationalsozialismus sowohl ethisch<br />
als auch rechtlich klar bewertet werden<br />
konnten, ist die Frage nach der Verletzung<br />
der Menschenwürde heute offensichtlich<br />
nicht eindeutig zu be<strong>an</strong>tworten,<br />
wenn es um das Forschen <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>,<br />
aber auch um menschliches<br />
Klonen oder um Babys nach Maß usw.<br />
geht. Ein solches Ausein<strong>an</strong>derdriften<br />
von Gesundheit und Menschenwürde<br />
bedeutet aber, die Gesellschaft einer<br />
Zerreißprobe auszusetzen. Abgesehen<br />
von dem verfassungsrechtlichen Gebot<br />
zur Menschenwürde (Art. 1. Abs. 1 des<br />
Grundgesetzes) wäre die Gesundheit<br />
nur noch ein zweifelhaftes Gut, wenn<br />
sie zu dem Verständnis von Menschenwürde<br />
in einem Widerspruch stünde.<br />
Der Medizin sollte es vielmehr darum<br />
gehen, die gemeinsame Schnittfläche<br />
von Gesundheit und Menschenwürde<br />
zu fassen und diese für das medizinische<br />
H<strong>an</strong>deln und Forschen zu erschließen.<br />
Die wirklich strittige Frage ist aber,<br />
wie Eibach hervorhebt, welche Auffassung<br />
von Menschenwürde denn nun bei<br />
den <strong>an</strong>stehenden Entscheidungen in<br />
der medizinischen <strong>Forschung</strong> und Therapie<br />
gelten soll: die religiös-tr<strong>an</strong>szendentale<br />
oder die positivistisch-empirische.<br />
Es mag aus medizinisch-naturwissenschaftlicher<br />
Sicht schwer fallen, <strong>an</strong>stelle<br />
von empirisch begründbaren<br />
theologische Argumente zu übernehmen.<br />
Nach Spaem<strong>an</strong>n ist es aber die religiös-metaphysische<br />
Dimension der<br />
Würde, die dem menschlichen Leben<br />
die herausgehobene Wertigkeit verleiht.<br />
„Es ist ein auch heute noch nicht<br />
g<strong>an</strong>z ausgestorbener Irrtum, m<strong>an</strong> könne<br />
die religiöse Betrachtung der Wirklichkeit<br />
fallenlassen, ohne dass einem<br />
etliches <strong>an</strong>dere mit abh<strong>an</strong>den kommt,<br />
auf das m<strong>an</strong> weniger leicht verzichten<br />
möchte“, schreibt er in seinem „Über<br />
den Begriff der Menschenwürde“ betitelten<br />
Aufsatz (Spaem<strong>an</strong>n, 1987).<br />
G<strong>an</strong>z unabhängig von den ethischphilosophischen<br />
oder theologischen<br />
Aussagen zur Frage, ob <strong>Embryonen</strong><br />
Menschenwürde zusteht, müssen auf jeden<br />
Fall die hier relev<strong>an</strong>ten medizinischepidemiologischen<br />
Zusammenhänge,<br />
wenn es doch um Gesundheit geht, beachtet<br />
werden. Wie zahlreiche sozialmedizinisch-epidemiologische<br />
Untersuchungen<br />
ausweisen, steht das Schutzziel<br />
Gesundheit mit <strong>an</strong>deren Wertebereichen<br />
in einem engen Bedeutungsund<br />
Funktionszusammenh<strong>an</strong>g. Natürlich<br />
sind es Menschenwürde – im Gegensatz<br />
zum Menschenhass –, aber auch Selbstwertgefühl,<br />
Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit,<br />
die soziale und biologische<br />
Lebenszusammenhänge durchdringen<br />
und Gesundheit des einzelnen und der<br />
Allgemeinheit fördern (Antonovsky,<br />
1997). Diese Qualitäten, nur weil sie naturwissenschaftlich<br />
unzugänglich sind<br />
oder weil auch Gelehrte über ihre Bedeutung<br />
streiten mögen, nun dem Menschen<br />
dort vorzuenthalten oder auszureden,<br />
wo er sie nicht gerade expressis verbis<br />
be<strong>an</strong>sprucht und erkämpft, führt vor<br />
allem zur Schwächung gesundheitsfördernder<br />
Systemzusammenhänge.<br />
Durch Zuweisung von Menschenwürde<br />
und von Achtung vor Mensch und<br />
Natur (dazu zählen <strong>Embryonen</strong>) ist uns<br />
– Art.1. Abs.1 GG außer Acht lassend –<br />
eine Möglichkeit und Ch<strong>an</strong>ce gegeben,<br />
eine bestimmte soziale Wirklichkeit zu<br />
erzeugen und dadurch Wohlbefinden<br />
und gesundheitsfördernde Lebensbedingungen<br />
zu schaffen. Diese Möglichkeit<br />
zu nutzen, ist eine präventivmedizinische<br />
Aufgabe, sie ungenutzt zu lassen,<br />
bedeutet ein Weniger <strong>an</strong> Gesundheit.<br />
Literatur beim Verfasser<br />
Prof. Dr. med. Hartmut Dunkelberg,<br />
Abteilung Allgemeine Hygiene und Umweltmedizin<br />
der Universität Göttingen,<br />
Windausweg 2, 37073 Göttingen<br />
<strong>PID</strong><br />
„Ein Verfahren zur<br />
Selektion“<br />
Bei der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) h<strong>an</strong>delt es sich nach Auffassung<br />
der Org<strong>an</strong>isation „Ärzte für das Leben“<br />
(ÄfdL) ausschließlich um ein Selektionsverfahren.<br />
Die Org<strong>an</strong>isation<br />
lehnt deshalb in einer Stellungnahme<br />
den „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
des Wissenschaftlichen Beirats der<br />
Bundesärztekammer ab. Sie befürchtet,<br />
dass durch die Einführung der <strong>PID</strong> gesellschaftliche<br />
Vorurteile gegen Behinderte<br />
verstärkt werden und dass sich die<br />
Tendenz verhärtet, „im behinderten<br />
Mitmenschen allein den ,Belastungsfaktor‘<br />
zu sehen, statt ihn als prinzipiell<br />
Gleichberechtigten zu achten“. Die<br />
Äfdl befürchtet, dass das Lebensrecht<br />
behinderter Menschen infrage gestellt<br />
werden könnte. Die Verfahren der Invitro-Fertilisation<br />
seien deshalb auf<br />
Fälle der Sterilitätsbeh<strong>an</strong>dlung zu beschränken.<br />
Ein ursprünglich ärztliches<br />
Beh<strong>an</strong>dlungsverfahren dürfe nicht zu<br />
Selektionszwecken missbraucht und zu<br />
eugenischen H<strong>an</strong>dlungsspielräumen erweitert<br />
werden. Wenn erblich schwer<br />
belastete Paare einen dringenden Kinderwunsch<br />
äußerten, empfiehlt die Org<strong>an</strong>isation<br />
die Adoption als eine hum<strong>an</strong>e<br />
Alternative.<br />
Ein Recht auf ein gesundes Kind gibt<br />
es nach Auffassung der Ärzte für das<br />
Leben nicht. Jeder ungeborene und geborene<br />
Mensch habe ein persönliches<br />
Recht auf Leben. Zwar fordere auch<br />
der Diskussionsentwurf strenge Bestimmungen,<br />
doch diese könnten<br />
schnell überholt werden, befürchten die<br />
Ärzte für das Leben. Sie lehnen auch<br />
die verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
ab. Die Verfahren der künstlichen<br />
Befruchtung müssten vor einer<br />
solchen Möglichkeit rechtlich über<br />
das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz abgesichert<br />
bleiben. Die ÄfdL fordert, den<br />
Gesetzestext so zu formulieren, dass<br />
Missdeutungen nicht mehr möglich<br />
sind.<br />
Der gesamte Text der Stellungnahme<br />
k<strong>an</strong>n abgerufen werden unter www.<br />
aerzte-fuer-das-leben.de<br />
Kli
D O K U M E N T A T I O N<br />
Nach der Äußerung der Enquete-<br />
Kommission des Deutschen Bundestags<br />
scheint festzustehen, dass<br />
ohne eine Gesetzesänderung Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
nicht möglich sein wird. Damit ist der<br />
Weg frei für eine tief greifende Debatte,<br />
die Zeit der Taktiererei ist vorbei.<br />
In der nun <strong>an</strong>stehenden Debatte werden<br />
auch die Motive der Akteure von Interesse<br />
sein. Gerade bei Menschen, die<br />
in ethischen Debatten eher unerfahren<br />
sind – was niem<strong>an</strong>dem vorzuwerfen ist –,<br />
bestimmen oftmals das Ziel, der<br />
Wunsch, das Wollen auch die Argumente.<br />
Doch ethische Grundprinzipien bestimmen<br />
das Gewicht der Argumente,<br />
nicht umgekehrt.<br />
In der Diskussion mit Gesundheitspolitikerinnen<br />
– vor allem der SPD – ist mir<br />
ein Argument immer wieder vorgehalten<br />
worden, mit dem m<strong>an</strong> sich intensiv<br />
ausein<strong>an</strong>der setzen muss: <strong>PID</strong> sei eine<br />
Form des Selbstbestimmungsrechts der<br />
Frau. („Mein Bauch gehört mir.“) Hinter<br />
der <strong>PID</strong>-Debatte stehe die Fortsetzung<br />
des Befreiungskampfes der Frau in<br />
unserer Gesellschaft.<br />
Verkürzt gesagt, Politikerinnen, die<br />
noch geprägt sind von der Abtreibungsdebatte<br />
der 70er- und 80er-Jahre, vermuten<br />
einen Rückschritt hinter die Positionen,<br />
die sie mühsam erkämpft haben. Wieder<br />
einmal sehen wir, wie viele Zusammenhänge<br />
es zwischen der §-218-Debatte und<br />
der <strong>PID</strong> gibt. Aus der Sicht der reinen<br />
Ethik war und ist der § 218 ein Sündenfall.<br />
Und doch: Mit diesem Bruch müssen wir<br />
alle leben,denn die Neuregelung des § 218<br />
hat zugleich Millionen Frauen aus Abhängigkeit,<br />
Zweifel und Not befreit. Das muss<br />
gesellschaftlich <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt und akzeptiert<br />
werden.<br />
Bei der <strong>PID</strong> hingegen geht es nicht um<br />
Millionen Frauen, sondern höchstens um<br />
50 bis 100 Paare. Ihnen soll auch nicht das<br />
Recht auf Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch genommen<br />
werden – alle Methoden der pränatalen<br />
Diagnostik und die daraus abzuleitenden<br />
Indikationen zum straffreien<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch stehen ihnen<br />
nach wie vor offen.<br />
Und schließlich, Regine Kollek; die<br />
Hamburger Medizinethikerin wird nicht<br />
müde, darauf hinzuweisen, dass gerade<br />
die Anwendung der <strong>PID</strong> Frauen noch<br />
mehr belasten k<strong>an</strong>n als der Verzicht.<br />
Schließlich muss eine IVF mit all ihren<br />
Heft 15, 13. April 2001<br />
<strong>PID</strong><br />
Motivsuche<br />
technischen und hormonellen M<strong>an</strong>ipulationen,<br />
ihren Imponderabilien und Risiken<br />
<strong>an</strong> Frauen vorgenommen werden, die<br />
in der Lage sind, ihre Kinder auf normalem<br />
Wege zu konzipieren. Insofern hat also<br />
der Verzicht auf <strong>PID</strong> nichts mit einer<br />
Einschränkung der Rechte von Frauen zu<br />
tun, schon gar nichts mit einem Zurückdrehen<br />
der aus dem § 218 abgeleiteten<br />
Frauenrechte.<br />
Unser Bundesk<strong>an</strong>zler, Gerhard<br />
Schröder, hat sich nun auch in letzter<br />
Zeit intensiv um das Thema gekümmert.<br />
Was treibt ihn auf dieses ethisch schwierige<br />
Feld Hier gibt es nur Vermutungen,<br />
die sich aus seinen sonstigen Aktivitäten<br />
ableiten lassen. Schröder ist ein<br />
Politiker, der immer d<strong>an</strong>n aktiv wird,<br />
wenn<br />
❃ große Populationen betroffen sind,<br />
❃ das Thema weite Bevölkerungsbereiche<br />
<strong>an</strong>spricht,<br />
❃ wissenschaftliche Möglichkeiten<br />
und Freiheitsräume eingeschränkt werden<br />
oder<br />
❃ wirtschaftliche Interessen t<strong>an</strong>giert<br />
sind.<br />
Nimmt m<strong>an</strong> die Ankündigungen<br />
ernst, dass die <strong>PID</strong> auf wenige schwerwiegende<br />
Indikationen beschränkt bleiben<br />
soll, d<strong>an</strong>n werden weder große Populationen<br />
betroffen sein, noch wird die<br />
<strong>PID</strong>, ausgeführt <strong>an</strong> 50 bis 100 Paaren<br />
jährlich, ein wirtschaftlich nennenswertes<br />
Feld werden. Diese Argumente<br />
scheiden also aus.<br />
Auch ist die Bevölkerung, das belegen<br />
alle Umfragen, mehrheitlich gegen alle<br />
M<strong>an</strong>ipulationen am Embryo, auch gegen<br />
<strong>PID</strong>. Durch die Erklärung zur „Chefsache“<br />
ist hier also auch kein „politischer<br />
Blumentopf“ zu gewinnen.<br />
Wissenschaftlich ist die <strong>PID</strong> ein seit<br />
rund zw<strong>an</strong>zig Jahren bek<strong>an</strong>ntes Verfahren.<br />
In der Biologie, <strong>an</strong> Tieren schon viel<br />
verwendet, selbst am Menschen (im Ausl<strong>an</strong>d)<br />
längst erprobt. Wissenschaftlich also<br />
auch nichts Neues!<br />
Bleibt die Frage nach übergeordneten<br />
wirtschaftlichen Motiven. Wir wissen,<br />
dass der K<strong>an</strong>zler auch eine intensive Debatte<br />
um die Verwendung von embryonalen<br />
Stammzellen und „therapeutisches<br />
Klonen“ <strong>an</strong>gestoßen hat. Der<br />
K<strong>an</strong>zler selber scheint diesen Methoden<br />
offener gegenüberzustehen als weite<br />
Teile der Bevölkerung. Er hat großes Interesse<br />
<strong>an</strong> biotechnologischen Verfahren<br />
und will diese befördern. Ihn treiben dabei<br />
vorr<strong>an</strong>gig wirtschaftspolitische Motive.<br />
Er ist sich der Tatsache bewusst, dass<br />
die Verwendung embryonaler Stammzellen<br />
heute noch vom <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
verboten ist. Für eine Änderung dieser<br />
Bestimmung bestehen zurzeit weder<br />
Mehrheiten im Parlament noch in der Bevölkerung.<br />
Würde m<strong>an</strong> aber die <strong>PID</strong> – am unauffälligsten,<br />
und deshalb von politischen<br />
Befürwortern der <strong>PID</strong> am liebsten gesehen,<br />
durch untergesetzliche Regelung<br />
über eine Richtlinie der Bundesärztekammer<br />
– zulassen, würde ein offener<br />
logischer Bruch entstehen, dass <strong>Embryonen</strong>m<strong>an</strong>ipulationen<br />
und Verbrauch<br />
von <strong>Embryonen</strong> zum Nutzen einzelner<br />
Paare zwar zulässig, <strong>Forschung</strong> zur Heilung<br />
g<strong>an</strong>zer Volkskr<strong>an</strong>kheiten (so zumindest<br />
die euphorischen Heilsversprechungen<br />
m<strong>an</strong>cher Wissenschaftler) aber verboten<br />
bliebe. In die Debatte um die ethischen<br />
Probleme <strong>an</strong> Anf<strong>an</strong>g und Ende<br />
des Lebens wäre eine weitere Irrationalität<br />
eingeführt, die uns weg von der reinen<br />
Ethik hin zu einer pragmatischen<br />
Moral führt.<br />
Im Klartext: Ich befürchte, dass das<br />
Engagement des K<strong>an</strong>zlers vor allem ein<br />
dialektischer Trick ist, da ihm längst bewusst<br />
geworden ist, dass mit der Zulassung<br />
der <strong>PID</strong> auch die Vorbehalte gegen<br />
embryonale Stammzellforschung und<br />
therapeutisches Klonen fallen werden.<br />
Damit aber wäre die Tür geöffnet für ein<br />
wissenschaftliches und wirtschaftliches<br />
„Eldorado“ – d<strong>an</strong>n gäbe es kein Halten<br />
mehr. Dr. med. Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery<br />
Der Verfasser ist Präsident der Ärztekammer Hamburg<br />
und 1. Vorsitzender des Marburger Bundes.<br />
85
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 26, 29. Juni 2001<br />
DISKUSSION<br />
Armutszeichen der<br />
<strong>PID</strong>-Verhinderer<br />
Vielleicht sollten in der Diskussion über<br />
Präimpl<strong>an</strong>tations-Diagnostik nicht nur<br />
„ethische Prinzipien“, sondern auch<br />
Prinzipien der Logik berücksichtigt<br />
werden. Es ist unverständlich, weshalb<br />
die Aufrechterhaltung des <strong>PID</strong>-Verbots<br />
„nichts mit einer Einschränkung der<br />
Rechte von Frauen zu tun“ haben soll,<br />
wie Frau Kollek behauptet. Wenn Frauen<br />
<strong>an</strong>derer Länder die Möglichkeit zur<br />
<strong>PID</strong> haben, d<strong>an</strong>n sind im Vergleich hierzu<br />
die Frauen in Deutschl<strong>an</strong>d nach der<br />
mir bek<strong>an</strong>nten Logik in ihren Rechten<br />
eingeschränkt. Oder sehe ich da etwas<br />
falsch<br />
Zum zweiten soll durch die Zulassung<br />
der <strong>PID</strong> „ein wissenschaftliches<br />
und wirtschaftliches Eldorado“ eröffnet<br />
werden. Andererseits ist „die <strong>PID</strong><br />
ein seit rund zw<strong>an</strong>zig Jahren bek<strong>an</strong>ntes<br />
Verfahren“. Warum hat m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n von<br />
jenem Gold aus jenen wissenschaftlichen<br />
und wirtschaftlichen Minen noch<br />
nie etwas gesehen Auch beim Menschen<br />
wird <strong>PID</strong> seit 1989 <strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dt:<br />
Wo sind denn die Missbräuche dieser<br />
Methode Sie existieren doch nur im<br />
Wunschdenken jener Schwarzseher.<br />
Wegen der dem Autor bek<strong>an</strong>nten<br />
„technischen und hormonellen M<strong>an</strong>ipulationen,<br />
ihren Imponderabilien und<br />
Risiken“ wird die <strong>PID</strong> auch in Zukunft<br />
eine äußerst selten <strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dte Methode<br />
bleiben. Potenzieller Missbrauch wie<br />
„embryonale Stammzellforschung und<br />
therapeutisches Klonen“ ist schon deshalb<br />
unwahrscheinlich und darf kein<br />
86<br />
zu dem Kommentar<br />
<strong>PID</strong>: Motivsuche<br />
von<br />
Dr. med.<br />
Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery<br />
in Heft 15/2001<br />
Grund für das Verbieten des Gebrauchs<br />
sein. Ad hominem, auf den Menschen,<br />
losgehen, wenn m<strong>an</strong> ad rem, zur Sache,<br />
keine guten Argumente hat. Ein alter<br />
rhetorischer Trick, der hier am K<strong>an</strong>zler<br />
vorexerziert wird. Ein Armutszeichen<br />
der <strong>PID</strong>-Verhinderer.<br />
Dr. rer. nat. M<strong>an</strong>fred Schleyer,<br />
Institutsstraße 22, 81241 München-Pasing<br />
Gentechnik suggeriert eine<br />
Art von Allmachtsf<strong>an</strong>tasie<br />
Eine Zusammenstellung der im Deutschen<br />
Ärzteblatt erschienenen Beiträge zu <strong>PID</strong>, <strong>PND</strong><br />
und <strong>Embryonen</strong>schutz lag beim Deutschen<br />
Ärztetag aus. Sie k<strong>an</strong>n auch über das Internet<br />
unter www.aerzteblatt.de abgerufen werden.<br />
In der Tat liegt die Versuchung verschiedener<br />
Interessenvertreter nahe, die<br />
Möglichkeiten der Gentechnik und der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik m<strong>an</strong>ipulativ<br />
und moralisierend zu missbrauchen<br />
und die öffentliche Diskussion gezielt zu<br />
lenken; der wissenschaftliche Umg<strong>an</strong>g<br />
mit dem menschlichen Erbgut verspricht<br />
die Aussicht auf sehr viel Geld<br />
und Macht. Der Gebrauch der Gentechnik<br />
suggeriert eine Art von Allmachtsf<strong>an</strong>tasie<br />
in der <strong>Forschung</strong>,dass existenzielle<br />
Fragen von Hunger und Kr<strong>an</strong>kheit<br />
für immer wirksam zum Wohl aller<br />
gelöst werden könnten. Dabei wird,<br />
mehr oder weniger absichtlich, die<br />
Komplexität menschlicher Lebensformen<br />
ausgeblendet. Die Allmacht dieser<br />
inf<strong>an</strong>tilen Ged<strong>an</strong>kenwelt geht zulasten<br />
der Wahrnehmung der Realität und verschleiert<br />
die eigentlichen Ursachen<br />
menschlicher Unzulänglichkeiten. Dieser<br />
Reduktionismus würde Wissenschaftlichkeit<br />
nachhaltig konterkarieren.Wir<br />
müssen uns vor der Vorstellung<br />
hüten, dass Leben nur aus Genen besteht,<br />
die fallweise repariert oder ausgetauscht<br />
werden müssen. Hier käme<br />
Wissenschaft einem archaischen Religionsersatz<br />
gleich mit dem Anspruch,<br />
die Sicht von menschlicher Existenz<br />
auf physiologisch nachprüfbare Funktionen<br />
zu beschränken, in der kritischer<br />
Geist und Seele zu Störfaktoren werden.<br />
In einer derart gestylten Welt<br />
könnten eigentlich nur noch Gentechniker<br />
Aussagen über Nützlichkeit und<br />
Brauchbarkeit von Menschen in Abhängigkeit<br />
der Erb<strong>an</strong>lagen treffen.<br />
Dr. med. Friedrich Bofinger,<br />
Berliner Platz 1, 84489 Burghausen<br />
Wer kennt die Meinung der<br />
Mehrheit<br />
Zweimal führt Kollege Montgomery in<br />
seinem Kommentar zur <strong>PID</strong> <strong>an</strong>, dass<br />
<strong>an</strong>geblich die Mehrheit der Bevölkerung<br />
nicht für die <strong>PID</strong> sei. Ich bezweifle,<br />
ob das wirklich so ist. Es zeigt sich immer<br />
wieder das gleiche Bild, egal ob es<br />
sich um <strong>PID</strong> h<strong>an</strong>delt, oder um das Klonen,<br />
die Stammzellzucht, den Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
oder neuerdings um<br />
die Sterbehilfe. Das Volk schweigt, aber<br />
einige Politiker, Theologen und Ärztefunktionäre<br />
legen sich lautstark quer<br />
und prophezeien Katastrophen. Ich<br />
weiß aber nicht, ob die Gen<strong>an</strong>nten es<br />
wirklich besser wissen oder gar – wie in<br />
dem Kommentar – <strong>an</strong>geblich eine<br />
Mehrheit vertreten.<br />
Ein Beispiel: Die „Magdeburger<br />
Volksstimme“ führte gerade eben eine<br />
TED-Umfrage bezüglich der Sterbehilfe<br />
durch. 91 Prozent der 1 420 Anrufer<br />
sprachen sich für die Sterbehilfe aus,<br />
nur neun Prozent dagegen! Sicher, diese<br />
Umfrage ist nicht repräsentativ, doch<br />
sollte das Ergebnis den Politikern und<br />
Funktionären vor Augen führen, wie<br />
weit sie von der Basis entfernt sind und<br />
dass sie zum Teil überhaupt nicht die<br />
Meinung der Mehrheit vertreten, ja sie<br />
vermutlich nicht einmal kennen. Nur<br />
weil den Wenigen ständig die Medien<br />
offen stehen, sind sie noch l<strong>an</strong>ge nicht<br />
im Besitz der Wahrheit.<br />
Dr. med. Paul R. Fr<strong>an</strong>ke,<br />
Harnackstraße 4, 39104 Magdeburg
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 20, 18. Mai 2001<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
„Eine Sieger-<br />
Besiegten-Stimmung darf<br />
nicht aufkommen“<br />
Interview mit Professor Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
dem Präsidenten der Bundesärztekammer und des<br />
Deutschen Ärztetages, über <strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
und die Haltung der Ärzteschaft<br />
DÄ: Seit knapp eineinhalb Jahren läuft<br />
der von der Ärzteschaft <strong>an</strong>gestoßene gesellschaftliche<br />
Diskurs über die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
ausgehend von<br />
dem Diskussionsentwurf einer Richtlinie<br />
des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer.<br />
Hat die öffentliche Diskussion<br />
Sie beziehungsweise die Bundesärztekammer<br />
in der Entscheidungsfindung<br />
vor<strong>an</strong>gebracht<br />
Hoppe: Wir haben diesen Diskurs<br />
ja nicht primär <strong>an</strong>gestoßen, sondern vielmehr<br />
eine mehr im Verborgenen stattfindende<br />
Diskussion öffentlich gemacht.<br />
Damals, nach dem Regierungswechsel,<br />
hatte die neue Bundesregierung gesagt,<br />
sie wolle das Thema gesetzlich regeln.<br />
Und wir wollten, dass niem<strong>an</strong>d sagen<br />
k<strong>an</strong>n, er habe nicht gewusst, um was es<br />
geht, wenn die Entscheidungen des Gesetzgebers<br />
gefällt werden. Dieses Ziel haben<br />
wir erreicht. Die Probleme um die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, aber auch die<br />
weitergehenden Komplexe wie Stammzellzüchtung,<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung, <strong>Embryonen</strong>verbrauch<br />
sind in der Öffentlichkeit<br />
mittlerweile sehr bek<strong>an</strong>nt.<br />
DÄ: Wie aber steht es um den Entscheidungsprozess<br />
innerhalb der Ärzteschaft<br />
Hoppe: Auch bei uns selbst ist die Diskussion<br />
weitergeg<strong>an</strong>gen. Wir sind uns<br />
aber klar darüber, dass m<strong>an</strong> über etliche<br />
Konfliktfelder nicht nach Mehrheitsbildung<br />
innerhalb der Ärzteschaft abstimmen<br />
k<strong>an</strong>n. Wir können Rat erteilen, können<br />
die Alternativen benennen, die sich<br />
ergeben, und können so die Gesellschaft<br />
vorbereiten, um eine Mehrheitsbildung<br />
im politischen Raum zu beschleunigen<br />
oder überhaupt erst möglich zu machen.<br />
DÄ: Haben diese l<strong>an</strong>gen Diskussionen<br />
und das Abwarten nicht dazu geführt,<br />
dass das Thema <strong>PID</strong> schon fast verlassen<br />
worden ist und inzwischen über die von<br />
Ihnen erwähnten weitergehenden Möglichkeiten<br />
laut nachgedacht wird, siehe die<br />
jüngste Stellungnahme der DFG zugunsten<br />
der embryonalen Stammzellforschung<br />
Hoppe: Die Stammzellforschung ist<br />
nicht neu und auch nicht mehr aufzuhalten.<br />
Es h<strong>an</strong>delt sich um eine weltweit<br />
stattfindende Entwicklung, die m<strong>an</strong> dadurch,<br />
dass Deutschl<strong>an</strong>d sich aus dieser<br />
Diskussion heraushalten würde, nicht<br />
verhindert. In Hinblick auf die Zielsetzung<br />
der <strong>Forschung</strong> mit embryonalen<br />
Stammzellen sehe ich auch keinen direkten<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g mit der <strong>PID</strong>. Eine<br />
gemeinsame Zielsetzung erkenne ich<br />
vielmehr bei Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin.<br />
Eine losgelöste Diskussion um<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik mit der Zielrichtung,<br />
allein diese zu verbieten, die<br />
<strong>PND</strong> aber nicht, halte ich für einen logischen<br />
Bruch. Bei uns geht es auch um die<br />
Frage, ob Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
denjenigen Paaren <strong>an</strong>geboten werden<br />
soll, die sonst eine „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf<br />
Probe“ eingehen würden.<br />
DÄ: Meine Frage zielte in eine <strong>an</strong>dere<br />
Richtung. Um sie zu präzisieren: Ist <strong>PID</strong><br />
nur ein Einfallstor für weitergehende <strong>Forschung</strong>,<br />
die zurzeit noch verboten ist<br />
Hoppe: Nein. Ich denke, dass die <strong>PID</strong><br />
auch bei denjenigen, die sie entwickelt<br />
haben und die sie heute in <strong>an</strong>deren Ländern<br />
<strong>an</strong>wenden, nur darauf zielt, den Paaren,<br />
die eine Erblast mit sich tragen, zu einem<br />
gesunden Kind zu verhelfen. Wenn<br />
m<strong>an</strong> diese Diagnostik nicht zulässt, bedeutet<br />
das, dass m<strong>an</strong> diese Paare implizit<br />
<strong>PID</strong> = Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
<strong>PND</strong> = Pränataldiagnostik<br />
IVF = In-vitro-Fertilisation<br />
DFG = Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
Frau Däubler-Gmelin = Bundesjustizministerin<br />
Frau Fischer = frühere Bundesgesundheitsministerin<br />
auf Pränataldiagnostik im Sinne der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe verweist.<br />
Darin sehe ich das Problem. Wenn m<strong>an</strong><br />
diesen Zusammenh<strong>an</strong>g verneint und sagt,<br />
mit <strong>PID</strong> solle der Weg zur Stammzellforschung<br />
und weiteren genetischen <strong>Forschung</strong><br />
geebnet werden, und gäbe es<br />
dafür Beweise, d<strong>an</strong>n würde ich sagen:<br />
Nehmen wir in Gottes Namen die Pränataldiagnostik<br />
mit Spätabtreibung in Kauf<br />
und lassen <strong>PID</strong> nicht zu. Aber ich sehe<br />
den Zusammenh<strong>an</strong>g so nicht.<br />
DÄ: Sind Sie demnach guter Hoffnung,<br />
dass m<strong>an</strong> die <strong>PID</strong> mit g<strong>an</strong>z engen Indikationen<br />
und unter strengen Kriterien einführen<br />
k<strong>an</strong>n, ohne dass das zu Weiterungen<br />
führt<br />
Hoppe: Ja, da bin ich sicher – wenn m<strong>an</strong><br />
<strong>PID</strong> unter Kontrolle hält. Eine solche<br />
Kontrolle muss gewährleistet sein, <strong>an</strong>dernfalls<br />
sehe ich die Gefahr des Missbrauchs<br />
bis hin zur Menschenzüchtung.<br />
DÄ: <strong>PID</strong> enthält als Grundged<strong>an</strong>ken<br />
die Auswahl nach lebenswertem und lebensunwertem<br />
Leben. Dieser Grundged<strong>an</strong>ke<br />
könnte, wenn er bei der <strong>PID</strong> gesellschaftlich<br />
akzeptiert wird, auch auf <strong>an</strong>dere<br />
Lebenserscheinungen übertragen werden.<br />
Oder ist es ein purer Zufall, dass parallel<br />
mit der <strong>PID</strong>-Diskussion auch eine Diskussion<br />
über die Beendigung des Lebens im<br />
Alter geführt wird, nicht nur in Holl<strong>an</strong>d,<br />
sondern auch bei uns<br />
Hoppe: Die Euth<strong>an</strong>asiediskussion ist<br />
wesentlich älter als die Diskussion über<br />
<strong>PID</strong>. Sie läuft mit wechselnden Höhen<br />
und Tiefen schon seit Mitte der 70er-Jahre.<br />
Im Moment erleben wir ein besonderes<br />
Interesse vor allem infolge<br />
der Diskussion in Holl<strong>an</strong>d. Zweifelhafte<br />
Umfragen heizen die Stimmung zusätzlich<br />
<strong>an</strong>. Doch wenn die deutschen Bürgerinnen<br />
und Bürger konkret gefragt würden<br />
und genau wüssten, was hier gemeint<br />
ist, d<strong>an</strong>n würde in Deutschl<strong>an</strong>d mit Sicherheit<br />
Euth<strong>an</strong>asie in dieser Form, wie<br />
sie in Holl<strong>an</strong>d geübt wird, also Einschläferung<br />
von Menschen, von denen m<strong>an</strong><br />
meint, dass sie kein lebenswertes Leben<br />
mehr führen, abgelehnt werden. Ich glaube,<br />
die Diskussionen um <strong>PID</strong> und Sterbehilfe<br />
werden eben doch unabhängig vonein<strong>an</strong>der<br />
geführt. Die <strong>PID</strong> sehe ich genauso<br />
wie die <strong>PND</strong> primär nicht als selektive<br />
Methode, sondern als eine Methode, erbbelasteten<br />
Eltern zu einem gesunden<br />
Kind zu verhelfen. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n das ablehnen<br />
und empfehlen,Paare,die eine schwere<br />
erbliche Belastung mit sich tragen, sollten<br />
auf Kinder verzichten. Mir wäre am<br />
liebsten, wenn das so wäre. Aber diese<br />
Auffassung ist längst nicht mehr gesellschaftsfähig,<br />
seit die IVF zugelassen ist<br />
und Pränataldiagnostik durchgeführt<br />
wird mit dem Ziel, intrauterin eine Erbschädigung<br />
bei Kindern festzustellen und<br />
87
D O K U M E N T A T I O N<br />
diese Kinder d<strong>an</strong>n abzutreiben. Nachdem<br />
dazu offensichtlich ein gesellschaftlicher<br />
Konsens besteht, ist <strong>PID</strong> nur eine Alternative<br />
zur <strong>PND</strong>. Diese g<strong>an</strong>ze Diskussion<br />
wäre im Übrigen überflüssig, wenn wir in<br />
unserer Gesellschaft Behinderung ohne<br />
Wenn und Aber akzeptieren würden. Damit<br />
hätten wir eine g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>dere Bewusstseinslage,<br />
d<strong>an</strong>n müssten aber sowohl <strong>PID</strong><br />
als auch <strong>PND</strong> mit dieser Zielsetzung in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten werden.<br />
DÄ: Wenn m<strong>an</strong> aus ethischen Erwägungen<br />
<strong>PND</strong> ablehnt, müsste m<strong>an</strong> konsequenterweise<br />
auch gegen <strong>PID</strong> sein<br />
Hoppe: Ja, und umgekehrt.<br />
DÄ: Sie verweisen immer wieder auf<br />
diesen Zusammenh<strong>an</strong>g von <strong>PND</strong> und<br />
<strong>PID</strong> und argumentieren: Wenn wir <strong>PND</strong><br />
zulassen, d<strong>an</strong>n müssen wir auch <strong>PID</strong> zulassen.<br />
Ist das nicht eine selbst gebaute Falle<br />
Denn niem<strong>an</strong>d wird <strong>PND</strong> verbieten,<br />
nachdem sie einmal eingeführt ist; konsequenterweise<br />
müsste d<strong>an</strong>n auch, wenn<br />
m<strong>an</strong> Ihrer Logik folgt, <strong>PID</strong> zugelassen<br />
werden.<br />
Hoppe: Ich sehe das nicht als Falle,<br />
ich sehe das als eine logische Konsequenz.<br />
Wenn m<strong>an</strong> allein <strong>PID</strong> verbietet,<br />
hat m<strong>an</strong> nicht die Welt in Ordnung gebracht.<br />
Ich will nicht alleine <strong>PID</strong> nicht,<br />
ich will auch <strong>PND</strong> nicht. Denn wenn<br />
m<strong>an</strong> nur <strong>PID</strong> nicht will, d<strong>an</strong>n verstärkt<br />
m<strong>an</strong> <strong>PND</strong>, denn <strong>PND</strong> ist d<strong>an</strong>n die Methode<br />
der Wahl, oder <strong>PID</strong>-Ausl<strong>an</strong>dstourismus<br />
wäre d<strong>an</strong>n die Alternative. Und<br />
das k<strong>an</strong>n doch nicht richtig sein.<br />
DÄ: Müssten Sie d<strong>an</strong>n nicht sowohl gegen<br />
<strong>PID</strong> als auch gegen <strong>PND</strong> zu Felde ziehen<br />
Hoppe: Das tue ich ja. Ich verweise bei<br />
allen Gelegenheiten auf den direkten Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
zur <strong>PID</strong> und <strong>PND</strong>. Das darf<br />
m<strong>an</strong> nicht getrennt vonein<strong>an</strong>der betrachten.<br />
DÄ: Rübergekommen ist: <strong>PND</strong> und<br />
<strong>PID</strong> sind eng verw<strong>an</strong>dt, und wenn wir<br />
<strong>PND</strong> haben, müssen wir <strong>PID</strong> zulassen.<br />
Deshalb die Bemerkung von der selbst gebauten<br />
Falle.<br />
Hoppe: Nein, ich argumentiere so, weil<br />
ich nicht nur <strong>PND</strong>, sondern den g<strong>an</strong>zen<br />
Paragraphen 218 neu diskutieren will. Ich<br />
halte auch die Argumentation von Frau<br />
Däubler-Gmelin für völlig richtig, die<br />
sagt, wir kommen gar nicht umhin, in diesem<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g den 218 erneut zu<br />
diskutieren. Frau Fischer wollte das ja<br />
nicht. Frau Fischer wollte ich dazu bringen,<br />
<strong>PND</strong> neu zu überdenken, denn m<strong>an</strong><br />
k<strong>an</strong>n nicht schlüssig der Öffentlichkeit<br />
klar machen, dass m<strong>an</strong> gegen <strong>PID</strong> ist, und<br />
<strong>PND</strong> unberührt lassen. Wenn m<strong>an</strong> es<br />
nicht mehr schafft, <strong>PND</strong> zurückzudrängen,<br />
wird sich auch <strong>PID</strong> etablieren. Das<br />
würde ich sehr schweren Herzens ertragen<br />
wie damals, als <strong>PND</strong> zugelassen wurde<br />
und wie die Entwicklung des 218 überhaupt.<br />
Wer allerdings dagegen sagt: Wir<br />
verbieten <strong>PID</strong>, und d<strong>an</strong>n ist unser Gewissen<br />
entlastet, macht es sich zu einfach.<br />
Und dieser Switch, <strong>PID</strong> sei nur das Einfallstor<br />
für Stammzellforschung, ist<br />
künstlich, ein Stimmungsargument, aber<br />
für mich nicht überzeugend.<br />
DÄ: Aber es passt ins Bild, in dem <strong>PID</strong><br />
nur ein Teil ist; dazu gehört auch verbrauchende<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung. Die DFG<br />
hat diese gerade befürwortet.Wenn sich die<br />
Politik dem <strong>an</strong>schließt, d<strong>an</strong>n muss es zu einer<br />
Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
kommen.Wenn das geändert wird,d<strong>an</strong>n<br />
ist vieles frei.<br />
Hoppe: Auch für <strong>PID</strong> müsste das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
geändert werden.<br />
DÄ: Der Auffassung war der Wissenschaftliche<br />
Beirat der Bundesärztekammer<br />
aber nicht.<br />
Hoppe: Ja, damals. Ich bin seit geraumer<br />
Zeit der Meinung, dass m<strong>an</strong> das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
auf jeden Fall ändern<br />
müsste, wenn <strong>PID</strong> zugelassen werden<br />
soll, weil damit rechtliche Klarheit<br />
geschaffen wird.<br />
DÄ: Nehmen wir einmal <strong>an</strong>, das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
würde geändert, vielleicht<br />
im Sinne von <strong>PID</strong>, vielleicht aber<br />
auch zugunsten verbrauchender <strong>Embryonen</strong>forschung.<br />
Glauben Sie, dass es d<strong>an</strong>n<br />
zu einer Stellungnahme der Ärzteschaft<br />
kommen wird, oder bleibt die Ärzteschaft<br />
dabei, wie Sie eben sagten, Alternativen<br />
und deren Folgen aufzuzeigen und die Diskussion<br />
zu moderieren<br />
Hoppe: Ich glaube, dass wir als Ärzte<br />
immer wieder klarstellen müssen, dass es<br />
nicht so sein darf, dass Menschen selbst<br />
im frühesten Stadium ihrer Entwicklung,<br />
also von der Verschmelzung der Gameten<br />
<strong>an</strong>, für <strong>an</strong>dere Menschen verfügbar<br />
gemacht werden dürfen. Es darf nie sein,<br />
dass Menschen für den Heilungsprozess<br />
<strong>an</strong>derer ausgenutzt werden. Deswegen<br />
müssen wir die <strong>Forschung</strong> mit adulten<br />
Stammzellen fördern oder die ja auch in<br />
der Diskussion befindliche Vari<strong>an</strong>te einer<br />
Umlenkung der Entwicklung des noch<br />
nicht befruchteten und noch nicht verschmolzenen<br />
Eies in Richtung der Produktion<br />
von Stammzellen. Es gibt Wissenschaftler,<br />
die sagen, es sei möglich, im<br />
Vorkernstadium, ohne Erzeugung eines<br />
Embryos im Sinne unserer Definition,<br />
bereits Stammzellen zu produzieren, die<br />
funktionstüchtig sind. Das wäre d<strong>an</strong>n keine<br />
verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung.<br />
Wenn die Technik gelingen sollte, bliebe<br />
zwar unser Verständnis vom menschlichen<br />
Leben unverändert, wie wir das bei<br />
adulten Stammzellen erreichen wollen,<br />
nämlich ohne die Produktion von<br />
menschlichem Leben verursacht zu haben,<br />
das nur als Org<strong>an</strong>b<strong>an</strong>k dient.<br />
DÄ: Demnach wäre es vorschnell, wenn<br />
der Gesetzgeber durch Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
die Gewinnung von<br />
embryonalen Stammzellen fördern würde.<br />
Er würde d<strong>an</strong>n solche alternativen <strong>Forschung</strong>en<br />
behindern, indem er jetzt den einfacheren<br />
Weg eröffnet.<br />
Hoppe: M<strong>an</strong> sollte alles unternehmen,<br />
um die beiden alternativen Wege zu fördern<br />
und alles <strong>an</strong>dere gesetzgeberisch erst<br />
einmal nicht zuzulassen, damit m<strong>an</strong> den<br />
Druck nicht herausnimmt, in die beiden<br />
<strong>an</strong>deren Richtungen weiterzukommen.<br />
DÄ: Zwei eher praktische Fragen: Was<br />
wird aus dem Richtlinienentwurf des Wissenschaftlichen<br />
Beirates, kommt er als<br />
Richtlinie, oder bleibt er als Diskussionsentwurf<br />
liegen<br />
Hoppe: Wenn die <strong>PID</strong> zugelassen wird,<br />
also das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz so geändert<br />
wird, dass diese Methode erlaubt<br />
wird, d<strong>an</strong>n sind wir bereit, bei der<br />
späteren Operationalisierung eine entsprechend<br />
adaptierte Richtlinie auszuarbeiten,<br />
ähnlich wie bei der Pränataldiagnostik.<br />
Wenn <strong>PID</strong> in Deutschl<strong>an</strong>d eindeutig<br />
verboten bleibt, d<strong>an</strong>n wird der<br />
Entwurf als Diskussionsgrundlage zurückgezogen,<br />
das Thema hat sich damit<br />
erübrigt.<br />
DÄ: Beim kommenden Deutschen<br />
Ärztetag werden die Themen <strong>PID</strong> und<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung sicher zur Sprache<br />
kommen. Nehmen wir <strong>an</strong>, der Ärztetag<br />
wollte dazu Beschlüsse fassen. Sollte er<br />
oder sollte er es bleiben lassen<br />
Hoppe: Ich glaube, wir müssen auf dem<br />
Ärztetag erst einmal die Zusammenhänge<br />
klarstellen und dort, wo sich aus ärztlicher<br />
Sicht eine klare Meinung und auch eine<br />
klare Hilfe für die Entscheidungsfindung<br />
in der Öffentlichkeit formulieren lässt,<br />
sollte der Ärztetag sich äußern. Eine Abstimmung<br />
über ethische Themen auf dem<br />
Ärztetag, und das werden die Delegierten-Kolleginnen<br />
und -Kollegen auf dem<br />
Ärztetag sicher selbst wissen, darf niemals<br />
dazu führen, dass es eine Sieger-Besiegten-Stimmung<br />
gibt.<br />
DÄ: Eine abschließende Frage: In<br />
Schröders Nationalem Ethikrat ist die<br />
Ärzteschaft als gesellschaftliche Gruppe<br />
nicht vertreten. Stört Sie das<br />
Hoppe: Nein, das stört mich nicht. Ich<br />
sehe den Ethikrat auch nicht so sehr als<br />
aus gesellschaftlichen Gruppen zusammengesetzt,<br />
sondern mehr aus Professionen,<br />
und die Ärzteschaft ist insofern auch<br />
fachkundig vertreten. Wenn die Ärzteschaft<br />
dort quasi als Körperschaft vertreten<br />
wäre, wären derjenige oder diejenige,<br />
die dort tätig sein würden, ja <strong>an</strong> Gremienentscheidungen<br />
gebunden und damit<br />
in einer Konfliktsituation, die m<strong>an</strong><br />
dem oder der Betreffenden nicht wünschen<br />
k<strong>an</strong>n. DÄ-Fragen: Norbert Jachertz<br />
88
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 21, 25. Mai 2001<br />
Gestaffeltes Schutzkonzept<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) zählt zu den umstrittensten<br />
Bereichen der modernen Gentechnologie.<br />
Welche Vorgaben für die<br />
normative Einhegung der <strong>PID</strong> möglich<br />
oder sogar geboten sind, be<strong>an</strong>twortet<br />
sich vor allem nach den Bestimmungen<br />
des Verfassungsrechts.Als kollidierende<br />
Rechte stehen sich Berechtigungen der<br />
Eltern einerseits und des in vitro erzeugten<br />
Embryos <strong>an</strong>dererseits gegenüber.<br />
Mitunter zeichnet sich die aktuelle<br />
Debatte durch erstaunliche Argumentationskünste<br />
der Protagonisten beziehungsweise<br />
durch den Rückgriff auf<br />
recht abwegige verfassungsrechtliche<br />
Konstruktionen aus. So gewährt zwar<br />
das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus<br />
Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG –<br />
ebenso wie der Schutz der Ehe nach<br />
Art. 6 Abs. 1 GG – den Eltern das<br />
Recht, über die eigene Fortpfl<strong>an</strong>zung<br />
zu bestimmen. Diese Berechtigung erfasst<br />
aber lediglich die Entscheidung<br />
über das „Ob“ der Fortpfl<strong>an</strong>zung. Ein<br />
vermeintliches Recht der Eltern, nur<br />
gesunde Kinder zu haben, wird hingegen<br />
nicht begründet. Ebenso wenig<br />
räumt das allgemeine Persönlichkeitsrecht<br />
den Eltern einen Anspruch auf<br />
Kenntnis der genetischen Information<br />
des Embryos ein. Da der Embryo ein eigenständiges<br />
Rechtssubjekt darstellt,<br />
endet hier das elterliche Selbstbestimmungsrecht.<br />
Einschlägig sind lediglich die fundamentalen<br />
Verbürgungen der Menschenwürde<br />
sowie des Rechts auf Leben<br />
und körperliche Unversehrtheit. So<br />
berührt ein Verbot der <strong>PID</strong> das der<br />
Mutter über Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete<br />
Recht auf körperliche Unversehrtheit,<br />
wenn die Frau nach der<br />
Impl<strong>an</strong>tation aufgrund der in Erm<strong>an</strong>gelung<br />
einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
nicht vorab diagnostizierten Behinderung<br />
des Kindes physische oder, aufgrund<br />
des Wissens um die Behinderung,<br />
psychische Nachteile erleidet. Umgekehrt<br />
führt die gesetzliche Gestattung<br />
der <strong>PID</strong> zu einer Aktivierung staatlicher<br />
Schutzpflichten. Eine Schutzpflicht<br />
kommt dem Staat nach der<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
insbesondere beim Schutz<br />
des ungeborenen Lebens vor den Eingriffen<br />
Dritter zu. Ebenso gilt es, die<br />
Würde des Embryos zu schützen, wobei<br />
aber kein lückenloser, sondern lediglich<br />
ein effektiver Schutz erforderlich ist.<br />
Eine gesetzliche Regelung der <strong>PID</strong><br />
muss die gen<strong>an</strong>nten Rechtsgüter zu einem<br />
gerechten Ausgleich bringen. Welchen<br />
Mindest<strong>an</strong>forderungen ein solcher<br />
Ausgleich grundsätzlich zu genügen hat,<br />
wurde vom Bundesverfassungsgericht<br />
vor allem im Hinblick auf die Abtreibungsproblematik<br />
ausführlich dargelegt.<br />
Diese flexible Konzeption muss zur Vermeidung<br />
<strong>an</strong>derenfalls drohender Verwerfungen<br />
in der Systematik des verfassungsrechtlichen<br />
Lebensschutzes <strong>an</strong>alog<br />
auf den Bereich der <strong>PID</strong> übertragen werden.<br />
Eine gesetzliche Regelung hat sich<br />
Heft 22, 1. Juni 2001<br />
104. Deutscher Ärztetag<br />
Die CDU steckt in dem gleichen<br />
Dilemma wie alle großen Org<strong>an</strong>isationen,<br />
die ein weites Meinungsspektrum<br />
in sich vereinen und sich nunmehr<br />
zu Gendiagnostik und <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
äußern müssen.<br />
Da gibt es einerseits die Befürworter<br />
einer liberalen H<strong>an</strong>dhabung,<br />
die unser L<strong>an</strong>d nicht vom tatsächlichen<br />
oder vermeintlichen Fortschritt abkoppeln<br />
wollen, und da gibt es <strong>an</strong>dererseits<br />
jene, die auf tradierten Grundwerten<br />
bestehen und befürchten, mit Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
werde der Weg<br />
zur Menschenselektion beschritten und<br />
mit <strong>Embryonen</strong>forschung werde bewusst<br />
die Tötung von Menschenleben<br />
in Kauf genommen.<br />
Die CDU-Spitze, die am 28. Mai<br />
stundenl<strong>an</strong>g beraten hat, hat schließlich<br />
den bewährten taktischen (Aus-)<br />
Weg eingeschlagen: M<strong>an</strong> bekräftigt<br />
das Bekenntnis zu den Grundwerten,<br />
m<strong>an</strong> erklärt das Leben von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong><br />
für schutzwürdig, m<strong>an</strong> lehnt g<strong>an</strong>z eindeutig<br />
ab, was alle ablehnen, nämlich<br />
Klonen und <strong>Embryonen</strong>forschung aus<br />
<strong>an</strong> den folgenden Eckpunkten zu orientieren:<br />
Die Selektion eines Embryos aufgrund<br />
<strong>PID</strong> ist infolge der staatlichen<br />
Schutzpflicht gesetzlich zu verbieten.<br />
Die ebenfalls zu berücksichtigende<br />
Grundrechtsposition der Frau führt dazu,<br />
dass es in Ausnahmesituationen<br />
zulässig ist, Ausnahmetatbestände von<br />
einem solchen grundsätzlichen Verbot<br />
vorzusehen. Ein solcher Fall besteht jedenfalls<br />
d<strong>an</strong>n, wenn eine ernste Gefahr<br />
für das Leben der Frau oder das Risiko<br />
einer schwerwiegenden Beeinträchtigung<br />
ihrer Gesundheit zu befürchten<br />
ist. Gleiches gilt für den Fall einer drohenden<br />
besonders schwerwiegenden<br />
Behinderung des Kindes. Nur ein derartiges<br />
gestaffeltes Schutzkonzept vermag<br />
die erforderliche Abwägung der<br />
betroffenen Rechtspositionen zu gewährleisten.<br />
Dr. jur. Tade M. Spr<strong>an</strong>ger<br />
Gesp<strong>an</strong>ntes Abwarten<br />
schnöder Gewinnsucht, und hält sich<br />
bei den wirklich umstrittenen Fragen<br />
die Türen offen. <strong>PID</strong> lehnt die CDU<br />
„nicht grundsätzlich“ ab, wohl aber deren<br />
eugenische Ausnutzung. Sie weiß<br />
indes nicht so recht, wie das zu bewerkstelligen<br />
ist, und spricht sich für eine<br />
weitere offene Diskussion aus. Sie<br />
wartet zunächst mal ab.<br />
Das Verhalten der CDU gleicht auffallend<br />
dem der Ärzteschaft. Auch die<br />
steckt nämlich in jenem Dilemma, auch<br />
sie muss gegensätzliche Meinungen<br />
mitein<strong>an</strong>der vereinbar machen – doch<br />
die Kundigen ahnen, dass das letztlich<br />
nicht geht. Am Ende könnten mit verschämter<br />
Freude jene stehen, denen der<br />
„Durchbruch“ gelungen ist, und auf der<br />
<strong>an</strong>deren Seite jene mit tapferer Miene,<br />
die „alles versucht“ haben.<br />
Bis auf weiteres setzt die Ärzteschaft<br />
auf gesellschaftliche Diskussion und<br />
wartet gleichfalls ab. Sie lehnt, abzulesen<br />
<strong>an</strong> Beschlussfassungen des jüngsten<br />
Deutschen Ärztetages, <strong>Embryonen</strong>forschung,<br />
wie sie jüngst die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
befürwortet hat,<br />
89
D O K U M E N T A T I O N<br />
ab. Allerdings – den Beschluss gilt es<br />
aufmerksam zu lesen: Die Ablehnung<br />
gilt „derzeit“. Die Haltung zur <strong>PID</strong> ist<br />
weiterhin offen. Auch hier empfiehlt<br />
sich, genau hinzusehen:Anträge, die auf<br />
eine eindeutige Absage <strong>an</strong> <strong>PID</strong> zielten,<br />
wurden vom Deutschen Ärztetag mit<br />
deutlicher Mehrheit abgelehnt.<br />
Am Ende des auch vom Ärztetag gewünschten<br />
„gesellschaftlichen“ Klärungsprozesses<br />
dürfte die „gesellschaftliche“<br />
Entscheidung stehen, und die<br />
Ärzteschaft wäre der eigenen Entscheidung<br />
enthoben. Sie hat freilich zuvor<br />
die nötigen Informationen bereitgestellt,<br />
die Alternativen aufgezeigt, wie<br />
es der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, in<br />
einem Interview, das in Heft 20 erschienen<br />
ist, formuliert hat. Alsd<strong>an</strong>n würde<br />
die Ärzteschaft, so Hoppe, falls der Gesetzgeber<br />
den <strong>Embryonen</strong>schutz abschwächen<br />
sollte, nötigenfalls Richtlinien<br />
für die innerärztlich sachgemäße<br />
Durchführung beschließen.<br />
Bis dahin wird es noch eine Weile<br />
dauern, der gesellschaftliche Diskurs<br />
dauert <strong>an</strong>. Wem nützt die ablaufende<br />
Zeit Vordergründig beiden Richtungen.<br />
Die Gesellschaft ist in den letzten<br />
Monaten tatsächlich, auch im Sinne derer,<br />
die zur Vorsicht raten, problembewusst<br />
geworden. Das ist gut so. Jeder<br />
soll wissen, dass Grundfragen des Lebens<br />
zur Diskussion stehen. Die ablaufende<br />
Zeit nützt nicht zuletzt aber auch<br />
den Befürwortern der liberalen H<strong>an</strong>dhabung.<br />
Sie führen derzeit immer neue<br />
medizinische und naturwissenschaftliche<br />
Bataillone und philosophische und<br />
juristische Hilfstruppen ins Feld.<br />
Bis zur Entscheidung des Gesetzgebers<br />
– der wird um eine solche nicht<br />
herumkommen – herrscht gesp<strong>an</strong>ntes<br />
Abwarten.<br />
Norbert Jachertz<br />
Heft 22, 1. Juni 2001<br />
Gesundheits- und Sozialpolitik<br />
Freiheit und Ver<strong>an</strong>twortung<br />
in der modernen Medizin<br />
Auszug aus der Rede zur Eröffnung des 104. Deutschen<br />
Ärztetages: Die Aussagen zur ärztlichen Ethik<br />
Jörg-Dietrich Hoppe<br />
Freiheit und Ver<strong>an</strong>twortung in der modernen Medizin<br />
– das heißt für uns vor allen Dingen Freiheit in<br />
Ver<strong>an</strong>twortung. Diese ethische Selbstverpflichtung<br />
eben ist der entscheidende Unterschied zur Beliebigkeit.<br />
Bei keinem <strong>an</strong>deren Thema offenbart sich<br />
diese Differenz so gravierend wie bei der Diskussion<br />
um die Sterbehilfe.<br />
Die Entscheidung des niederländischen Parlaments,<br />
das Tötungsverbot in bestimmten Fällen aufzuheben<br />
und ärztlich gestützte Euth<strong>an</strong>asie zuzulassen,<br />
rührt <strong>an</strong> den Grundfesten einer hum<strong>an</strong>en Gesellschaft.<br />
Es ist zu befürchten, dass nunmehr auch<br />
in <strong>an</strong>deren europäischen Ländern diejenigen Auftrieb<br />
bekommen werden, die einer Legalisierung der<br />
Euth<strong>an</strong>asie das Wort reden.<br />
Für uns aber ist eine gezielte Lebensverkürzung<br />
durch Maßnahmen, die den Tod herbeiführen oder<br />
das Sterben beschleunigen sollen, nach wie vor mit<br />
den Prinzipien des Arztberufes unvereinbar. Das hat<br />
auch der Weltärztebund wiederholt festgestellt, zuletzt<br />
am verg<strong>an</strong>genen 5. Mai mit nur einer Gegenstimme,<br />
und die kam aus den Niederl<strong>an</strong>den.<br />
Denn ethische Werte sind keine Modeerscheinungen<br />
der Postmoderne, ethische Werte sind Prinzipien<br />
des Hum<strong>an</strong>ismus, ihrem Wesen nach unverbrüchlich,<br />
vielleicht sogar naturgegeben. Wie<br />
schnell allerdings solche Werte durch Ignor<strong>an</strong>z,<br />
Ideologie oder schlicht durch eine Gebrauchsethik<br />
ersetzt werden können, zeigt schon ein kurzer Blick<br />
zurück in die Verg<strong>an</strong>genheit.<br />
Das Euth<strong>an</strong>asie-Programm der Nazis, die Vernichtung<br />
so gen<strong>an</strong>nten lebensunwerten Lebens,<br />
nahm seinen Anf<strong>an</strong>g in der Diskreditierung des Verbots<br />
aktiver Sterbehilfe. Erst als Tötung auf Verl<strong>an</strong>gen<br />
gesellschaftlich akzeptiert erschien und das unbedingte<br />
Lebensrecht des Menschen <strong>an</strong> sich schon<br />
nichts mehr galt, beg<strong>an</strong>nen die Nazis mit der Massentötung<br />
behinderter Menschen. Der Bevölkerung<br />
wurde d<strong>an</strong>n eingeredet, m<strong>an</strong> täte den „armseligen<br />
Kreaturen“ – wie es damals hieß – nur einen Gefallen<br />
und gewähre ihnen deshalb den „Gnadentod“.<br />
Ohne die Gleichgültigkeit beziehungsweise<br />
schweigende Zustimmung in der Bevölkerung hätten<br />
diese Mordtaten <strong>an</strong> psychisch Kr<strong>an</strong>ken, geistig und<br />
körperlich Behinderten so nicht geschehen können.<br />
Warum dieser kleine Exkurs in unsere Geschichte<br />
Ich glaube, dass ethische Werte verteidigt werden<br />
müssen, wenn sie bewahrt werden sollen, dass<br />
m<strong>an</strong> für die Werte des Hum<strong>an</strong>ismus kämpfen muss<br />
und dass Ignor<strong>an</strong>z und Gleichgültigkeit gegenüber<br />
den Schwächeren der Anf<strong>an</strong>g vom Ende sind.<br />
Auch dürfen wir uns nicht gefälligen Argumentationen<br />
des Zeitgeistes hingeben und uns allzu sehr<br />
von Meinungsumfragen beeindrucken lassen. Zumal<br />
wenn sie lapidar formuliert sind wie etwa „Sollte<br />
die aktive Sterbehilfe erlaubt werden“. Wer<br />
denkt da nicht sofort <strong>an</strong> das Selbstbestimmungsrecht<br />
des mündigen Menschen<br />
Wie aber würde wohl das Ergebnis einer solchen<br />
Umfrage aussehen, wenn die Frage lautete: „Sollte<br />
ihr Arzt Patienten im finalen Stadium töten dürfen“<br />
Wir müssen uns mit aller Macht dagegen wenden,<br />
dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, das<br />
Sterbehilfe zum Mittel der Wahl bei schwerstkr<strong>an</strong>ken<br />
und lebensmüden Menschen erklärt. Schon eine<br />
Relativierung würde unweigerlich auf eine schiefe<br />
Ebene führen. Denn dadurch würde auch der Druck<br />
auf diejenigen Patienten, welche sich den Tod nicht<br />
wünschen, sondern bis zum letzten Atemzug zu hoffen<br />
wagen, unerträglich steigen.<br />
J<strong>an</strong> Roß hat Recht, wenn er sagt: „Wer meint,<br />
dass getötet werden darf, wer getötet werden will,<br />
wird leicht zu dem Schluss kommen, dass nur der<br />
nicht getötet werden darf, der nicht getötet werden<br />
will.“ Zitatende<br />
Es ist deshalb nicht nur Verpflichtung der Ärzte,<br />
sondern aller Menschen in diesem L<strong>an</strong>d, die Unverfügbarkeit<br />
menschlichen Lebens <strong>an</strong>zuerkennen und<br />
zu bewahren. Deshalb plädieren wir mit Nachdruck<br />
für einen Ausbau der Hospize und der palliativmedizinischen<br />
Versorgung und wenden uns mit aller<br />
Macht gegen jeden Versuch, Ärzte zu staatlich legitimierten<br />
Euth<strong>an</strong>atikern zu machen!<br />
◆<br />
Wie am Ende des menschlichen Lebens, so müssen<br />
wir uns auch <strong>an</strong> dessen Beginn immer wieder dar-<br />
90
D O K U M E N T A T I O N<br />
auf besinnen, was originäre Aufgabe des Arztes ist.<br />
Darüber haben wir gerade bei der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
in der Ärzteschaft eine intensive<br />
Diskussion geführt. Und ich bin dem Chefredakteur<br />
des Deutschen Ärzteblattes, Herrn Jachertz, außerordentlich<br />
d<strong>an</strong>kbar, dass er in einer umf<strong>an</strong>greichen<br />
<strong>Dokumentation</strong> die verschiedenen Meinungsbeiträge<br />
für uns zusammengefasst hat.<br />
Unser grundlegendes Problem in der Bewertung<br />
neuester Medizintechniken liegt in ihrem offensichtlichen<br />
Wertewiderspruch. Einerseits versprechen sie<br />
bisher unheilbare Kr<strong>an</strong>kheiten zu heilen oder zu verhindern,zum<br />
<strong>an</strong>deren aber drohen wir in die Selektion<br />
oder Verwertung menschlichen Lebens zu geraten.<br />
Auch der Gesetzgeber k<strong>an</strong>n längst nicht mehr<br />
Schritt halten mit medizinischem Fortschritt. So regelt<br />
das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz von 1990 zwar<br />
den Umg<strong>an</strong>g mit befruchteten Eizellen und <strong>Embryonen</strong><br />
bis zur Nidation. Inwieweit aber die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
– oder auch <strong>PID</strong> – mit diesem Gesetz<br />
vereinbar ist, ist nach wie vor umstritten.<br />
Mit dem „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“ vom Februar verg<strong>an</strong>genen<br />
Jahres, in dem die Zulassungskriterien<br />
äußerst restriktiv gefasst sind, haben wir den öffentlichen<br />
Diskurs zu diesem Thema gefordert, ja regelrecht<br />
provoziert. Wir wollten Problembewusstsein<br />
schärfen, und es sollte niem<strong>an</strong>d mehr sagen<br />
können, er habe nicht gewusst, um was es geht.<br />
Dafür sind wir auch gescholten worden.<br />
Aber es bleibt dabei, was auch Bundespräsident<br />
Joh<strong>an</strong>nes Rau in seiner jüngsten, bemerkenswerten<br />
Berliner Rede <strong>an</strong>gemerkt hat:<br />
„Nachdenken k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nur, wenn zwischen<br />
Entdeckung und Anwendung Zeit bleibt, wenn wir<br />
die möglichen Folgen bedenken können, bevor sie<br />
eingetreten sind.“ Zitatende<br />
Ich darf noch einmal dar<strong>an</strong> erinnern: Durch die<br />
ras<strong>an</strong>te Entwicklung im Bereich der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
ist es in den verg<strong>an</strong>genen Jahren möglich<br />
geworden, einen Embryo außerhalb des Mutterleibes<br />
zu erzeugen und bereits in den ersten Tagen<br />
nach der Befruchtung auf bestimmte genetische Belastungen<br />
oder Chromosomenstörungen zu untersuchen.<br />
Nach einer solchen Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
k<strong>an</strong>n entschieden werden, ob eine Einnistung<br />
erfolgen oder ob der Embryo dem Absterben<br />
<strong>an</strong>heim gegeben werden soll.<br />
<strong>PID</strong> ermöglicht es erblich schwer belasteten Paaren<br />
mit Kinderwunsch, auf eine so gen<strong>an</strong>nte<br />
„Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“, also auf Postnidationsdiagnostik<br />
beziehungsweise Pränataldiagnostik<br />
mit der möglichen Konsequenz eines Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs,<br />
zu verzichten. In elf Ländern<br />
der Europäischen Union ist die <strong>PID</strong> erlaubt, in drei<br />
Ländern ausdrücklich verboten, in Deutschl<strong>an</strong>d bisher<br />
umstritten – und das zu Recht.<br />
Denn allein schon aufgrund von Gesetzgebung<br />
und Rechtsprechung ist der Mensch bei uns in seiner<br />
Entwicklung vom befruchteten Ei bis zum Greis<br />
unterschiedlich geschützt:<br />
1. Der Keim, also das in Teilung befindliche befruchtete<br />
Ei im Reagenzglas, ist de jure und zugleich<br />
de facto geschützt.<br />
2. Der Embryo im Mutterleib ist zwar de jure geschützt,<br />
de facto aber nicht:<br />
a) vor der Nidation durch die Spirale oder die<br />
Pille d<strong>an</strong>ach als Mittel der Einnistungsverhütung –<br />
das heißt ohne konkrete Konfliktsituation Frau/Kind<br />
b) nach der Nidation wegen der Möglichkeit des<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs wegen eines Konfliktes<br />
Frau/Kind bis zur 12. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche<br />
c) während der gesamten Schw<strong>an</strong>gerschaftsdauer<br />
bei so gen<strong>an</strong>nter medizinischer Indikation<br />
(nach Pränataldiagnostik) bis zum Geburtsbeginn<br />
3. Sonderfall: Ein Kind, das den Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
überlebt hat, ist de jure und de facto<br />
geschützt – trotz des Konfliktes Frau/Kind.<br />
Schlussfolgerung: Eine völlig inkonsistente<br />
Rechtslage, die auch der Verfassung nicht entsprechen<br />
k<strong>an</strong>n.<br />
Eine unerträgliche Situation für unsere Gynäkologen<br />
und Perinatalärzte!<br />
Darüber hinaus sind weitere wichtige Fragen ungeklärt:<br />
❃ Wie lässt sich gewährleisten, dass der Embryo<br />
nur auf die genetischen Belastungen oder Chromosomenstörungen<br />
der Eltern untersucht wird<br />
❃ Ist es sicher auszuschließen, dass die Entnahme<br />
einer Zelle zur Diagnostik wirklich keine Schädigung<br />
des „Rest“-Embryos zur Folge hat<br />
❃ Darf ein künstlich gezeugter Embryo im Reagenzglas<br />
nicht untersucht werden, während ein Embryo<br />
im Mutterleib jederzeit untersucht werden darf<br />
❃ Und schließlich: Lässt sich die Möglichkeit eines<br />
Spätschw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs nach Pränataldiagnostik<br />
mit einem Verbot der <strong>PID</strong> widerspruchsfrei<br />
vereinbaren<br />
Wie wird denn schon jetzt im Rahmen einer IvF-<br />
Beh<strong>an</strong>dlung mit <strong>Embryonen</strong> verfahren, die als schadhaft<br />
gelten oder infiziert sind M<strong>an</strong> lässt sie sterben.<br />
Ich persönlich sehe die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
von ihrer Intention her genauso wie die Pränataldiagnostik<br />
primär nicht als selektive Methode,<br />
sondern als eine Möglichkeit, erbbelasteten Eltern<br />
zu einem gesunden Kind zu verhelfen. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n<br />
das ablehnen und Paaren mit einer schweren erblichen<br />
Belastung empfehlen, auf Kinder zu verzichten.<br />
Das wäre uneingeschränkt auch meine Präferenz.<br />
Und ich stimme dem Bundespräsidenten uneingeschränkt<br />
zu in seiner Feststellung:<br />
„Wenn es die Möglichkeit gibt, Kinder künstlich<br />
zu erzeugen oder die genetischen Anlagen eines<br />
Embryos zu testen – entsteht d<strong>an</strong>n nicht leicht eine<br />
Haltung, dass jede und jeder, der eigene Kinder bekommen<br />
will, auch das Recht dazu habe – und zwar<br />
sogar ein Recht auf gesunde Kinder Wo bisher unerfüllbare<br />
Wünsche erfüllbar werden oder erfüllbar<br />
erscheinen, da entsteht daraus schnell ein Anschein<br />
von Recht. Wir wissen aber doch, dass es ein solches<br />
Recht nicht gibt.“ Zitatende<br />
Aber, meine Damen und Herren, ist diese Auffassung<br />
noch mehrheitsfähig, seit die In-vitro-Fertilisation<br />
zugelassen ist und Pränataldiagnostik durchgeführt<br />
wird mit dem Ziel, intrauterin mögliche Erbschädigungen<br />
bei Kindern festzustellen und diese<br />
Kinder d<strong>an</strong>n abzutreiben<br />
Deshalb sage ich: Durch ein Verbot der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
allein ist die Welt nicht in<br />
Ordnung zu bringen. Die Problematik ist komplexer<br />
und sollte nicht simplifiziert diskutiert werden.<br />
Ich mahne aber zugleich, dass wir d<strong>an</strong>n die <strong>PID</strong><br />
unter strikter Kontrolle halten müssen, damit nicht<br />
Antworten gesucht werden auf Fragen, die wir nicht<br />
stellen wollen. D<strong>an</strong>n nämlich wäre <strong>PID</strong> tatsächlich<br />
der erste Schritt in Richtung Selektion.<br />
Bedingt durch die derzeit ungeklärte Rechtslage<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d, sehen sich Ärzte häufig dazu gedrängt,<br />
Rat suchende Paare mit erblichen Belastungen<br />
in einer Konfliktsituation auf eine Beh<strong>an</strong>dlung<br />
im Ausl<strong>an</strong>d hinzuweisen und sich dadurch möglicherweise<br />
strafbar zu machen. Dies ist für die Ärzteschaft<br />
eine untragbare Situation.<br />
Deshalb appellieren wir dringend <strong>an</strong> den Gesetzgeber,<br />
eine Klärung der Rechtslage herbeizuführen<br />
und für den Fall einer Zulassung der <strong>PID</strong> weitere Kriterien<br />
einer restriktiven H<strong>an</strong>dhabung mitzugestalten.<br />
Diese g<strong>an</strong>ze Diskussion wäre im Übrigen überflüssig,<br />
wenn wir in unserer Gesellschaft Behinderte<br />
ohne Wenn und Aber akzeptieren würden.<br />
Umso wichtiger ist es, dass wir Ärzte immer wieder<br />
klarstellen, dass Menschen selbst im frühesten<br />
Stadium ihrer Entwicklung, also von der Verschmelzung<br />
der Gameten <strong>an</strong>, nicht für <strong>an</strong>dere Menschen<br />
verfügbar gemacht werden dürfen. Es darf niemals<br />
so sein, dass Menschen für den Heilungsprozess <strong>an</strong>derer<br />
ausgenutzt werden. Verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
lehnen wir deshalb strikt ab.<br />
Eine ethisch vertretbare Alternative ist die <strong>Forschung</strong><br />
mit adulten Stammzellen oder Stammzellen<br />
aus Nabelschnurblut.Diese müssen wir fördern,so wie<br />
es auch die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft in ihrer<br />
vorletzten Stellungnahme noch empfohlen hat. ✮<br />
91
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 22, 1. Juni 2001<br />
TOP I: Ethik<br />
Die Unverfügbarkeit<br />
menschlichen Lebens<br />
Die Delegierten des Ärztetages legten sich (vorerst) fest:<br />
nein zur embryonalen Stammzellforschung, nein zur<br />
aktiven Euth<strong>an</strong>asie. Bei der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
konnten sie sich auf keine eindeutige Position einigen.<br />
Der Gesetzgeber soll zunächst die Rechtslage klären.<br />
Die Würde des Menschen ist un<strong>an</strong>tastbar.<br />
Das wird wohl von niem<strong>an</strong>dem<br />
bestritten.Doch ab w<strong>an</strong>n<br />
besitzt ein Embryo eine menschliche<br />
Würde Darf <strong>an</strong> menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
geforscht werden, oder dürfen<br />
gar embryonale Stammzellen zu <strong>Forschung</strong>szwecken<br />
hergestellt werden<br />
Nein – ist die Antwort des 104. Deutschen<br />
Ärztetages. Er erteilt der Herstellung,<br />
dem Import und der Verwendung<br />
von embryonalen Stammzellen eine<br />
klare Absage. Einschränkend wurde allerdings<br />
das Wort „derzeit“ eingefügt.<br />
Der Ärztetag w<strong>an</strong>dte sich damit gegen<br />
die Empfehlungen der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG), die den<br />
Import embryonaler Stammzellen und<br />
l<strong>an</strong>gfristig auch deren Gewinnung in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d zulassen will (dazu DÄ,<br />
Heft 19/2001).<br />
Dieser Vorstoß der DFG ziele auf<br />
eine Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
ab, um die <strong>Forschung</strong> mit<br />
embryonalen Stammzellen auch in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d zu ermöglichen. Der Ärztetag<br />
stimmt in dieser Frage mit Bundespräsident<br />
Joh<strong>an</strong>nes Rau überein, der<br />
sich in seiner Berliner Rede „Wird alles<br />
gut – Für einen Fortschritt nach<br />
menschlichem Maß“ am 18. Mai ebenfalls<br />
für eine Beibehaltung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
ausgesprochen hatte:<br />
„Auch hochr<strong>an</strong>gige Ziele wissenschaftlicher<br />
<strong>Forschung</strong> dürfen nicht darüber<br />
bestimmen, ab w<strong>an</strong>n menschliches Leben<br />
geschützt werden soll.“<br />
Um die vielen noch offenen Fragen<br />
der zellulären Entwicklungsbiologie<br />
zu klären, seien weitere intensive<br />
<strong>Forschung</strong>s<strong>an</strong>strengungen notwendig,<br />
heißt es in dem Beschluss. „Die Wissenschaftler<br />
müssen die Öffentlichkeit<br />
sachlich und fundiert über die Grundlagen<br />
der <strong>Forschung</strong> mit embryonalen<br />
und adulten Stammzellen informieren“,<br />
forderte der Ärztetag. Auch die<br />
Quellen für menschliche Stammzellen<br />
müsse m<strong>an</strong> genau benennen (überzählige<br />
<strong>Embryonen</strong>, fetales Gewebe, adulte<br />
Stammzellen). Dabei dürften sich Ärzte<br />
und Patienten keine übertriebenen<br />
Hoffnungen auf eine baldige therapeutische<br />
Anwendung dieser Techniken<br />
machen. Die Öffentlichkeit müsse „ergebnisoffen“<br />
in den Dialog über die<br />
ethischen und rechtlichen Probleme<br />
eingebunden werden, um Möglichkeiten,<br />
aber auch Grenzen der <strong>Forschung</strong><br />
mit embryonalen Stammzellen zu erkennen.<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
sagte, er erwarte, dass der Beschluss<br />
eine politische Entscheidung zur embryonalen<br />
Stammzellforschung zumindest<br />
hinauszögere. Eine ethisch vertretbare<br />
Alternative sei die <strong>Forschung</strong> mit<br />
adulten Stammzellen oder Stammzellen<br />
aus Nabelschnurblut. Diese müsse<br />
gefördert werden, so wie es die Deutsche<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft in ihrer<br />
vorletzten Stellungnahme noch empfohlen<br />
habe.<br />
Der Beschluss des Ärztetages wurde<br />
mehrheitlich gefasst. Zum Thema <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
gab es zuvor jedoch<br />
erheblichen Diskussionsbedarf. Eine<br />
g<strong>an</strong>ze Reihe von Delegierten wollte einer<br />
Empfehlung des Vorsitzenden des<br />
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Karl-<br />
Friedrich Sewing, folgen, der dafür plädierte,zunächst<br />
das Votum des Beirates,<br />
der sich in einem eigenen Ausschuss mit<br />
dem Problem beschäftige, abzuwarten.<br />
Zahlreiche Delegierte betonten dagegen,<br />
dass m<strong>an</strong> die Debatte nur befördern<br />
könne, wenn m<strong>an</strong> sich dar<strong>an</strong> beteilige,<br />
statt abzuwarten.<br />
Die Delegierten fordern<br />
rechtliche Klarheit<br />
Schwieriger als bei der embryonalen<br />
Stammzellforschung fiel dem Ärztetag<br />
eine Einschätzung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>). Auf eine klare<br />
Pro- oder Kontraposition wollte sich<br />
die Mehrheit der Delegierten nicht festlegen.<br />
Ein Grund dafür ist die bisher<br />
noch ungeklärte Rechtslage. Die Delegierten<br />
des Ärztetages appellierten deshalb<br />
<strong>an</strong> den Gesetzgeber, rechtliche<br />
Klarheit über die Zulässigkeit der <strong>PID</strong><br />
herzustellen. Es müsse geklärt werden,<br />
inwieweit genetische Untersuchungen<br />
von <strong>Embryonen</strong> vor einer möglichen<br />
Übertragung in die Gebärmutter mit<br />
der geltenden Rechtslage zu vereinbaren<br />
seien.<br />
Ärzte sähen sich häufig dazu gedrängt,<br />
Rat suchende Paare in einer<br />
Konfliktsituation auf eine Beh<strong>an</strong>dlung<br />
im Ausl<strong>an</strong>d hinzuweisen und sich dadurch<br />
möglicherweise strafbar zu machen.<br />
„Dies ist für die Ärzteschaft eine<br />
untragbare Situation“, heißt es in dem<br />
Beschluss. Für den Fall einer Zulassung<br />
müsse der Gesetzgeber weitere Kriterien<br />
für eine maximale Eingrenzbarkeit<br />
dieser Methode mitgestalten. Außerdem<br />
sollten zahlreiche noch offene Fragen<br />
geklärt werden, zum Beispiel wie es<br />
zu gewährleisten sei, dass der Embryo<br />
nur auf die genetischen Belastungen<br />
oder Chromosomenstörungen der Eltern<br />
untersucht wird und ob sich die<br />
Möglichkeit eines Spätschw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
nach Pränataldiagnostik mit<br />
einem Verbot der <strong>PID</strong> widerspruchsfrei<br />
vereinbaren lässt.<br />
Ein Antrag von Prof. Dr. med. Winfried<br />
Kahlke, Ärztekammer Hamburg,<br />
sprach sich dafür aus, „<strong>PID</strong> nicht in die<br />
medizinische Praxis aufzunehmen und<br />
das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz in seiner<br />
gegenwärtigen Fassung zu belassen“.<br />
Nach Auffassung Kahlkes bedeutet die<br />
Etablierung dieser Methode, dass die<br />
Entscheidung, welche Kinder ausgetra-<br />
92
D O K U M E N T A T I O N<br />
gen werden sollen, bereits vor der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft getroffen werde, um<br />
die Geburt von kr<strong>an</strong>ken und behinderten<br />
Kindern zu verhindern. Damit stelle<br />
<strong>PID</strong> den Einzug einer genetischen Selektion<br />
in die medizinische Praxis dar.<br />
Das Argument, dass ein möglicher<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch durch die<br />
Vorauswahl des zu impl<strong>an</strong>tierenden<br />
Embryos vermieden werden könnte,<br />
hält Kahlke nicht für überzeugend. Der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch erfolge, um<br />
eine als unerträglich beziehungsweise<br />
als unzumutbar empfundene Belastung<br />
der Schw<strong>an</strong>geren abzuwehren, die <strong>an</strong>ders<br />
nicht abzuwenden sei. Das Verwerfen<br />
eines ungewollten Embryos im<br />
Rahmen der <strong>PID</strong> beabsichtige, den Anspruch<br />
auf ein bestimmtes Kind zu erfüllen:<br />
„Eine Notlage, die durch kein<br />
<strong>an</strong>deres Mittel abzuwenden wäre, liegt<br />
hier nicht vor.“ Kahlke wies auch auf<br />
die Gefühlslage der Betroffenen hin.<br />
Die in der Selbsthilfevereinigung Mukoviszidose<br />
vertretenen Eltern und Patienten<br />
hätten schwere Bedenken gegen<br />
eine Zulassung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Dass Behinderte dieser Methode<br />
äußerst kritisch gegenüberstehen, ist<br />
nachvollziehbar. Eine Äußerung von<br />
Dr. med. Norbert Metke, L<strong>an</strong>desärztekammer<br />
Baden-Württemberg, dürfte<br />
sie in ihrer Sorge bestärken. Metke bezeichnete<br />
die <strong>PID</strong> als „Pflicht der Ärzte“.<br />
Ärztliches H<strong>an</strong>deln sei immer ein<br />
Eingriff in die Natur. „Wenn wir künstliches<br />
Leben schaffen, haben wir auch<br />
die Pflicht, gesundes Leben zu schaffen.“<br />
Metke, der als Orthopäde selbst<br />
behinderte Kinder beh<strong>an</strong>delt, ging sogar<br />
noch weiter und sagte: „Ich sehe<br />
keinen Eigenwert in behindertem Leben.“<br />
Die Bemerkung löste Pfiffe und<br />
Buh-Rufe aus.Wenig später nahm Metke<br />
den „schlimmen Satz“ zwar wieder<br />
zurück, sagte aber, dass er im Leid von<br />
Behinderten nichts Positives erkennen<br />
könne.<br />
Mehrere Delegierte kritisierten Metke<br />
scharf. So meinte Dr. med. Helmut<br />
Peters, L<strong>an</strong>desärztekammer Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz,<br />
dass Kinder mit Trisomie 21<br />
häufig zufriedener als „ambitionierte<br />
Wissenschaftler“ seien. Peters zitierte<br />
unter großem Beifall Erich Kästners<br />
Gedicht „Der synthetische Mensch“.<br />
Den darin beschriebenen Katalog-<br />
Menschen, „mit Bärten oder mit Busen,<br />
mit allen Zubehörteilen, je nach Geschlecht“,<br />
wollten die Delegierten offenbar<br />
nicht. „Behindertes Leben hat<br />
denselben Eigenwert wie das von jedem<br />
Delegierten hier im Raum“, sagte Rudolf<br />
Henke, Vorst<strong>an</strong>dsmitglied der<br />
Bundesärztekammer.<br />
Bundespräsident Joh<strong>an</strong>nes Rau hatte<br />
in seiner Berliner Rede die <strong>PID</strong> als<br />
eine Praxis bezeichnet, „die das Tor<br />
weit öffnet für biologische Selektion,<br />
für eine Zeugung auf Probe“. Ein<br />
Recht auf gesunde Kinder gebe es<br />
nicht. Noch so verständliche Wünsche<br />
und Sehnsüchte seien keine Rechte.<br />
Diese Auffassung wurde auch von Delegierten<br />
des Ärztetages geteilt, unter<br />
<strong>an</strong>derem von Dr. med. Astrid Bühren,<br />
Vorst<strong>an</strong>dsmitglied der Bundesärztekammer.<br />
In einem von ihr eingebrachten<br />
Antrag fragte sie, ob es gerechtfertigt<br />
sei, dass eine grundsätzlich fertile<br />
Frau als Patientin dem In-vitro-Fertilisationsprogramm<br />
mit seinen potenziellen<br />
medizinischen Risiken zugeführt<br />
werde. Bühren forderte eine „Abwägung,<br />
ob es gerechtfertigt ist, einem<br />
grundsätzlich fertilen Paar, das Kinder<br />
in intimer Zweisamkeit ohne technische<br />
Eingriffe und Laboratmosphäre<br />
zeugen könnte, die invasive Eizellentnahme,<br />
die masturbatorische Samenzellspende,<br />
eine reduzierte Konzeptionsch<strong>an</strong>ce,<br />
das Risiko emotionaler Krisensituationen<br />
und psychosomatische<br />
Auswirkungen mit Einfluss auf die<br />
Paarbeziehung <strong>an</strong>zuraten“. Dr. med.<br />
Fr<strong>an</strong>k Ulrich Montgomery, Vorst<strong>an</strong>dsmitglied<br />
der Bundesärztekammer, sagte<br />
ebenfalls, dass die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
keine „schöne, saubere Methode“<br />
sei.<br />
Es gab jedoch auch Befürworter der<br />
Zulassung dieser Methode; Bührens Antrag<br />
wurde ebenso wie der von Kahlke<br />
abgelehnt. Wenn jährlich mehr als<br />
200 000 <strong>Embryonen</strong> weggeworfen würden,<br />
warum solle m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n nicht <strong>an</strong> ihnen<br />
forschen, fragte Dr. med. Ulrich<br />
L<strong>an</strong>g, L<strong>an</strong>desärztekammer Hessen.<br />
Wiederholt wurde eingewendet, dass<br />
<strong>PID</strong> im Ausl<strong>an</strong>d erlaubt sei und dass<br />
diese Möglichkeit von Paaren d<strong>an</strong>n<br />
auch genützt würde.<br />
Hoppe äußerte Verständnis für die<br />
Befürchtungen der Gegner der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Er erläuterte aber<br />
auch, warum seiner Auffassung nach die<br />
Welt durch ein Verbot der <strong>PID</strong> nicht in<br />
Ordnung zu bringen sei (dazu auch<br />
das Interview mit Hoppe in DÄ,<br />
Heft 20/2001). Er betrachte die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und die Pränataldiagnostik<br />
nicht primär als selektive<br />
Methode, sondern als eine Möglichkeit,<br />
erbbelasteten Eltern zu einem<br />
gesunden Kind zu verhelfen.<br />
„M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n das ablehnen, und Paaren<br />
mit einer schweren erblichen Belastung<br />
empfehlen, auf Kinder zu verzichten.<br />
Das wäre uneingeschränkt<br />
auch meine Präferenz.“ Es sei jedoch<br />
fraglich, ob eine solche Auffassung<br />
noch mehrheitsfähig sei, seit die Invitro-Fertilisation<br />
zugelassen sei und<br />
Pränataldiagnostik vorgenommen werde,<br />
mit dem Ziel, intrauterin mögliche<br />
Erbschädigungen bei Kindern festzustellen<br />
und diese Kinder d<strong>an</strong>n abzutreiben.<br />
Wenn <strong>PID</strong> zugelassen würde, dürfte<br />
sie allerdings nur mit Restriktionen<br />
erlaubt werden, „damit nicht Antworten<br />
gesucht werden auf Fragen, die wir<br />
nicht stellen wollen. D<strong>an</strong>n nämlich wäre<br />
<strong>PID</strong> der erste Schritt in Richtung Selektion.“<br />
Bei der Einstellung zur aktiven Euth<strong>an</strong>asie<br />
waren sich die Delegierten einig.<br />
Die niederländische Regelung wird<br />
von ihnen einmütig abgelehnt. „Aktive<br />
Sterbehilfe ist das vorsätzliche Töten<br />
von Menschen. Das steht in krassem<br />
Widerspruch zum ärztlichem Auftrag,<br />
das Leben zu schützen. Der ärztliche<br />
Beruf würde so ein <strong>an</strong>derer, der Arzt<br />
würde zum Vollstrecker werden“, heißt<br />
es in einem Beschluss. Jeder Patient<br />
müsse sich zu jeder Zeit sicher sein, dass<br />
Ärzte konsequent für das Leben eintreten<br />
und weder aus wirtschaftlichen<br />
noch aus politischen Gründen das Leben<br />
zur Disposition stellen. Diese Sicherheit<br />
könne nur d<strong>an</strong>n gar<strong>an</strong>tiert<br />
werden,wenn Ärzte das Töten von Patienten<br />
kategorisch ablehnen. Es gebe<br />
schon Wissenschaftler, die von „Sterbekosten“<br />
sprechen, wenn sie die Beh<strong>an</strong>dlung<br />
und Hilfe in der Zeit vor dem Tod<br />
meinen. „Wenn Schwerstkr<strong>an</strong>ke schnell<br />
und kostengünstig sterben wollen,<br />
kommt eine makabre Kostenlogik in<br />
G<strong>an</strong>g“, warnt der Ärztetag.<br />
Inhalt des ärztlichen Auftrages sei,<br />
Leiden zu lindern und Angst zu nehmen,<br />
um damit ein würdevolles Lebens-<br />
93
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 22, 1. Juni 2001<br />
Entschließungen zum Tagesordnungspunkt I<br />
Gesundheits-, Sozialund<br />
ärztliche Berufspolitik<br />
Konflikte bei ärztlichen<br />
Entscheidungen – am Beispiel<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Durch die ras<strong>an</strong>te Entwicklung im Bereich der<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin in den verg<strong>an</strong>genen Jahren<br />
ist es möglich geworden, einen Embryo außerhalb<br />
des Mutterleibs zu zeugen und bereits in den<br />
ersten Tagen nach der Befruchtung auf bestimmte<br />
genetische Belastungen oder Chromosomenstörungen<br />
zu untersuchen. Das Ergebnis dieser<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>) ermöglicht den<br />
Eltern die Entscheidung, ob der Embryo impl<strong>an</strong>tiert<br />
werden soll.<br />
Das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz (ESchG) von 1990<br />
regelt den Umg<strong>an</strong>g mit Gameten, befruchteten Eizellen<br />
und <strong>Embryonen</strong> im Zeitraum bis zur Einnistung<br />
des Embryos in den Uterus. Vom Beginn des<br />
menschlichen Lebens <strong>an</strong> soll der Lebensschutz gewährleistet<br />
werden.Als Beginn wird nach § 8 Abs.<br />
1 ESchG der Abschluss der Befruchtung der Eizelle,<br />
d. h. also die Kernverschmelzung in der befruchteten<br />
Eizelle mit der Entstehung eines neuen,<br />
individuellen Genoms <strong>an</strong>gesehen.<br />
Juristisch ungeklärt ist bisher, inwieweit die <strong>PID</strong><br />
mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz vereinbar ist.<br />
1. Mit der Veröffentlichung des „Diskussionsentwurfs<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
im Februar 2000 hat die Ärzteschaft<br />
die öffentliche Diskussion <strong>an</strong>gestoßen und das<br />
Problembewusstsein geschärft.<br />
Die Ärzteschaft hat keine Entscheidung getroffen,<br />
sondern für den Fall einer Zulassung die<br />
engstmögliche Zulässigkeit der ärztlichen Durchführung<br />
für <strong>PID</strong> beschrieben und einen möglichen<br />
Verfahrensweg aufgezeigt.<br />
2. Es ist Aufgabe der Ärzteschaft, in dem gesellschaftlichen<br />
Diskurs auf ethische Probleme<br />
ende zu ermöglichen. Als Alternative<br />
zur aktiven Sterbehilfe müssten daher<br />
die Voraussetzungen für eine weitere<br />
Verbreitung und Anwendung der Palliativmedizin<br />
verbessert werden. Die<br />
Ärztetagsdelegierten betonten, dass<br />
das Sterben Teil des Lebens sei und<br />
auch die letzte Phase des Lebens menschenwürdig<br />
gelebt werden könne.Deshalb<br />
müssten die für Kr<strong>an</strong>kenhauspl<strong>an</strong>ung<br />
zuständigen Länder bei der Kapazitätenermittlung<br />
für die stationäre<br />
Versorgung die Notwendigkeit palliativmedizinischer<br />
Maßnahmen einbeziehen.<br />
Über die Verbesserung der palliativmedizinischen<br />
Versorgung im Kr<strong>an</strong>kenhaus<br />
hinaus sei auch die weitere<br />
Förderung und fin<strong>an</strong>zielle Sicherstellung<br />
ambul<strong>an</strong>ter und stationärer Hospizarbeit<br />
erforderlich. Gisela Klinkhammer<br />
hinzuweisen, vor denen Ärzte mit ihren Patientinnen<br />
und Patienten stehen:<br />
Die in der Reproduktionsmedizin tätigen Ärzte<br />
stehen in der Situation, einerseits mit <strong>PID</strong> in Verbindung<br />
mit einer IvF über Methoden zu verfügen,<br />
die Paaren mit monogenetischen Erkr<strong>an</strong>kungen zu<br />
einem nicht betroffenen Kind verhelfen könnten,<br />
<strong>an</strong>dererseits mit der gesellschaftlich <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nten<br />
Anwendung von Pränataler Diagnostik (<strong>PND</strong>) der<br />
Frau eine „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“ und gegebenenfalls<br />
eine Abtreibung, den Verzicht auf Kinder,<br />
eine heterologe Befruchtung mit Spendersamen<br />
oder eine Adoption zuzumuten.<br />
In diesem Zusammenh<strong>an</strong>g ist es unerlässlich,<br />
die offenen Fragen zu klären:<br />
❃ Wie wird im Rahmen einer IvF-Beh<strong>an</strong>dlung<br />
mit <strong>Embryonen</strong> verfahren, die sichtlich erkennbare<br />
Zellveränderungen haben<br />
❃ Wie lässt sich gewährleisten, dass der Embryo<br />
nur auf die genetischen Belastungen oder<br />
Chromosomenstörungen der Eltern untersucht<br />
wird<br />
❃ Ist auszuschließen, dass die Entnahme einer<br />
Zelle zur Diagnostik keine Schädigung des „Rest“-<br />
Embryos zur Folge hat<br />
❃ Darf ein künstlich gezeugter Embryo im Reagenzglas<br />
nicht untersucht werden, während ein<br />
Embryo ím Mutterleib jederzeit untersucht werden<br />
darf<br />
❃ Lässt sich die Möglichkeit eines Spätschw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
nach Pränataldiagnostik<br />
mit einem Verbot der <strong>PID</strong> widerspruchsfrei<br />
vereinbaren<br />
3. Die Ärzteschaft appelliert dringend <strong>an</strong> den<br />
Gesetzgeber, eine Klärung der Rechtslage herbeizuführen<br />
und für den Fall einer Zulassung der <strong>PID</strong><br />
weitere Kriterien für eine maximale Eingrenzbarkeit<br />
mitzugestalten.<br />
Im europäischen Ausl<strong>an</strong>d ist die Diskussion um<br />
<strong>PID</strong> bereits Anf<strong>an</strong>g der 90er-Jahre geführt worden<br />
mit dem Ergebnis, dass die <strong>PID</strong> in vielen Ländern<br />
„in Ausnahmefällen und mit strengen Indikationen“<br />
zugelassen wurde. Mittlerweile sind weltweit<br />
500 Kinder nach <strong>PID</strong> geboren. Um eine Ausweitung<br />
der Anwendung zu verhindern, wäre beispielsweise<br />
eine Beschränkung auf wenige Kompetenzzentren<br />
denkbar.<br />
Bedingt durch die derzeit ungeklärte Rechtslage<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d, sehen sich Ärzte häufig dazu<br />
gedrängt, Rat suchende Paare in dieser Konfliktsituation<br />
auf eine Beh<strong>an</strong>dlung im Ausl<strong>an</strong>d hinzuweisen<br />
und sich dadurch möglicherweise strafbar<br />
zu machen. Dies ist für die Ärzteschaft eine untragbare<br />
Situation.<br />
4. Die Frage der Zulässigkeit der <strong>PID</strong> bedarf einer<br />
gesamtgesellschaftlichen Ausein<strong>an</strong>dersetzung.<br />
Dabei bilden die normativen Maßstäbe der Verfassung<br />
den Rahmen des ethischen Diskurses.<br />
Hierzu gehören die Würde des Menschen, die<br />
Wahrung grundlegender Ansprüche und Rechte,<br />
aber auch die Widerspruchsfreiheit der Normen<br />
und die Verhältnismäßigkeit.<br />
Mehrheitsentscheidungen im Vorst<strong>an</strong>d der<br />
Bundesärztekammer oder auf dem Deutschen<br />
Ärztetag sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht zielführend,<br />
zumal ethische Konflikte nicht durch Abstimmung<br />
gelöst werden können.<br />
5. Der Gesetzgeber allein ist legitimiert, darüber<br />
zu entscheiden, welche rechtlichen Grundlagen<br />
den Umg<strong>an</strong>g mit diesen Konflikten bestimmen<br />
sollen.<br />
✮<br />
<strong>Forschung</strong> mit hum<strong>an</strong>en<br />
embryonalen Stammzellen<br />
Die Empfehlungen der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) zur <strong>Forschung</strong> mit menschlichen<br />
Stammzellen vom Mai 2001 zielen auf eine Änderung<br />
des § 1 <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz (EschG), um<br />
eine Herstellung und Verwendung hum<strong>an</strong>er embryonaler<br />
Stammzellen auch in Deutschl<strong>an</strong>d zu ermöglichen.<br />
Der Deutsche Ärztetag stellt fest, dass derzeit<br />
einer solchen Forderung einer Öffnung des ESchG<br />
nicht gefolgt werden k<strong>an</strong>n.<br />
Die Öffentlichkeit muss ergebnisoffen in den<br />
Dialog über die mit der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en<br />
embryonalen Stammzellen verbundenen ethischen<br />
und rechtlichen Probleme eingebunden werden,<br />
um Möglichkeiten, aber auch Grenzen der <strong>Forschung</strong><br />
mit menschlichen embryonalen Stammzellen<br />
zu erkennen. Auch der Import embryonaler<br />
Stammzellen ist ethisch nicht akzeptabel.<br />
Der Deutsche Ärztetag stellt fest, dass die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen sowie <strong>an</strong> gewebespezifischen<br />
(adulten) Stammzellen in den letzten Jahren<br />
94
D O K U M E N T A T I O N<br />
zu Fortschritten sowohl im Bereich der naturwissenschaftlichen<br />
als auch der medizinischen Erkenntnis<br />
geführt hat. Um die vielen offenen Fragen<br />
der zellulären Entwicklungsbiologie zu klären,<br />
sind aus wissenschaftlicher Sicht weitere intensive<br />
<strong>Forschung</strong>s<strong>an</strong>strengungen notwendig. In diesem<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g sind die Wissenschaftler aufgefordert,<br />
die Öffentlichkeit sachlich und fundiert<br />
über die Grundlagen der <strong>Forschung</strong> mit embryonalen<br />
und adulten Stammzellen und eine mögliche<br />
Ausweitung auf hum<strong>an</strong>e embryonale Stammzellen<br />
zu informieren und die verschiedenen Quellen<br />
für menschliche Stammzellen (überzählige<br />
<strong>Embryonen</strong>, fetales Gewebe, adulte Stammzellen)<br />
zu benennen.<br />
Der Deutsche Ärztetag fordert die Wissenschaftler<br />
auf, bei der Darstellung der zu erwartenden<br />
<strong>Forschung</strong>sergebnisse größtmögliche Sachlichkeit<br />
zu üben, da die Möglichkeiten einer Realisierung<br />
von therapeutischen Anwendungen wahrscheinlich<br />
noch in weiter Zukunft liegen. Patienten<br />
als auch Ärzten darf keine übertriebene Hoffnung<br />
auf eine baldige Anwendung gemacht werden.<br />
Auch der Gesetzgeber wird seine zu treffende<br />
Entscheidung, ob eine <strong>Forschung</strong> mit menschlichen<br />
embryonalen Stammzellen in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
erlaubt werden soll, erst nach intensiver Beratung<br />
fällen. Insbesondere sollte der Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ sowie<br />
dem Nationalen Ethikrat die Möglichkeit<br />
gegeben werden, die Gesellschaft und die politischen<br />
Entscheidungsträger über die ethischen<br />
Fragen zu beraten, um eine sachgerechte Urteilsbildung<br />
vorzubereiten.<br />
✮<br />
Heft 30, 27. Juli 2001<br />
DISKUSSION<br />
zu unserer<br />
Berichterstattung vom<br />
104. Deutschen<br />
Ärztetag<br />
in Heft 22/2001<br />
Auf die Gefahr hinweisen<br />
Die offiziellen Org<strong>an</strong>e der Ärzteschaft<br />
tragen leider nur wenig dazu bei, das im<br />
Moment in der Gesellschaft brodelnde<br />
Bemühen zu unterstützen, <strong>an</strong>gesichts<br />
zukunftsweisender Entscheidungsnotwendigkeiten<br />
zwischen einem ökonomischen<br />
Diskurs und einem Diskurs einer<br />
Ethik des Heilens zu differenzieren.<br />
Ich möchte dies <strong>an</strong> einem Beispiel illustrieren:<br />
Aufgabe der Ärzteschaft wäre<br />
es, auf die Gefahr hinzuweisen, die in<br />
den Vorstellungen steckt, mit der über<br />
die <strong>PID</strong> als Möglichkeit zur Vermeidung<br />
„erbkr<strong>an</strong>ken Nachwuchses“ diskutiert<br />
wird.<br />
Eine <strong>PID</strong> ist nur d<strong>an</strong>n möglich, wenn<br />
eine IVF gepl<strong>an</strong>t ist. Sich genetisch belastet<br />
fühlende Paare müssten auf die<br />
noch normalen Fortpfl<strong>an</strong>zungsrituale<br />
mit allen deren Freuden und inspirierenden<br />
Risiken verzichten, wenn sie eine<br />
<strong>PID</strong> durchführen lassen wollten. Ist<br />
diese Entfremdung im Denken erst einmal<br />
etabliert, entsteht – wie m<strong>an</strong> es von<br />
der <strong>PND</strong> weiß – eine Nachfrage, die das<br />
Angebot rechtfertigt. Die Nachfrage<br />
fragt jedoch nicht mehr nach Ethik,sondern<br />
nur noch nach dem Preis. Dies<br />
dient zwar der Belegung gynäkologischer<br />
Abteilungen, lässt aber den Arzt<br />
in seiner individuellen Gewissensentscheidung<br />
verworren allein.<br />
Dr. med. Gudrun Wollm<strong>an</strong>n,<br />
Am Mühlrain 24 e, 69151 Neckargemünd<br />
In „Fliegerm<strong>an</strong>ier“ fordern<br />
Liebe Vertretung unserer Interessen,<br />
schöne Papiere haben Sie da wieder aufgesetzt.<br />
Politisch korrekt formuliert, viele<br />
Forderungen,kein Druck.Gleichzeitig<br />
stehen die von Ihnen Vertretenen im niedergelassenen<br />
Bereich vor Pfennigsbetrags-Bezahlungen.<br />
Im stationären Bereich<br />
wird bei bek<strong>an</strong>nten unmöglichen<br />
Arbeitsbedingungen s<strong>an</strong>ft über neue<br />
Urteile zur Arbeitszeit diskutiert. In der<br />
Summe klingt durch: Wo zu wenig Geld<br />
ist, können wir nicht zu vehement fordern.<br />
Brav sind wir, die die Leistungen<br />
der Patientenversorgung erbringen.Verkaufen<br />
wir den Patienten doch lieber, jeder<br />
für sich, ein paar gewisse Extras oder<br />
betrügen bei der Abrechnung,weil es <strong>an</strong>ders<br />
nicht geht.Wir haben in den letzten<br />
zehn Jahren auf Gehaltserhöhung verzichtet,<br />
in Kliniken mehr Stunden gearbeitet,<br />
um auch der <strong>Dokumentation</strong> gerecht<br />
zu werden. Aber <strong>an</strong> gemeinsamer<br />
Stärke haben wir nicht gearbeitet. Wo<br />
Kr<strong>an</strong>kenkassen hintenrum nicht erstattungsfähige<br />
Leistungen <strong>an</strong> Patienten bezahlen,<br />
um sie als Kunden zu halten, wachen<br />
wir immer noch nicht auf. Geld genug<br />
ist da, ob von den Kassen oder den<br />
Patienten. Wir müssen es nur in Fliegerm<strong>an</strong>ier<br />
einfordern. Wo das d<strong>an</strong>n herkommt,<br />
sollen Kassen und Politiker bestimmen,<br />
die haben den Patienten ja<br />
auch l<strong>an</strong>ge genug beigebracht – wählt<br />
uns, d<strong>an</strong>n gibt es fast alles.<br />
Dr. med. U. Siepm<strong>an</strong>n-Winkler,<br />
Nerotal 59, 65193 Wiesbaden<br />
Die Zeit, grundlegend Neues<br />
zu formulieren, verrinnt<br />
Der Deutsche Ärztetag stützt das bestehende<br />
System und will es, wie Politik,<br />
Kr<strong>an</strong>kenkassen, Ärztekammern und<br />
KVen auch, durch ständige Reformen<br />
und noch mehr Bürokratie retten, obwohl<br />
der endgültige Zusammenbruch<br />
<strong>an</strong>gesichts der ständigen Zunahme<br />
chronisch kr<strong>an</strong>ker und immer älterer<br />
Patienten, in Verbindung mit dem ras<strong>an</strong>ten<br />
Fortschritt, absehbar ist. Daher<br />
störte mich das Fehlen von Nachdenklichkeit<br />
über g<strong>an</strong>z neue Wege oder Visionen.<br />
Angesichts der berufspolitisch,<br />
leider immer noch, weitgehend passiven<br />
Ärzteschaft, der es <strong>an</strong>scheinend gefällt,Spielball<br />
von Politik und Kassen zu<br />
sein, kein Wunder. Sollte das Gesundheitswesen<br />
nicht endlich <strong>an</strong> unsere sonstige<br />
gesellschaftliche Wirklichkeit <strong>an</strong>gepasst<br />
werden, hin zu mehr Eigenver<strong>an</strong>twortung,<br />
zu Effizienz durch Wettbewerb<br />
und Marktwirtschaft<br />
Die Patienten sind längst nicht mehr<br />
der Mittelpunkt. Es fehlt dringend am<br />
„case m<strong>an</strong>agement“. Das heutige System<br />
ruft zu viel Unzufriedenheit hervor,<br />
daher der Zulauf zu alternativer<br />
Medizin. Fazit: Während ärztliche Gremien<br />
fröhlich über Reformen, neue<br />
Bürokratisierung, DRGs oder <strong>PID</strong> debattieren,<br />
verrinnt die Zeit, grundlegend<br />
Neues zu formulieren.<br />
Dr. med. Udo Saueressig,<br />
Gründelsweg 7, 69436 Schönbrunn<br />
<strong>PID</strong> ist medizinisch sinnvoll<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>)<br />
ist medizinisch sinnvoll. Dass die Delegierten<br />
des Deutschen Ärztetages sich<br />
einer klaren Stellungnahme zu diesem<br />
Thema mit dem Verweis auf die „unge-<br />
95
D O K U M E N T A T I O N<br />
klärte Rechtslage“ enthielten,ist beschämend.<br />
Es geht hierbei nicht um die<br />
„Rechtslage“, sondern um die Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
mit der Tatsache, dass die<br />
<strong>PID</strong>,trotz medizinischer Rechtfertigung,<br />
das ethische Fundament unserer<br />
Menschlichkeit durch die Teilung in „lebenswert“<br />
und „lebensunwert“ infrage<br />
stellt. Dieses Paradoxon k<strong>an</strong>n nur durch<br />
die gleichzeitige radikale Bejahung eines<br />
jeden menschlichen Lebens und Unterstützung<br />
kr<strong>an</strong>ker und behinderter Menschen<br />
gelöst werden – nur auf diesem gesellschaftlichen<br />
Fundament ist eine <strong>PID</strong><br />
paradoxerweise ethisch vertretbar.<br />
Dr. med. H<strong>an</strong>s Jörgen Grabe,<br />
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie,<br />
Rostocker Chaussee 70, 18437 Stralsund<br />
Wohltuende Offenheit<br />
96<br />
Wohltuend, mit welcher Offenheit gerade<br />
auf diesem Ärztetag bris<strong>an</strong>te Themen<br />
wie etwa die Ethik-Diskussion <strong>an</strong>geg<strong>an</strong>gen<br />
wurden, ebenso auch die ausgewogene<br />
Zivilcourage des Präsidenten Hoppe,<br />
mit seiner nicht nur medizinischen, sondern<br />
ärztlichen Einstellung etwa zur <strong>PID</strong>.<br />
Aber merkwürdig f<strong>an</strong>d ich doch, dass offensichtlich<br />
nicht bewusst – oder schamvoll<br />
nicht <strong>an</strong>gesprochen – wird, dass das<br />
Thema <strong>PID</strong> unbeschadet der ethisch<br />
nicht vertretbaren Akzept<strong>an</strong>z auch unter<br />
ökonomischen und damit gesundheitspolitischem<br />
Aspekt gesehen werden<br />
muss. Droht hier nicht auch ein Eigentor<br />
der Ärzteschaft, wenn Forderungen aus<br />
der gynäkologischen und biomedizinischen<br />
Ecke in den gesetzlichen Leistungskatalog<br />
aufgenommen werden sollen,<br />
der mit den vorh<strong>an</strong>denen Fin<strong>an</strong>zmitteln<br />
schon jetzt nicht mehr ausreichend<br />
bedient werden k<strong>an</strong>n. Zu Recht besteht<br />
der Anspruch auf leistungsgerechte Honorierung<br />
der Ärzteschaft – im Hintergrund<br />
ein Jammern der Gynäkologen<br />
über das Budgetkorsett –, und d<strong>an</strong>n soll<br />
sich der Luxus geleistet werden, die fin<strong>an</strong>zträchtige<br />
<strong>PID</strong> einzuführen mit der<br />
inhum<strong>an</strong>en Konsequenz, genetisch minderwertigen<br />
Nachwuchs zu verhindern.<br />
Ist ärztlich statt Wunscherfüllung nicht<br />
ein Beh<strong>an</strong>dlungsauftrag bei unerfülltem<br />
Kinderwunsch mittels Psychotherapie<br />
gegeben, womit die Menschenwürde für<br />
die Frau und den Embryo gewahrt bleiben<br />
und unser abendländisches Weltund<br />
Menschenbild nicht infrage gestellt<br />
wird. Denn das Embryonalstadium ist<br />
kein „Niem<strong>an</strong>dsl<strong>an</strong>d der Menschwerdung“!<br />
Erschütternd, wenn Mediziner<br />
vor dem Gremium eines Ärztetages wagen,<br />
zu äußern, sie würden im behinderten<br />
Leben keinen Eigenwert sehen. Das<br />
hat nichts mehr mit demokratischer Redefreiheit<br />
zu tun und disqualifiziert darüber<br />
hinaus einen M<strong>an</strong>datsträger. Ich<br />
k<strong>an</strong>n mich des Eindrucks nicht erwehren,<br />
dass es in der <strong>PID</strong>- und Stammzellenausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
weniger um<br />
Menschlichkeit im ethischen Sinne als<br />
um Ideologie – Forschernarzissmus, Materialismus<br />
– geht. Herrn Montgomerys<br />
Befürchtungen, über die Stammzellforschung<br />
die Hintertüre zur <strong>PID</strong> öffnen zu<br />
können, bewölken bedrohlich den politischen<br />
Himmel. Darum mein besonderer<br />
D<strong>an</strong>k allen Kolleginnen und Kollegen,<br />
die – wie unser Bundespräsident – für unser<br />
hum<strong>an</strong>itär geprägtes Arzttum eintreten,<br />
nicht zuletzt <strong>an</strong> dieser Stelle aber<br />
auch dem Chefredakteur, Norbert Jachertz,<br />
der nicht nur im DÄ ausreichend<br />
Raum zur Diskussion zu diesem schicksalsträchtigen<br />
Thema gibt, sondern darüber<br />
hinaus ehrlich seine eigene Sichtweise<br />
(Heft 3/2001) einbringt, was ihn nur<br />
ehren k<strong>an</strong>n, auch wenn es leider Kollegen<br />
gibt, die ihm in dieser Position das<br />
Recht dazu absprechen wollen.<br />
Dr. med. Günter Link,<br />
Auf der Halde 13, 87439 Kempten<br />
Zum Beitrag „Die Unverfügbarkeit menschlichen<br />
Lebens“ von Gisela Klinkhammer und der dort<br />
zitierten Äußerung von Dr. med. Norbert Metke<br />
(L<strong>an</strong>desärztekammer Baden-Württemberg): „Ich<br />
sehe keinen Eigenwert in behindertem Leben.“:<br />
Empörend<br />
Als Hebamme und g<strong>an</strong>z besonders als<br />
Mutter von drei Kindern – wovon das<br />
jüngste chronisch kr<strong>an</strong>k und deshalb<br />
schwerbehindert ist – möchte ich Ihnen<br />
gegenüber meine Empörung äußern.<br />
Mein 14-jähriger Sohn erfährt nach und<br />
nach alle Stadien einer fortschreitenden<br />
Behinderung und benötigt mittlerweile<br />
eine kontinuierliche Schmerztherapie.<br />
Er ist trotzdem ausgesprochen lebensfroh,<br />
sehr sozial und findet immer wieder<br />
neue Lebensinhalte.<br />
Ich habe ihn einmal g<strong>an</strong>z direkt gefragt,<br />
ob er froh ist, geboren worden und<br />
am Leben zu sein. Er <strong>an</strong>twortete sofort:<br />
„Natürlich!“ – und – etwas vorwurfsvoll<br />
(): „Was denkst du denn“ Haben Sie<br />
das Recht, <strong>an</strong>deren Menschen ihr Lebensrecht<br />
abzusprechen Haben Sie das<br />
Recht zu bestimmen, wie viel und welches<br />
„Leid“ lebenswert ist und welches<br />
nicht In meinen Augen sind Menschen<br />
wie Sie behindert – in ihrer Sichtweise<br />
und Toler<strong>an</strong>z <strong>an</strong>deren gegenüber und in<br />
ihrem Größenwahn, „lebenswert“ beurteilen<br />
zu können. Haben Sie als Arzt<br />
wirklich schon einmal ein persönliches<br />
Gespräch mit Ihren behinderten Patienten<br />
geführt Das habe ich nämlich bei<br />
vielen Ärzten in Bezug auf meinen Sohn<br />
vermisst. Er wurde untersucht, geröntgt,<br />
operiert und medikamentös beh<strong>an</strong>delt,<br />
aber kaum ein Arzt fragte ihn:„Wie geht<br />
es dir mit deinem Leben“<br />
Gudrun Grabe-Rump, Pilzweg 4, 51069 Köln<br />
Zum Beitrag: „Beim Geld wird’s ernst“ von<br />
Norbert Jachertz:<br />
Stimmgewichtung ändern<br />
Es ist schade, dass über die noch zu<br />
führende Satzungsänderungsdiskussion<br />
so oberflächlich berichtet wurde. Denn<br />
demokratisches Denken und H<strong>an</strong>deln<br />
lebt nun einmal vor allem von und mit<br />
Entscheidungen von Mehrheiten. Dieses<br />
hohe demokratische Prinzip wird<br />
nach jetziger Regelung im Hinblick auf<br />
die deutsche Ärzteschaft im Vorst<strong>an</strong>d<br />
der BÄK nicht verwirklicht. Denn ohne<br />
eine Stimmgewichtung im Vorst<strong>an</strong>d der<br />
Bundesärztekammer können sich Entscheidungen<br />
ergeben, dass mit einer<br />
Mehrheit von neun Präsidenten der<br />
L<strong>an</strong>desärztekammern gerade einmal 25<br />
Prozent der deutschen Ärzte vertreten<br />
werden (Quelle: Fin<strong>an</strong>zbericht 99/00).<br />
Dies bedeutet im Extremfall, dass lediglich<br />
13 Prozent der Gesamtärzteschaft<br />
hinter einem Mehrheitsbeschluss des<br />
Vorst<strong>an</strong>des der BÄK stehen müssen. Da<br />
der Deutsche Ärztetag nur einmal im<br />
Jahr tagen k<strong>an</strong>n,werden sinnvollerweise<br />
im Laufe des Jahres viele wichtige Fragen,<br />
teilweise sogar Schlüsselfragen der<br />
Berufspolitik, im Vorst<strong>an</strong>d be<strong>an</strong>twortet.<br />
Dazu ist es notwendig, dass der Vorst<strong>an</strong>d<br />
der BÄK glaubhaft darstellen<br />
k<strong>an</strong>n, dass hinter seiner Mehrheit auch<br />
die Mehrheit der deutschen Ärzteschaft
D O K U M E N T A T I O N<br />
versammelt ist. Nur so k<strong>an</strong>n er kraftvoll<br />
und effizient auch wichtige Fragen be<strong>an</strong>tworten,<br />
und gesellschafts- und berufspolitische<br />
Meinungen folgerichtig nach<br />
außen vertreten. Natürlich sind in diesem<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g auch Vorst<strong>an</strong>dsentscheidungen<br />
mit erheblicher Tragweite<br />
zu fin<strong>an</strong>ziellen Fragestellungen<br />
von Wichtigkeit. Hierzu stellt der Berichterstatter<br />
fest: „Über die Fin<strong>an</strong>zgebaren<br />
wird seit Jahren argwöhnisch gewacht.“<br />
Ich denke, die damit befassten<br />
Delegierten und Mitglieder des Fin<strong>an</strong>zausschusses<br />
nehmen lediglich ihre<br />
Aufgabe sehr ernst, die sich aus der<br />
Treuhänderschaft über die Beiträge der<br />
Pflichtmitglieder ergibt. Sorgfältiges<br />
Überwachen der jährlichen Steigerungsrate<br />
im Haushalt, Überprüfen der<br />
eingeg<strong>an</strong>genen Verpflichtungen auf ihre<br />
Notwendigkeit im Interesse der Ärzteschaft<br />
und genaue Kontrolle von Verträgen<br />
zur Sicherung von investierten Millionenbeträgen<br />
sollten absolute Selbstverständlichkeit<br />
sein. Dass hier bayerische<br />
Bedenken öfter in der Verg<strong>an</strong>genheit<br />
nicht ausreichend ernst genommen<br />
wurden, sei nur am R<strong>an</strong>de erwähnt.<br />
Fazit: Grundsätzlich sei festgestellt,<br />
dass Inhalte einer Satzung weiterzuentwickeln<br />
und <strong>an</strong>zupassen sind, wenn<br />
m<strong>an</strong> sich auch zukünftig <strong>an</strong> einer<br />
sinnvollen Satzung orientieren will.<br />
Als Beispiel für notwendige Anpassungen<br />
mögen aus dem Bereich der<br />
Fin<strong>an</strong>zen der § 9 Abs. 7 Satz 3 gesehen<br />
werden.<br />
Mehrheitsvoten des BÄK-Vorst<strong>an</strong>des<br />
müssen weiterhin in der Öffentlichkeit<br />
als hoch respektierte Meinungsäußerungen<br />
der deutschen Ärzteschaft<br />
zu werten sein. Dies ist ohne Stimmgewichtung<br />
nicht möglich. Insbesondere<br />
auch bei Entscheidungen mit großen fin<strong>an</strong>ziellen<br />
Folgelasten ist die Stimme<br />
des Präsidenten einer Ärztekammer,<br />
der 60 000 Ärzte vertritt, <strong>an</strong>ders zu<br />
sehen als die eines Präsidenten, der<br />
knapp 4 000 Ärzte vertritt.<br />
In einem Satz allerdings k<strong>an</strong>n von<br />
unserer Seite dem Berichterstatter,<br />
Herrn Jachertz, voll zugestimmt werden:<br />
„Gleichwohl ist nicht auszuschließen,<br />
dass Bayern das Thema erneut<br />
aufs Tapet bringt.“<br />
Dr. med. Joachim Calles, Bayerischer Delegierter und<br />
Mitglied der Fin<strong>an</strong>zkommission der Bundesärztekammer,<br />
Mozartstraße 29, 96332 Pressig-Rothenkirchen<br />
Heft 24, 15. Juni 2001<br />
Gentechnikdebatte im Bundestag<br />
Wo ist die Grenze<br />
Politiker aller Fraktionen sprachen im Deutschen Bundestag<br />
über den Wert und die Würde vorgeburtlichen Lebens.<br />
Es sei vielleicht eine der wichtigsten<br />
Debatten gewesen, die je im Deutschen<br />
Bundestag geführt wurden,<br />
sagte Hubert Hüppe (CDU). Und dabei<br />
ging es nicht um konkrete Gesetzesvorhaben.<br />
Aber es ging um den Wert und<br />
die Würde des (vorgeburtlichen) Lebens.<br />
Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen<br />
legten am 31. Mai – ausgehend<br />
von der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) und der embryonalen<br />
Stammzellforschung – ihr jeweils persönliches<br />
Menschenbild und ihre<br />
Wertehaltung dar. Um Politik ging es<br />
dabei eher sekundär. Am Ende des<br />
Meinungsbildungsprozesses steht möglicherweise<br />
eine Novellierung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes.<br />
Dies ist allerdings<br />
in dieser Legislaturperiode eher<br />
unwahrscheinlich.<br />
Die Vorsitzende der Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin“, Margot von Renesse<br />
(SPD), setzte gleich zu Anf<strong>an</strong>g Akzente.<br />
Sie warnte davor, das „Gewissen zu<br />
vergewaltigen“. Die „Guten“ dürften<br />
nicht von den „Bösen“ getrennt werden.<br />
Der Begriff der Menschenwürde<br />
lasse sich nicht benutzen wie eine binomische<br />
Formel in der Mathematik.<br />
Menschenwürde sei nicht ein Gerinnungsprodukt<br />
von Ideologie, und sie<br />
eigne sich schon gar nicht als Knüppel,<br />
mit dem m<strong>an</strong> auf den Kopf eines <strong>an</strong>deren<br />
einschlage. Renesse forderte dazu<br />
auf, erst nach einer breiten Diskussion<br />
in Fragen, die das Menschenbild betreffen,<br />
zu Entscheidungen zu kommen.<br />
Nahezu alle Redner schlossen sich<br />
dieser Forderung <strong>an</strong>. Die Diskussion<br />
wurde sachlich und nachdenklich geführt,<br />
es gab einige bemerkenswerte<br />
Wortbeiträge. Dabei wurde deutlich,<br />
dass die Fronten quer durch alle Parteien<br />
verlaufen. Die Regierung wollte jedoch<br />
Einigkeit demonstrieren. Das dürfte<br />
der Grund dafür sein, dass die mit<br />
dem Themenkomplex befassten Ministerinnen<br />
in der Debatte schwiegen.Weder<br />
Bundesgesundheitsministerin Ulla<br />
Schmidt und Bundesbildungsministerin<br />
Edelgard Bulmahn, eher Befürworterinnen<br />
einer Gentechnik-Öffnung, äußerten<br />
sich, noch Bundesjustizministerin<br />
Herta Däubler-Gmelin, die der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
kritisch gegenübersteht.<br />
Lediglich Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard<br />
Schröder ergriff das Wort, und zwar in<br />
seiner Funktion als Abgeordneter. Er<br />
plädierte für eine „Ethik des Heilens<br />
und des Helfens“, die ebenso Respekt<br />
wie die „Achtung der Schöpfung“ verdiene.<br />
„Ich sehe nicht, dass sich beides<br />
gleichzeitig ausschließt“, sagte der Abgeordnete<br />
Schröder. Er sprach sich für<br />
eine „begrenzte <strong>Forschung</strong>“ <strong>an</strong> überzähligen<br />
befruchteten Eizellen aus, die<br />
bei der In-vitro-Fertilisation in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
<strong>an</strong>fallen.<br />
Auch die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
befürwortet er. Unter Anspielung auf<br />
die kritische Rede von Bundespräsident<br />
Joh<strong>an</strong>nes Rau am 18. Mai in Berlin fragte<br />
er: „Ist der Rubikon wirklich überschritten,<br />
wenn ein Verfahren, das im<br />
Mutterleib <strong>an</strong>gewendet werden darf, auf<br />
<strong>Embryonen</strong>, die durch künstliche Befruchtung<br />
entst<strong>an</strong>den sind, übertragen<br />
werden soll“ Die <strong>PID</strong> sei ein „rein diagnostisches<br />
und kein therapeutisches<br />
Verfahren“. Nach seiner Ansicht sei die<br />
Methode „in genau den Grenzen“ zu<br />
ver<strong>an</strong>tworten, wie die medizinische Indikation<br />
beim Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
zugelassen sei.Ohne sie direkt <strong>an</strong>zusprechen,<br />
w<strong>an</strong>dte sich Schröder gegen<br />
die Justizministerin, die die Anwendung<br />
der neuen Verfahren als grundgesetzwidrig<br />
bezeichnet hatte. „Ich stimme<br />
Herrn Schmidt-Jortzig ausdrücklich zu,<br />
wenn er darauf hinweist, dass der Rückgriff<br />
auf das Verfassungsgericht zurzeit<br />
wenig hilft“, sagte Schröder.<br />
97
D O K U M E N T A T I O N<br />
G<strong>an</strong>z <strong>an</strong>derer Auffassung war der<br />
SPD-Abgeordnete Wolfg<strong>an</strong>g Wodarg,<br />
der seine Haltung <strong>an</strong>schaulich erläuterte.<br />
Wodarg, selbst Arzt, berichtete<br />
über ein Gespräch unter Kollegen. Ein<br />
Bonner Gynäkologe hatte einer Mutter<br />
freigestellt, ihr Kind mit Lippenkiefergaumenspalte<br />
abzutreiben. „Er<br />
hat gesagt, das Kind wäre der Mutter<br />
nicht zuzumuten gewesen, sie hätte<br />
das nicht ausgehalten.“ Neben ihm habe<br />
einer der besten deutschen Pädiater<br />
gesessen, dem m<strong>an</strong> <strong>an</strong>gesehen habe,<br />
dass er als Kind <strong>an</strong> einer solchen<br />
Lippenkiefergaumenspalte operiert<br />
worden war. „Da wurde für mich sehr<br />
deutlich, in welchem Maße dieses Thema<br />
auch mit Menschenwürde zu tun<br />
hat.“<br />
Ein entschiedener Gegner der <strong>PID</strong><br />
ist auch Hüppe, der stellvertretende<br />
Vorsitzende der Enquete-Kommission.<br />
Zur Unterstützung seiner Argumentation<br />
führte er eine Erhebung <strong>an</strong>,<br />
wonach bei Paaren, die <strong>PID</strong> in Anspruch<br />
nahmen, trotz teilweise mehrfacher<br />
Versuche nur jede siebte Frau ein<br />
Kind ausgetragen habe. „Das ist ein<br />
Menschenverbrauch, den ich nicht akzeptieren<br />
k<strong>an</strong>n.“ Auch das Argument,<br />
dass Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik Abtreibungen<br />
vermeide, sei falsch: „Die<br />
Statistik belegt, dass vier Prozent der<br />
Föten nach Pränataldiagnostik abgetrieben<br />
und fünf Prozent durch so gen<strong>an</strong>nte<br />
Mehrlingsreduktionen getötet<br />
wurden. Wer diesen Menschenverbrauch<br />
leugnet, der macht sich nicht<br />
nur am menschlichen Leben schuldig,<br />
sondern auch <strong>an</strong> den Eltern, die den<br />
Versprechungen der <strong>PID</strong>-Befürworter<br />
glauben.“<br />
Diese Auffassung findet in der Union<br />
Befürworter, aber keineswegs ungeteilte<br />
Zustimmung. So lehnte die CDU-<br />
Parteivorsitzende Angela Merkel ein<br />
„radikales Nein“ zur <strong>PID</strong> ab. Es falle ihr<br />
in bestimmten Fällen schwer, Eltern,<br />
die bereits ein behindertes Kind haben,<br />
dieses Verfahren zu verwehren. Merkel<br />
wies jedoch darauf hin, dass es weder<br />
das Recht auf ein gesundes Kind noch<br />
auf ein Kind überhaupt gebe. Es gebe<br />
lediglich die Hoffnung auf ein gesundes<br />
Kind. Die CDU-Vorsitzende forderte<br />
ein Moratorium: Sol<strong>an</strong>ge es keine politische<br />
Entscheidung gebe, müsse <strong>PID</strong><br />
und <strong>Embryonen</strong>forschung verboten<br />
98<br />
bleiben. Auch ein Import von pluripotenten<br />
Stammzellen sei mit dem Geist<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes nicht<br />
vereinbar. Merkel kündigte inzwischen<br />
<strong>an</strong>, die Union wolle dazu einen Gesetzentwurf<br />
einbringen. Auslöser ist der<br />
Vorstoß des nordrhein-westfälischen<br />
Ministerpräsidenten Wolfg<strong>an</strong>g Clement<br />
(SPD). Clement befürwortet den Import<br />
embryonaler Stammzellen aus<br />
Haifa und hat Fördergelder des L<strong>an</strong>des<br />
Nordrhein-Westfalen zugesichert (dazu<br />
das Interview mit dem Bonner Forscher<br />
Oliver Brüstle in diesem Heft).<br />
Der Fraktionsvorsitzende der CDU,<br />
Friedrich Merz, ging deutlich auf Dist<strong>an</strong>z<br />
zu seiner Parteivorsitzenden.<br />
Merz warnte davor, den Zeitpunkt der<br />
Menschwerdung nach hinten zu verschieben.<br />
Damit sei d<strong>an</strong>n nicht nur am<br />
Beginn, sondern auch am Ende des<br />
menschlichen Lebens der absolute<br />
Schutz des Grundgesetzes relativiert.<br />
Er befürchtet, dass mit der Einführung<br />
von <strong>PID</strong> der Selektion „Tür und Tor<br />
geöffnet“ werde. „Im Reagenzglas<br />
werden genauso wie die schweren genetischen<br />
Defekte auch positive genetische<br />
Dispositionen feststellbar sein.<br />
Wo ist die Grenze Wer trifft die Entscheidung“<br />
fragte Merz. Der CDU-<br />
Fraktionsvorsitzende w<strong>an</strong>dte sich wie<br />
die meisten Redner seiner Partei gegen<br />
die Stammzellforschung mit <strong>Embryonen</strong>.Aber<br />
auch in dieser Frage geht ein<br />
Riss durch die Union. So verbindet<br />
Peter Hintze mit der embryonalen<br />
Stammzellforschung die „Hoffnung,<br />
schwere Kr<strong>an</strong>kheiten heilen zu können“.<br />
Die Grünen äußerten sich vorwiegend<br />
ablehnend gegenüber <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
und <strong>PID</strong>. Die frühere<br />
Bundesgesundheitsministerin Andrea<br />
Fischer befürchtet, „dass sich bei der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik eine Begrenzung<br />
nicht einhalten lässt, dass die<br />
Nachfrage nach diesem Verfahren steigen<br />
wird, sodass es immer selbstverständlicher<br />
sein wird, von künftigen Eltern<br />
zu verl<strong>an</strong>gen, dass sie kein kr<strong>an</strong>kes<br />
Kind bekommen oder dass sie sich vielleicht<br />
sogar, wenn sie es doch wollen,<br />
dafür rechtfertigen.“ Der Fraktionsvorsitzende<br />
von Bündnis 90/Die Grünen,<br />
Rezzo Schlauch, betonte jedoch,<br />
dass seine Partei die Hoffnung der<br />
Kr<strong>an</strong>ken und die Sorgen der Eltern<br />
ernst nehme. „Wir wollen Gentechnik<br />
deswegen dort zulassen, wo sie den<br />
Menschen tatsächlich hilft und sie nicht<br />
gefährdet.“<br />
Auch die PDS ist bei der Beurteilung<br />
der Gentechnik gespalten. Darauf wies<br />
der Fraktionsvorsitzende der PDS, Rol<strong>an</strong>d<br />
Claus, hin. Tradierte Wertvorstellungen<br />
reichten für diese Debatte jedenfalls<br />
nicht aus. Die PDS-Abgeordnete<br />
Angela Marquardt warnte vor „einer<br />
Entwicklung, die letztlich dazu<br />
führt, dass der Mensch nicht mehr die<br />
Gesellschaft verbessert und lebenswerter<br />
macht, sondern dass sich die Menschen<br />
<strong>an</strong> bestehende Umstände <strong>an</strong>zupassen<br />
haben“.<br />
Keine alleinige<br />
Ver<strong>an</strong>twortung der Ärzte<br />
Eindeutig legte sich nur die FDP fest.<br />
Sie sprach sich geschlossen für die neuen<br />
Möglichkeiten der Gentechnik aus.<br />
Der frühere Justizminister Edzard<br />
Schmidt-Jortzig sagte zwar, dass die<br />
Menschenwürde gegen nichts abwägbar<br />
sei, der Schutz des Menschenlebens<br />
lasse aber sehr wohl Einschränkungen<br />
zugunsten <strong>an</strong>derer Rechtsgüter zu.<br />
FDP-Fraktionschef Wolfg<strong>an</strong>g Gerhardt<br />
warb für eine Zulassung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
in engen Grenzen. Es<br />
müsse moralisch und ethisch ausgelotet<br />
werden, ob menschliches Leid durch die<br />
Möglichkeiten der Gentechnik beseitigt<br />
werden könnte.<br />
Klare Entscheidungen forderte der<br />
Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Jörg-Dietrich Hoppe, <strong>an</strong>lässlich der Debatte:<br />
„Wir brauchen widerspruchsfreie<br />
rechtliche Regelungen, die von der Gesellschaft<br />
akzeptiert und durch unsere<br />
ethischen Werte begründet werden.<br />
Deshalb kommt für die Ärzteschaft<br />
auch bei der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
keine Regelung infrage, die den<br />
Ärzten die alleinige Ver<strong>an</strong>twortung zuschiebt<br />
und ihr H<strong>an</strong>deln als rechtswidrig<br />
erscheinen lässt.“ Gisela Klinkhammer
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 24, 15. Juni 2001<br />
Embryonale Stammzellforschung<br />
Die Mech<strong>an</strong>ismen entschlüsseln<br />
und auf adulte Zellen <strong>an</strong>wenden<br />
Interview mit dem Bonner Neuropathologen Prof. Dr. med. Oliver Brüstle<br />
DÄ:<br />
Herr Brüstle, weshalb drängen<br />
Sie derzeit so darauf, dass<br />
wissenschaftspolitische Entscheidungen<br />
in Richtung embryonaler Stammzellforschung<br />
getroffen werden<br />
Brüstle: Seit eineinhalb Jahren wird<br />
bereits intensiv über dieses Thema diskutiert.<br />
Inzwischen arbeiten international<br />
zahlreiche Teams <strong>an</strong> der Umsetzung der<br />
Stammzell-Technologie, aus embryonalen<br />
Stammzellen des Menschen Spenderzellen<br />
für die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationsmedizin<br />
herzustellen. Wir haben in der Verg<strong>an</strong>genheit<br />
Erfolge im Bereich des Nervensystems<br />
am Tiermodell erzielen können.<br />
Jetzt sind wir stark dar<strong>an</strong> interessiert, diese<br />
Befunde auf menschliche Zellen umzusetzen.Wenn<br />
die Diskussion weiterhin<br />
hinausgezögert wird,sehe ich die Gefahr,<br />
dass wir uns l<strong>an</strong>gfristig abkoppeln.<br />
DÄ: Sie waren gemeinsam mit dem<br />
NRW-Ministerpräsidenten Wolfg<strong>an</strong>g<br />
Clement in einem Labor in Haifa, Israel.<br />
Warum ist dieses für Sie so interess<strong>an</strong>t<br />
Brüstle: In Haifa ist eine der Gruppen,<br />
der es gelungen ist, hum<strong>an</strong>e embryonale<br />
Stammzellen herzustellen.<br />
Und wir sind im Moment auf der Suche<br />
nach Partnern, mit denen sich unsere<br />
Vorstellungen verwirklichen lassen.<br />
DÄ: Sie haben derzeit einen Partner in<br />
den USA.Wollen Sie den auswechseln<br />
Brüstle: Wir halten weiterhin Kontakt<br />
zu dem Campus <strong>an</strong> der Universität<br />
Madison,Wisconsin.In Israel h<strong>an</strong>delt es<br />
sich lediglich um Sondierungsgespräche.<br />
Wir sind dar<strong>an</strong> interessiert, einen<br />
Partner zu finden, mit dem sich eine<br />
l<strong>an</strong>gfristige, faire Partnerschaft verwirklichen<br />
lässt, ohne in eine zu starke<br />
Abhängigkeit zu geraten. Hier bieten<br />
sich in Israel möglicherweise <strong>an</strong>dere<br />
Perspektiven als in den USA.<br />
DÄ: Wo liegt der Unterschied<br />
Brüstle: Der Austausch von Zellen ist<br />
<strong>an</strong> strenge Auflagen gebunden.Quasi alle<br />
Ergebnisse, die mit diesen Zellen erzielt<br />
werden, fallen <strong>an</strong> den Partner in<br />
den USA. Auch das <strong>Forschung</strong>sprojekt<br />
selbst, das m<strong>an</strong> bearbeiten will, muss<br />
von dem Partner genehmigt werden.<br />
Diese ausgeprägte Abhängigkeit spielt<br />
die eine Rolle, zudem sind aber die Zelllinien<br />
in Haifa sehr erfolgversprechend<br />
– sofern m<strong>an</strong> das nach dem ersten Besuch<br />
beurteilen k<strong>an</strong>n. Es geht aber um<br />
mehr als um einen Austausch von Zelllinien.<br />
Es ist ein sehr intensiver personeller<br />
Austausch mit Israel möglich. Auch<br />
dazu wurden bereits erste Gespräche<br />
geführt. Moment<strong>an</strong> sind jedoch noch<br />
keinerlei Vereinbarungen getroffen<br />
worden. Keinesfalls sollen aber Dinge<br />
durchgeführt werden, die den rechtlichen<br />
Rahmen in Deutschl<strong>an</strong>d umgehen<br />
würden. Es geht nicht um die Herstellung<br />
neuer ES-Zelllinien, es geht nicht<br />
um <strong>Embryonen</strong>forschung, sondern um<br />
die Nutzung pluripotenter Zelllinien.<br />
DÄ: Welche Projekte pl<strong>an</strong>en Sie mit<br />
Haifa<br />
Brüstle: In der Verg<strong>an</strong>genheit ist es<br />
uns gelungen, Spenderzellen für das<br />
Nervensystem aus embryonalen Stammzellen<br />
der Maus herzustellen und am<br />
Tiermodell einzusetzen. Dort wollen<br />
wir <strong>an</strong>knüpfen und prüfen, ob es möglich<br />
ist, aus hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzellen in gleicher Weise Vorläuferzellen<br />
des Nervensystems in der<br />
Zellkultur herzustellen. Im nächsten<br />
Schritt müssten diese Zellen am Tiermodell<br />
erprobt werden. Erst d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n<br />
abgewogen werden, inwieweit diese<br />
Technik verbreitert werden soll, und ob<br />
diese Zellen für zukünftige Beh<strong>an</strong>dlungsstrategien<br />
infrage kommen.<br />
DÄ: Wie l<strong>an</strong>ge wird das dauern<br />
Brüstle: Insgesamt rechne ich mit<br />
mindestens fünf bis zehn Jahren, bis<br />
überhaupt abgeschätzt werden k<strong>an</strong>n, in<br />
welcher Art und Weise und in welchem<br />
Umf<strong>an</strong>g embryonale Stammzellen klinisch<br />
relev<strong>an</strong>t sind. Das schließt auch<br />
den Vergleich mit adulten Stammzellen<br />
ein. D<strong>an</strong>n erst würden klinische Studien<br />
folgen.<br />
DÄ: Über die klinische Relev<strong>an</strong>z der<br />
Stammzellforschung wird viel spekuliert.Wo<br />
liegen die realen Ch<strong>an</strong>cen<br />
Brüstle: Die große Perspektive ist,<br />
Spenderzellen für Zellersatz – nicht für<br />
Org<strong>an</strong>ersatz – in nahezu unbegrenzter<br />
Menge herzustellen. Es bietet sich die<br />
Möglichkeit, eines der Kernprobleme<br />
der Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationsmedizin l<strong>an</strong>gfristig<br />
zu lösen, nämlich den M<strong>an</strong>gel <strong>an</strong> Spendergewebe.<br />
Die zweite Perspektive ist,<br />
Probleme der Abstoßungsreaktion zu<br />
umgehen, indem Zellen mit identischer<br />
Erbinformation hergestellt werden.<br />
Dies ist im Bereich der adulten Stammzellen<br />
durch Gewinnung der Zellen direkt<br />
vom Patienten, im Bereich der embryonalen<br />
Stammzellen durch Kernreprogrammierungsstrategien<br />
möglich.<br />
DÄ: Kernreprogrammierung – wäre<br />
das nicht therapeutisches Klonen<br />
Brüstle: Es läuft im weitesten Sinne<br />
darauf hinaus. Doch ich glaube nicht,<br />
dass dieses Konzept jemals therapeutisch<br />
eingesetzt wird. Und zwar aus zwei<br />
Gründen: Erstens wären Eizellspenden<br />
in großer Zahl nötig, zweitens würden<br />
auf diese Weise Blastozysten erzeugt,<br />
also <strong>Embryonen</strong>. Beides ist aus ethischer<br />
Sicht hochproblematisch und sollte<br />
nach meiner Ansicht nicht durchgeführt<br />
werden. Auch eine naturwissenschaftliche<br />
Argumentation spricht dagegen:<br />
Bis heute sind die Prozesse der<br />
Kernreprogrammierung völlig unverst<strong>an</strong>den.<br />
Fehlentwicklungen können<br />
nicht ausgeschlossen werden. Zellen,<br />
die auf diese Weise hergestellt werden,<br />
bergen unter Umständen Schäden, die<br />
wir im Zellkulturstadium gar nicht erkennen<br />
können.<br />
99
D O K U M E N T A T I O N<br />
100<br />
DÄ: Sollte m<strong>an</strong> auf dem Gebiet der<br />
Kernreprogrammierung forschen<br />
Brüstle: Meine Vorstellung geht dahin,<br />
die unbek<strong>an</strong>nten Mech<strong>an</strong>ismen<br />
durch Kernreprogrammierungs-Studien<br />
<strong>an</strong> tierischen Zellen zu entschlüsseln,<br />
um sie d<strong>an</strong>n l<strong>an</strong>gfristig auf adulte<br />
hum<strong>an</strong>e Zellen <strong>an</strong>zuwenden. Es besteht<br />
die Idee, adulte Zellen direkt in ein pluripotentes<br />
Stadium umzuprogrammieren,<br />
das dem einer embryonalen<br />
Stammzelle entspricht. Die Erzeugung<br />
der Blastozyste würde so umg<strong>an</strong>gen.<br />
Wir hätten d<strong>an</strong>n eine Fusion von adulter<br />
und embryonaler Stammzelltechnologie,<br />
die es uns erlauben würde, die<br />
Vorteile pluripotenter Stammzellen zu<br />
nutzen und gleichzeitig die ethisch kritischen<br />
Bereiche zu umgehen.<br />
DÄ: Reichen für die Kernreprogrammierungs-Studien<br />
Zellen tierischen Ursprungs<br />
aus<br />
Brüstle: Zunächst schon. Es wäre aus<br />
meiner Sicht unver<strong>an</strong>twortlich, Untersuchungen<br />
auf hum<strong>an</strong>e Zellen auszuweiten,<br />
bevor nicht alles erdenklich<br />
Mögliche am Tierexperiment gemacht<br />
worden ist. Natürlich müssen die Ergebnisse<br />
schließlich am Menschen validiert<br />
werden. Beim therapeutischen<br />
Klonen besteht allerdings die Hoffnung,<br />
dass dies ohne Erzeugung von<br />
<strong>Embryonen</strong> möglich sein wird.<br />
DÄ: In den USA haben Sie eine Methode<br />
entwickelt, mit der m<strong>an</strong> durch<br />
Zellkultur aus embryonalen Stammzellen<br />
Nervenzellen herstellen k<strong>an</strong>n. Wie<br />
funktioniert diese<br />
Brüstle: Embryonale Stammzellen<br />
können prinzipiell in alle Gewebetypen<br />
ausreifen. Das Schüsselproblem ist, diese<br />
Entwicklung in die gewünschte Richtung<br />
zu steuern und die Zellpopulation<br />
so aufzureinigen, dass keine unreifen<br />
embryonalen Zellen mehr vorh<strong>an</strong>den<br />
sind. Denn diese könnten nach der<br />
Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation Teratome erzeugen.<br />
DÄ: Wie steuern Sie die Ausreifung<br />
Brüstle: Die Zellen werden zunächst<br />
unter der Anwesenheit von Wachstumsfaktoren<br />
auf embryonalen Fibroblasten<br />
beliebig vermehrt. D<strong>an</strong>n werden die<br />
Zellen zu Embryoidkörperchen zusammengelagert.<br />
Dies sind Zellaggregate,<br />
in denen spont<strong>an</strong> die Ausreifung in verschiedene<br />
Gewebetypen stattfindet.<br />
Nach einigen Tagen werden die Embryoidkörperchen<br />
in Zellkulturlösungen<br />
überführt, die so zusammengesetzt<br />
sind, dass bevorzugt Zellen des Nervensystems<br />
überleben. Diese werden d<strong>an</strong>n<br />
durch Wachstumsfaktoren gezielt vermehrt.<br />
DÄ: Werden Zellen, die nicht gewünscht<br />
sind, während des Verfahrens<br />
vernichtet<br />
Brüstle: Um zur Zelltyp-Spezifizierung<br />
zu kommen, gibt es zwei Strategien:<br />
Zum einen werden Faktoren eingebracht,<br />
die eine bestimmte Zellpopulation<br />
bevorzugen und <strong>an</strong>dere während<br />
des Kulturverfahrens ausmerzen. Bei<br />
der <strong>an</strong>deren Strategie werden Marker<br />
in embryonale Stammzellen eingefügt,<br />
die nur von bestimmten Zelltypen exprimiert<br />
werden, beispielsweise ein Antibiotikaresistenz-Gen<br />
oder ein grün<br />
fluoreszierendes Protein, das ausschließlich<br />
in den entst<strong>an</strong>denen Nervenzellen<br />
exprimiert wird. Durch Gabe<br />
eines Antibiotikums oder durch ein<br />
Sortierverfahren ist es möglich, diese<br />
Zelltypen <strong>an</strong>zureichern.<br />
DÄ: Wäre nach der Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
dieser gewonnenen Zellen nicht auch<br />
noch eine Eigendifferenzierung oder gar<br />
eine Tumorbildung denkbar<br />
Brüstle: Dies ist ein ernst zu nehmendes<br />
Problem. Deshalb müssen vor einer<br />
klinischen Anwendung L<strong>an</strong>gzeituntersuchungen<br />
stehen, die gewährleisten,<br />
dass diese Zellen über Jahre hinweg stabil<br />
in ihrem Zelltyp ver<strong>an</strong>kert bleiben.<br />
Eine Tumorbildung ist bei den von uns<br />
hergestellten hochaufgereinigten Gliazellen<br />
im Tierversuch bisher in keinem<br />
Fall vorgekommen.<br />
DÄ: In Großbrit<strong>an</strong>nien ist m<strong>an</strong> bereits<br />
in die klinische Anwendung geg<strong>an</strong>gen<br />
und hat Parkinson-Patienten fetale<br />
dopaminproduzierende Zellen tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tiert,<br />
von denen sich d<strong>an</strong>n wohl auch<br />
einige zu Knochen- und Knorpelzellen<br />
entwickelt haben . . .<br />
Brüstle: Das sind Experimente, die<br />
nicht sauber durchgeführt wurden. Dabei<br />
h<strong>an</strong>delt es sich um einen Ansatz, der<br />
nicht auf Stammzellen aufbaut, sondern<br />
auf der Isolation von Zellen aus dem fetalen<br />
Nervensystem. Wird das Verfahren<br />
– die Entnahme von Zellen aus der<br />
Hirnregion, aus der sich später die<br />
dopaminergen Neurone entwickeln –<br />
nicht sachgemäß durchgeführt, besteht<br />
die Gefahr, dass <strong>an</strong>dere Gewebeteile<br />
mit tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tiert werden und sich später<br />
entwickeln. In dieser Hinsicht unterscheidet<br />
sich die embryonale Stammzelltechnik.<br />
Dort müssen wiederum die<br />
undifferenzierten Zellen aussortiert<br />
werden, da diese nach Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
in alle möglichen Zellen ausreifen<br />
könnten.<br />
DÄ: Wie hoch ist die Gefahr der Abstoßung<br />
nach der Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
Brüstle: Die Abstoßung ist ein Kernproblem<br />
der Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationsmedizin<br />
überhaupt. Um sie zu verhindern, wäre<br />
es bei den embryonalen Stammzellen<br />
denkbar, B<strong>an</strong>den von Zellen aufzubauen,<br />
in denen verschiedene Gewebetypen<br />
vorh<strong>an</strong>den sind, und d<strong>an</strong>n für den<br />
jeweiligen Patienten einen gematchten<br />
Donor zu finden. Weiterhin ist es möglich,<br />
die Oberflächenstruktur dieser<br />
Zellen genetisch so zu verändern, dass<br />
Abstoßungsreaktionen zumindest gehemmt<br />
werden. Es ist über die Kernreprogrammierung<br />
l<strong>an</strong>gfristig möglich,<br />
pluripotente Zellen mit dem Erbgut<br />
desselben Patienten herzustellen.<br />
DÄ: Das wäre auch mit adulten<br />
Stammzellen möglich. Warum forscht<br />
m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n nicht zunächst <strong>an</strong> diesen<br />
Brüstle: In der moment<strong>an</strong>en Diskussion<br />
werden die adulten Stammzellen<br />
oft als den embryonalen Stammzellen<br />
ebenbürtig dargestellt. Aus naturwissenschaftlicher<br />
Sicht k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> in meinen<br />
Augen jedoch nicht auf die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
verzichten. Diese haben wichtige Vorteile:<br />
eine uneingeschränkte Vermehrbarkeit<br />
über l<strong>an</strong>ge Zeiträume und die<br />
Möglichkeit der gezielten Ausreifung in<br />
der Zellkultur.<br />
DÄ: Doch neuen Publikationen zufolge<br />
sollen auch adulte Stammzellen in <strong>an</strong>dere<br />
Gewebe einw<strong>an</strong>dern und dort nicht<br />
nur Ursprungsgewebe bilden können . . .<br />
Brüstle: Es ist aber noch nicht möglich,<br />
diesen Tr<strong>an</strong>sdifferenzierungsprozess<br />
gezielt in der Zellkultur zu steuern.<br />
Es gibt wohl einzelne Fälle, bei denen<br />
aus adulten Stammzellen verw<strong>an</strong>dte<br />
Gewebszellen gezüchtet wurden. Es<br />
scheinen jedoch gravierende Unterschiede<br />
zu den embryonalen Stammzellen<br />
zu bestehen, da es sich bei diesen um<br />
eine Programmierung von einer unreifen<br />
in eine reife Zelle h<strong>an</strong>delt. Bei den<br />
adulten Stammzellen h<strong>an</strong>delt es sich um<br />
eine Umprogrammierung von einer<br />
spezifischen Zelle in eine <strong>an</strong>dere gewe-
D O K U M E N T A T I O N<br />
bespezifische Zelle. Diesen Prozess<br />
k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> heute noch nicht gezielt in einer<br />
Zellkultur ablaufen lassen.Auch die<br />
Vermehrbarkeit ist eingeschränkt. Seit<br />
vielen Jahren wird bereits versucht,<br />
Knochenmarks-Stammzellen außerhalb<br />
des Körpers zu vermehren. Die Erfolge<br />
sind jedoch sehr ernüchternd.<br />
Diese Kernprobleme müssen gelöst<br />
werden, bevor die adulten Stammzellen<br />
Äquvalenz erreichen können.<br />
DÄ: Mit den embryonalen Stammzellen<br />
taucht aber die ethische Problematik<br />
auf.Verletzt m<strong>an</strong> in Ihren Augen ethische<br />
Normen mit der embryonalen Stammzellforschung<br />
Brüstle: Mit der Gewinnung dieser<br />
Zellen ist sicher eine ethische Problematik<br />
verbunden. Darüber denken wir<br />
sehr ernsthaft nach. Einerseits ist auch<br />
bei bereits existierenden Zelllinien<br />
letztlich ein Embryo verbraucht worden.<br />
Auf der <strong>an</strong>deren Seite steht die<br />
ärztliche Verpflichtung, nach neuen Beh<strong>an</strong>dlungsstrategien<br />
zu suchen. Im Nervensystem<br />
ist die Situation besonders<br />
prekär, da dort so gut wie keine Regeneration<br />
stattfindet.<br />
DÄ: Könnte m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n nicht alles<br />
und jedes mit der ärztlichen Beh<strong>an</strong>dlungspflicht<br />
und dem Wunsch zu Heilen<br />
begründen,auch therapeutisches Klonen<br />
oder Keimbahninterventionen<br />
Brüstle: Da müssen g<strong>an</strong>z klare Grenzen<br />
gezogen werden. Für mich wäre ein<br />
Einsatz nur unter klar definierten Bedingungen<br />
zu akzeptieren.<br />
DÄ: Welche wären das<br />
Brüstle: Weder für <strong>Forschung</strong>s- noch<br />
für therapeutische Zwecke dürfen <strong>Embryonen</strong><br />
gezielt hergestellt werden. Eingriffe<br />
in die Keimbahn und reproduktives<br />
Klonen müssen verboten bleiben.<br />
Auf der <strong>an</strong>deren Seite halte ich es<br />
durchaus für erwägenswert, so gen<strong>an</strong>nte<br />
überzählige <strong>Embryonen</strong>, für die keinerlei<br />
<strong>an</strong>dere Verwendung vorgesehen ist,<br />
mit Zustimmung der Eltern in begrenzter<br />
Zahl und unter strenger Kontrolle<br />
für die Gewinnung von Zelllinien einzusetzen.<br />
Dabei h<strong>an</strong>delt es sich nicht um<br />
eine verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
im großen Maßstab.Wenige Zelllinien<br />
würden genügen, um alle Zentren<br />
in Europa mit Zellen auszustatten.<br />
DÄ: Der Import von pluripotenten<br />
Zellen nach Deutschl<strong>an</strong>d würde also<br />
genügen<br />
Brüstle: Im ersten Schritt ist der Import<br />
die einzige Lösung, die überhaupt<br />
praktikabel ist, auch aufgrund der<br />
rechtlichen Situation. Zunächst geht es<br />
darum, die prinzipielle Übertragbarkeit<br />
der Befunde von Mauszellen auf<br />
menschliche Zellen zu überprüfen.<br />
Dafür k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auf bestehende Zelllinien<br />
zurückgreifen. Wenn sich zeigt,<br />
dass diese Zellen halten, was die Mauszellen<br />
versprechen, k<strong>an</strong>n darüber nachgedacht<br />
werden, ob es in begrenzter<br />
Zahl, unter strengen Auflagen und nur<br />
<strong>an</strong> ausgewählten Zentren möglich sein<br />
soll, solche Zelllinien auch in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
herzustellen. Es scheint mir – wenn<br />
wir uns für die Technologie entscheiden<br />
– zudem wenig konsequent, jetzt kritische<br />
Bereiche ins Ausl<strong>an</strong>d zu verlagern<br />
oder sie gar moralisch zu verurteilen,<br />
um d<strong>an</strong>n in fünf bis zehn Jahren den<br />
Nutzen zu reimportieren. Wenn wir uns<br />
gegen die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen entscheiden, sollte das<br />
auch konsequent sein. Auch die DFG<br />
spricht sich in ihrer Stellungnahme<br />
dafür aus, eine begrenzte Herstellung<br />
eigener Zellinien zu überdenken, wenn<br />
der Import nicht ausreiche.<br />
DÄ: In Deutschl<strong>an</strong>d gibt es nach dem<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz keine oder nur<br />
g<strong>an</strong>z wenige überzählige <strong>Embryonen</strong>.<br />
Könnten diese überhaupt ausreichen<br />
Brüstle: Nach den Ergebnissen in<br />
Haifa zu urteilen, könnte eine geringe<br />
Zahl von <strong>Embryonen</strong> genügen, um dauerhaft<br />
vermehrungsfähige Zelllinien zu<br />
erzeugen.Allerdings hat meine Arbeitsgruppe<br />
keinen Anteil bei der Herstellung<br />
von embryonalen Stammzellen,<br />
sondern wir arbeiten ausschließlich mit<br />
bereits existierenden Zelllinien.<br />
Heft 25, 22. Juni 2001<br />
Bioethik-Diskussion<br />
Bei keiner <strong>an</strong>deren Frage gehen die Ansichten<br />
innerhalb der Parteien so ausein<strong>an</strong>der<br />
wie bei der Bioethik.Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) ja oder nein Embryonale<br />
Stammzellforschung Besonders<br />
die beiden Volksparteien SPD und<br />
CDU/CSU können sich auf keinen gemeinsamen<br />
Nenner einigen.<br />
DÄ: Würde mit der Herstellung von<br />
Stammzellen in Deutschl<strong>an</strong>d der „<strong>Embryonen</strong>industrie“<br />
das Tor geöffnet<br />
Brüstle: Gerade dies muss verhindert<br />
werden. Wenn wir den Bereich für eine<br />
therapeutische Nutzung öffnen, halte<br />
ich es für unabdingbar, dass die Grenzen<br />
klar gezogen werden. Es dürfte nur<br />
auf <strong>Embryonen</strong> zurückgegriffen werden,<br />
die aus <strong>an</strong>deren Gründen überzählig<br />
sind.<br />
DÄ: Glauben Sie , dass die DFG am<br />
4. Juli Ihr Projekt und damit den Import<br />
der embryonalen Stammzellen billigt<br />
Brüstle: Ja, ich bin optimistisch. Meine<br />
Befürchtung aber ist, dass das Projekt<br />
zwar nicht abgelehnt wird,aber sich<br />
ein erneuter zeitlicher Aufschub <strong>an</strong>bahnt.<br />
Der Antrag liegt jetzt bereits elf<br />
Monate bei der DFG. Die Entwicklung<br />
auf diesem Gebiet schreitet aber so ras<strong>an</strong>t<br />
vor<strong>an</strong>, dass es jetzt schon fraglich<br />
ist, ob wir überhaupt den Vorsprung,<br />
den wir auf tierexperimentellem Niveau<br />
hatten, noch halten können.Wenn<br />
wir die Diskussion weiter hinziehen,<br />
wird sie sich selbst totlaufen. D<strong>an</strong>n haben<br />
die Dinge, die wir machen wollten,<br />
<strong>an</strong>dere Instituten im Ausl<strong>an</strong>d durchgeführt.<br />
DÄ: Würden Sie bei einem „Nein“ der<br />
DFG auf Ihre <strong>Forschung</strong> verzichten<br />
Brüstle: Wenn es tatsächlich die demokratische<br />
Entscheidung gäbe, dass<br />
wir in Deutschl<strong>an</strong>d diese Technologie<br />
nicht wollen, d<strong>an</strong>n muss sich der einzelne<br />
Wissenschaftler dieser Entscheidung<br />
auch <strong>an</strong>schließen. Aus persönlichen<br />
Gründen ins Ausl<strong>an</strong>d zu gehen, ist jedem<br />
selbst überlassen. Ich bin da im<br />
Moment noch unentschieden.<br />
DÄ-Fragen: Dr. med. Eva A. Richter, Norbert Jachertz<br />
Gespaltene Fraktionen<br />
Diametral unterschiedliche Positionen<br />
gibt es in der SPD-Fraktion. Für<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard Schröder verwirklicht<br />
sich die Würde des Menschen in<br />
erster Linie im Zug<strong>an</strong>g zur Erwerbsarbeit,<br />
wie er als Antwort auf die Berliner<br />
Rede von Bundespräsident Joh<strong>an</strong>nes<br />
Rau (auch SPD) sagte. Dieser hatte<br />
101
D O K U M E N T A T I O N<br />
am 18. Mai betont, dass<br />
es „Dinge gibt, die wir<br />
um keines tatsächlichen<br />
oder vermeintlichen<br />
Vorteiles willen tun dürfen“.<br />
Sowohl <strong>PID</strong> als<br />
auch <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
lehnt Rau ab.<br />
Auch für Justizministerin<br />
Herta Däubler-<br />
Gmelin (SPD) ist beides<br />
nicht mit der Verfassung<br />
vereinbar. Anders<br />
verhalten sich die beiden<br />
SPD-Ministerinnen<br />
Ulla Schmidt (Bundesgesundheitsministerin)<br />
und Edelgard<br />
Bulmahn (Bundesforschungsministerin).<br />
Sie wollen die <strong>PID</strong> in engen Grenzen erlauben<br />
und halten die embryonale<br />
Stammzellforschung für diskutabel. Unterstützt<br />
werden sie von der Vorsitzenden<br />
der Enquete-Kommission des Deutschen<br />
Bundestages „Recht und Ethik der<br />
modernen Medizin“, Margot von Renesse.<br />
Sie meint, es liege in der Natur der<br />
Wissenschaft, auch Tabus zu brechen.<br />
Eine ausführliche bioethische Diskussion<br />
am 28. Mai brachte der CDU/<br />
´ Tabelle C ´<br />
Was soll m<strong>an</strong> in der Biomedizin zulassen<br />
– Antworten der Parteien (St<strong>an</strong>d 6. Juni 2001)<br />
<strong>PID</strong><br />
Embryonale<br />
Stammzellforschung<br />
SPD unentschlossen, unentschlossen,<br />
konträre Ansichten konträre Ansichten<br />
CDU/CSU CDU: unentschlossen CDU: nein<br />
CSU: nein<br />
CSU: nein<br />
FDP ja ja<br />
B90/Die Grünen nein nein<br />
PDS unentschlossen, unentschlossen,<br />
eher nein<br />
eher nein<br />
CSU-Fraktion ebenfalls keinen innerparteilichen<br />
Konsens. Einig waren sich<br />
die Abgeordneten lediglich, dass sie die<br />
verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
nicht zulassen wollen. Die CSU lehnt<br />
zudem die <strong>PID</strong> ab. Darauf k<strong>an</strong>n (und<br />
will) sich die CDU aber nicht festlegen.<br />
Im Vorfeld der Sitzung des CDU-<br />
Bundesvorst<strong>an</strong>des, die gleichfalls am<br />
28. Mai stattf<strong>an</strong>d, hatte der stellvertretende<br />
Parteivorsitzende der CDU, Jürgen<br />
Rüttgers, den Entwurf eines<br />
Grundsatzpapiers vorgelegt, in dem er<br />
die <strong>PID</strong> als „Diagnosemöglichkeit“ bezeichnete.<br />
Die Parteivorsitzende Angela<br />
Merkel schloss sich dieser Meinung<br />
<strong>an</strong>. Auch sie neige dazu, die <strong>PID</strong> unter<br />
bestimmten Restriktionen zuzulassen.<br />
Dies stieß auf innerparteiliche Kritik, so<br />
dass schließlich Rüttgers <strong>PID</strong>-Passagen<br />
im Positionspapier geändert wurden.<br />
Kein Ja, kein Nein, die Haltung der<br />
CDU bleibt offen. „Wir wollen die Diskussion<br />
weiter führen“, erklärte Merkel.<br />
Bereits vor Wochen hat sich die FDP<br />
mit ihrem Positionspapier eindeutig für<br />
<strong>PID</strong> und embryonale Stammzellforschung<br />
ausgesprochen. Sie betont die<br />
medizinischen und wirtschaftlichen<br />
Ch<strong>an</strong>cen der Biomedizin. Mitte Mai hat<br />
sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen<br />
auf eine gemeinsame Position verständigt.<br />
In ihrem Eckpunktepapier zur<br />
Gentechnikpolitik lehnt sie <strong>PID</strong> und<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung ab und fordert<br />
zudem eine Präzisierung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes,<br />
um den Umg<strong>an</strong>g mit<br />
„überzähligen“ <strong>Embryonen</strong> zu regeln.<br />
Noch nicht positioniert hat sich die<br />
PDS, doch sie scheint in dieser Frage die<br />
Ansicht der CSU und der Grünen zu<br />
teilen.<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Heft 25, 22. Juni 2001<br />
Stammzellen<br />
Was Forscher wollen,<br />
was sie dürfen<br />
Die Biomedizin weckt die Hoffnung auf neue Therapieformen.<br />
Vor allem aber löst sie ethisch begründete Vorbehalte aus.<br />
Reinhard Merkel ließ es wie Zauberei<br />
aussehen: Entnähme m<strong>an</strong> einem<br />
frühen menschlichen Embryo eine<br />
totipotente Zelle mit einer Pipette, so erklärte<br />
der Hamburger Rechtsphilosoph,<br />
und setze sie <strong>an</strong>schließend wieder <strong>an</strong><br />
ihren Platz zurück, d<strong>an</strong>n unterscheide<br />
sich dieser Zust<strong>an</strong>d in nichts von der Ausg<strong>an</strong>gssituation.<br />
Nach dem Gesetz habe<br />
m<strong>an</strong> aber das Vergehen einer „missbräuchlichen<br />
Verwendung eines menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong>“ beg<strong>an</strong>gen. Auch sei<br />
der Straftatbest<strong>an</strong>d des „Klonens“ erfüllt.<br />
Und durch die Rückführung der<br />
Zelle habe m<strong>an</strong> von zwei <strong>Embryonen</strong> einen<br />
spurlos verschwinden lassen. Mit der<br />
Absurdität dieses Exempels brachte<br />
Merkel seine Kritik am <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
(ESchG) zum Ausdruck.<br />
Blastomerenzelle = Embryo<br />
„Stammzellen und therapeutisches Klonen<br />
– Biomedizin ohne Grenzen“ hieß<br />
die Tagung in Düsseldorf, mit der<br />
das Wissenschaftszentrum Nordrhein-<br />
Westfalen eine aktuelle gesellschaftliche<br />
Diskussion aufgriff. Die Tübinger<br />
Bioethikerin Eve-Marie Engels, Mitglied<br />
im Nationalen Ethikrat, und der<br />
Rechtswissenschaftler Rüdiger Wolfrum,<br />
Vizepräsident der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG), stellten in<br />
ihren Beiträgen juristische und ethische<br />
Probleme der <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
heraus. Engels erläuterte, jede menschliche<br />
totipotente Zelle trage die Anlage,<br />
zu einem vollständigen Menschen her<strong>an</strong>zureifen,<br />
sei also bereits ein Embryo.<br />
Dies treffe auch für eine Blastomerenzelle<br />
zu. Aus dem Keimling entnommen,<br />
könne sie unter geeigneten Bedingungen<br />
zu einem menschlichen Individuum<br />
her<strong>an</strong>wachsen. Totipotente<br />
menschliche Zellen dürfen in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
kraft des ESchG ausschließlich<br />
zu ihrem eigenen Nutzen, etwa in der<br />
In-vitro-Fertilisation (IVF), verwendet<br />
werden.<br />
Die Entnahme von pluripotenten<br />
Stammzellen aus dem weiteren Ent-<br />
102
D O K U M E N T A T I O N<br />
wicklungsstadium der Blastozyste sei<br />
ebenso untersagt wie eine <strong>Embryonen</strong>herstellung<br />
zu diesem Zweck, sagte Engels.<br />
Zwar habe eine pluripotente Zelle<br />
den Status eingebüßt, ein vollständiger<br />
Embryo zu sein, ihre Gewinnung, so<br />
Engels weiter, sei jedoch nicht ohne<br />
Zerstörung oder Schädigung des Embryos<br />
möglich. Ebenfalls verboten sei<br />
die Benutzung bereits existierender, so<br />
gen<strong>an</strong>nter überzähliger <strong>Embryonen</strong> aus<br />
der IVF zur Entnahme von Stammzellen.<br />
Der Import von im Ausl<strong>an</strong>d hergestellten,<br />
pluripotenten embryonalen<br />
Stammzellen (ES-Zellen) sei ethisch<br />
bedenklich, jedoch gesetzgeberisch<br />
nicht verboten. Nun würden Entwicklungen<br />
in der Biomedizin, etwa das<br />
therapeutische Klonen, die Frage aufwerfen,<br />
ob das ESchG geändert werden<br />
solle.<br />
Wolfrum erklärte, er halte eine Änderung<br />
des Gesetzes vorerst nicht für<br />
erforderlich. Die DFG lehne therapeutisches<br />
ebenso wie reproduktives Klonen<br />
nach wie vor ab. Vorr<strong>an</strong>gig solle<br />
weiterhin die ethisch unbedenklichere<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten Stammzellen<br />
(AS-Zellen) gefördert werden. Falls<br />
sich die Notwendigkeit einer <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> ES-Zellen bestätigen sollte<br />
und die bisherigen Möglichkeiten dafür<br />
nicht ausreichen, schlage die DFG<br />
eine „zeitlich befristete“ Lockerung des<br />
ESchG vor.<br />
In der Frage des Lebensschutzes des<br />
Embryos sieht Wolfrum eine Ähnlichkeit<br />
zur Abtreibungsfrage, auch<br />
wenn bei der Stammzellforschung dem<br />
Lebensrecht des Embryos kein direktes,<br />
den vitalen mütterlichen Bedürfnissen<br />
gleichwertiges Äquivalent<br />
entgegengestellt werden könne. „Der<br />
Preis einer eingeschränkten Eröffnung<br />
dieser <strong>Forschung</strong> unter wissenschaftlicher<br />
und ethischer Kontrolle k<strong>an</strong>n gemessen<br />
<strong>an</strong> dem Schutz, den der Embryo<br />
im deutschen Recht de facto genießt,<br />
gering gehalten werden“, heißt es in<br />
seinem Thesenpapier. In der Diskussion<br />
wurde eingewendet, dass auch eine<br />
geringfügige Einschränkung des Lebensschutzes<br />
zw<strong>an</strong>gsläufig seine Vernichtung<br />
zur Folge habe. Merkel ging so<br />
weit, „ein echtes subjektives Grundrecht<br />
des Embryos auf Lebens- und<br />
Würdeschutz“ generell in Abrede zu<br />
stellen.<br />
Visionen<br />
Einen ähnlichen St<strong>an</strong>dpunkt vertrat<br />
der britische Genomforscher Austin<br />
Smith. Nach seiner Ansicht ist der Fetus<br />
bis zur Geburt noch kein Mensch,<br />
sondern lediglich als „Teil des menschlichen<br />
Lebenszyklus“ zu betrachten. Der<br />
Embryo müsse jedoch allein schon wegen<br />
seines gewaltigen Potenzials<br />
besonders geachtet und geschätzt werden.ES-Zellen,möglicherweise<br />
der „biomedizinische<br />
Rohstoff des 21. Jahrhunderts“,<br />
seien aus der inneren Zellmasse<br />
von Blastozysten leicht zu gewinnen.<br />
ES-Zellen seien fähig, sich in identische<br />
Zellen zu teilen und schier grenzenlos<br />
zu vermehren. Zugleich zeigten sie<br />
eine ausgeprägte Plastizität. Smith hofft,<br />
aus ihnen tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tierbare Ersatzgewebe<br />
zu züchten. Nach Stimulation mit<br />
Wachstumsfaktoren könnten sie in den<br />
Händen von Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationsmedizinern<br />
zu ausgezeichneten Werkzeugen<br />
werden. Bei zahlreichen bisl<strong>an</strong>g unheilbaren<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten wie Herzinfarkt,Parkinsonismus,<br />
multipler Sklerose, Typ-1-<br />
Diabetes oder Mukoviszidose seien<br />
künftig neue, sehr effektive Beh<strong>an</strong>dlungsmöglichkeiten<br />
denkbar.Schon bald<br />
könnten ES-Zellen in der pharmazeutischen<br />
<strong>Forschung</strong> eingesetzt werden.<br />
Smith führte aus, dass adulte Stammzellen<br />
sich weniger gut zur Weiterentwicklung<br />
der Gentherapie eigneten.<br />
Unter In-vitro-Bedingungen seien sie<br />
nicht so problemlos zu vermehren wie<br />
ES-Zellen. Ob die <strong>an</strong>gestrebten Differenzierungsprozesse<br />
bei ES-Zellen tatsächlich<br />
gut steuerbar und eine etwaige<br />
Onkogenität beherrschbar seien, müsse<br />
vordringlich erforscht werden. Restriktionen<br />
auf nationaler Ebene dürften die<br />
internationale Zusammenarbeit nicht<br />
behindern, so Smith.<br />
Auftragsforschung<br />
Der Bonner Neuropathologe Oliver<br />
Brüstle kritisierte die bisherigen <strong>Forschung</strong>sbedingungen<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d.<br />
In einem früheren Projekt hatte Brüstle<br />
tierische ES-Zellen zu Vorläuferzellen<br />
gezüchtet und in die Gehirne von Mäusen<br />
mit einer Markscheidenerkr<strong>an</strong>kung<br />
tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tiert. Dort war der Zellersatz<br />
zu Myelin-bildenden Stützzellen gereift.<br />
Um weitere <strong>Forschung</strong>en auch mit<br />
menschlichen ES-Zellen durchzuführen,<br />
sei er aufgrund der Gesetzeslage in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d jedoch auf Importe aus<br />
dem Ausl<strong>an</strong>d <strong>an</strong>gewiesen, sagte Brüstle.<br />
Zelllinien, aber auch Verfahren und<br />
selbst die <strong>Forschung</strong>sergebnisse, müssten<br />
dem ausländischen Partner zurückgegeben<br />
werden. „Krass gesagt, das ist<br />
Auftragsforschung für das Ausl<strong>an</strong>d“,<br />
beschrieb er die Situation. Auch um<br />
nicht in den Ruf einer – so Brüstle –<br />
„Doppelmoral“ zu geraten, möchte er<br />
die rechtlichen Grundlagen für die<br />
Stammzellforschung in Deutschl<strong>an</strong>d neu<br />
geregelt wissen.<br />
Brüstle stellte dar, warum sich ES-<br />
Zellen für die <strong>Forschung</strong> besser eigneten<br />
als AS-Zellen. Einzelne Gene könnten<br />
aus dem Kernmaterial gezielt eliminiert<br />
und ein Zellersatz zu Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationszwecken<br />
einfacher hergestellt werden.AS-Zellen<br />
seien wenig proliferativ,<br />
ihre Anreicherung in der Zellkultur bisl<strong>an</strong>g<br />
selten gelungen und die gezielte<br />
Umzüchtung (Tr<strong>an</strong>sdifferenzierung)<br />
noch wenig überzeugend.<br />
Als ein wichtiger Vorteil der AS-Zellen<br />
müsse jedoch deren immunologische<br />
Kompatibilität gesehen werden, da<br />
ihr Spender zugleich Empfänger sei.<br />
Ebenso dürfe nicht verk<strong>an</strong>nt werden,<br />
dass die <strong>Forschung</strong> mit ES-Zellen gewisse<br />
Risiken berge.Diese beträfen ihre<br />
Zelltyp-Spezifizierung und den Reinheitsgrad<br />
der verwendeten Kulturen,<br />
was vielleicht zu Teratomen (Missbildungen)<br />
führen könnte.<br />
Einen Konflikt zwischen den <strong>Forschung</strong>en<br />
<strong>an</strong> ES-Zellen und AS-Zellen<br />
gibt es nach Brüstles Einschätzung<br />
nicht. Die meisten Stammzellforscher<br />
seien <strong>an</strong> beiden Richtungen interessiert,<br />
um sie mitein<strong>an</strong>der zu vergleichen.<br />
Gewarnt werden müsse allerdings<br />
vor allzu optimistischen Erwartungen.<br />
Vor dem Einsatz beim Menschen seien<br />
viele abgestufte Vorversuche notwendig,<br />
und früheste Therapieerfolge erst in<br />
fünf bis zehn Jahren zu erwarten.<br />
Auswirkungen auf die<br />
Gesellschaft<br />
Ein entschiedenes Plädoyer für eine<br />
Beschränkung der <strong>Forschung</strong> auf AS-<br />
Zellen unternahm der amerik<strong>an</strong>ische<br />
103
D O K U M E N T A T I O N<br />
Wissenschaftsautor Jeremy Rifkin. Er<br />
wies auf Entwicklungen hin, zu denen<br />
die neuen Biowissenschaften in den <strong>an</strong>gelsächsischen<br />
Ländern bereits geführt<br />
hätten. Dort seien Patente nicht nur<br />
auf Laborverfahren und Gensequenzen,<br />
sondern auch auf Stammzelllinien<br />
und Hybridlebewesen vergeben worden.<br />
Viele Biotechnologieunternehmen<br />
versuchten, sich mit den Entwicklungen<br />
in der Biomedizin „eine goldene Nase“<br />
zu verdienen. Diese kommerziellen Interessen<br />
würden im Ringen um eine<br />
ethische und rechtliche Basis für die<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung leider allzu oft<br />
übersehen.<br />
Rifkin behauptete, die Gesellschaft<br />
setze sich ohne Not der Gefahr einer<br />
neuen, kommerziell orientierten Form<br />
der Eugenik aus.Viele Gefahren („slippery<br />
slopes“) drohten allein schon<br />
durch die imm<strong>an</strong>ente Dynamik der biomedizinischen<br />
Technologie. Jeder<br />
Schritt fordere und rechtfertige den<br />
nächsten. Aber diese Entwicklungen<br />
seien später nicht mehr rückgängig zu<br />
machen.<br />
Zu wenig beachtet werde weiterhin,<br />
dass der Verlust genetisch bedingter rezessiver<br />
Eigenschaften sich in der Evolution<br />
des Menschen nachteilig auswirken<br />
könnte. Noch schwerer wiege, dass<br />
der Versuch einer Perfektionierung des<br />
Menschen durch Genm<strong>an</strong>ipulation und<br />
Klonierung unweigerlich zu einem Verlust<br />
<strong>an</strong> Empathie, zu Geringerschätzung<br />
von Abweichung und Behinderung<br />
führe.<br />
Nach Rifkins Worten würden gesellschaftliche<br />
Ausein<strong>an</strong>dersetzungen heute<br />
weniger durch Positionen wie „rechts“<br />
oder „links“ als durch den Widerspruch<br />
zwischen „utilitaristischen und<br />
intrinsischen“ Werten geprägt. Sol<strong>an</strong>ge<br />
es für die Biowissenschaftler aussichtsreiche<br />
und ethisch unbedenklichere Alternativen<br />
wie die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> AS-<br />
Zellen gebe, sei nicht einzusehen, <strong>Embryonen</strong><br />
als Rohstoffliefer<strong>an</strong>ten für<br />
zukünftige Therapieformen zu instrumentalisieren.<br />
Ärzte seien gut beraten, sich auf den<br />
hippokratischen Eid mit seinem „primum<br />
nihil nocere“ (vor allem nicht schaden)<br />
zurück zu besinnen.Dr. med. Peter Bartm<strong>an</strong>n<br />
Heft 28–29, 16. Juli 2001<br />
Embryonale Stammzellen<br />
Entscheidung über<br />
Import vertagt<br />
SPD und Grüne haben im Bundestag die Forderung<br />
der Union nach einem Moratorium zur Einfuhr<br />
von Stammzellen zurückgewiesen. Die Deutsche<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft verhält sich bisher abwartend.<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard Schröder<br />
befürwortet die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen. Einen Import<br />
lehnt er allerdings ab. Er ist sich<br />
wohl bewusst, dass eine offene Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
dem Image der Koalition<br />
großen Schaden zufügen würde. Deshalb<br />
sprach sich die SPD gemeinsam<br />
mit den Grünen für einen Kompromiss<br />
aus: Zunächst wurde ein Antrag der<br />
CDU/CSU-Bundestagsfraktion abgelehnt.<br />
Darin heißt es: „Der Deutsche<br />
Bundestag fordert die Bundesregierung<br />
auf, bis zu einer endgültigen Entscheidung<br />
des Deutschen Bundestages sicherzustellen,<br />
dass kein Import von embryonalen<br />
Stammzellen nach Deutschl<strong>an</strong>d<br />
stattfindet, deren Gewinnung die<br />
Tötung von <strong>Embryonen</strong> voraussetzt.<br />
Der Deutsche Bundestag appelliert <strong>an</strong><br />
die Wissenschaftler in der Bundesrepublik<br />
Deutschl<strong>an</strong>d, bis zu einer entsprechenden<br />
Entscheidung des Deutschen<br />
Bundestages vom Import von und der<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
abzusehen.“<br />
Dagegen stimmte das Parlament mit<br />
der Mehrheit der Koalitionsfraktionen<br />
für einen Antrag von Bündnis 90/Die<br />
Grünen und SPD, wonach sich der Bundestag<br />
voraussichtlich im Herbst mit der<br />
Frage der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> importierten<br />
embryonalen Stammzellen unter Berücksichtigung<br />
von Stellungnahmen der<br />
Enquete-Kommission des Bundestages<br />
„Recht und Ethik der modernen Medizin“,<br />
des Nationalen Ethikrats und der<br />
Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft befassen<br />
soll. Auch in diesem Antrag wird<br />
<strong>an</strong> alle Forscher appelliert,der Entscheidung<br />
nicht durch Schaffung von vollendeten<br />
Tatsachen vorzugreifen.<br />
Sprecher der Koalitionsfraktionen<br />
wiesen darauf hin, dass die Forscher<br />
nicht zu einem Moratorium gezwungen<br />
werden könnten. Ein Importverbot sei<br />
außerdem nur bei einer entsprechenden<br />
Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
(ESchG) möglich. SPD und Grüne<br />
hatten sich jedoch darauf verständigt,<br />
das ESchG in dieser Legislaturperiode<br />
nicht mehr zu novellieren.<br />
Ein „Moratorium in recht abgeschwächter<br />
Form“, so die stellvertretende<br />
Unions-Fraktionsvorsitzende Maria<br />
Böhmer, stellt allerdings auch der Antrag<br />
der Regierungskoalition dar. Doch<br />
auch in ihrer Fraktion gibt es keine Einigkeit.<br />
Während Böhmer forderte, die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten Stammzellen stärker<br />
zu fördern und eine verbrauchende<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung abzulehnen, wollte<br />
der frühere Bundesgesundheitsminister<br />
Horst Seehofer (CSU) eine <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> Stammzellen aus überzähligen <strong>Embryonen</strong><br />
nicht ausschließen.<br />
Die SPD-Abgeordnete und Vorsitzende<br />
der Enquete-Kommission, Margot<br />
von Renesse, wies auf Versäumnisse<br />
des Parlaments hin, das die „derzeitige<br />
Hängepartie mit verschuldet“ und das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz nicht fortgeschrieben<br />
habe. Sie frage sich, „ob wir als<br />
Gesetzgeber nicht einiges verschlafen<br />
haben“.Die FDP sprach sich in einem eigenen<br />
Antrag für den Import von embryonalen<br />
Stammzellen aus. „Der Import<br />
embryonaler Stammzellen ist zum<br />
Zweck der <strong>Forschung</strong> zulässig, denn er<br />
ist laut <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz nicht<br />
verboten“, sagte die FDP-Abgeordnete<br />
Ulrike Flach. Ein Importstopp sei aus<br />
forschungspolitischer Sicht nicht vertretbar:<br />
„Wer heute ein Moratorium verab-<br />
104
D O K U M E N T A T I O N<br />
schiedet, lähmt einen g<strong>an</strong>zen <strong>Forschung</strong>szweig“,<br />
so Flach. Der Antrag der<br />
FDP wurde allerdings mit den Stimmen<br />
aller <strong>an</strong>deren Fraktionen abgelehnt.<br />
Auch der Präsident der Bundesärztekammer<br />
(BÄK), Prof. Dr. med.<br />
Jörg-Dietrich Hoppe, appellierte <strong>an</strong>lässlich<br />
der Bundestagsdebatte <strong>an</strong> die<br />
Wissenschaftler, ihren vorläufigen Verzicht<br />
auf die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen öffentlich zu erklären.<br />
„Die Zentren, die bereits solche Stammzellen<br />
importiert haben, sollten sich<br />
freiwillig einem Moratorium unterwerfen,<br />
bis der Bundestag eine eindeutige<br />
Entscheidung getroffen hat,“ forderte<br />
Hoppe. In einem Interview mit der<br />
Rheinischen Post verwies Hoppe darauf,<br />
dass er den Import embryonaler<br />
Stammzellen unter den jetzigen Umständen<br />
nicht für vertretbar hält.<br />
Ergebnisse von <strong>Forschung</strong>en <strong>an</strong> der<br />
Universität Essen könnten außerdem<br />
zu g<strong>an</strong>z neuen Überlegungen führen.<br />
Der Entwicklungsbiologe Prof. Dr.<br />
med. Dr. rer. nat. H<strong>an</strong>s-Werner Denker<br />
hält nämlich die Annahme, dass sich aus<br />
embryonalen Stammzellen keine <strong>Embryonen</strong><br />
entwickeln können, für nicht<br />
ausreichend belegt. Dazu Hoppe:<br />
„Wenn Denker Recht hat, h<strong>an</strong>delte es<br />
sich bei diesen Zellen um totipotente,<br />
also um <strong>Embryonen</strong>. Sie dürften natürlich<br />
für <strong>Forschung</strong> oder Experimente<br />
nicht zur Verfügung stehen. Wir gehen<br />
davon aus, dass Stammzellen nur noch<br />
pluripotent sind.“ Um die vielen Fragen<br />
der zellulären Entwicklungsbiologie zu<br />
klären, seien weitere intensive <strong>Forschung</strong>s<strong>an</strong>strengungen<br />
notwendig.<br />
Die DFG wartet ab<br />
Die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) hat ihre Entscheidung, ob die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzellen gefördert werden soll,<br />
nochmals vertagt. Eigentlich st<strong>an</strong>d die<br />
Beh<strong>an</strong>dlung des vor etwa einem Jahr<br />
gestellten Antrags der beiden Bonner<br />
Neuropathologen Priv.-Doz. Dr. med.<br />
Oliver Brüstle und Prof. Dr. med. Otmar<br />
Wiestler auf der Tagesordnung des<br />
DFG-Hauptausschusses am 3. Juli. Auf<br />
Vorschlag des Präsidiums wurde die Debatte<br />
darüber aber abgesetzt. Über die<br />
Vergabe von Fördermitteln für die hum<strong>an</strong>e<br />
embryonale Stammzellforschung<br />
soll nun bei der Sitzung am 7.Dezember<br />
entschieden werden – „spätestens“.<br />
Damit wird die DFG der Bitte des<br />
Nationalen Ethikrates gerecht, Zeit für<br />
die eigene Diskussion zu gewinnen. Sie<br />
wolle die von ihr gewünschte und selbst<br />
<strong>an</strong>gestoßene Diskussion nicht durch eine<br />
konkrete Förderentscheidung beeinflussen,<br />
heißt es in der Stellungnahme.<br />
Lieber wolle m<strong>an</strong> im Dezember auf der<br />
Basis der d<strong>an</strong>n geltenden Rechtslage<br />
ein Votum abgeben. Prof. Dr. Ernst-<br />
Ludwig Winnacker, Präsident der DFG,<br />
will abwarten. „Eile ist auch jetzt nicht<br />
geboten“, betonte er in Berlin. Ein Aufschub<br />
des Votums brächte keinen wesentlichen<br />
Schaden für die deutsche<br />
Wissenschaft. Der Nationale Ethikrat<br />
will sich in seiner nächsten Sitzung am<br />
27. September mit dem Thema befassen.<br />
Dies gab der Vorsitzende, Dr.<br />
Spiros Simitis, am 9. Juli in Berlin bek<strong>an</strong>nt.<br />
Der Rat wolle aber im Herbst<br />
keinem Entscheidungsgremium die<br />
Kompetenz abnehmen, sondern nur Argumente<br />
aufbereiten und der Regierung<br />
und dem Deutschen Bundestag<br />
zur Verfügung stellen, betonte Simitis.<br />
Die Forscher hingegen drängen. Die<br />
Entwicklung auf dem Gebiet der embryonalen<br />
Stammzellforschung schreite<br />
so schnell vor<strong>an</strong>,dass m<strong>an</strong> leicht den Anschluss<br />
verpassen könnte,warnte Brüstle<br />
(DÄ, Heft 24/2001). Einen Aufschub der<br />
DFG-Entscheidung hatte er bereits vor<br />
einem Monat befürchtet. Er betonte jedoch,<br />
dass er <strong>an</strong> einer offenen Diskussion<br />
und <strong>an</strong> einer tr<strong>an</strong>sparenten <strong>Forschung</strong><br />
interessiert sei. Deshalb habe er<br />
vor Beginn weiterer <strong>Forschung</strong>saktivitäten<br />
einen Antrag bei der DFG gestellt.<br />
Bisher hat Brüstle nur <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen der Maus geforscht.<br />
„Es war gut, dass die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
nicht vorzeitig Fakten<br />
geschaffen und den Förder<strong>an</strong>trag von<br />
Professor Brüstle zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> importierten<br />
Stammzellen bis zum Jahresende<br />
zurückgestellt hat“, lobte am 4. Juli<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard Schröder bei<br />
der DFG-Jahresversammlung 2001 in<br />
Berlin. „Gerade in dieser Frage, die wie<br />
kaum eine <strong>an</strong>dere das Selbstverständnis<br />
der Menschen berührt,brauchen wir eine<br />
offene und gewissenhafte Debatte sowie<br />
mehr Information und Aufklärung.“<br />
Deshalb habe er auch den Nationalen<br />
Ethikrat berufen. Allerdings solle dieser<br />
nicht stellvertretend für Politik und Gesellschaft<br />
abschließend und verbindlich<br />
entscheiden, die Diskussion könne auch<br />
nach seinem Votum kontrovers weitergeführt<br />
werden.<br />
Schröder bekräftigte, dass die Qualität<br />
der <strong>Forschung</strong> g<strong>an</strong>z wesentlich für<br />
die wirtschaftliche Entwicklung eines<br />
L<strong>an</strong>des sei. Ethische Fragen dürften<br />
nicht nach wirtschaftlichem Nutzen entschieden<br />
werden. Doch es sei klar, dass<br />
neue wissenschaftliche Erkenntnisse es<br />
erforderlich machen könnten, welt<strong>an</strong>schauliche<br />
Grundsätze neu zu bewerten.<br />
Das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz will<br />
Schröder derzeit jedoch nicht ändern.<br />
„Auf seiner Basis ist der Import embryonaler<br />
Stammzellen erlaubt“, erklärte<br />
er. „Das schafft hinreichende Sicherheit<br />
für unsere Forscher.“<br />
Embryonale Stammzellen<br />
bereits importiert<br />
Was nicht verboten ist, ist erlaubt – diesen<br />
Grundsatz nutzen einige Wissenschaftler.<br />
Sie haben hum<strong>an</strong>e embryonale<br />
Stammzellen bereits nach Deutschl<strong>an</strong>d<br />
importieren lassen, ohne dies bei<br />
der DFG zu be<strong>an</strong>tragen oder gar von<br />
ihr genehmigen zu lassen. Dies wurde<br />
wenige Tage vor der gepl<strong>an</strong>ten Entscheidung<br />
bek<strong>an</strong>nt.<br />
So bestätigten die Universitätskliniken<br />
in Lübeck, München und Köln, dass<br />
sie embryonale Stammzellen bei der<br />
Firma WiCell, USA, bestellt und von ihr<br />
erhalten haben. Die Wissenschaftler<br />
versicherten aber gleichzeitig, vor einer<br />
politischen Regelung in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
nicht <strong>an</strong> diesen Zellen zu forschen.<br />
Auch die Kieler Universität pl<strong>an</strong>te, in<br />
den nächsten Wochen embryonale<br />
Stammzellen von der australischen Firmas<br />
ES Cell International zu importieren.<br />
Außer den gen<strong>an</strong>nten Universitäten<br />
ist derzeit nicht bek<strong>an</strong>nt, dass <strong>an</strong>dere<br />
Einrichtungen in Deutschl<strong>an</strong>d bereits<br />
embryonale Stammzelllinien erworben<br />
haben. Denkbar wäre dies jedoch.<br />
Weitere Import-Anträge lägen der<br />
DFG jedoch nicht vor, bestätigte Winnacker.<br />
Gleichzeitig betonte er jedoch,<br />
dass es jederm<strong>an</strong>n frei gestellt sei, embryonale<br />
Stammzellen zu importieren,<br />
105
D O K U M E N T A T I O N<br />
da es sich dabei nicht um <strong>Embryonen</strong><br />
h<strong>an</strong>dele. Das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
würde in diesem Fall nicht greifen; die<br />
Forscher müssten demzufolge nicht einmal<br />
eine Gesetzeslücke nutzen. Für die<br />
Kontrolle des Import von embryonalen<br />
Stammzellen fühlt er sich nicht ver<strong>an</strong>twortlich:<br />
„Wir sind keine <strong>Forschung</strong>spolizei.“<br />
Der DFG-Präsident schlug<br />
deshalb vor, die Arbeit <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen von einer unabhängigen<br />
Kommission überwachen zu lassen,<br />
ähnlich der Zentralen Kommission für<br />
biologische Sicherheit. Diese solle die<br />
Heft 33, 17. August 2001<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz<br />
Die Eigenver<strong>an</strong>twortung von Patientinnen<br />
und Patienten ist in der<br />
Medizinethik ein maßgebendes<br />
Leitbild geworden. Voraussetzung dafür<br />
sind Aufklärung und Beratung, die<br />
in der Reproduktions- und Pränatalmedizin<br />
unter dem Aspekt des <strong>Embryonen</strong>schutzes<br />
einen besonders hohen<br />
Stellenwert besitzen. So wird in der gegenwärtig<br />
geführten Diskussion über<br />
eine Zulassung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) in Deutschl<strong>an</strong>d immer<br />
wieder auf das Erfordernis einer<br />
Pflichtberatung verwiesen. Die Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
mit deren Inhalt droht dabei<br />
aber ebenso zu kurz zu kommen wie<br />
der Blick auf Defizite in vergleichbaren<br />
Konfliktsituationen.<br />
Hohe Anforderungen <strong>an</strong> die<br />
Qualität der Aufklärung<br />
Eine <strong>an</strong>gemessene Aufklärung ist notwendige<br />
Voraussetzung der rechtlich<br />
wirksamen Einwilligung von Patienten<br />
Rahmenbedingungen für den Import<br />
und die Arbeit <strong>an</strong> den Zellen festlegen<br />
und von einem Genehmigungsverfahren<br />
abhängig machen. Die DFG kümmere<br />
sich um die Anträge und die Einhaltung<br />
von wissenschaftlichen, ethischen<br />
und rechtlichen Grundlagen dieser<br />
Anträge. „Als Verteiler staatlicher<br />
Mittel zielt unser Einsatz darauf ab, die<br />
Stammzellforschung nicht in den privaten<br />
Sektor abzudrängen, sondern in der<br />
gebotenen Tr<strong>an</strong>sparenz stattfinden zu<br />
lassen“, betonte der DFG-Präsident.<br />
Gisela Klinkhammer/Dr. med. Eva A. Richter<br />
Keine Entscheidung ohne<br />
qualifizierte Beratung<br />
Bei Schw<strong>an</strong>gerschaftskonflikten nach pränataler Diagnostik<br />
und auch im Falle der Zulassung von Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sind eine <strong>an</strong>gemessene Aufklärung sowie eine<br />
Pflichtberatung erforderlich.<br />
in eine diagnostische oder therapeutische<br />
ärztliche Intervention. Die Anforderungen<br />
<strong>an</strong> die Qualität der Aufklärung<br />
sind umso höher,<br />
– je folgenschwerer die Intervention<br />
sein k<strong>an</strong>n (im Sinne von Risiken sowie<br />
psychischen Belastungen für die Patientin<br />
oder den Patienten selbst, aber<br />
auch für vorgeburtliches menschliches<br />
Leben),<br />
– je größer der Entscheidungsspielraum<br />
ist (aufgrund der Möglichkeit, medizinisch,<br />
aber auch ethisch gleichr<strong>an</strong>gige<br />
oder zumindest erwägenswerte alternative<br />
Optionen in Anspruch zu nehmen),<br />
und<br />
– je komplexer und ferner vom jeweiligen<br />
intuitiven Vorverständnis der Ablauf<br />
und die möglichen Folgen der Intervention<br />
sind.<br />
Diesen Kriterien gemäß sind die Anforderungen<br />
<strong>an</strong> die Beratung in der Reproduktions-<br />
und Pränatalmedizin besonders<br />
hoch. Deshalb muss ärztliche<br />
Beratung in ihrem Umf<strong>an</strong>g, im Spektrum<br />
der vermittelten Inhalte und in der<br />
Qualifikation der Berater höchsten<br />
Maßstäben genügen. Sie bedarf spezifischer<br />
berufsrechtlicher Ver<strong>an</strong>kerung<br />
und einer entsprechend qualifizierenden<br />
Unterweisung. Ziel dieser Regelungen<br />
und ihrer praktischen Umsetzung muss<br />
es sein, bei den Ratsuchenden einen als<br />
Grundlage autonomer Entscheidungen<br />
hinreichenden Kenntnisst<strong>an</strong>d über die<br />
medizinischen Fakten, die möglichen sozialen<br />
Folgen sowie über die ethischen<br />
und rechtlichen Probleme zu vermitteln.<br />
Von zentraler Bedeutung ist dafür<br />
die Verpflichtung sowohl der auf diesem<br />
Gebiet tätigen medizinischen Einrichtungen,<br />
geeignete Beratungs<strong>an</strong>gebote<br />
sicherzustellen, als auch der Ratsuchenden,<br />
diese Angebote tatsächlich<br />
wahrzunehmen. Eine solche Pflichtberatung<br />
ist so auszugestalten, dass sie die<br />
Entscheidungsfreiheit der Frau und der<br />
Familie nicht einschränkt. Daher ist eine<br />
möglichst umfassende und zugleich<br />
ergebnisoffene Beratung erforderlich.<br />
Bei reproduktionsmedizinischen Fragen<br />
kommt einer solchen Beratung besonderes<br />
Gewicht zu, weil Entscheidungen<br />
für oder gegen diese Verfahren stets<br />
Dritte mitbetreffen, nämlich das ungeborene<br />
Leben und Angehörige.<br />
Diagnostik im reproduktionsmedizinischen<br />
Kontext geht über die übliche<br />
medizinische Diagnostik hinaus. Das bedeutet,<br />
dass nicht nur vor einer Diagnostik<br />
individuell beraten werden muss,<br />
sondern dass auch die Ergebnisse der<br />
Der Beitrag wurde von der Arbeitsgruppe<br />
„Reproduktionsmedizin und<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz“ der Akademie für<br />
Ethik in der Medizin verfasst: Dr. theol.<br />
Markus Babo, M.A., Katholisches Pfarramt<br />
Gommiswald/Schweiz; Ass. jur. Urs Peter<br />
Böcher, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht,<br />
Universität Mainz; Priv.-Doz. Dr.<br />
med. Wolfram Henn, Institut für Hum<strong>an</strong>genetik,<br />
Universität des Saarl<strong>an</strong>des; Prof. Dr. phil.<br />
Dipl.-Biol. Uwe Körner, Universitätsklinikum<br />
Charité, Humboldt-Universität zu Berlin; Prof.<br />
Dr. theol. Hartmut Kreß, Abt. Sozialethik,<br />
Ev<strong>an</strong>g.-Theol. Fakultät, Universität Bonn; Prof.<br />
Dr. sc. agr. H<strong>an</strong>s-Wilhelm Michelm<strong>an</strong>n, Frauenklinik,<br />
Universität Göttingen; Dr. med. M.A.<br />
phil. Fuat S. Oduncu, Medizinische Klinik, Klinikum<br />
der Universität München – Innenstadt, Dr.<br />
phil. Alfred Simon, Akademie für Ethik in der<br />
Medizin e.V.; Prof. Dr. jur. Christi<strong>an</strong>e Wendehorst,Abt.<br />
für Arzt- und Arzneimittelrecht, Juristisches<br />
Seminar, Universität Göttingen; Dipl.-<br />
Biol. Christa Wewetzer, Zentrum für Gesundheitsethik,<br />
Ev<strong>an</strong>gelische Akademie Loccum<br />
106
D O K U M E N T A T I O N<br />
Diagnostik <strong>an</strong>schließend in interpretierenden<br />
Beratungsgesprächen erörtert<br />
werden müssen [1].<br />
Derzeit ist noch nicht entschieden, ob<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d die <strong>PID</strong> zugelassen wird.<br />
1. Für den Fall einer Zulassung nennt<br />
der Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer<br />
(BÄK) [2] Mindestst<strong>an</strong>dards<br />
für die Beratung im Zusammenh<strong>an</strong>g mit<br />
der <strong>PID</strong>, die keinesfalls unterschritten<br />
werden dürfen. Gefordert ist in diesem<br />
Diskussionspapier die Beteiligung von<br />
Hum<strong>an</strong>genetikern und Gynäkologen<br />
am Beratungsprozess. Darüber hinaus<br />
muss auch psychosoziale und ethische<br />
Beratungskompetenz eingebracht werden.<br />
Zur Forderung des Entwurfs, in der<br />
Beratung als zur <strong>PID</strong> alternative H<strong>an</strong>dlungsoptionen<br />
zum Beispiel „Adoption<br />
oder Verzicht auf eigene Kinder“ und<br />
„im Falle einer Schw<strong>an</strong>gerschaft die<br />
Möglichkeit zur pränatalen Diagnostik“<br />
darzustellen, müssen als weitere Alternativen<br />
ergänzt werden: „Realisierung<br />
des Kinderwunsches im Bewusstsein des<br />
individuellen Risikos von Kindern des<br />
Paares für die in Rede stehende Kr<strong>an</strong>kheit“<br />
sowie „Möglichkeit der heterologen<br />
Fertilisation (Insemination beziehungsweise<br />
– falls künftig zugelassen –<br />
Eizellspende)“. Zudem müssen ethische,<br />
psychosoziale und rechtliche Aspekte<br />
der <strong>PID</strong> und der verfügbaren Alternativen<br />
thematisiert werden. Zu den ethischen<br />
Aspekten gehört der Sachverhalt,<br />
dass durch die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
der embryonale Lebensschutz relativiert<br />
wird.<br />
Schutz<br />
von vorgeburtlichem Leben<br />
Die grundsätzlich zu fordernde Trias<br />
Beratung – Diagnostik – Beratung k<strong>an</strong>n<br />
im biologisch vorgegebenen engen zeitlichen<br />
Rahmen einer <strong>PID</strong> <strong>an</strong> praktische<br />
Grenzen stoßen. Umso umfassender<br />
müssen in der Beratung vor der <strong>PID</strong> die<br />
aus der künstlichen Befruchtung und<br />
der Diagnostik resultierenden H<strong>an</strong>dlungsoptionen<br />
erörtert werden.<br />
2. Für den Fall, dass die <strong>PID</strong> in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d nicht zugelassen wird,<br />
muss die Tatsache berücksichtigt werden,<br />
dass für <strong>an</strong> Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
interessierte Paare Angebote<br />
im Ausl<strong>an</strong>d verfügbar sein werden. Dabei<br />
ist zu befürchten, dass <strong>an</strong> <strong>PID</strong> <strong>an</strong>bietenden,<br />
zum Teil privatwirtschaftlichen<br />
Einrichtungen im Ausl<strong>an</strong>d die als erforderlich<br />
<strong>an</strong>zusehende Beratungsqualität<br />
nicht immer gewährleistet sein wird.<br />
Insbesondere ethische Probleme und<br />
alternative H<strong>an</strong>dlungsoptionen zur<br />
<strong>PID</strong> werden oft nicht aufgezeigt.<br />
Deshalb muss auch für diesen Fall<br />
qualifizierten Beratungseinrichtungen<br />
die Möglichkeit eingeräumt werden,<br />
Paare mit dem Wunsch nach <strong>PID</strong> zu betreuen<br />
und ergebnisoffen zu beraten.<br />
Das setzt voraus, dass auch bei einem<br />
Verbot von <strong>PID</strong> Ärzte, die über <strong>PID</strong> im<br />
Ausl<strong>an</strong>d informieren und die Paare beraten,<br />
nicht von Strafe bedroht sein dürfen.<br />
Umgekehrt darf sich ein Arzt aber<br />
auch nicht dadurch strafbar oder haftbar<br />
machen, dass er dies unterlässt.<br />
Im Zuge der Reform des § 218 StGB<br />
ist die embryopathische Indikation für<br />
den Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch abgeschafft<br />
worden. Die früher von der embryopathischen<br />
Indikation umfassten<br />
Problemstellungen sind seither faktisch<br />
in die medizinische Indikation aufgenommen<br />
worden. Dadurch sind für den<br />
Fall der pränatalen Diagnose einer<br />
Schädigung des ungeborenen Kindes<br />
keine spezifischen Beratungsverfahren<br />
gesetzlich vorgeschrieben. Die bestehenden<br />
Richtlinien zur pränatalen Diagnostik<br />
[3] sind offensichtlich nicht ausreichend,<br />
da in der Praxis nur wenige<br />
Schw<strong>an</strong>gere nach pathologischem Befund<br />
einer Pränataldiagnostik genetisch<br />
beraten werden.<br />
Weil von den Befürwortern der <strong>PID</strong><br />
die Pflichtberatung als eine Voraussetzung<br />
für deren Zulassung <strong>an</strong>gesehen<br />
wird, würde sich ohne eine gleichartige<br />
Beratung nach Pränataldiagnostik ein<br />
Wertungswiderspruch ergeben. Es wäre<br />
nicht nachvollziehbar, warum die Beratung<br />
als Instrument auch des Schutzes<br />
ungeborenen Lebens im Rahmen einer<br />
vorh<strong>an</strong>denen Schw<strong>an</strong>gerschaft einen<br />
niedrigeren Stellenwert haben sollte als<br />
präkonzeptionell. Zumal die Pränataldiagnostik,<br />
die zu einem sehr viel späteren<br />
Zeitpunkt als die <strong>PID</strong> stattfindet,<br />
Feten betrifft, welche mit Blick auf Gehirnbildung<br />
und Schmerzempfindung<br />
bereits weit entwickelt sind. Das moralische<br />
Anliegen des Schutzes von individuellem<br />
vorgeburtlichem Leben ist bei<br />
der Pränataldiagnostik insofern noch<br />
deutlicher als bei der <strong>PID</strong> berührt.Auch<br />
gegenüber der in § 218 a Abs. 1 StGB<br />
festgelegten „Fristenregelung mit Beratungspflicht“<br />
ist das Fehlen einer korrespondierenden<br />
Pflichtberatung in einem<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftskonflikt bei pränatal<br />
diagnostizierter zu erwartender<br />
Behinderung des ungeborenen Kindes<br />
als eine ethisch inakzeptable Benachteiligung<br />
behinderten Lebens <strong>an</strong>zusehen.<br />
Weiterhin zeigen sich im Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
mit pränatalen Screeningtests, wie<br />
dem „Triple-Screening“, empfindliche<br />
Defizite in der Schw<strong>an</strong>gerenberatung.<br />
Diese Tests zielen auf eine Risikoerkennung<br />
für genetisch bedingte Schädigungen<br />
des ungeborenen Kindes, speziell<br />
Chromosomen<strong>an</strong>omalien. Da sie bei bestimmter<br />
Risiko<strong>an</strong>zeige eine invasive<br />
Pränataldiagnostik mit der Option des<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs nach sich<br />
ziehen, stehen sie beim Beratungsbedarf<br />
nicht der allgemeinen Schw<strong>an</strong>gerschaftsüberwachung,<br />
sondern der genetischen<br />
Pränataldiagnostik nahe. Folglich sind<br />
für diese Screeningtests <strong>an</strong>aloge Aufklärungsst<strong>an</strong>dards<br />
unabdingbar wie für<br />
die Pränataldiagnostik selbst. Insbesondere<br />
ist erforderlich,dass – entgegen verbreiteter<br />
Praxis – jede Schw<strong>an</strong>gere vor<br />
einem Screeningtest wie vor einer Pränataldiagnostik<br />
spezifisch über dessen<br />
medizinische und ethische Implikationen<br />
aufgeklärt werden muss und ihre<br />
Einwilligung schriftlich erklärt.<br />
In der politischen Realität ist auf allen<br />
Seiten große Zurückhaltung zu verspüren,<br />
den mühsam erarbeiteten Konsens<br />
zum § 218 StGB durch erneute Reformbemühungen<br />
aufs Spiel zu setzen.<br />
Dennoch machen die bestehenden Defizite<br />
in der Beratung im Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
mit der Pränataldiagnostik und<br />
deren Inkonsistenz mit Prinzipien des<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzes eine Diskussion<br />
notwendig, wie auch hier eine für Ärzte<br />
und Schw<strong>an</strong>gere verpflichtende Beratung<br />
<strong>an</strong>gemessener Qualität sichergestellt<br />
werden k<strong>an</strong>n.<br />
Beratung in zugelassenen<br />
Einrichtungen<br />
Eine Möglichkeit, dies ohne die keinesfalls<br />
<strong>an</strong>zustrebende Wiedereinführung<br />
einer embryopathischen Indikation<br />
zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch zu errei-<br />
107
D O K U M E N T A T I O N<br />
chen, wäre eine bescheinigungspflichtige<br />
problembezogene Schw<strong>an</strong>gerenkonfliktberatung<br />
auch vor Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüchen<br />
aus medizinischer Indikation.<br />
Ohne eine solche Beratung<br />
sollte der Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch nur<br />
d<strong>an</strong>n nicht rechtswidrig sein, wenn mit<br />
dem Aufschub durch die Beratung eine<br />
vitale Bedrohung für die Schw<strong>an</strong>gere<br />
verbunden wäre.<br />
Die Pflichtberatung zu medizinischen<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftskonflikten sollte<br />
hierfür zugelassenen Einrichtungen<br />
vorbehalten bleiben, die <strong>an</strong>gemessene<br />
Kompetenzen auf medizinischem, aber<br />
auch psychosozialem und ethischem<br />
Gebiet vorweisen können.<br />
Literatur<br />
1. Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische<br />
Fragen der Gesellschaft für Hum<strong>an</strong>genetik e.V.<br />
(1996): Positionspapier. Med. Genetik 8: 125–131.<br />
2. Bundesärztekammer: Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik. Dt Ärztebl<br />
2000; 97: A 525–528 [Heft 9].<br />
3. Bundesärztekammer: Richtlinien zur pränatalen Diagnostik<br />
von Kr<strong>an</strong>kheiten und Kr<strong>an</strong>kheitsdispositionen.<br />
Dt Ärztebl 1998; 95: A 3236–3242 [Heft 50].<br />
Anschrift für die Verfasser:<br />
Priv.-Doz. Dr. med. Wolfram Henn<br />
Institut für Hum<strong>an</strong>genetik, Universitätskliniken<br />
Bau 68, 66421 Homburg/Saar<br />
E-Mail: wolfram.henn@med-rz.uni-saarl<strong>an</strong>d.de<br />
Heft 33, 17. August 2001<br />
Stammzellforschung<br />
„Ethik des Heilens“<br />
George W. Bush hat es sich nicht leicht<br />
gemacht mit seiner Einstellung zu<br />
menschlichen <strong>Embryonen</strong>. In einer<br />
Fernseherklärung schilderte er letzte<br />
Woche ausführlich seinen Meinungsbildungsprozess.<br />
„Ist ein Embryo im<br />
frühen Stadium bereits menschliches<br />
Leben“, fragte sich der amerik<strong>an</strong>ische<br />
Präsident. Nach vielen Gesprächen mit<br />
Naturwissenschaftlern, Ärzten und<br />
Theologen kam er zu der Ansicht: „Jeder<br />
Embryo ist einzigartig wie eine<br />
Schneeflocke und besitzt das einzigartige<br />
genetische Potenzial zu einem individuellen<br />
menschlichen Wesen.“ Auch<br />
auf die Frage, ob m<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> nicht<br />
für „höhere Zwecke“ benutzen dürfe,<br />
wenn sie doch in jedem Fall zerstört<br />
würden, habe er verschiedene Antworten<br />
erhalten. Bush verweist auf die moralischen<br />
Gefahren bei der <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen. In diesem<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g sprach er sich entschieden<br />
gegen das Klonen von Menschen<br />
aus. Ohne moralisches Dilemma<br />
könne nur <strong>an</strong> Plazentazellen und <strong>an</strong><br />
adulten Stammzellen geforscht werden,<br />
was deshalb auch mit Bundesmitteln<br />
unterstützt werden soll.<br />
Wegen seiner zahlreichen Bedenken<br />
spricht sich Bush gegen eine <strong>Forschung</strong>sförderung<br />
mit gezüchteten Linien<br />
aus. Die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> Experimenten<br />
mit bestehenden Linien embryonaler<br />
Stammzellen soll dagegen gefördert<br />
werden, „da die Entscheidung über Leben<br />
und Tod hier bereits vollzogen ist“.<br />
Nach Auskunft führender Wissenschaftler<br />
böten diese 60 Linien sehr<br />
gute Aussichten auf einen Durchbruch<br />
im Bereich der Entwicklung neuer<br />
Heilverfahren. Wie Bundesk<strong>an</strong>zler<br />
Gerhard Schröder ist er also Verfechter<br />
einer „Ethik des Helfens und Heilens.“<br />
Gemessen am Beschluss des diesjährigen<br />
Ärztetages in Ludwigshafen<br />
hätte Bushs (fauler) Kompromiss keinen<br />
Best<strong>an</strong>d. Dort hatten die Delegierten<br />
der Herstellung, dem Import und<br />
der Verwendung embryonaler Stammzellen<br />
(derzeit) eine eindeutige Absage<br />
erteilt.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Heft 37, 14. September 2001<br />
Hum<strong>an</strong>ismusstreit<br />
Vom Überschreiten des Rubikon<br />
In der derzeitigen Debatte über medizinethische Fragen wird nicht nur über das<br />
Pro und Kontra von Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik und embryonaler Stammzellforschung,<br />
sondern auch über den Wert und die Würde menschlichen Lebens diskutiert.<br />
Vor etwa einem Jahr ging Prof. Dr.<br />
phil. Dr. h. c. mult. Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald<br />
mit einem jungen amerik<strong>an</strong>ischen<br />
Juristen durch Berlin. Dieser habe<br />
ihm einen Kummer <strong>an</strong>vertraut, über<br />
den er offenkundig schon länger nachgedacht<br />
hatte.Er komme nicht über den<br />
Ged<strong>an</strong>ken hinweg, sagte er, dass seine<br />
Generation die letzte sein werde, die<br />
auf natürlichem Weg gezeugt worden<br />
war. Über diese Episode berichtet<br />
Frühwald, Präsident der Alex<strong>an</strong>der von<br />
108<br />
Humboldt-Stiftung und früherer Präsident<br />
der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG), in der jüngsten Ausgabe<br />
von „Wirtschaft & Wissenschaft“, der<br />
Zeitschrift des Stifterverb<strong>an</strong>des für die<br />
deutsche Wissenschaft. Er selbst hielt<br />
die Angst des jungen M<strong>an</strong>nes zunächst<br />
für „ein Produkt ausgedehnter Science-<br />
Fiction-Lektüre“. Inzwischen scheint<br />
sie ihm jedoch alles <strong>an</strong>dere als abwegig.<br />
In mehreren Beiträgen äußerte er seine<br />
Befürchtungen, die offenbar von einer<br />
Ansprache des Präsidenten der Max-<br />
Pl<strong>an</strong>ck-Gesellschaft zur Förderung der<br />
Wissenschaften, Prof. Dr. rer. nat. Hubert<br />
Markl, ausgelöst worden waren.<br />
Markl hatte sich bei der Hauptversammlung<br />
seiner Gesellschaft am 22. Juni<br />
gegen den Bundespräsidenten und die<br />
Auffassungen der beiden großen christlichen<br />
Kirchen gew<strong>an</strong>dt und dezidiert deren<br />
Welt<strong>an</strong>schauung widersprochen. Joh<strong>an</strong>nes<br />
Rau hatte sich in seiner Berliner<br />
Rede am 18. Mai für eine Beibehaltung
D O K U M E N T A T I O N<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes ausgesprochen.<br />
„Auch hochr<strong>an</strong>gige Ziele wissenschaftlicher<br />
<strong>Forschung</strong> dürfen nicht<br />
darüber bestimmen, ab w<strong>an</strong>n menschliches<br />
Leben geschützt werden soll“, sagte<br />
Rau. Für Markl dagegen ist eine „befruchtete<br />
Eizelle noch l<strong>an</strong>ge kein<br />
Mensch, jedenfalls nicht als eine naturwissenschaftlich<br />
begründete Tatsache; allenfalls<br />
d<strong>an</strong>n, wenn wir dem Begriff<br />
,Mensch‘ – und zwar durchaus willkürlich<br />
– eine g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>dere Bedeutung zuweisen“.<br />
Jeder lebende Mensch gehöre zwar<br />
biologisch zur Art Homo sapiens. „Aber<br />
Menschlichkeit, Menschenwürde, ja<br />
recht eigentlich Menschsein ist mehr als<br />
dies Faktum, es ist eine kulturell-sozial<br />
begründete Attribution, die sich in der<br />
Begriffsbegründung zwar sehr wohl biologischer<br />
Fakten bedienen k<strong>an</strong>n, ja muss,<br />
die sich aber in ihnen nicht erschöpft.“<br />
Zwar müsse der „Umg<strong>an</strong>g mit Menschenembryonen<br />
<strong>an</strong>deren Normen unterworfen<br />
werden als der mit Mäuseembryonen“,<br />
doch der „Akt der Zuschreibung<br />
des vollgültigen Menschseins wird<br />
durchaus verschieden begründet“. Das<br />
sei auch der deutschen Rechtsprechung<br />
und Lebenspraxis alles <strong>an</strong>dere als<br />
fremd, sonst wäre nach Auffassung<br />
Markls die weitgehende rechtsfriedliche<br />
Regelung von Abtreibungen und die allgemein<br />
akzeptierte Verwendung von<br />
einnistungshemmenden Mitteln zur Geburtenkontrolle<br />
gar nicht möglich.<br />
Der Beschluss des britischen Gesetzgebers,<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> und mit menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> und mit Zellkulturen<br />
aus solchen <strong>Embryonen</strong> bis hin zum therapeutischen<br />
Klonen in den ersten beiden<br />
Lebenswochen unter sorgfältig zu<br />
begründenden und kontrollierten Bedingungen<br />
freizugeben, bedeutet für<br />
Markl keine Verabschiedung Großbrit<strong>an</strong>niens<br />
aus der abendländischen<br />
Wertegemeinschaft. Dass „willkürliche<br />
Entscheidungen – wie jene der Dreimonatsgrenze<br />
in der Abtreibung – unvermeidlich<br />
sind, sollte bei genauerem<br />
Überlegen gerade als Ausdruck<br />
menschlicher Gewissensfreiheit und<br />
moralischer Ver<strong>an</strong>twortlichkeit gesehen<br />
werden“. In diesem Zusammenh<strong>an</strong>g bekennt<br />
sich Markl zur „Freiheit eines<br />
Nichtchristenmenschen“. Wenn es um<br />
bioethische Entscheidungen gehe, die<br />
vor allem Beginn und Ende des Lebens<br />
beträfen, müsse der Gewissens- und<br />
H<strong>an</strong>dlungsfreiheit des einzelnen Menschen<br />
in einer freien Gesellschaft ein<br />
hoher R<strong>an</strong>g eingeräumt werden. „Damit<br />
ist nicht nur die Freiheit von Eltern,<br />
insbesondere von Müttern gemeint,<br />
sich, wenn Präimpl<strong>an</strong>tations- oder Pränataldiagnostik<br />
schwere Entwicklungsstörungen<br />
einer Leibesfrucht erwarten<br />
lässt, nach ärztlicher Beratung für oder<br />
gegen deren Austragen zu entscheiden.“<br />
Markl fühlt sich von „sozialethischen<br />
Argumenten“ der Art geschreckt, es<br />
könnte die Stimmung in der Bevölkerung<br />
für oder gegen Behinderte beeinflussen,<br />
wenn es Müttern frei überlassen<br />
werde, solche schweren Entscheidungen<br />
zu treffen. Dabei werde nämlich<br />
verk<strong>an</strong>nt, dass die meisten Behinderungen<br />
nicht <strong>an</strong>geboren seien. Selbst<br />
von den <strong>an</strong>geborenen Fällen könnten<br />
auch künftig viele keineswegs viel<br />
früher erk<strong>an</strong>nt werden. „An Behinderten<br />
wird es der Gesellschaft also bestimmt<br />
nicht m<strong>an</strong>geln.“<br />
Am Ende des Lebens treffe er ebenfalls<br />
seine Entscheidung als „freier<br />
selbst entscheidungsberechtigter Staatsbürger“.<br />
Ausdrücklich begrüßt Markl<br />
deshalb die niederländische Euth<strong>an</strong>asiegesetzgebung.<br />
Das holländische Parlament<br />
habe „den hohen Wert der Freiheit<br />
des Menschen, über sich selbst zu<br />
entscheiden, trotz aller Anfeindungen,<br />
mutig <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt“.<br />
Innere Zerreißprobe<br />
Der Präsident der Max-Pl<strong>an</strong>ck-Gesellschaft<br />
stimmte auch den Empfehlungen<br />
der DFG zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen vom 3. Mai „aus voller<br />
Überzeugung zu“. In Anspielung auf die<br />
Rede Raus, der vor einem Überschreiten<br />
des Rubikon gewarnt hatte, sagte<br />
Markl: „Der Rubikon ist kein Fluss, jenseits<br />
dessen das Böse lauert; denn das<br />
Böse ist, wenn schon, d<strong>an</strong>n längst immer<br />
mitten in uns. Der Rubikon ist vielmehr<br />
ein Fluss, dem der Mensch ständig selber<br />
ein neues Flussbett bahnen muss,<br />
weil er das Vertraute vom Unentschlossenen<br />
trennt, und den wir deshalb nur<br />
wohlbedacht und mit Ver<strong>an</strong>twortung für<br />
unser H<strong>an</strong>deln überschreiten sollten.“<br />
Frühwald fühlte sich durch die Ausführungen<br />
Markls zu einer Erwiderung<br />
herausgefordert. Nach seiner Auffassung,<br />
die er in einem Interview mit der<br />
Zeitschrift „<strong>Forschung</strong> & Lehre“ darlegte,<br />
geht es bei der Diskussion über<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
„schon längst um viel mehr“. Es<br />
gehe nämlich um die Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
zwischen einem „christlichen, zumindest<br />
k<strong>an</strong>ti<strong>an</strong>ischen Menschenbild<br />
auf der einen Seite und einem szientistischen,<br />
sozialdarwinistischen Menschenbild<br />
auf der <strong>an</strong>deren Seite“. Der ausgebrochene<br />
„Kulturkampf“ (oder „Hum<strong>an</strong>ismusstreit“,<br />
wie die Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
inzwischen bezeichnet wird)<br />
werde so rasch nicht enden.<br />
Frühwald schlägt sich in diesem<br />
Streit unmissverständlich auf die Seite<br />
des „keineswegs forschungsfeindlichen<br />
Bundespräsidenten“. Dabei betont er,<br />
dass er die DFG mit ihrer Entscheidung<br />
nicht kritisiert, weil die <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
vor einer inneren Zerreißprobe<br />
stehe. In Ländern, in denen<br />
zum Beispiel der Embryo in den ersten<br />
14 Tagen seiner Entwicklung keine<br />
menschliche Würde zugesprochen<br />
bekäme, sei auch „nicht die pure Barbarei<br />
ausgebrochen“. Im Unterschied<br />
zum therapeutischen Nihilismus des 19.<br />
Jahrhunderts, in dem das Experiment<br />
um des Experimentes willen gepflegt<br />
wurde, sei heute die medizinische<br />
Grundlagenforschung, auch und gerade<br />
im Bereich der Stammzellenforschung,<br />
auf therapeutische Ziele ausgerichtet.<br />
Allerdings sei die experimentelle<br />
Wissenschaft heute dabei, durch jeweils<br />
neu geschaffene Fakten die Grenzen<br />
immer weiter in ihrem Sinne hinauszuschieben<br />
und damit den Verdacht zu<br />
erwecken, die <strong>Forschung</strong>sfreiheit als<br />
einen absoluten Wert auch der Menschenwürde<br />
überzuordnen.<br />
Wiederholt werde als Argument für<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
die Internationalität der <strong>Forschung</strong><br />
ins Feld geführt. Doch dies ist<br />
nach Auffassung Frühwalds ein ausschließlich<br />
wirtschaftliches Argument:<br />
„Es geht um den Vorsprung im Wettbewerb,<br />
um Verwertungsinteressen.“<br />
Doch bei Fragen um Menschenwürde<br />
und Lebensdefinitionen könnten wirtschaftliche<br />
Interessen nicht die primär<br />
bestimmenden Interessen sein.<br />
Die Behauptung, weil die Gesellschaft<br />
die In-vitro-Fertilisation billige<br />
und damit „überzählige“ <strong>Embryonen</strong><br />
109
D O K U M E N T A T I O N<br />
in Kauf nehme, dürfe jetzt auch <strong>an</strong> ihnen<br />
geforscht werden, bezeichnet<br />
Frühwald als „baren Utilitarismus“.<br />
An ihnen zu forschen bedeute, sie zu<br />
einem ihnen fremden Zweck zu instrumentalisieren.<br />
Das aber sei ein Verstoß<br />
gegen die menschliche Würde.<br />
Dr. theol. Wolfg<strong>an</strong>g Huber, ev<strong>an</strong>gelischer<br />
Bischof von Berlin-Br<strong>an</strong>denburg<br />
und Mitglied des Nationalen Ethikrats,<br />
teilt die Befürchtungen Frühwalds. „Wir<br />
stehen unausweichlich vor der Frage, <strong>an</strong><br />
welchen Grundsätzen wir uns orientieren<br />
wollen“, schrieb er Anf<strong>an</strong>g August<br />
in der Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeinen Zeitung.<br />
Seine Auffassung dazu ist: „Der<br />
Grundsatz der un<strong>an</strong>tastbaren Menschenwürde<br />
verpflichtet dazu, menschliches<br />
Leben insgesamt nicht zu instrumentalisieren;<br />
den Menschen auch in<br />
den frühesten Entwicklungsstufen des<br />
vorgeburtlichen Lebens niemals nur als<br />
Mittel zu fremden Zwecken einzusetzen.“<br />
Der Hinweis darauf, dass ein Embryo<br />
im Mutterleib vor der Nidation<br />
relativ schutzlos sei, sei keine Rechtfertigung<br />
dafür, dass der Forscher mit dem<br />
Embryo in der Petrischale machen dürfe,<br />
was ihm gefällt.<br />
Der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik könne<br />
aus ethischen Gründen nicht zugestimmt<br />
werden, „weil sie gegen die Tendenz<br />
zu einer aktiven Vorselektion<br />
menschlichen Lebens nicht abzugrenzen<br />
ist“. Im Gegensatz zu Markl ist Huber<br />
der Ansicht, dass durch dieses<br />
Verfahren behindertem Leben nur ein<br />
geminderter Lebensschutz zuerk<strong>an</strong>nt<br />
werde. In der Frage der <strong>Forschung</strong> mit<br />
embryonalen Stammzellen bezieht der<br />
Theologe ebenfalls eine eindeutige Position:<br />
„Es k<strong>an</strong>n nicht nur um eine Abwägung<br />
der Menschenwürde gegen <strong>an</strong>dere<br />
Güter gehen.“ Wer heute der embryonalen<br />
Stammzellforschung zustimme,<br />
werde sich morgen dem therapeutischen<br />
Klonen nicht verweigern können.<br />
Und wer therapeutisches Klonen betreibe,<br />
habe den Weg zum reproduktiven<br />
Klonen bereits beschritten. Denen,<br />
die einen nächsten Schritt befürchten,<br />
werde beruhigend gesagt, einen solchen<br />
Schritt habe niem<strong>an</strong>d im Sinn. „Wird<br />
auch nicht im Nachhinein gesagt werden,<br />
,leider‘ habe m<strong>an</strong> zu einem früheren<br />
Zeitpunkt den ,Rubikon‘ überschritten,<br />
nun sei kein Halten mehr“<br />
fragt Huber. Gisela Klinkhammer<br />
Heft 39, 28. September 2001<br />
Embryonale Stammzellforschung<br />
Unterschiedliche<br />
Wertvorstellungen<br />
Mit der internationalen Regelung der <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen beschäftigte<br />
sich unter <strong>an</strong>derem ein Symposium in H<strong>an</strong>nover.<br />
Möglichkeiten und Grenzen der<br />
Stammzellforschung – das war<br />
das Thema eines Hearings, das<br />
von der Stiftung Niedersachsen in<br />
Zusammenarbeit mit dem niedersächsischen<br />
L<strong>an</strong>dtag am 31. August und<br />
1. September ver<strong>an</strong>staltet wurde.Auf die<br />
Grenzen verwiesen und ethische Bedenken<br />
vorgebracht wurden vor allem bei<br />
der embryonalen Stammzellforschung.<br />
Zahlreiche Experten stellten aber dennoch<br />
deren Möglichkeiten heraus. Für<br />
unverzichtbar hält sie auch Privatdozent<br />
Dr. med. Oliver Brüstle (dazu DÄ, Heft<br />
24/2001). „Die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten<br />
wie auch <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
ergänzt sich, es sind Felder, die sich befruchten<br />
und die zu Synergien führen“,<br />
so Brüstle.<br />
Brüstle und sein Institutsleiter Prof.<br />
Dr. med. Otmar Wiestler hatten bei<br />
der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) einen Projekt<strong>an</strong>trag gestellt, um<br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen forschen<br />
zu können, die sie aus dem Ausl<strong>an</strong>d importieren<br />
wollen. Die DFG hat ihre<br />
Entscheidung vorerst vertagt. Nach<br />
dem deutschen <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
ist die Herstellung von Linien aus<br />
embryonalen Stammzellen verboten.<br />
Der Import ist jedoch wegen einer Gesetzeslücke<br />
erlaubt. Doch ob wirklich<br />
<strong>an</strong> importierten Zellen geforscht werden<br />
soll, ist umstritten.<br />
Auf europäischer Ebene gibt es in<br />
dieser Frage „unterschiedliche Wertvorstellungen“,<br />
sagte Dr. Octavi Quint<strong>an</strong>a<br />
Trias vom sp<strong>an</strong>ischen Gesundheitsministerium.<br />
Die Menschenrechtskonvention<br />
zu Biomedizin des Europarates<br />
verbiete die Erzeugung menschlicher<br />
<strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken.<br />
In der Konvention werde jedoch<br />
nicht bestimmt, was ein Embryo<br />
sei, schränkte Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz,<br />
M<strong>an</strong>nheim, ein. Die Grundrechtscharta<br />
der Europäischen Union verbiete<br />
lediglich das reproduktive, nicht jedoch<br />
das therapeutische Klonen. Und<br />
eine EU-Richtlinie, die therapeutisches<br />
und reproduktives Klonen verbietet,<br />
gebe es bisher nicht, so Quint<strong>an</strong>a Trias.<br />
Wenn ein L<strong>an</strong>d restriktiver sei als <strong>an</strong>dere,<br />
forderte er in Anspielung auf die<br />
Regelung in Deutschl<strong>an</strong>d, solle die Europäische<br />
Union nicht dem St<strong>an</strong>dard<br />
dieses restriktiven L<strong>an</strong>des folgen. Die<br />
Herstellung von <strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken<br />
lehnt er allerdings ab.<br />
„Für <strong>Embryonen</strong>forschung sollte m<strong>an</strong><br />
nur <strong>Embryonen</strong> nehmen, die sowieso<br />
zerstört werden.“ In Europa gibt es<br />
nach seinen Angaben 250 000 bis<br />
300 000 so gen<strong>an</strong>nte überzählige <strong>Embryonen</strong>.<br />
In Sp<strong>an</strong>ien gebe es etwa<br />
37 000 „überzählige“ <strong>Embryonen</strong>, von<br />
denen rund 4 000 für Stammzelllinien<br />
verwendungsfähig seien.<br />
Bisher verfolgt Sp<strong>an</strong>ien ebenso wie<br />
Österreich ein Schutzkonzept, „dessen<br />
einschränkende Bestimmungen lediglich<br />
auf Befruchtungsverfahren ausgerichtet<br />
sind, sodass das darin enthaltene<br />
Klonierungsverbot den Zellkerntr<strong>an</strong>sfer<br />
von der Technik her nicht erfasst“,<br />
erläuterte Taupitz. In einigen Ländern<br />
umfasse das Klonierungsverbot von<br />
vornherein nur die Schaffung eines<br />
„vollständigen Menschen“. Das sei beispielsweise<br />
in Israel der Fall, wo erst die<br />
Geburt des Menschen als der entscheidende<br />
Einschnitt im Hinblick auf den<br />
vollen Menschenwürdeschutz <strong>an</strong>gesehen<br />
werde. In Australien, Dänemark,<br />
Großbrit<strong>an</strong>nien, Finnl<strong>an</strong>d und Schweden<br />
sei eine fremdnützige <strong>Forschung</strong><br />
110
D O K U M E N T A T I O N<br />
von <strong>Embryonen</strong> auf die ersten 14 Tage<br />
der Entwicklung beschränkt. Andere<br />
Länder, wie Norwegen, Fr<strong>an</strong>kreich und<br />
die Schweiz, folgten dem deutschen<br />
Konzept, das die Erzeugung eines Embryos<br />
vom Beginn der Entwicklung <strong>an</strong><br />
verbiete. Während beispielsweise in<br />
Fr<strong>an</strong>kreich „liberalisierende Gesetzentwürfe<br />
auf dem Tisch liegen“, würden<br />
zum Beispiel in K<strong>an</strong>ada, Italien und in<br />
den USA Verschärfungen <strong>an</strong>gestrebt.<br />
Der US-amerik<strong>an</strong>ische Präsident<br />
George W. Bush hatte sich am 9.August<br />
dafür ausgesprochen, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> vorh<strong>an</strong>denen<br />
Stammzelllinien mit Bundesmitteln<br />
zu unterstützen. Die Schaffung<br />
neuer Zelllinien oder gar das Klonen<br />
sollte jedoch nicht öffentlich<br />
gefördert werden. Diese Entscheidung<br />
wurde von Prof. Dr. Erich H. Loewy,<br />
University of California, Davis, scharf<br />
kritisiert: „Die Bushsche Lösung ist gar<br />
keine Lösung. Sie treibt die <strong>Forschung</strong><br />
in die Arme der Industrie.“ Und eine<br />
Kommerzialisierung von Stammzellen<br />
sei zutiefst unethisch.<br />
Grundsätzlich sprach sich Loewy für<br />
eine „evolutionäre Entwicklungsethik“<br />
aus und befürwortete die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
embryonalen menschlichen Stammzellen.Seiner<br />
Ansicht nach haben sie keine<br />
volle Schutzwürdigkeit: „Am Leben zu<br />
sein, bedeutet etwas <strong>an</strong>deres, als Leben<br />
zu haben.“<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Heft 40, 5. Oktober 2001<br />
Deutsche Bischofskonferenz<br />
Kein „Zellhaufen“<br />
Die Attentate von New York und Washington<br />
haben wohl nur kurzfristig<br />
das Thema Medizinethik in den Hintergrund<br />
treten lassen“, sagte der Vorsitzende<br />
der Deutschen Bischofskonferenz,<br />
Kardinal Karl Lehm<strong>an</strong>n, zu Beginn<br />
der diesjährigen Herbst-Vollversammlung<br />
der Deutschen Bischofskonferenz<br />
in Fulda. Es werde nicht mehr<br />
l<strong>an</strong>ge dauern, bis Nachrichten über<br />
neue Experimente eintreffen würden.<br />
Die Bischofskonferenz hielt es deshalb<br />
für erforderlich, sich intensiv mit<br />
den Themen Stammzellforschung, Beginn<br />
des menschlichen Lebens und<br />
Schutzwürdigkeit von <strong>Embryonen</strong> zu<br />
beschäftigen. Doch ist ihre Meinung<br />
überhaupt gefragt Viel entscheidender<br />
scheint da beispielsweise die Empfehlung<br />
des Nationalen Ethikrats, der sich<br />
zurzeit damit beschäftigt, ob embryonale<br />
Stammzelllinien importiert werden<br />
und <strong>an</strong> ihnen geforscht werden darf.<br />
Doch das Gremium, bei dem Repräsent<strong>an</strong>ten<br />
der katholischen Kirche mit Wissenschaftlern,<br />
die einem Embryo in<br />
frühem Stadium keine volle Schutzwürdigkeit<br />
zubilligen, <strong>an</strong> einem Tisch sitzen,<br />
k<strong>an</strong>n sich nicht einigen und stellte<br />
zunächst lediglich fest: „Es gibt mehrere<br />
Meinungen zu diesem Thema.“ Dass<br />
es auch keine spezielle katholische Meinung<br />
gibt, räumte Kardinal Lehm<strong>an</strong>n<br />
ein. Dennoch können und wollen die<br />
Bischöfe richtungweisend sein. „Die<br />
Kirche sieht sich als Anwältin des Lebens<br />
und als Anwältin des Menschen.<br />
Wir haben in dieser öffentlichen Diskussion<br />
nur die ,Macht‘ unserer guten<br />
Argumente“, sagte der Vorsitzende der<br />
Bischofskonferenz.<br />
Und so heißt es in einem „orientierenden<br />
Text“ der katholischen Bischöfe:<br />
Embryologische <strong>Forschung</strong>en über<br />
die Vereinigung von Ei- und Samenzellen<br />
stützen die These, dass der Embryo<br />
kein „Zellhaufen“, sondern von Anf<strong>an</strong>g<br />
<strong>an</strong> Mensch ist und sich als solcher entwickelt.<br />
Versuche, eine abgestufte<br />
Schutzwürdigkeit zu begründen, seien<br />
ebenso zurückzuweisen wie Vorschläge,<br />
das Lebensrecht erst mit der Geburt beginnen<br />
zu lassen.<br />
Eine Außenseitermeinung ist diese<br />
Auffassung sicher nicht. Schließlich<br />
deckt sie sich auch mit dem (bisher<br />
noch) geltenden <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Heft 41, 12. Oktober 2001<br />
Reproduktionsmedizin<br />
Fachgesellschaften für klare Regelungen<br />
Involvierte Ärzte fordern unter <strong>an</strong>derem die Zulassung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
die Lockerung der restriktiven Embryokultur und die Schaffung einer<br />
zentralen Registrierungs- und Beratungsstelle für die assistierte Reproduktion.<br />
Für eine neue, umfassende rechtliche<br />
Regelung der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
haben sich in Bonn Vertreter verschiedener<br />
involvierter Fachgesellschaften<br />
ausgesprochen. Das erforderliche<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz sollte eine<br />
Liberalisierung in maßvollen Grenzen<br />
erlauben und speziell auch die weiten<br />
Bereiche regeln, in denen das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
Rechtsunsicherheit bietet,<br />
heißt es in einem Positionspapier, das<br />
von der Deutschen Gesellschaft für<br />
Gynäkologische Endokrinologie, der<br />
Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie<br />
und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft<br />
für Reproduktionsmedizin und<br />
dem Bundesverb<strong>an</strong>d Reproduktionsmedizinischer<br />
Zentren erarbeitet wurde.<br />
Ein zentraler Punkt hierbei sei die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, die nicht<br />
explizit verboten, aber auch nicht zulässig<br />
sei. Prof. Ricardo Felberbaum (Lübeck)<br />
und Dr. Michael Thaele (Saarbrücken)<br />
verdeutlichten das Dilemma<br />
von Ärzten und betroffenen Patienten:<br />
Wenn nach hum<strong>an</strong>genetischer Beratung<br />
klar ist, dass ein hohes Risiko für<br />
ein Kind mit schweren, nicht therapierbaren<br />
Erbkr<strong>an</strong>kheiten besteht, k<strong>an</strong>n<br />
das Paar entweder das Risiko einer<br />
111
D O K U M E N T A T I O N<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft eingehen und im<br />
Zweifelsfall nach der Pränataldiagnostik<br />
eine Interruptio vornehmen lassen<br />
– oder ins Ausl<strong>an</strong>d reisen zur assistierten<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zung und nur gesunde<br />
<strong>Embryonen</strong> tr<strong>an</strong>sferieren lassen.<br />
Eindeutigen Regelungsbedarf sehen<br />
die Fortpfl<strong>an</strong>zungsmediziner darüber<br />
hinaus bei der – für Ärzte und Patienten<br />
– rechtlich nicht ausreichend geklärten<br />
heterologen Insemination. Hier müssten<br />
unbedingt die Spender zentral registriert<br />
werden, um „Vielfachspender“<br />
auszuschließen. Darüber hinaus sind<br />
nach Auffassung der Experten auch eindeutige<br />
rechtliche Bestimmungen für<br />
die Tiefkühllagerung von Ovar- und<br />
Hodengewebe notwendig – ein Vorgehen,<br />
das zunehmend von jungen Krebspatientinnen<br />
und -patienten nachgefragt<br />
wird, die sich einer Therapie mit<br />
möglicherweise irreversibler Schädigung<br />
der Gonaden unterziehen müssen.<br />
Ein wesentliches Anliegen der unterzeichnenden<br />
Fachgesellschaften ist darüber<br />
hinaus die Schaffung einer zentralen,<br />
interdisziplinär besetzten Stelle zur<br />
Registrierung, Beratung und Prüfung<br />
aller Zentren, die Maßnahmen der assistierten<br />
Reproduktion vornehmen.<br />
Zentrale Stelle als Bundesamt<br />
Wie Prof. Fr<strong>an</strong>z Geisthövel (Freiburg)<br />
betonte, könnte diese zentrale Stelle als<br />
Bundesamt eingerichtet werden oder<br />
bei der Bundesärztekammer oder einer<br />
<strong>an</strong>deren unabhängigen Institution <strong>an</strong>gesiedelt<br />
sein. Es sollte sich um eine unabhängige<br />
Einrichtung nach dem Vorbild<br />
der Hum<strong>an</strong> Fertilization <strong>an</strong>d Embryology<br />
Authority in Engl<strong>an</strong>d h<strong>an</strong>deln,<br />
die durch Tr<strong>an</strong>sparenz auch die<br />
Vertrauensbildung in der Gesellschaft<br />
stärkt. Unter der Leitung eines Nicht-<br />
(Fortpfl<strong>an</strong>zungs-)Mediziners, so die Vorstellungen,<br />
könnten Anfragen oder Klagen<br />
von Patienten be<strong>an</strong>twortet, aber<br />
auch neue wissenschaftliche Konzepte<br />
beurteilt und Studien initiiert werden.<br />
Darüber hinaus müsste die Institution<br />
Kontrollen der Zentren – und auch<br />
S<strong>an</strong>ktionen – ver<strong>an</strong>lassen können.<br />
Aus medizinisch-wissenschaftlicher<br />
Sicht notwendig ist nach Ansicht der Experten<br />
eine Lockerung der restriktiven<br />
Maßgaben zur Embryokultur: Im Ausl<strong>an</strong>d<br />
können Reproduktionsmediziner<br />
deutlich höhere Erfolge bei IVF und<br />
ICSI erzielen, weil sie mehr <strong>Embryonen</strong><br />
her<strong>an</strong>wachsen lassen bis zum Blastozystenstadium<br />
(Tag fünf) und aus dem<br />
„Pool“ nur die zwei für den aktuell <strong>an</strong>stehenden<br />
Tr<strong>an</strong>sfer verwenden, die aus<br />
morphologischen Kriterien das höchste<br />
Impl<strong>an</strong>tationspotenzial besitzen. Die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsraten sind bei diesem<br />
Vorgehen etwa doppelt so hoch wie<br />
hierzul<strong>an</strong>de. Bei der längeren Kultivierung<br />
tritt allerdings eine natürliche Auslese<br />
auf: Nur etwa die Hälfte der <strong>Embryonen</strong><br />
entwickelt sich aufgrund von<br />
Chromosomen<strong>an</strong>omalien oder <strong>an</strong>derer<br />
Defekte bis zum erwünschten Stadium.<br />
Da hierzul<strong>an</strong>de nur drei <strong>Embryonen</strong><br />
her<strong>an</strong>wachsen dürfen, sind den Reproduktionsmedizinern<br />
„die Hände gebunden“<br />
– es bliebe oft nichts zum Auswählen<br />
übrig. Wenn diese „Dreier-Regel“<br />
abgeschafft wird, müsste gleichzeitig<br />
die Möglichkeit eingeräumt werden,<br />
auch <strong>Embryonen</strong> für einen späteren<br />
Tr<strong>an</strong>sfer tiefzufrieren, erläuterte Prof.<br />
Wolfg<strong>an</strong>g Würfel (München). Werden<br />
Heft 43, 26. Oktober 2001<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Anf<strong>an</strong>g ohne Ende<br />
Ob sich die <strong>PID</strong> auf einige Indikationen<br />
begrenzen lässt, bleibt umstritten.<br />
Dass sich die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) nicht auf wenige<br />
Paare beschränken lässt, befürchten<br />
<strong>PID</strong>-Gegner. Dass diesen Paaren<br />
endlich die Möglichkeit gegeben werden<br />
müsse, ein gesundes Kind zu bekommen,<br />
meinen hingegen die Befürworter.<br />
Die Debatte um die <strong>PID</strong> erhält neue<br />
Aktualität, denn die FDP-Fraktion<br />
stellte dieser Tage einen Gesetzentwurf<br />
zur Regelung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
vor. Darin fordert sie, das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
zu ändern und die<br />
<strong>PID</strong> „nach eingehender Beratung und<br />
positivem Votum einer Ethikkommission“<br />
zu gestatten – wenn die Eltern eine<br />
Ver<strong>an</strong>lagung für eine schwerwiegende<br />
Erbkr<strong>an</strong>kheit in sich tragen.<br />
diese d<strong>an</strong>n nicht benötigt, sollte das<br />
Paar sie als Alternative zur Vernichtung<br />
bei einem ernst genommenen <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
d<strong>an</strong>n auch zur Adoption freigeben<br />
können. Auch in diesem Punkt<br />
besteht heute Rechtsunsicherheit, da<br />
das ESchG zwar die Eizellspende verbietet<br />
– was in der heutigen Situation<br />
neu zu überdenken sei –, nicht jedoch<br />
die <strong>Embryonen</strong>spende.<br />
Eindeutig traten die Reproduktionsmediziner<br />
Befürchtungen entgegen, wonach<br />
sich in den Tiefkühltruhen schon<br />
heute über 5 000 <strong>Embryonen</strong> befinden<br />
sollen. Felberbaum n<strong>an</strong>nte Daten aus<br />
den IVF-Zentren: Von 1988 bis 2000<br />
sind 406 <strong>Embryonen</strong> von 170 Paaren<br />
tiefgefroren worden, wobei inzwischen<br />
mehr als drei Viertel der Paare (141) bereits<br />
335 <strong>Embryonen</strong> wieder tr<strong>an</strong>sferiert<br />
wurden.Auf Eis liegen demnach derzeit<br />
71 <strong>Embryonen</strong> von 29 Paaren. Bisher<br />
können <strong>Embryonen</strong> nur in Ausnahmefällen<br />
eingefroren werden – etwa wegen<br />
einer Erkr<strong>an</strong>kung oder eines Unfalls<br />
der Frau zum Zeitpunkt des gepl<strong>an</strong>ten<br />
Tr<strong>an</strong>sfers.<br />
Dr. Renate Leinmüller<br />
Doch in diesem Punkt sehen die <strong>PID</strong>-<br />
Gegner die größten Probleme. „Die <strong>PID</strong><br />
wird sich nicht begrenzen lassen.Das war<br />
auch bei der Pränataldiagnostik bereits<br />
nicht möglich“, betonte Marion Brüssel,<br />
L<strong>an</strong>desvorsitzende des Berliner Hebammenverb<strong>an</strong>des,<br />
bei der Anhörung des<br />
Bundestagsausschusses für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend am 17. Oktober<br />
in Berlin, die parallel zur Vorstellung<br />
des FDP-Gesetzentwurfs stattf<strong>an</strong>d.Sachverständige<br />
– hauptsächlich Frauen – diskutierten<br />
dabei „Pränatal- und Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
weniger aus ethischer<br />
oder medizinischer, sondern aus<br />
frauenspezifischer Sicht.<br />
Es sei nicht möglich, einem Paar die<br />
<strong>PID</strong> zu gestatten und einem <strong>an</strong>deren zu<br />
112
D O K U M E N T A T I O N<br />
verweigern, betonte Dr. med. Astrid<br />
Bühren, Präsidentin des Deutschen<br />
Ärztinnenbundes. Letztlich werde jede<br />
Form von „Belastung“ für die Familie<br />
als ausreichender Grund für die <strong>PID</strong><br />
akzeptiert werden müssen. „Indikationslisten<br />
werden bald erweitert und<br />
d<strong>an</strong>n g<strong>an</strong>z abgeschafft werden. Die <strong>PID</strong><br />
wird zu einem weit verbreiteten Phänomen<br />
werden, das sich auf die gesamte<br />
Gesellschaft auswirkt“, befürchtet<br />
Bühren. „Ihre Anwendung wird zu einer<br />
Pflicht der Betroffenen gegenüber<br />
der Allgemeinheit werden.“<br />
Frauen wollen<br />
Sicherheit<br />
Dr. med. Barbara Dennis vom Arbeitskreis<br />
Frauengesundheit in Medizin,<br />
Psychotherapie und Gesellschaft e.V.<br />
beobachtet als Gynäkologin einen<br />
„Perfektions<strong>an</strong>spruch“ bei den Schw<strong>an</strong>geren.<br />
Sie würden lieber mehr Untersuchungen<br />
als weniger in Anspruch nehmen.<br />
Der eigenen Wahrnehmung der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft würden sie dabei fast<br />
nicht mehr trauen, berichtete sie. Diese<br />
sei verstärkt durch die Angst vor einem<br />
behinderten Kind geprägt, bekräftigte<br />
auch Claudia Heinkel vom Diakonischen<br />
Werk der Ev<strong>an</strong>gelischen Kirche.<br />
„Frauen erleben den Einsatz der Technik<br />
zwar ambivalent, aber erst nach<br />
mehreren Untersuchungen mit normalem<br />
Befund können sie die Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
ruhig fortsetzen.“ Für sie steht<br />
fest: „Gibt es erst die <strong>PID</strong>, wird sie auch<br />
<strong>an</strong>gewendet.“<br />
Ein Verbot hält die FDP-Fraktion<br />
für verfassungsrechtlich bedenklich.<br />
Es stehe im Widerspruch zum Recht<br />
der Frau, die Schw<strong>an</strong>gerschaft nach<br />
Pränataldiagnostik und bei Vorliegen<br />
einer medizinischen Indikation abzubrechen.<br />
Um eine rechtliche Grundlage<br />
für die betroffenen Paare und Ärzte zu<br />
schaffen, müsse das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
geändert werden, fordern<br />
die Liberalen. Bisher ist umstritten, ob<br />
dieses die <strong>PID</strong> zulässt. Ihr Papier<br />
schickte die FDP <strong>an</strong> Bundestagsabgeordnete<br />
<strong>an</strong>derer Fraktionen, die als<br />
Befürworter der <strong>PID</strong> bek<strong>an</strong>nt sind.<br />
Bald will sie einen fraktionsübergreifenden<br />
Gesetzentwurf in den Bundestag<br />
einbringen.<br />
ER<br />
Heft 47, 23. November 2001<br />
Stammzellen-Import<br />
Signal auf Stopp<br />
Eine so deutliche Entscheidung war<br />
nicht zu erwarten gewesen. 17 der 24<br />
<strong>an</strong>wesenden Mitglieder der Enquete-<br />
Kommission „Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin“ des Deutschen Bundestages<br />
sprachen sich gegen einen Import<br />
von menschlichen embryonalen<br />
Stammzellen zu <strong>Forschung</strong>szwecken<br />
aus. Auf ein Mehrheits- und Minderheitsvotum<br />
verzichtete die Kommission.<br />
Da es sich um eine Gewissensfrage<br />
h<strong>an</strong>dele, wolle sie den Bundestagsabgeordneten<br />
nicht raten, wie sie sich bei<br />
der wegen Terminschwierigkeiten auf<br />
J<strong>an</strong>uar verschobenen Debatte entscheiden<br />
sollen, sagte die Vorsitzende<br />
der Kommission, Margot von Renesse<br />
(SPD).<br />
Ein Stopp-Signal ist der abwägende<br />
Bericht der Enquete-Kommission jedoch<br />
allemal. Die 17 Import-Gegner<br />
meinen, dass der Bundestag und die<br />
Bundesregierung alle Möglichkeiten<br />
ausschöpfen sollten, um die Einfuhr<br />
von embryonalen Stammzell-Linien zu<br />
verhindern. Lediglich sieben Kommissionsmitglieder<br />
bezweifeln, dass ein<br />
vollständiges Import-Verbot verfassungs-<br />
und europarechtlich begründet<br />
Heft 48, 30. November 2001<br />
Stammzellen-Import<br />
werden k<strong>an</strong>n. Sie plädieren dafür, den<br />
Import unter engen Voraussetzungen,<br />
beispielsweise unter Kontrolle einer<br />
staatlichen Behörde, zu tolerieren. Einig<br />
ist sich die Kommission, dass das<br />
derzeitige <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
beibehalten werden muss.<br />
Ihre Entscheidung wollen einige<br />
Mitglieder der Enquete-Kommission<br />
auch als Aufforderung <strong>an</strong> die Deutsche<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft (DFG) verst<strong>an</strong>den<br />
wissen, den Abstimmungstermin<br />
über den Antrag von Prof. Dr. med.<br />
Oliver Brüstle nochmals zu verschieben<br />
und die Debatte des Bundestages<br />
abzuwarten. Noch stehe der 7. Dezember<br />
als Termin, <strong>an</strong> dem sich der DFG-<br />
Hauptausschuss entscheiden wolle, erklärte<br />
eine Sprecherin der DFG. Eine<br />
nochmalige Verschiebung sei zwar<br />
denkbar, aber ungewiss.<br />
Definitiv noch Ende November will<br />
der vom Bundesk<strong>an</strong>zler eingesetzte Nationale<br />
Ethikrat seine Entscheidung vorlegen.<br />
Dessen Mitglieder gelten mehrheitlich<br />
als Befürworter des Stammzell-<br />
Imports. Doch auch der Rat will die Entscheidung<br />
der Enquete-Kommission<br />
berücksichtigen. Dr. med. Eva A. Richter<br />
Druck von allen Seiten<br />
Die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft wird ihre Entscheidung<br />
vermutlich nochmals vertagen. Doch die Forscher drängen.<br />
Reine Verzögerungstaktik“ nennt<br />
Prof. Dr. med. Oliver Brüstle das<br />
nochmalige Verschieben der Entscheidungen<br />
über den Import von embryonalen<br />
Stammzellen. Mit seiner Einschätzung<br />
mag der Bonner Neuropathologe<br />
und Stammzellforscher<br />
Recht behalten. Denn trotz aller<br />
ethisch-moralischen Einwände scheint<br />
die (gesellschaftlich gebilligte) <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> menschlichen embryonalen<br />
Stammzellen in Deutschl<strong>an</strong>d nur noch<br />
eine Frage der Zeit zu sein.<br />
Brüstle ist optimistisch und dennoch<br />
frustriert. Bereits vor eineinhalb Jahren<br />
hatte er bei der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) be<strong>an</strong>tragt, menschliche<br />
embryonale Stammzellen zu importieren.<br />
„Während unsere Diskussion<br />
über den Import festzufahren scheint,<br />
wird im Ausl<strong>an</strong>d emsig <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen geforscht“, kritisierte er<br />
113
D O K U M E N T A T I O N<br />
bei einer Diskussionsver<strong>an</strong>staltung der<br />
Berliner Medizinischen Gesellschaft am<br />
21. November. In den USA sei inzwischen<br />
eine internationale Stammzell-<br />
B<strong>an</strong>k eingerichtet worden, die den Austausch<br />
der Zelllinien koordiniere. Auch<br />
die Europäische Union stelle mittlerweile<br />
Fördergelder zur Verfügung.<br />
Brüstle drängt auf die Entscheidung<br />
der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft.<br />
Er müsse endlich wissen, wor<strong>an</strong> er wäre.<br />
Auf Bitte der Politik hatte die DFG diese<br />
bereits zweimal verschoben, zuletzt auf<br />
den 7. Dezember. Jetzt ist ein weiterer<br />
Aufschub im Gespräch, nämlich auf die<br />
nächste Sitzung des Hauptausschusses<br />
am 31. J<strong>an</strong>uar. Ein Brief des DFG-Präsidenten<br />
Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker<br />
ging in diesen Tagen <strong>an</strong> die Mitglieder<br />
des Hauptausschusses, in dem er<br />
empfiehlt, einer nochmaligen Vertagung<br />
zuzustimmen. Doch so l<strong>an</strong>ge will Brüstle<br />
nicht mehr warten. „Meiner Meinung<br />
nach muss die DFG noch in diesem Jahr<br />
klar Stellung beziehen“, sagte Brüstle<br />
gegenüber der Fr<strong>an</strong>kfurter Rundschau.<br />
„Das könnte so aussehen, dass sie meinem<br />
Antrag zustimmt,aber das Anlaufen<br />
der <strong>Forschung</strong>sförderung verschiebt bis<br />
nach der Bundestagsdebatte.“<br />
Eine Alternative wäre die Stammzellforschung<br />
im privaten Sektor, deutet<br />
Brüstle <strong>an</strong>. Dies führe jedoch zu weniger<br />
Kontrolle und Tr<strong>an</strong>sparenz. Dass<br />
das tatsächlich so ist, zeigt das jüngste<br />
Beispiel aus den USA: Ein amerik<strong>an</strong>isches<br />
Biotechnik-Unternehmen hat jetzt<br />
erstmals menschliche <strong>Embryonen</strong> geklont.<br />
Präsident George W. Bush hatte<br />
im Sommer zwar die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> existierenden<br />
Zelllinien befürwortet, sich<br />
aber gegen das Klonen ausgesprochen.<br />
Eine entsprechende Gesetzesvorlage<br />
wird derzeit vom US-Senat erarbeitet.<br />
Die DFG und ihr Präsident stehen<br />
unter Druck – und das gleich von mehreren<br />
Seiten. Die <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
werde vorgeführt, die wissenschaftliche<br />
Selbstverwaltung geschwächt, meinen<br />
Brüstle und weitere Forscher. Andererseits<br />
k<strong>an</strong>n Winnacker schwerlich die<br />
Bitte von Bundestagspräsident Wolfg<strong>an</strong>g<br />
Thierse sowie mehreren Abgeordneten<br />
des Deutschen Bundestages, die<br />
Entscheidung zu vertagen, ignorieren.<br />
„Wir haben den Schwarzen Peter zugeschoben<br />
bekommen“, sagte er der Wochenzeitung<br />
„Die Zeit“. Der Politik<br />
114<br />
stellt Winnacker ein Ultimatum. Die<br />
DFG benötige eine feste Zusage, dass<br />
sich der Bundestag tatsächlich während<br />
der Sitzungswoche Ende J<strong>an</strong>uar entscheide,<br />
betonte der DFG-Präsident.<br />
„Wenn sich <strong>an</strong>bahnt, dass keine Debatte<br />
stattfindet, aus welchen Gründen auch<br />
immer, d<strong>an</strong>n ist das für uns ein g<strong>an</strong>z klares<br />
Signal, zu h<strong>an</strong>deln.“ Winnacker lässt<br />
keinen Zweifel, wie die DFG-Entscheidung<br />
ausfallen wird: „Der Import ist<br />
rechtlich nicht verboten.“<br />
Rückendeckung erhält die DFG von<br />
Bundesforschungsministerin Edelgard<br />
Bulmahn. Sie will den Import embryonaler<br />
Stammzellen unter strengen Auflagen<br />
erlauben. So sollen nur Zelllinien<br />
aus „überzähligen“ <strong>Embryonen</strong> verwendet<br />
werden, deren Herkunft eindeutig<br />
belegbar ist und deren Spender<br />
ihr Einverständnis gegeben haben.<br />
Die DFG hat sich bereits im Mai für<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
ausgesprochen. Sie befürwortet<br />
grundsätzlich sowohl den Import als<br />
auch – wenn es nötig sein sollte – die<br />
Herstellung von embryonalen Stammzelllinien.<br />
Vorerst wolle m<strong>an</strong> sich auf<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> importierten Zellen<br />
Heft 49, 7. Dezember 2001<br />
Stammzellforschung<br />
Perfektes<br />
Timing<br />
Wenn der Deutsche Bundestag am<br />
30. J<strong>an</strong>uar des nächsten Jahres darüber<br />
entscheidet, ob der Import embryonaler<br />
Stammzellen verboten oder<br />
zugelassen sein soll, d<strong>an</strong>n werden ihm<br />
die diversen Expertenaussagen kaum<br />
aus der Verlegenheit helfen. Er, der Gesetzgeber,<br />
ist am Zuge.<br />
Der Nationale Ethikrat hat sich für<br />
einen Import ausgesprochen, die Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik<br />
der modernen Medizin“ des Bundestages<br />
hat zwei Modelle gegenein<strong>an</strong>der gestellt.<br />
Modell A läuft auf ein Verbot des<br />
Imports hinaus, Modell B auf eine Tolerierung.<br />
Der Nationale Ethikrat, jenes von<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Schröder eingerichtete<br />
beschränken, erklärt sie. Doch die zweite<br />
Option könnte in naher Zukunft zur<br />
Debatte stehen. Untersuchungen haben<br />
nämlich inzwischen ergeben, dass<br />
von den weltweit 72 verfügbaren Zelllinien<br />
nur 20 den Kriterien <strong>an</strong> eine<br />
pluripotente Stammzelllinie genügen.<br />
Zudem ist nicht zu erwarten, dass die<br />
Forscher l<strong>an</strong>gfristig wissenschaftlich<br />
und kommerziell von <strong>an</strong>deren Staaten<br />
abhängig sein wollen.<br />
Auch das Votum des Nationalen<br />
Ethikrates steht noch aus. Er wollte sich<br />
ursprünglich am 21. November äußern.<br />
Doch die Meinungen der 25 Mitglieder<br />
zu dieser Frage seien konträr, sagte eine<br />
Sprecherin. Die Entscheidung sei<br />
deshalb auf den 29. November vertagt<br />
worden. Vermutlich wird der Rat<br />
mehrheitlich für den Import von<br />
menschlichen embryonalen Stammzellen<br />
votieren. Insider gehen sogar<br />
von einer Zweidrittelmehrheit innerhalb<br />
des von Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard<br />
Schröder eingesetzten Gremiums aus.<br />
Die Enquete-Kommission des Deutschen<br />
Bundestages hatte sich mehrheitlich<br />
gegen den Stammzellen-Import<br />
ausgesprochen. Dr. med. Eva A. Richter<br />
Gremium, hatte mit knapper Mehrheit<br />
am 29. November den Import befürwortet,<br />
unter allerlei Auflagen und mit einer<br />
Befristung bis Ende 2003. Das öffentliche<br />
Echo war widersprüchlich, widersprüchlich<br />
auch quer durch die Parteien.<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer<br />
sprach sich dafür aus, zunächst <strong>an</strong>dere<br />
<strong>Forschung</strong>srichtungen einzuschlagen<br />
und nur, wenn diese zu keinen befriedigenden<br />
Ergebnissen führten, die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> importierten embryonalen<br />
Stammzellen in Erwägung zu ziehen.<br />
Wenige Tage bevor der Nationale<br />
Ethikrat sein Votum abgab, am<br />
23. November, hatte die Zentrale Ethikkommission<br />
bei der Bundesärztekammer<br />
gleichfalls votiert. Sie kam ebenfalls<br />
zu der Empfehlung, den Import unter<br />
Kautelen zuzulassen (Wortlaut in<br />
diesem Heft). M<strong>an</strong> darf davon ausgehen,dass<br />
die Stellungnahme der Zentralen<br />
Ethikkommission Schröders Ethikrat<br />
inhaltlich vorlag und die <strong>an</strong>gestrebte<br />
Rolle spielte. Die Kommission hatte zuletzt<br />
mit Hochdruck <strong>an</strong> ihrer Stellung-
D O K U M E N T A T I O N<br />
nahme gearbeitet und das perfekte Timing<br />
schließlich erreicht.<br />
Die Zentrale Ethikkommission ist<br />
<strong>an</strong>gesiedelt bei der Bundesärztekammer,<br />
in ihrer Arbeit jedoch von dieser<br />
unabhängig. Ihre Stellungnahme k<strong>an</strong>n<br />
nicht als Bundesärztekammervotum<br />
zugunsten des <strong>Embryonen</strong>imports gewertet<br />
werden; sie steht auch nicht im<br />
Einkl<strong>an</strong>g mit der Meinungsbildung des<br />
Deutschen Ärztetages.<br />
In der Ged<strong>an</strong>kenführung stimmen<br />
die Empfehlungen des Nationalen Ethikrates<br />
und der Zentralen Kommission<br />
auffallend überein. Sie gleichen auch<br />
der Stellungnahme der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
vom 3. Mai dieses<br />
Jahres. Das mag Wissenschaftler-Konsens<br />
sein, dürfte aber auch <strong>an</strong> personellen<br />
Querverbindungen zwischen den<br />
drei Institutionen liegen.<br />
Bevor der Bundestag entscheidet,<br />
sollte er sich damit beschäftigen, wie die<br />
Voten zust<strong>an</strong>de kamen. Er sollte auch<br />
prüfen, aus welchen Quellen die derzeit<br />
gängigen Aussagen zur Rechtslage stammen,<br />
die da die Meinung wiedergeben,<br />
ein Verbot des Imports sei verfassungswidrig<br />
und der Import mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
durchaus vereinbar.<br />
Wenn die Bundestagsabgeordneten<br />
demnächst entscheiden, d<strong>an</strong>n muss ihnen<br />
g<strong>an</strong>z klar sein, dass sie bei einer<br />
Entscheidung zugunsten des Importes<br />
eine Tür öffnen, die nicht mehr zu<br />
schließen sein wird. Zunächst wird es<br />
nur um den Import existierender<br />
Stammzelllinien gehen. Zurzeit geht die<br />
veröffentlichte Meinung noch dahin,<br />
die bereits vorh<strong>an</strong>denen Zelllinien<br />
reichten für die <strong>Forschung</strong> aus. Es gibt<br />
freilich Hinweise, dass Zahl und Qualität<br />
der Stammzellen bei <strong>an</strong>ziehender<br />
<strong>Forschung</strong> nicht ausreichen werden.Also<br />
wird m<strong>an</strong>, wenn das Tor geöffnet ist,<br />
auch hier weitersehen, indem neue Linien<br />
eröffnet werden – und weshalb<br />
d<strong>an</strong>n nicht in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
Zurzeit sprechen sich alle Voten dezidiert<br />
für die Gewinnung embryonaler<br />
Stammzellen aus so gen<strong>an</strong>nten übrig gebliebenen<br />
<strong>Embryonen</strong> aus. Aber lässt<br />
sich nicht die Zahl der „übrig gebliebenen“<br />
mit einem gewissen Belieben variieren,<br />
und wo liegt d<strong>an</strong>n die Grenze zur<br />
direkten Gewinnung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken Die vorliegenden<br />
Stellungnahmen weisen dies energisch<br />
zurück. Würde sich eine solch ablehnende<br />
Haltung auf Dauer und bei <strong>an</strong>haltendem<br />
Druck aus der Wissenschaft<br />
wirklich halten lassen Die Argumentationslinie<br />
ist schon vorgezeichnet:Wenn<br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> geforscht werden darf,<br />
weshalb d<strong>an</strong>n nicht generell<br />
Die offene Frage bleibt, ob das, was<br />
wissenschaftlich möglich ist und <strong>an</strong>derenorts<br />
erlaubt ist, hierzul<strong>an</strong>de auf die<br />
Dauer verhindert werden k<strong>an</strong>n. Globalisierung<br />
beherrscht die Wissenschaft, die<br />
Globalisierung der Ethik folgt ihr auf dem<br />
Fuße.Wer sich dem weltweiten Druck widersetzt,<br />
braucht starke Nerven und<br />
feste Überzeugungen. Haben wir die<br />
Gerade dieser Tage hat der höchst<br />
<strong>an</strong>gesehene US-amerik<strong>an</strong>ische Philosoph<br />
Richard Rorty seine Wunschvorstellung<br />
in einem Interview (mit dem<br />
„Tagesspiegel“) offenbart: „Persönlich<br />
wünsche ich mir, dass m<strong>an</strong> dekretiert,<br />
dass das menschliche Leben beginnt,<br />
wenn ein Embryo drei Monate alt ist.<br />
Bis dahin könnten Ärzte experimentieren.“<br />
Pragmatiker Rorty wurde am 2.<br />
Dezember in Berlin der nach dem Mystiker<br />
ben<strong>an</strong>nte Meister-Eckhart-Preis<br />
verliehen.<br />
Norbert Jachertz<br />
Heft 49, 7. Dezember 2001<br />
Stammzellforschung (I)<br />
Abschied von der Menschenwürde<br />
Der Grundkonsens der liberalen Gesellschaft ist durch die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen gefährdet.<br />
S<strong>an</strong>tiago Ewig<br />
Die gepl<strong>an</strong>te <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en<br />
embryonalen Stammzellen stellt einen<br />
fundamentalen Bruch mit den<br />
bisher geltenden Wertvorstellungen dar.<br />
Die Konsequenzen sind erheblich. Der<br />
Abschied vom Begriff der Menschenwürde<br />
als Ausdruck der Selbstzwecklichkeit<br />
des Menschen bedeutet, dass die<br />
Menschenwürde in den Grenzbereichen<br />
des Lebens entsprechend den Interessen<br />
<strong>an</strong>derer zur Disposition steht. Im Kern<br />
bedeutet er die Aufgabe der liberalen<br />
Idee der Aufklärung, die in der Achtung<br />
und Bewahrung der Selbstzwecklichkeit<br />
des Menschen die Grundlage der Freiheit<br />
zur Selbstbestimmung und zum moralischen<br />
H<strong>an</strong>deln sieht.<br />
Konzepte des „abgestuften<br />
Lebensschutzes“<br />
Kaum ein Befürworter der <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen Stammzellen<br />
wird dieser Bewertung zustimmen. Wie<br />
argumentieren sie also, und was liegt<br />
ihren Argumentationsmustern zugrunde<br />
Das soll beispielhaft <strong>an</strong> der Argumentation<br />
von Wiestler und Brüstle aufgezeigt<br />
werden (1, 2).<br />
Am Ausg<strong>an</strong>gspunkt steht die <strong>Forschung</strong>sperspektive<br />
des Zellersatzes durch<br />
Stammzellen. Embryonale Stammzellen<br />
weisen durch ihre Pluripotenz und nahezu<br />
unbegrenzte Vermehrbarkeit entscheidende<br />
Vorteile gegenüber adulten<br />
Stammzellen auf. Daher erscheint die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzellen zumindest aktuell unverzichtbar.<br />
Wiestler und Brüstle neigen<br />
Konzepten des „abgestuften Lebensschutzes“<br />
zu, die dem Embryo zwar<br />
Würde und Schutzwürdigkeit einräumen,<br />
jedoch die Zubilligung der uneingeschränkten<br />
Menschenwürde von be-<br />
115
D O K U M E N T A T I O N<br />
116<br />
stimmten Entwicklungsschritten abhängig<br />
machen.Die Tötung von <strong>Embryonen</strong><br />
k<strong>an</strong>n somit in einer Güterabwägung gerechtfertigt<br />
werden, wenn diese vor Ablauf<br />
einer bestimmten Entwicklung und<br />
aufgrund hochr<strong>an</strong>giger <strong>Forschung</strong>sziele<br />
geschieht.Als hochr<strong>an</strong>giges <strong>Forschung</strong>sziel<br />
wird nicht weniger als die Aussicht<br />
auf Heilung ausgegeben. Das Aufkommen<br />
einer „Ethik des Heilens“ drückt<br />
das Bestreben aus, den Imperativ der<br />
Heilungspflicht <strong>an</strong>gesichts einer gegebenen<br />
Heilungsperspektive als h<strong>an</strong>dlungsleitend<br />
zu rechtfertigen.<br />
Wiestler und Brüstle führen eine<br />
Reihe von Begrenzungen ins Feld, die<br />
diese Güterabwägung gegen die Gefahren<br />
der unbegrenzten <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
und ihrer Kommerzialisierung<br />
absichern sollen. Zu diesen gehören die<br />
Beschränkung auf den Import bereits<br />
existierender Zelllinien, die aus dem Tode<br />
geweihten, „überzähligen“ <strong>Embryonen</strong><br />
gewonnen wurden; die klare Definition<br />
des <strong>Forschung</strong>sziels und die Komplementarität<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
und adulten Stammzellen,<br />
die nach einer Zwischenphase sogar die<br />
Aufhebung der Notwendigkeit der <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen in<br />
Aussicht stellt. Begrenzung soll auch<br />
durch strenge wissenschaftliche Begutachtung,<br />
bioethische Begleitung und öffentliche<br />
Tr<strong>an</strong>sparenz sichergestellt<br />
werden. In ihrer Sicht stellt auch auf politischer<br />
Ebene die staatliche Anerkennung<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzellen eine Begrenzung<br />
dar, weil nur auf diese Weise eine<br />
Kommerzialisierung durch private Unternehmen<br />
verhindert werden könne.<br />
Schließlich betonen Wiestler und<br />
Brüstle, dass sie Tabus berücksichtigen:<br />
das Verbot der <strong>Embryonen</strong>herstellung<br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken, Eingriffe in die<br />
Keimbahn und das reproduktive Klonen.<br />
Die ethische Argumentation von<br />
Wiestler und Brüstle ist jedoch nicht<br />
h<strong>an</strong>dlungs<strong>an</strong>leitend, sondern sekundär<br />
legitimatorischer Natur.<br />
➊ Die Heilungsperspektive, die für<br />
die Güterabwägung ausschlaggebend<br />
ist, erscheint nicht allgemein <strong>an</strong>erkennungsfähig<br />
begründbar. Zum heutigen<br />
Zeitpunkt ist sie Utopie. Die von Wiestler<br />
und Brüstle vorgestellten Remyelinisierungsexperimente<br />
<strong>an</strong> Ratten mit der<br />
Pelizaeus-Merzbacherschen Erkr<strong>an</strong>kung<br />
reichen über ihre imm<strong>an</strong>ente Evidenz<br />
kaum hinaus.<br />
➋ Die Begrenzungen der <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen Stammzellen<br />
verlaufen exakt am R<strong>an</strong>de dessen, was<br />
den beiden Forschern aktuell <strong>an</strong> <strong>Forschung</strong><br />
notwendig erscheint. Die Perspektive<br />
ist g<strong>an</strong>z auf die eigenen Projekte<br />
beschränkt. Die Grenze, bis zu der<br />
<strong>Embryonen</strong> verbraucht werden dürfen,<br />
bleibt ohne eigene Begründung. Der<br />
Stammzellimport deckt den nötigen Bedarf;<br />
daher braucht aktuell mehr nicht<br />
gefordert zu werden. Doch die Begrenzungen<br />
stellen keine ethisch verbindlichen<br />
Grenzen, sondern letztlich unverbindliche<br />
Absichtserklärungen zweier<br />
Forscher dar. Im Detail bleiben diese<br />
Begrenzungen nicht einmal innerhalb<br />
der eigenen Forschergruppe konsistent.<br />
Während Wiestler eine Herstellung eigener<br />
embryonaler Stammzellreihen<br />
nicht beabsichtigt, hält Brüstle diese in<br />
Zukunft für unabweisbar. Auch hinsichtlich<br />
der Herstellung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken bleiben Unklarheiten.<br />
Brüstle schließt eine solche<br />
kategorisch aus. In seiner Haltung dem<br />
therapeutischen Klonen gegenüber<br />
bleibt er jedoch eigentümlich vage. In<br />
letzter Inst<strong>an</strong>z muss und wird er sie befürworten:Wie<br />
<strong>an</strong>ders sollte die Kernreprogrammierung<br />
entschlüsselt werden<br />
➌ Über künftige Entwicklungen, die<br />
sowohl in der Konsequenz des eigenen<br />
H<strong>an</strong>delns als auch in der biotechnologischen<br />
<strong>Forschung</strong>slogik liegen, wird nicht<br />
reflektiert. Die Implikationen des eigenen<br />
H<strong>an</strong>delns für das Wertbewusstsein<br />
und die Wertgeltung werden ignoriert.In<br />
einer solchen weiten Perspektive verlieren<br />
Begrenzungsargumente ihr Gewicht.<br />
Es wird vielmehr deutlich, dass<br />
Begrenzungen je nach Entwicklung der<br />
<strong>Forschung</strong>simperative nahezu beliebig<br />
erweitert werden können. Ist die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
<strong>an</strong>gelaufen, können gegen eine verbrauchende<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung in großem<br />
Ausmaß systematisch-ethische Argumente<br />
nicht mehr plausibel gemacht<br />
werden. Eine verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
in großem Umf<strong>an</strong>g stellt<br />
d<strong>an</strong>n keinen „Missbrauch“ dar, sondern<br />
eine logische Konsequenz. Diese Begründungsmuster<br />
wiederholen sich bei<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>).<br />
In dieser sekundär legitimatorischen Argumentationsweise<br />
kommt ein weit verbreiteter<br />
unaufgeklärter Szientismus zum<br />
Ausdruck, der aus sich heraus keine Kriterien<br />
für einen „Fortschritt nach<br />
menschlichem Maß“ (3) hervorbringen<br />
k<strong>an</strong>n, weil er den „Fortschritt“ <strong>an</strong> imm<strong>an</strong>ente<br />
<strong>Forschung</strong>sperspektiven beziehungsweise<br />
-interessen der Wissenschaft<br />
oder der Forscher bindet. Jede Bioethik<br />
ist in dieser Perspektive eine Vermittlungsinst<strong>an</strong>z,<br />
die nachträglich die Gründe<br />
dafür liefern muss, warum Wertvorstellungen<br />
<strong>an</strong> den Fortschritt der Wissenschaft<br />
<strong>an</strong>gepasst werden müssen. Auch<br />
die Politik entscheidet d<strong>an</strong>n nicht autonom,sondern<br />
k<strong>an</strong>alisiert lediglich die Folgen<br />
der Entwicklung der Wissenschaft in<br />
eine strukturell akzeptable Form.<br />
In der Diskussion um die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen Stammzellen<br />
geht es nicht allein um diese selbst, sondern<br />
um die Ausein<strong>an</strong>dersetzung mit einem<br />
Szientismus und Bioutopismus, der<br />
nicht neu ist, sondern sich jetzt lediglich<br />
im Zuge der bevorstehenden Entgrenzungen<br />
der Verfügungsmacht durch die<br />
neuen Biotechnologien in modernem<br />
Gew<strong>an</strong>de zeigt. Eine Kritik dieser Positionen,<br />
gar eine politisch wirksame Mobilisierung<br />
gegen diese, muss die verschiedenen<br />
Dimensionen erkennen, die<br />
durch die neuen Biotechnologien<br />
berührt werden und die daher in diese<br />
Kritik Eing<strong>an</strong>g finden müssen.<br />
Heilung bleibt ein<br />
bedingtes Ziel<br />
Die neuen Biotechnologien umfassen:<br />
Die Neubesinnung auf den Begriff der<br />
Menschenwürde: Konstitutiv für den Begriff<br />
der Menschenwürde ist, dass diese<br />
nicht von Menschen nach bestimmten<br />
Kriterien <strong>an</strong>deren Menschen verliehen<br />
wird, sondern unabhängig aller Kriterien<br />
für alle gilt, die der Gattung Mensch <strong>an</strong>gehören.Nur<br />
indem die Menschenwürde<br />
der Verfügbarkeit durch <strong>an</strong>dere Menschen<br />
entzogen wird, gilt sie uneingeschränkt.<br />
Das bedeutet, dass kein Zweck<br />
die Menschenwürde zugunsten <strong>an</strong>derer<br />
Werte relativieren k<strong>an</strong>n.<br />
Die Bewertung des moralischen Status<br />
des Embryos: Ethische Urteile sind<br />
stets gemischte Urteile. Sie beruhen auf<br />
der ethischen Grundeinstellung, die einen<br />
Sachverhalt zu beurteilen hat. Das
D O K U M E N T A T I O N<br />
Urteil über den moralischen Status des<br />
Embryos muss somit dem plausibelsten<br />
biologischen Sachverhalt über den Beginn<br />
des Lebens <strong>an</strong>gepasst werden. Hier<br />
gilt: „Menschliches Leben, dem Würde<br />
und Schutzwürdigkeit zusteht, ist d<strong>an</strong>n<br />
gegeben, wenn eine menschliche Zelle<br />
mit ihrem individuellen Chromosomensatz<br />
das Potenzial einer kontinuierlichen<br />
Entwicklung in sich vereint.“ (4).<br />
Entscheidend ist, dass durch die Verschmelzung<br />
von menschlicher Ei- und<br />
Samenzelle eine neue genetische Identität<br />
entst<strong>an</strong>den ist, die die Zugehörigkeit<br />
dieses Lebens zur menschlichen<br />
Gattung festlegt. Somit kommt auch<br />
dem Embryo in vollem Umf<strong>an</strong>g Menschenwürde<br />
zu. Jede <strong>an</strong>dere Position bedeutet<br />
im Kern eine Zerstörung des Begriffs<br />
der Menschenwürde (5, 6).<br />
Die Reflexion auf <strong>Forschung</strong>sziele<br />
der medizinischen Wissenschaft: Soll<br />
der Szientismus überwunden werden,<br />
muss über die Inhalte des Fortschritts<br />
reflektiert werden. Folgende Grundthese<br />
könnte eine Ausg<strong>an</strong>gsbasis sein: Ziel<br />
der medizinischen Wissenschaft ist nicht<br />
die Abschaffung des Todes, sondern die<br />
Auslöschung der Schrecken, die mit der<br />
menschlichen Endlichkeit gegeben sein<br />
können. Heilung bleibt somit ein bedingtes<br />
Ziel. Heilung muss vielmehr mit<br />
Palliation zusammen realisiert werden,<br />
und zwar aus zwei Gründen: Heilung<br />
führt nicht zu weniger Kr<strong>an</strong>kheit, sondern<br />
verschiebt diese in höhere Altersstufen.Die<br />
einseitige Betonung der Heilung<br />
führt zw<strong>an</strong>gsläufig zu aggressiven<br />
Konsequenzen für diejenigen, die nicht<br />
geheilt werden können. Hier eröffnen<br />
sich die bedrückenden Perspektiven der<br />
Eugenik und des Sozialdarwinismus, die<br />
m<strong>an</strong> nur ermessen k<strong>an</strong>n, wenn m<strong>an</strong> sie<br />
nicht simplizistisch mit dem Nationalsozialismus<br />
gleichsetzt und durch seine<br />
Überhöhung zum absolut Bösen für erledigt<br />
hält. Es gibt keine ärztliche Pflicht<br />
zur Heilung um jeden Preis, wohl aber<br />
zum Beist<strong>an</strong>d in jeder Situation.<br />
Die Bedeutung der Menschenwürde<br />
für den Grundkonsens der liberalen Gesellschaft:<br />
Der Grundkonsens der liberalen<br />
Gesellschaft ist auf der Geltung der<br />
Menschenwürde gegründet. Er ist nicht<br />
positiv bestimmt, sondern dient vielmehr<br />
als Platzhalter für seine möglichen positiven<br />
Begründungen. Gerade in dieser negativen<br />
Bestimmung der Unverfügbarkeit<br />
verleiht er einer liberalen pluralistischen<br />
Gesellschaft ihre Fundamente. Das<br />
bedeutet nicht, dass die religiösen und<br />
philosophischen Begründungen dieser<br />
Menschenwürde deshalb irrelev<strong>an</strong>t sind.<br />
G<strong>an</strong>z im Gegenteil wächst dieser von<br />
ihren Begründungen die eigentliche Lebenskraft<br />
zu.Dies trifft sicher in besonderem<br />
Ausmaß für den christlichen Glauben<br />
<strong>an</strong> die Gottebenbildlichkeit des Menschen<br />
sowie Kreuz und Auferstehung zu.<br />
Einstieg in die verbrauchende<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung<br />
Wenn die Menschenwürde aber nun<br />
teilbar wird, verliert sie ihre einigende<br />
Kraft. Der Ausschluss bestimmter Personen<br />
aufgrund bestimmter Kriterien<br />
führt zu einer Spaltung der Gesellschaft<br />
in diejenigen, die diese Kriterien erfüllen,<br />
und die <strong>an</strong>deren, die dies nicht können.<br />
Es kommt darauf <strong>an</strong> zu erkennen,<br />
dass der Grundkonsens der liberalen<br />
Gesellschaft durch die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en<br />
embryonalen Stammzellen –<br />
wie auch durch das therapeutische Klonen<br />
und die <strong>PID</strong> – gefährdet ist.<br />
Aktuell zeichnet sich im ethischen Konflikt<br />
um die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzellen die Tendenz ab,<br />
diesen durch Begrenzungen des Verbrauchs<br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> zu neutralisieren.<br />
Nicht nur auf bundespolitischer Ebene ist die<br />
embryonale Stammzellforschung umstritten.<br />
Die Absicht des Bonner Neuropathologen, Prof.<br />
Dr. med. Oliver Brüste, <strong>an</strong> importierten embryonalen<br />
Stammzelllinien zu arbeiten, stößt auch<br />
<strong>an</strong> der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />
in Bonn auf Kritik. Zur Gewinnung derartiger<br />
Stammzellen sei eine Vernichtung menschlicher<br />
<strong>Embryonen</strong> notwendig, die durch künstliche<br />
Befruchtung erzeugt und d<strong>an</strong>n nicht mehr<br />
in die Gebärmutter der Frau übertragen worden<br />
seien, heißt es in einer von mehr als 20 Fakultätsmitgliedern<br />
unterzeichneten Stellungnahme<br />
(abrufbar unter www.aerzteblatt.de).<br />
Damit würden diese zu einem Zweck missbraucht,<br />
der ihrer ursprünglichen Bestimmung,<br />
zur Geburt eines Kindes zu verhelfen,<br />
eindeutig widerspreche: „Die <strong>Forschung</strong> mit<br />
embryonalen Stammzellen, die aus dem Ausl<strong>an</strong>d<br />
importiert wurden, schließt eine ethische<br />
und – sinngemäß – auch eine rechtliche Billigung<br />
dieses verbrauchenden Umg<strong>an</strong>gs mit <strong>Embryonen</strong><br />
ein“. In der von Priv.-Doz. Dr. med.<br />
In den USA entschied Präsident Bush, die<br />
staatliche Förderung der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en<br />
embryonalen Stammzellen auf bestimmte,schon<br />
vorh<strong>an</strong>dene Stammzelllinien<br />
zu beschränken. In Deutschl<strong>an</strong>d hat<br />
sich der Nationale Ethikrat mehrheitlich<br />
hin zu einer Empfehlung zum Import vorh<strong>an</strong>dener<br />
hum<strong>an</strong>er embryonaler Stammzelllinien<br />
orientiert. Die Argumentation<br />
geht in beiden Fällen dahin,dass es ethisch<br />
schwer zu vertreten wäre, dieses einmal<br />
schon vorh<strong>an</strong>dene <strong>Forschung</strong>spotenzial zu<br />
verwerfen. Dabei ist nicht selten die Neigung<br />
unverkennbar, den Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
von hum<strong>an</strong>er embryonaler Stammzellforschung<br />
und <strong>Embryonen</strong>verbrauch zu verschleiern.<br />
Die Befürworter dieser Lösung<br />
erhoffen sich, den Konflikt zwischen den<br />
Anliegen der „Lebensschützer“ einerseits<br />
und der Zeitnot der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong>dererseits<br />
im Sinne eines pragmatischen Moratoriums<br />
zu entschärfen: <strong>Forschung</strong> ja, aber<br />
nur <strong>an</strong> vorh<strong>an</strong>denen Stammzelllinien.<br />
Diese Argumentation ist nur noch politisch<br />
bestimmt.Sie zeigt,wie sehr die <strong>an</strong>gebliche<br />
Naturwüchsigkeit des biotechnologischen<br />
Fortschritts durch politische<br />
Entscheidungen gefördert wird.Aus ethischer<br />
Sicht muss jedoch darauf best<strong>an</strong>den<br />
werden, dass die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> importierten<br />
hum<strong>an</strong>en embryonalen Stammzellen<br />
eine Teilhabe <strong>an</strong> der Ver<strong>an</strong>twortung für<br />
die Tötung der entsprechenden <strong>Embryonen</strong><br />
zwingend beinhaltet.<br />
Diskussion <strong>an</strong> der Bonner Universität<br />
S<strong>an</strong>tiago Ewig, Priv.-Doz. Dr. med.Axel Glasmacher<br />
und Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach verfassten<br />
Stellungnahme wird dies als mit der Menschenwürde<br />
unvereinbar <strong>an</strong>gesehen. „Das sich<br />
aus der Würde des Menschen ergebende Recht<br />
auf Leben darf auch zu ,hochr<strong>an</strong>gigen‘ therapeutischen<br />
Zwecken für <strong>an</strong>dere nicht infrage<br />
gestellt werden.“<br />
Andere Bonner Wissenschaftler unterstützen<br />
das Vorhaben von Brüstle. Der zeigt sich optimistisch,<br />
die „<strong>Forschung</strong> allerspätestens zu Beginn<br />
des neuen Jahres auch in Deutschl<strong>an</strong>d aufnehmen<br />
zu können“. Zuvor müsse neben der lokalen<br />
Ethikkommission der Universität Bonn die<br />
Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft (DFG) die<br />
einzelnen Projektschritte begutachten und genehmigen.<br />
Zusätzlich werde der Bonner Leiter<br />
des Instituts für Wissenschaft und Ethik, Prof. Dr.<br />
phil. Ludger Honnefelder, die <strong>Forschung</strong>en begleiten.<br />
Brüstle forderte die DFG auf, noch in diesem<br />
Jahr klar zum Import menschlicher Stammzellen<br />
Stellung zu beziehen. Dazu regte er einen<br />
Zweistufenpl<strong>an</strong> <strong>an</strong> (DÄ, Heft 48/2001). Kli<br />
117
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 49, 7. Dezember 2001<br />
<strong>Dokumentation</strong><br />
Stellungnahme der Zentralen<br />
Ethikkommission<br />
zur Stammzellforschung<br />
Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer<br />
hat die Aufgabe, Stellungnahmen<br />
zu ethischen Fragen abzugeben, die durch den Fortschritt<br />
und die technologische Entwicklung in der<br />
Medizin und ihren Grenzgebieten aufgeworfen werden<br />
und die eine argumentative Antwort erfordern.<br />
Die Kommission hat als unabhängiges Gremium<br />
1995 ihre Arbeit aufgenommen und ist multidisziplinär<br />
zusammengesetzt. Sie besteht aus 16 Mitgliedern;<br />
neben 5 Ärzten der verschiedenen Fachdisziplinen<br />
gehören ihr Naturwissenschaftler, Juristen,<br />
Philosophen,Theologen und Soziologen <strong>an</strong>.<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung und Stammzellforschung<br />
werden zurzeit öffentlich und wissenschaftlich<br />
kontrovers diskutiert. Die Zentrale Ethikkommission<br />
sieht es als ihre Aufgabe <strong>an</strong>, zu den damit verbundenen<br />
Fragen Stellung zu nehmen, und legt<br />
nachfolgend in Thesenform die Ergebnisse ihrer Beratungen<br />
vor. Hinsichtlich der Begründung verweist<br />
sie auf eine ausführliche Stellungnahme, die in<br />
Kürze vorgelegt werden wird. Hier wird sich die<br />
Zentrale Ethikkommission auch zur Frage des<br />
somatischen Zellkerntr<strong>an</strong>sfers (so gen<strong>an</strong>ntes therapeutisches<br />
Klonen) differenziert äußern.<br />
1. Die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> Stammzellen steht ungeachtet<br />
viel versprechender Ergebnisse in weiten Bereichen<br />
noch am Anf<strong>an</strong>g.Viele wichtige Fragen zur Biologie<br />
und zum Potenzial embryonaler, fetaler und<br />
adulter Stammzellen sowie der Stammzellen aus<br />
Nabelschnurblut sind bisher nicht be<strong>an</strong>twortet. Dies<br />
betrifft insbesondere auch eine Abschätzung der<br />
klinischen Möglichkeiten, die durch den Einsatz der<br />
verschiedenen Stammzelltypen verwirklicht werden<br />
könnten.<br />
2. Die Zentrale Ethikkommission weist darauf<br />
hin, dass die entsprechende <strong>Forschung</strong> bisher weithin<br />
reine Grundlagenforschung darstellt. Die bisherige<br />
Charakterisierung von Stammzellen reicht für<br />
den klinischen Einsatz noch keineswegs aus. Auch<br />
wenn überraschende Durchbrüche niemals auszuschließen<br />
sind, warnt die Zentrale Ethikkommission<br />
Die sich abzeichnenden Entscheidungen<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d bedeuten den Einstieg<br />
in die verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
einschließlich des therapeutischen<br />
Klonens. Der geistige Widerst<strong>an</strong>d<br />
gegen die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzellen entspringt nicht<br />
einer „fundamentalistischen“, gar ausschließlich<br />
konfessionell begründeten<br />
Gegenposition. Vielmehr sind die Gegner<br />
dieser <strong>Forschung</strong> Verteidiger der<br />
Menschenwürde, die die Grundlage des<br />
liberalen Rechtsstaats bildet. Möglicherweise<br />
ist der Einstieg in die verbrauchende<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung auch in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d nicht mehr abzuwenden.<br />
Entgegen den Suggestionen ihrer Protagonisten<br />
h<strong>an</strong>delt es sich dabei jedoch<br />
nicht um einen naturwüchsigen und unabänderlichen<br />
„Fortschritt“,sondern um<br />
reversible politische Entscheidungen,<br />
auch wenn im Falle des <strong>Embryonen</strong>verbrauchs<br />
die Opfer nicht mehr rückgängig<br />
gemacht werden können. Auch nach<br />
der Empfehlung des Nationalen Ethikrats<br />
und der noch offenen Entscheidung<br />
der Politik: Der politische Konflikt<br />
um die Menschenwürde hat erst begonnen.<br />
Er muss in der Subst<strong>an</strong>z eine Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
über die Grundlagen<br />
unseres Gemeinwesens und um die Inhalte<br />
und Ziele des „Fortschritts“ sein.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3268–3270 [Heft 49]<br />
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis,<br />
das über den Sonderdruck beim Verfasser<br />
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Priv.-Doz. Dr. med. S<strong>an</strong>tiago Ewig<br />
Oberarzt der Medizinischen Universitäts-Poliklinik<br />
der Universität Bonn<br />
Wilhelmstraße 35, 53111 Bonn<br />
eindringlich vor übertriebenen und voreiligen Heilungsversprechen<br />
beziehungsweise -erwartungen.<br />
Lediglich die <strong>Forschung</strong> mit speziellen hämatopoetischen<br />
Stammzellen hat bisher zu einer klinischen<br />
Anwendung in der Onkologie geführt.<br />
3. Die Zentrale Ethikkommission verweist auf<br />
die gesellschaftliche Bedeutung der Grundlagenforschung<br />
und der patientenbezogenen <strong>Forschung</strong>.Aus<br />
gutem Grund ist die Wissenschaftsfreiheit von der<br />
Verfassung individuell und institutionell gar<strong>an</strong>tiert.<br />
4. Die Zentrale Ethikkommission verweist darauf,<br />
dass das Bemühen um Fortschritte bei der<br />
Heilung und Linderung von Kr<strong>an</strong>kheiten auch im<br />
Hinblick auf zukünftige Generationen ein hohes<br />
ethisches und soziales Gut darstellt. Auch aus<br />
verfassungsrechtlicher Sicht besteht eine entsprechende<br />
Schutzpflicht des Staates für Leben und<br />
Gesundheit der Patienten.<br />
5. Die Zentrale Ethikkommission verweist darauf,<br />
dass die Rechtsordnung auch dem ungeborenen<br />
menschlichen Leben in seinen frühesten Formen<br />
Schutz der Menschenwürde und des Lebens<br />
zuspricht. Daraus resultiert aber offenbar keine<br />
absolute, jedweder Abwägung entzogene Schutzpflicht.<br />
Dies zeigt die Güter- und Interessenabwägung<br />
beim Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch und beim<br />
Gebrauch von Nidationshemmern. 1<br />
6. Die Zentrale Ethikkommission ist sich bewusst,<br />
dass die Gewinnung und Nutzung von<br />
hum<strong>an</strong>en embryonalen Stammzellen gravierendere<br />
ethische Probleme aufwerfen als die der adulten<br />
und fetalen Stammzellen sowie der Stammzellen<br />
aus Nabelschnurblut.<br />
7. Ethische Güterabwägungen zwischen hochr<strong>an</strong>gigen<br />
Schutzinteressen sind in der medizinischen<br />
<strong>Forschung</strong> und Praxis oft unausweichlich.<br />
Die Zentrale Ethikkommission bejaht einstimmig<br />
auch im Hinblick auf die <strong>Forschung</strong> mit hum<strong>an</strong>en<br />
embryonalen Stammzellen die prinzipielle Zulässigkeit<br />
einer Güterabwägung aus ethischer Sicht.<br />
Im Blick auf Art und Umf<strong>an</strong>g der Güterabwägung<br />
und ihrer Konsequenzen gehen die Auffassungen in<br />
der Zentralen Ethikkommission allerdings ausein<strong>an</strong>der.<br />
8.Aufgrund der vorstehenden Darlegungen und<br />
unter Abwägung auch entgegenstehender Argumente<br />
ist die Zentrale Ethikkommission mehrheitlich<br />
(bei 1 Gegenstimme) der Ansicht, dass menschliche<br />
<strong>Embryonen</strong>, die für Zwecke der assistierten<br />
Reproduktion erzeugt wurden, aber nicht impl<strong>an</strong>tiert<br />
werden können, für <strong>Forschung</strong>szwecke verwendet<br />
werden dürfen, die nicht vergleichbar auf<br />
<strong>an</strong>dere Weise (zum Beispiel durch <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
adulten Stammzellen oder <strong>an</strong> tierischen Zellen)<br />
erreicht werden können. Öffentlich und privat fin<strong>an</strong>zierte<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben mit hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzellen sollten hinsichtlich ihrer Zulässigkeit<br />
von einer unabhängigen, interdisziplinär zusammengesetzten<br />
Kommission beurteilt werden.<br />
9. Die Zentrale Ethikkommission spricht sich unter<br />
den vorstehend gen<strong>an</strong>nten Voraussetzungen<br />
mehrheitlich (bei 4 Gegenstimmen) dafür aus, den<br />
Import von pluripotenten embryonalen Stammzellen<br />
nicht zu behindern. 2<br />
10. Die Zentrale Ethikkommission ist einstimmig<br />
der Ansicht, dass die gezielte Herstellung von<br />
<strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken auf dem Weg<br />
der Befruchtung ethisch nicht vertretbar ist.<br />
11. Die Zentrale Ethikkommission ist einstimmig<br />
der Ansicht, dass das reproduktive Klonen<br />
von Menschen, gleichgültig auf welchem Weg es<br />
erfolgt, nicht vertretbar ist.<br />
12. Die Zentrale Ethikkommission empfiehlt einstimmig<br />
eine intensive begleitende <strong>Forschung</strong> der<br />
ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen<br />
der Stammzellforschung.<br />
Köln, 23. November 2001<br />
1 Aus moraltheologischer Sicht ist diese Regelung allerdings<br />
zu hinterfragen.<br />
2 Anmerkung Prof. Doerfler/Prof. Helmchen: Wir haben gegen<br />
die Zulassung des Imports embryonaler Stammzellen bei<br />
gleichzeitig durch das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz bestehendem<br />
Verbot der Gewinnung dieser Zellen in Deutschl<strong>an</strong>d gestimmt.<br />
Es wäre für uns mehr als fragwürdig und völlig inakzeptabel,<br />
wenn m<strong>an</strong> die in der Bundesrepublik von m<strong>an</strong>chen gesellschaftlichen<br />
Gruppen aus ethischen Gründen abgelehnte Gewinnung<br />
embryonaler Stammzellen Wissenschaftlern in <strong>an</strong>deren<br />
Ländern überließe, sich die Vorteile der <strong>Forschung</strong>sergebnisse,<br />
die mit diesen Zellen vielleicht einmal gewonnen werden<br />
können, in Deutschl<strong>an</strong>d d<strong>an</strong>n aber nutzbar machte. Diese<br />
Mentalität des unverbindlichen „SOWOHL ALS AUCH“ ist unrealistisch<br />
und würde von unseren Kollegen in <strong>an</strong>deren Ländern<br />
mit Misstrauen betrachtet: Some Germ<strong>an</strong>s w<strong>an</strong>t to have<br />
their cake <strong>an</strong>d eat it too.<br />
Die „Zentrale Ethikkommission“ ist zwar bei der Bundesärztekammer<br />
(BÄK) eingerichtet, in ihrer Arbeit aber von der<br />
BÄK unabhängig. Die hier dokumentierte Stellungnahme<br />
gibt somit nicht die BÄK-Auffassung wieder; deren Vorst<strong>an</strong>d<br />
hat sich noch keine Meinung gebildet.<br />
DÄ<br />
118
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 49, 7. Dezember 2001<br />
Hartmut Kreß<br />
Stammzellforschung (II)<br />
Menschenrecht auf Gesundheit<br />
Die Verwendung verwaister <strong>Embryonen</strong> ist ethisch denkbar.<br />
Die Debatte um die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
embryonalen Stammzellen ist<br />
durch die Empfehlungen der<br />
Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) vom 3. Mai in Bewegung geraten.<br />
Die DFG votierte für eine stärkere<br />
Beteiligung <strong>an</strong> der <strong>Forschung</strong> mit<br />
Stammzelllinien von <strong>Embryonen</strong>, die<br />
bei künstlicher Befruchtung übrig geblieben<br />
sind. Demgegenüber hat zum<br />
Beispiel die Bundesjustizministerin<br />
„absolute Grenzen“ gefordert. Der<br />
diesjährige (104.) Deutsche Ärztetag<br />
hielt diese <strong>Forschung</strong> „derzeit“ nicht für<br />
ratsam.<br />
Es steht außer Frage: Der Umg<strong>an</strong>g<br />
mit <strong>Embryonen</strong> und die Beurteilung<br />
des moralischen Status von <strong>Embryonen</strong><br />
berühren das Menschenbild und<br />
das Verständnis von Menschenwürde<br />
zutiefst. Deshalb hat es seinen guten<br />
Sinn, dass heutzutage zum <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
auf einer Basis reflektiert<br />
wird, die kulturgeschichtlich gesehen<br />
äußerst restriktiv ist. Erst seit der Aufklärungsepoche,<br />
vor allem seit dem<br />
Preußischen Allgemeinen L<strong>an</strong>drecht<br />
von 1794, setzte sich die strikte Auffassung<br />
durch, das ungeborene Kind<br />
schon von vornherein, von der Zeugung<br />
<strong>an</strong>, im vollen Sinn als schutzwürdigen<br />
Menschen zu erachten.<br />
Die katholische Kirche hat sich sogar<br />
erst 1869 endgültig von ihrer alten Lehre<br />
getrennt, das vorgeburtliche Leben<br />
werde erst am 80. oder 90. Tag nach der<br />
Empfängnis zu einem Menschen im eigentlichen<br />
Sinn. Diese Lehre gründete<br />
auf der Idee einer stufenweisen Beseelung,<br />
die Aristoteles oder Thomas von<br />
Aquin entwickelt hatten. Das volle<br />
Menschsein des Fetus resultiere aus der<br />
Einstiftung einer Geistseele, die, nach<br />
zwei Vorstufen der Beseelung, schließlich<br />
mehrere Wochen nach der Empfängnis<br />
stattfinde. Deshalb war für<br />
das mittelalterliche Kirchenrecht eine<br />
frühe Abtreibung der Leibesfrucht, vor<br />
der Einstiftung der Geistseele, viel weniger<br />
problematisch als eine spätere<br />
Abtreibung.<br />
Kein „absoluter“ Lebensschutz<br />
Letztlich verhalfen d<strong>an</strong>n die moderne,<br />
naturwissenschaftlich fundierte Biologie<br />
und Embryologie der restriktiven<br />
Sicht zum Durchbruch, dass der Embryo<br />
von vornherein ein eigenständiger<br />
schutzwürdiger Mensch ist. Biologisch<br />
betrachtet entwickelt sich der<br />
Embryo aus seiner genetischen Anlage<br />
heraus kontinuierlich zu einer vollständigen<br />
Person. Normativ-ethisch<br />
ausgedrückt: Er besitzt von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong><br />
eine so gen<strong>an</strong>nte starke, nämlich eine<br />
aktive, in ihm selbst als Subjekt ver<strong>an</strong>kerte<br />
Potenzialität zum Personsein.<br />
Ethisch und menschenrechtlich gilt,<br />
dass die Menschenwürde jedem<br />
menschlichen Individuum gleicherweise<br />
und voraussetzungslos zukommt.<br />
Deshalb sind auch dem Embryo bereits<br />
in seinen frühesten Lebensstadien<br />
Schutzwürdigkeit und Lebensrecht zuzusprechen.<br />
Inzwischen mehren sich jedoch Stimmen,<br />
die einen gradualisierten <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
vertreten. Ihnen zufolge<br />
nimmt die Schutzwürdigkeit des Embryos<br />
mit steigendem Reifegrad beziehungsweise<br />
mit fortschreitender Individualentwicklung<br />
zu. Solche Überlegungen<br />
wirken fast wie eine Aktualisierung<br />
der alten philosophisch-theologischen<br />
Idee der stufenweisen Beseelung des<br />
Fetus. Ihnen ist entgegenzuhalten, dass<br />
ethischer Begriffsbildung zufolge „Würde“<br />
oder „Schutzwürdigkeit“ einer Abstufung,<br />
Steigerung oder Qu<strong>an</strong>tifizierung<br />
grundsätzlich entzogen sind. Schon<br />
deswegen k<strong>an</strong>n ein Gradualitätskonzept<br />
nicht überzeugen.<br />
Umgekehrt lässt sich aber auch<br />
nicht der Ged<strong>an</strong>ke aufrechterhalten,<br />
der <strong>Embryonen</strong>schutz gelte in „absoluter“<br />
Form. Einen absoluten St<strong>an</strong>dpunkt<br />
zu vertreten, bedeutet, von konkreten<br />
Umständen, Situationen und H<strong>an</strong>dlungskonstellationen<br />
g<strong>an</strong>z abzusehen.<br />
Aus einem solchen Rigorismus heraus<br />
hat der Vatik<strong>an</strong>, der nunmehr die Geistbeseelung<br />
des Embryos sofort bei der<br />
Empfängnis lehrt, jetzt den Rückzug<br />
der deutschen katholischen Kirche aus<br />
der gesetzlichen Schw<strong>an</strong>gerschaftskonfliktberatung<br />
durchgesetzt. Die Deutsche<br />
Bischofskonferenz hat im März<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik kategorisch<br />
abgelehnt.<br />
Das Postulat „absoluter Grenzen“<br />
oder eines „absoluten“ <strong>Embryonen</strong>schutzes<br />
ist aber, g<strong>an</strong>z abgesehen von<br />
Evidenz- und Akzept<strong>an</strong>zproblemen in<br />
einer pluralen Gesellschaft, auch ethiktheoretisch<br />
nicht plausibel. In begründeten<br />
Fällen hat die Ethik Ausnahmen<br />
vom Lebensschutz stets zugestehen<br />
müssen. Klassische Beispiele sind die<br />
Notwehr, die Nothilfe oder der Verteidigungskrieg.<br />
Eine Relativierung von<br />
Lebensschutz und Lebenserhaltung<br />
liegt auch bei der passiven Sterbehilfe<br />
vor. Dort ist die Einsicht leitend, dass<br />
unerträglich gewordenes Leiden ein<br />
Ende haben darf und ein Sterben in<br />
Würde möglich sein sollte. Der Lebensschutz<br />
wird ferner relativiert, wenn in<br />
Konfliktfällen der Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
toleriert wird oder wenn das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz darauf verzichtet,<br />
überzählige beziehungsweise<br />
verwaiste <strong>Embryonen</strong> am Leben zu erhalten<br />
(etwa durch Zulassung pränataler<br />
Adoption).<br />
So unterschiedlich diese Beispiele<br />
sind, belegen sie doch, dass in besonders<br />
begründeten Fällen sogar das<br />
menschliche Leben selbst in eine Abwägung<br />
gestellt werden darf. Die Würde<br />
des Menschseins und das Prinzip,<br />
dass der Lebensschutz fundamental ist<br />
und im Zweifel stets vorr<strong>an</strong>gig Geltung<br />
besitzt, werden dadurch nicht beeinträchtigt.<br />
Den Lebensschutz jedoch<br />
„absolut“ setzen zu wollen lässt sich<br />
119
D O K U M E N T A T I O N<br />
<strong>an</strong>gesichts konkreter Konflikt- und<br />
Entscheidungssituationen nicht durchhalten.<br />
Besondere Abwägungsaspekte<br />
für frühe embryonale Stadien<br />
Für die frühen embryonalen Stadien,<br />
um die es bei der Stammzellforschung<br />
geht, hat die Ethik noch besondere Abwägungsaspekte<br />
zu beachten. So ist zu<br />
fragen, ob – <strong>an</strong>gesichts der fließenden<br />
Übergänge zwischen Toti- und Pluripotenz<br />
und der Reprogrammierbarkeit<br />
spezialisierter Zellen – die Totipotenz<br />
noch ein plausibles, h<strong>an</strong>dhabbares Abgrenzungskriterium<br />
bildet. Zudem ist<br />
der Embryo nach der Nidation noch<br />
viel deutlicher als vorher ein sich selbst<br />
entwickelndes Individuum. Indem sich<br />
seine Körperachse ausbildet, nimmt er<br />
als Individuum „Gestalt“ <strong>an</strong>; Zwillingsbildung<br />
ist nicht mehr möglich. Insofern<br />
stellt sich die Frage, ob g<strong>an</strong>z frühe Embryonalstadien<br />
vor der Nidation exakt<br />
genauso wie der Embryo nach der<br />
Nidation geschützt werden müssen. Für<br />
diese frühembryonale Phase sollte zwar<br />
keine nach unten hin „abgestufte“<br />
Schutzwürdigkeit behauptet werden.<br />
Aber es lässt sich eine etwas größere<br />
Ausnahmemöglichkeit vom grundsätzlich<br />
geltenden Lebensschutz und Lebenserhalt<br />
vertreten.<br />
Deshalb werden für die Stammzellforschung<br />
die Verwendung verwaister,<br />
ohnehin dem Tod ausgelieferter <strong>Embryonen</strong><br />
und theoretisch sogar überg<strong>an</strong>gsweise<br />
eine Reprogrammierung<br />
von Zellkernen, bei der ein Abbruch<br />
der Entwicklung nach wenigen Tagen<br />
erfolgt, ethisch denkbar. Dass darauf<br />
bezogene Abwägungen legitim sind,<br />
begründet sich aus den herausgehobenen<br />
Zielen der Stammzellforschung,<br />
nämlich der Therapie von Kr<strong>an</strong>kheiten,<br />
bei denen konventionelle Beh<strong>an</strong>dlungsmethoden<br />
<strong>an</strong> Grenzen stoßen. In<br />
bestimmten Fällen scheint der alleinige<br />
Rückgriff auf adulte Stammzellen heutigem<br />
Ermessen zufolge unzureichend<br />
zu bleiben.<br />
Das Votum, das die DFG zugunsten<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
abgab, legte vor allem auf die <strong>Forschung</strong>sfreiheit<br />
Wert. Diese bildet in der<br />
Tat einen Kern neuzeitlicher Verfassungsprinzipien<br />
und ist auch in der EU-<br />
Grundrechtscharta tragend. Für die Abwägung,<br />
die die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen betrifft, dürfte letztlich<br />
jedoch dem Menschenrecht auf Gesundheit<br />
eine noch höhere Aussagekraft<br />
zukommen. Denn der <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
einerseits und die Gesundheitsförderung<br />
<strong>an</strong>dererseits stehen als vitale,<br />
das Leben betreffende Güter in innerem<br />
Bezug zuein<strong>an</strong>der. Das Menschenrecht<br />
auf Gesundheit, nämlich das<br />
Recht des Einzelnen auf „das erreichbare<br />
Höchstmaß <strong>an</strong> Gesundheit“, haben<br />
Internationale Konventionen kodifiziert<br />
(Internationaler Pakt für wirtschaftliche,<br />
soziale und kulturelle Rechte<br />
von 1966 oder die UN-Kinderrechtskonvention<br />
von 1989). Die EU-Grundrechtscharta<br />
fordert ein „hohes Gesundheitsschutzniveau“<br />
für die „Durchführung<br />
aller Politiken und Maßnahmen“.<br />
Das Recht auf Gesundheit zählt<br />
zu jenen Menschenrechten, die staatlicherseits<br />
nach Maßgabe der jeweiligen<br />
technischen, ökonomischen und sozialkulturellen<br />
Bedingungen zu fördern<br />
sind. Auch auf der Basis einer Ethik<br />
der Zukunftsver<strong>an</strong>twortung, mithin im<br />
Blick auf schwere Kr<strong>an</strong>kheitsbilder<br />
künftig lebender Patienten, ist das Menschenrecht<br />
auf Gesundheit bedeutsam.<br />
Normierende Kriterien und<br />
perm<strong>an</strong>ente Überprüfung<br />
Es ist argumentativ unvertraut und neuartig,<br />
den Schutz von <strong>Embryonen</strong>, also<br />
ein Schutzrecht einerseits, und das<br />
Recht auf Gesundheit als menschenrechtlichen<br />
Anspruch <strong>an</strong>dererseits in einen<br />
Ausgleich zu bringen. Voraussetzung<br />
für eine – therapeutischen Zielen<br />
dienende – embryonale Stammzellforschung<br />
müssten normierende Kriterien,<br />
perm<strong>an</strong>ente Überprüfung und die Möglichkeit<br />
der Korrektur einmal betretener<br />
<strong>Forschung</strong>spfade sein. Die Gefahr,<br />
dass durch diese <strong>Forschung</strong> die Ethik<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzes oder gar die<br />
kulturelle Geltung der Menschenwürde<br />
generell ausgehöhlt würde, könnte so<br />
abgewehrt werden.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3272–3274 [Heft 49]<br />
Literatur<br />
1. Demel S:Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation.<br />
Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1995.<br />
2. Knoepffler N: Menschliche <strong>Embryonen</strong> und medizinethische<br />
Konfliktfälle. In: Knoepffler N, H<strong>an</strong>iel A<br />
(Hrsg.): Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle.<br />
Stuttgart, Leipzig: Hirzel, 2000; 55–66.<br />
3. Kreß H: Menschenwürde vor der Geburt. Grundsatzfragen<br />
und gegenwärtige Entscheidungsprobleme<br />
(Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik; Nutzung von Stammzellen).<br />
In: Kreß H/Kaatsch H-J (Hrsg.): Menschenwürde,<br />
Medizin und Bioethik. Münster: LIT, 2000; 11–37.<br />
4. Kreß H: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, der Status von<br />
<strong>Embryonen</strong> und embryonale Stammzellen. In: Zeitschrift<br />
für Ev<strong>an</strong>gelische Ethik 2001; 46: 230–235.<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. theol. Hartmut Kreß<br />
Universität Bonn, Ev<strong>an</strong>gelisch-<strong>Theologische</strong> Fakultät<br />
Abteilung Sozialethik<br />
Am Hof 1, 53113 Bonn<br />
E-Mail: hkress@uni-bonn.de<br />
120
3., erweiterte Auflage<br />
der <strong>Dokumentation</strong><br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong><br />
Aufsätze<br />
Berichte<br />
Diskussionsbeiträge<br />
Kommentare<br />
im Deutschen Ärzteblatt<br />
Beiträge aus 2002<br />
www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung
Seite122.qxd 25.02.2004 10:44 Seite 122<br />
V O R W O R T<br />
Dossier zur <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
<strong>Embryonen</strong><br />
Das Deutsche Ärzteblatt gibt eine erweiterte <strong>Dokumentation</strong><br />
heraus, die im Internet abgerufen werden k<strong>an</strong>n.<br />
Ein Ende der Diskussion<br />
über Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
ist nicht in Sicht.<br />
Als das Deutsche Ärzteblatt im Jahr 2002 seine<br />
erweiterte <strong>Dokumentation</strong> zu embryonaler<br />
Stammzellforschung, pränataler Diagnostik<br />
(<strong>PND</strong>) und Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) vorlegte, war die Diskussion über diese<br />
Themen in vollem G<strong>an</strong>ge. Ein Ende ist nach wie<br />
vor nicht in Sicht. Ausgelöst wurde der öffentliche<br />
Diskurs durch den vom Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
vorgelegten „Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
im März 2000.<br />
Von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> hat sich das Deutsche Ärzteblatt<br />
<strong>an</strong> der Debatte beteiligt und die unterschiedlichsten<br />
Stimmen zu Wort kommen lassen. In einem<br />
Sonderdruck aus dem Jahr 2001 wurden diese<br />
Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Unmerklich verlagerte<br />
sich der Schwerpunkt d<strong>an</strong>n von der Diskussion<br />
über die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zur <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> und mit <strong>Embryonen</strong> und zur Gewinnung<br />
von Stammzellen. Die<br />
Meinungsbildung in der Ärzteschaft<br />
spiegelt sich in der<br />
Berichterstattung und Kommentierung<br />
des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider,wie die ein<br />
Jahr später publizierte Materialsammlung beweist.Auch<br />
dieser Sonderdruck war – ebenso wie<br />
die erste Auflage – schnell vergriffen.<br />
Inzwischen sind im Deutschen Ärzteblatt zahlreiche<br />
weitere Beiträge zu der Thematik erschienen.<br />
Darin wird deutlich, dass nach wie vor großer<br />
Diskussionsbedarf besteht. So berichtete das DÄ<br />
beispielsweise über die Beschlusslage zur internationalen<br />
Klonkonvention. Bisher gibt es noch keine<br />
Einigung.Im November 2003 gingen die Vertreter<br />
der UN-Mitgliedstaaten ergebnislos ausein<strong>an</strong>der,<br />
sie verschoben die Verh<strong>an</strong>dlungen um weitere<br />
zwei Jahre. Es geht immer noch um die Frage, ob<br />
nur das reproduktive Klonen oder auch das therapeutische<br />
Klonen weltweit geächtet werden<br />
soll. Inzwischen ist es einem Team der südkore<strong>an</strong>ischen<br />
Nationaluniversität Seoul gelungen,<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> zu klonen. Als „Durchbruch<br />
in der Medizin“ haben die Forscher ihr Experiment<br />
bezeichnet. Auf seiner Basis wollen sie<br />
Ersatzgewebe „therapeutisch klonen“, um Kr<strong>an</strong>ke<br />
zu heilen. Für Kritiker ist dieser Menschenversuch<br />
Anlass, noch vehementer ein internationales Klonverbot<br />
zu fordern. Doch die Haltung Deutschl<strong>an</strong>ds<br />
ist uneinheitlich. Während sich der Bundestag für<br />
ein absolutes Klonverbot ausgesprochen hatte,<br />
unterstützte die Regierung dies nicht. Während<br />
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn<br />
betonte, dass das therapeutische Klonen in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten sei und<br />
es auch bleibe, sprach sich<br />
Bundesjustizministerin Brigitte<br />
Zypries vor kurzem für<br />
eine Lockerung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
aus. Dies<br />
stieß auf teilweise scharfe Kritik<br />
aus der Ärzteschaft, bei Kirchen, aber auch Politikern.Ausführlich<br />
berichtet wurde im Deutschen<br />
Ärzteblatt auch über die Pläne der EU-Kommission,<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
mit Milliardensummen fin<strong>an</strong>ziell zu fördern.<br />
Im Bereich der pränatalen Diagnostik besteht<br />
ebenfalls weiterhin Klärungsbedarf. So werden<br />
zunehmend Forderungen erhoben, die Abtreibungsregelung<br />
zu ändern, da durch den Wegfall<br />
der embryopathischen Indikation Spätabtreibungen<br />
bis zur Geburt möglich geworden sind.<br />
Die Beiträge der DÄ-Redakteurinnen und<br />
-Redakteure zu diesen Themen sowie Aufsätze<br />
und Kommentare von Ärzten, Wissenschaftlern<br />
und Theologen mit teilweise konträren Ansichten<br />
sind in dieser erweiterten <strong>Dokumentation</strong> veröffentlicht.<br />
Sie ist inzwischen so umf<strong>an</strong>greich geworden,<br />
dass eine Publikation als Sonderdruck<br />
den Rahmen sprengen würde, sodass sich die Redaktion<br />
entschlossen hat, sie online zu veröffentlichen.<br />
Zusätzlich können unter <strong>an</strong>derem<br />
auch der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, wichtige Gesetze,<br />
wie das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz und das<br />
Stammzellgesetz, Positionspapiere und Stellungnahmen<br />
sowie die Entschließungen der Deutschen<br />
Ärztetage zu dieser Thematik abgerufen<br />
werden.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Die Meinungsbildung in der<br />
Ärzteschaft spiegelt sich in<br />
der Berichterstattung und<br />
Kommentierung des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider.<br />
122
D O K U M E N T A T I O N<br />
Vorwort zur 1. Auflage<br />
Beiträge zum Diskurs<br />
Als der Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
den „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
vorlegte, rief er zugleich zu einem<br />
öffentlichen Diskurs auf. Der läuft seit<br />
nunmehr rund eineinhalb Jahren und<br />
hat einen kaum noch fassbaren Niederschlag<br />
in der Presse gefunden. Inzwischen<br />
bringen auch Funk und Fernsehen<br />
fast täglich Diskussionen nicht mehr<br />
nur zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>), sondern auch zur <strong>Embryonen</strong>forschung.<br />
Das Deutsche Ärzteblatt hat sich<br />
von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> <strong>an</strong> dem Diskurs beteiligt<br />
und die unterschiedlichsten Stimmen<br />
zu Wort kommen lassen. In diesem<br />
Sonderdruck sind diese Beiträge, beginnend<br />
mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Die Redaktion hat<br />
sich sehr um Vollständigkeit bemüht,<br />
gleichwohl k<strong>an</strong>n nicht ausgeschlossen<br />
werden, dass vielleicht ein Leserbrief<br />
oder eine kleinere Notiz fehlen. Die<br />
Diskussion ist im Übrigen keineswegs<br />
abgeschlossen. Weitere Beiträge für<br />
spätere Hefte des Deutschen Ärzteblattes<br />
sind in Satz – Stoff genug für eine<br />
allfällige erweiterte Auflage des Sonderdrucks.<br />
Der <strong>Dokumentation</strong> der im Deutschen<br />
Ärzteblatt erschienenen Beiträge<br />
sind vor<strong>an</strong>gestellt ein Interview mit dem<br />
Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
und des Deutschen Ärztetages, geführt<br />
im Vorfeld des in diesen Tagen beginnenden<br />
104. Deutschen Ärztetages, sowie<br />
der Bericht über die einschlägige<br />
Diskussion beim vor<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>genen 103.<br />
Deutschen Ärztetag.<br />
Im Grunde genommen müsste eine<br />
vollständige <strong>Dokumentation</strong> über die<br />
Auffassungen der Ärzteschaft in der mit<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zusammenhängenden<br />
Thematik weitaus früher beginnen,<br />
zumindest mit dem 88. Deutschen<br />
Ärztetag, der 1985 in Lübeck-Travemünde<br />
seine Haltung zur In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF) formulierte. Bereits damals<br />
wurden die daraus entstehenden<br />
Probleme der <strong>Embryonen</strong>forschung klar<br />
erk<strong>an</strong>nt, der Umg<strong>an</strong>g mit den so gen<strong>an</strong>nten<br />
überzähligen <strong>Embryonen</strong> diskutiert.<br />
Der Ärztetag sprach sich schließlich<br />
mit großer Mehrheit zugunsten von IVF<br />
aus. Zur <strong>Embryonen</strong>forschung stellte er<br />
fest: „Experimente mit <strong>Embryonen</strong> sind<br />
grundsätzlich abzulehnen, soweit sie<br />
nicht der Verbesserung der Methode<br />
oder dem Wohle des Kindes dienen.“<br />
Diese Formulierung war ein wenig strenger<br />
als die Vorst<strong>an</strong>dsvorlage, entsprach<br />
aber noch einer zugleich vorgelegten<br />
Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Bundesärztekammer zur IVF (veröffentlicht<br />
in Heft 22/1985), die der Ärztetag<br />
pauschal „begrüßte“. In einer weiteren<br />
Richtlinie äußerte sich der Wissenschaftliche<br />
Beirat später, ohne Zutun des<br />
Ärztetages, zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> frühen<br />
menschlichen <strong>Embryonen</strong> (veröffentlicht<br />
in Heft 50/1985). D<strong>an</strong>ach dürfen<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> „grundsätzlich“<br />
nicht mit dem Ziel der Verwendung<br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken erzeugt werden.<br />
Mit der Formel „grundsätzlich“ wurden<br />
erhebliche Sp<strong>an</strong>nungen innerhalb des<br />
Beirates zu dieser Frage überdeckt. Die<br />
Richtlinien sprechen sich hingegen eindeutig<br />
für Untersuchungen, die der<br />
Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
des jeweiligen Embryos und gleichzeitig<br />
dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn<br />
dienen,aus,sofern Nutzen und Risiken<br />
mitein<strong>an</strong>der sorgfältig abgewogen<br />
werden.<br />
Der 91. Deutsche Ärztetag beschloss<br />
1988 in Fr<strong>an</strong>kfurt eine Änderung der<br />
(Muster-)Berufsordnung. Die Delegierten<br />
entschieden sich für einen Mittelweg:<br />
Die Erzeugung von <strong>Embryonen</strong> für<br />
<strong>Forschung</strong>szwecke wurde untersagt und<br />
dem ein weiterer Satz hinzugefügt:<br />
„Grundsätzlich verboten ist auch die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen <strong>Embryonen</strong>.“<br />
Bei Einhaltung strikter Kriterien<br />
wurden allerdings <strong>Forschung</strong>en für<br />
zulässig gehalten,sofern sie der Deklaration<br />
von Helsinki entsprechen.<br />
Machen wir einen Sprung zum 100.<br />
Deutschen Ärztetag 1997 in Eisenach.<br />
Die damals neu strukturierte, bis heute<br />
geltende (Muster-)Berufsordnung verbietet<br />
gleichfalls die Erzeugung von menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken.Verboten<br />
sind ferner diagnostische<br />
Maßnahmen <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>, „es sei<br />
denn, es h<strong>an</strong>delt sich um Maßnahmen<br />
zum Ausschluss schwerwiegender geschlechtsgebundener<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen im<br />
Sinne § 3 <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz“.<br />
Und das gehört der Vollständigkeit<br />
halber dazu: Seit 1991 gilt das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
mit seinen strengen<br />
Regeln – strengeren als sie 1985 von der<br />
ärztlichen Selbstverwaltung und ihren<br />
wissenschaftlichen Beratern formuliert<br />
worden waren.<br />
Norbert Jachertz<br />
Impressum<br />
<strong>Dokumentation</strong> „<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>“<br />
Chefredakteur:<br />
Chefs vom Dienst:<br />
Redaktion:<br />
Technische Redaktion:<br />
Schlussredaktion:<br />
Verlag:<br />
Norbert Jachertz, Köln<br />
(ver<strong>an</strong>twortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der<br />
gesetzlichen Bestimmungen)<br />
Gisela Klinkhammer, Herbert Moll<br />
Norbert Jachertz, Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet)<br />
Jörg Kremers, Michael Peters<br />
Helmut Werner<br />
Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln<br />
123
I N H A L T<br />
<strong>Dokumentation</strong> in chronologischer Reihenfolge<br />
Vorwort zur 3. Auflage:<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122<br />
Vorwort zur 1. Auflage:<br />
Beiträge zum Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />
Beiträge aus dem Jahr 2002<br />
<strong>Forschung</strong> und Ethik: Die Weichen sind gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />
Dr. med. Eva A. Richter, Gisela Klinkhammer<br />
Stammzellen:<br />
„Rohstoff“ für die regenerative Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />
Prof. Dr. med. Anthony D. Ho<br />
Stammzellforschung:<br />
Erfolg versprechende Therapie<strong>an</strong>sätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Stammzellforschung: Durch- oder Dammbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />
Norbert Jachertz<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung und <strong>PID</strong>:<br />
„Ethik des Heilens“ versus „Ethik der Menschenwürde“ . . . . . 130<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott<br />
Stammzellforschung: Das Argument des Sokrates . . . . . . . . . . . . . 134<br />
Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld<br />
Stammzellenimport: Unter Auflagen zugelassen . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
„Verfassungsrechtlich unzulässig“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Deutsche (Gesundheits-)Politik: Ein klares Jein . . . . . . . . . . . . . . . . . 138<br />
Thomas Gerst<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung: Machtproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139<br />
Norbert Jachertz<br />
Symposium in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung:<br />
Solidarität mit den „fortpfl<strong>an</strong>zungswilligen Schichten“ . . . . . 140<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Stammzellgesetz: Tauziehen um Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Kirchen: Absage <strong>an</strong> <strong>PID</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Stammzellgesetz: Klarheit oder Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Entscheidung zum Stammzellgesetz:<br />
Die Tür steht einen Spalt offen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Grenzfragen zwischen Wissenschaft und Ethik:<br />
Die Bedrohung der Gattung „Mensch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
Prof. Dr. phil. Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
„Die Argumente sind auf dem Tisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150<br />
Stammzellforschung: Freie Bahn in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
Arzt-Patient-Beziehung aus christlicher Sicht:<br />
Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel<br />
Eugenik und Euth<strong>an</strong>asie:<br />
Aktuelle Verg<strong>an</strong>genheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154<br />
Norbert Jachertz<br />
Stammzellgesetz: Umsetzung geregelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156<br />
Ethik: Dürftige Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Stammzellforschung:<br />
Pharmaunternehmen: Eigene Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Pränataldiagnostik:<br />
Ver<strong>an</strong>twortliche ärztliche Tätigkeit im Grenzbereich . . . . . . . . . . 158<br />
Prof. Dr. med. Fr<strong>an</strong>z Kainer<br />
Diskussion: Pränataldiagnostik:<br />
Ver<strong>an</strong>twortliche ärztliche Tätigkeit im Grenzbereich . . . . . . . . . . 163<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
Bildung einer ärztlichen Identität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164<br />
Dr. med. Götz Fabry, Ruth Marquard<br />
Stammzellen: <strong>Forschung</strong> im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167<br />
Dr. med. Georg Döhmen, Prof. Dr. med. H<strong>an</strong>s Edgar Reis<br />
„1000Fragen“-Projekt: Diskussion zur Bioethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170<br />
<strong>Dokumentation</strong>: Stellungnahme zur <strong>PID</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170<br />
EKD-Erklärung „Was ist der Mensch“:<br />
Das Wesen in der Petrischale ernst nehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170<br />
Dorthe Kieckbusch<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik als Option:<br />
Differenzierte Meinung der Behinderten-Vertreter . . . . . . . . . . . . 171<br />
Sabine Rieser<br />
124
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 1–2, 7. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
<strong>Forschung</strong> und Ethik<br />
Die Weichen sind gestellt<br />
Embryonale Stammzellforschung und <strong>PID</strong> sind umstrittene<br />
Themen, für die in diesem Jahr Entscheidungen <strong>an</strong>stehen.<br />
Noch im J<strong>an</strong>uar wird die Entscheidung<br />
in einer in Deutschl<strong>an</strong>d seit<br />
Monaten heftig umstrittenen Frage<br />
erwartet: Embryonale Stammzellforschung<br />
– ja oder nein Eine Antwort<br />
darauf soll der Deutsche Bundestag<br />
nach einer erneuten Debatte am 30. J<strong>an</strong>uar<br />
geben. Die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) will am 31. J<strong>an</strong>uar<br />
über die öffentliche Förderung des Projekts<br />
von Prof. Dr. med. Oliver Brüstle,<br />
der embryonale Stammzelllinien importieren<br />
will, entscheiden.<br />
Die Entscheidung ist bereits mehrfach<br />
verschoben worden, zuletzt am<br />
7. Dezember 2001, um dem Bundestag<br />
nochmals Gelegenheit zur Diskussion<br />
zu geben. Die Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen Medizin“,<br />
die sich im November mehrheitlich<br />
gegen die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen und gegen den Import von<br />
Zelllinien w<strong>an</strong>dte, macht es den Abgeordneten<br />
nicht leicht. Da es sich um eine<br />
Gewissensfrage h<strong>an</strong>dele, gab sie keine<br />
Empfehlung für die Abstimmung. Eine<br />
Minderheit plädierte dafür, den Import<br />
unter strengen Voraussetzungen zu tolerieren.<br />
Dies ist auch die Ansicht der<br />
knappen Mehrheit des Nationalen Ethikrats.<br />
Das von Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard<br />
Schröder im Frühjahr 2001 eingesetzte<br />
Gremium befürwortete am 29. November<br />
den Import von embryonalen<br />
Stammzellen unter strengen Auflagen<br />
und mit einer Befristung auf drei Jahre.<br />
Bundesforschungsministerin Edelgard<br />
Bulmahn will die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
„überzähligen“ <strong>Embryonen</strong> ebenso erlauben<br />
wie die Zentrale Ethikkommission,<br />
die zwar bei der Bundesärztekammer<br />
(BÄK) <strong>an</strong>gesiedelt, jedoch von ihr<br />
unabhängig ist. Der Präsident der<br />
BÄK, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich<br />
Hoppe, mahnt indes zur Besonnenheit.<br />
M<strong>an</strong> solle zunächst die Möglichkeiten<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten Stammzellen<br />
ausschöpfen, fordert er.<br />
Ablehnend steht Bundesjustizministerin<br />
Däubler-Gmelin der <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen gegenüber.<br />
Sie ist der Ansicht, dass <strong>Embryonen</strong><br />
als frühe Formen des menschlichen<br />
Lebens nicht „vernutzt“ werden dürften.<br />
<strong>Forschung</strong>sfreiheit gehöre zwar zu<br />
den Grundrechten, sagte sie Ende Dezember<br />
in Berlin, doch Anwendungsforschung<br />
am Menschen sei selbstverständlich<br />
nicht frei. „Egal, wie das Votum<br />
des Bundestages am 30. J<strong>an</strong>uar ausfällt“,<br />
sagte Däubler-Gmelin, <strong>an</strong> den<br />
DFG-Präsidenten Prof. Dr. Ernst-Ludwig<br />
Winnacker gew<strong>an</strong>dt, „erwarte ich,<br />
dass dies auf die DFG-Entscheidung<br />
Einfluss hat!“ Deren Meinung steht jedoch<br />
bereits seit Mai verg<strong>an</strong>genen Jahres<br />
grundsätzlich fest: M<strong>an</strong> könne in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d nicht auf die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
embryonalen Stammzellen verzichten.<br />
Auch die Max-Pl<strong>an</strong>ck-Gesellschaft sieht<br />
das so.<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>)<br />
ist längst kein Tabuthema mehr.Die Zahl<br />
ihrer Befürworter jedenfalls scheint zuzunehmen.<br />
Zurzeit ist diese Methode<br />
vorgeburtlicher Diagnostik nach dem<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz verboten.Aber<br />
auch das ist umstritten. Der Wissenschaftliche<br />
Beirat der BÄK, der mit<br />
seinem „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
(DÄ, Heft 9/2000) die Debatte<br />
über diese Methode ausgelöst hatte,<br />
hält die <strong>PID</strong> für mit dem <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
vereinbar. In einer jetzt<br />
vorgelegten „Ergänzenden Stellungnahme“<br />
hält er nach Überprüfung der Einwände<br />
<strong>an</strong> seiner Position fest, „wonach<br />
die <strong>PID</strong> im Einzelfall bei Verdacht auf<br />
die Entstehung einer schwerwiegenden<br />
genetischen Erkr<strong>an</strong>kung in engen<br />
Grenzen und Einhaltung strikter Verfahrensregeln<br />
aus medizinischen, ethischen<br />
und rechtlichen Gesichtspunkten<br />
vertretbar ist“. Der Wissenschaftliche<br />
Beirat drängt allerdings auf eine<br />
Klärung der Zulässigkeit der <strong>PID</strong> durch<br />
den Gesetzgeber. Die Bundesärztekammer<br />
hat dieser Stellungnahme noch nicht<br />
zugestimmt, deren Vorst<strong>an</strong>d will sich<br />
am 17. J<strong>an</strong>uar eine Meinung dazu bilden.<br />
Die Mehrheit der Delegierten des<br />
104. Deutschen Ärztetages in Ludwigshafen<br />
hatte ebenfalls <strong>an</strong> den Gesetzgeber<br />
appelliert, rechtliche Klarheit<br />
über die Zulässigkeit der <strong>PID</strong> herzustellen.<br />
Für den Fall einer Zulassung müsse<br />
der Gesetzgeber weitere Kriterien für<br />
eine maximale Eingrenzbarkeit dieser<br />
Methode mitgestalten, heißt es in einem<br />
Beschluss. Auch in der Politik besteht<br />
keine Einigkeit in der Frage, ob die <strong>PID</strong><br />
zugelassen werden sollte. Nur die Freien<br />
Demokraten haben sich festgelegt: Sie<br />
sprechen sich eindeutig für die <strong>PID</strong> aus<br />
und haben einen entsprechenden Gesetzentwurf<br />
vorgelegt, der in erster Lesung<br />
am 14.Dezember im Bundestag beraten<br />
wurde. Dieser Entwurf stieß auf<br />
scharfe Kritik bei zahlreichen Abgeordneten<br />
unterschiedlicher Fraktionen.<br />
„Die Zulassung der <strong>PID</strong> k<strong>an</strong>n stigmatisierende<br />
und diskriminierende Tendenzen<br />
in der Gesellschaft gegenüber Menschen<br />
mit Behinderungen und chronisch<br />
Kr<strong>an</strong>ken verstärken“, sagte die Behindertenbeauftragte<br />
der SPD-Bundestagsfraktion,<br />
Helga Kühn-Mengel. Für<br />
Maria Böhmer (CDU/CSU) bedeutet<br />
<strong>PID</strong>,„dass menschliches Leben selektiert<br />
und getötet wird“.<br />
Dr. med. Eva A. Richter/Gisela Klinkhammer<br />
125
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 1–2, 7. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
Stammzellen<br />
„Rohstoff“ für die<br />
regenerative Medizin<br />
Stammzellen gelten als Hoffnungsträger in der<br />
regenerativen Medizin. Doch sowohl embryonale als auch<br />
adulte Stammzellen weisen Vor- und Nachteile auf.<br />
Die Stammzellforschung weckt derzeit<br />
Hoffnung auf eine nahezu<br />
unbegrenzte Anwendung von<br />
Stammzellen in der regenerativen Medizin.<br />
Ergebnisse aus Tierversuchen mit<br />
embryonalen und adulten Stammzellen<br />
lassen vermuten,dass in einer nicht allzu<br />
fernen Zukunft für die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
geeignete Spenderzellen in Zellkulturverfahren<br />
hergestellt werden können.<br />
Einen starken Aufschwung nahm die<br />
Stammzellforschung Ende 1998, als<br />
Wissenschaftler Verfahren zur Kultur<br />
hum<strong>an</strong>er Stammzellen aus in vitro<br />
befruchteten menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
entwickelten. Die Arbeitsgruppe um<br />
James Thomson, University of Wisconsin,<br />
Madison (USA), isolierte aus einem<br />
sieben Tage alten Embryo Stammzellen<br />
und gew<strong>an</strong>n daraus mehrere<br />
Zelllinien. Diese Methode eröffnete<br />
völlig neue Perspektiven für Gewebezucht<br />
und Org<strong>an</strong>ersatz. Das Wissenschaftsmagazin<br />
„Science“ deklarierte<br />
1999 zum Jahr der Stammzellforschung<br />
(„Breakthrough 1999“).<br />
Ethische und rechtliche Fragen<br />
Embryonale Stammzellen scheinen<br />
grundsätzlich zur Züchtung von Gewebe<br />
oder Org<strong>an</strong>en geeignet zu sein. Es ist<br />
durchaus denkbar, dass künftig fehlerhafte<br />
Org<strong>an</strong>funktionen durch Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
von gezüchteten Stammzellen<br />
behoben und somit einige erbliche<br />
und erworbene Erkr<strong>an</strong>kungen geheilt<br />
werden können. Allerdings wirft die<br />
Gewinnung von Stammzellen aus „geopferten“<br />
<strong>Embryonen</strong> viele ethische,<br />
moralische und rechtliche Fragen auf.<br />
Dies ist bei adulten Stammzellen weniger<br />
der Fall. Die aus dem erwachse-<br />
126<br />
nen Org<strong>an</strong>ismus gewonnenen Stammzellen<br />
scheinen ebenfalls ein <strong>an</strong>nähernd<br />
unbegrenztes Differenzierungspotenzial<br />
zu besitzen. Im Labor lassen sich aus<br />
ihnen unter speziellen Bedingungen<br />
Muskel-, Knorpel-, Leber- oder Nervenzellen<br />
züchten. Bisher war ihre Umw<strong>an</strong>dlungsfähigkeit<br />
oder Plastizität unbek<strong>an</strong>nt.<br />
Sie könnte aber genutzt werden,<br />
um spezifische Zellen oder Gewebsverbände<br />
für die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
herzustellen.<br />
Stammzellen können auf verschiedenen<br />
Wegen gewonnen werden:<br />
Adulte Stammzellen lassen sich aus<br />
fetalen Geweben, Nabelschnurblut<br />
oder aus Grafik<br />
Geweben eines Erwachsenen<br />
(zum Beispiel<br />
aus dem Knochenmark)<br />
isolieren.<br />
Embryonale Stammzellen<br />
(ES) werden aus<br />
bis zu sieben Tagen<br />
alten <strong>Embryonen</strong> gewonnen.<br />
Mehrere Arbeitsgruppen<br />
haben inzwischen<br />
Zelllinien<br />
etabliert, wobei jede<br />
eine fast unerschöpfliche<br />
Quelle für <strong>Forschung</strong>s-<br />
und Beh<strong>an</strong>dlungszwecke<br />
darstellen<br />
könnte. Auch aus den<br />
Urkeimzellen während<br />
der fetalen Entwicklung können „embryonale<br />
germ“-(EG-) Zellen abgeleitet<br />
werden. Menschliche EG-Zellen<br />
besitzen ähnliche Potenziale wie ES-<br />
Zellen. Ob die aus menschlichen EG-<br />
Zellen abgeleiteten Spenderzellen nach<br />
Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation zur Geweberegeneration<br />
eingesetzt werden können, ist zurzeit<br />
offen.<br />
Die Entwicklungspotenziale der embryonalen<br />
Stammzellen (ES-Zellen,<br />
EG-Zellen) und der adulten Stammzellen<br />
unterscheiden sich deutlich. Generell<br />
nimmt das entwicklungsbiologische<br />
Potenzial mit dem ontogenetischen Alter<br />
ab. Die ES-Zellen und EG-Zellen<br />
eignen sich deshalb wahrscheinlich<br />
besonders für Zellersatzstrategien bei<br />
Geweben, die sich nur sehr eingeschränkt<br />
regenerieren (speziell für das<br />
Nervensystem). So konnten aus ES-<br />
Zellen der Maus abgeleitete Zellen in<br />
einem Rattenmodell bei einer Myelinm<strong>an</strong>gel-Kr<strong>an</strong>kheit<br />
den Myelinm<strong>an</strong>gel<br />
wieder aufheben. Da die multiple<br />
Sklerose ebenfalls eine Myelinm<strong>an</strong>gel-<br />
Kr<strong>an</strong>kheit ist, sind <strong>an</strong>aloge Therapie<strong>an</strong>sätze<br />
vorstellbar. Aus ES-Zellen der<br />
Maus können auch Nervenzelltypen<br />
hergestellt werden, die bei Morbus<br />
Parkinson defekt sind. Vorstellbar<br />
ist ferner die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation von ES-<br />
Zellen abgeleiteten Herzmuskelzellen<br />
zur Beh<strong>an</strong>dlung von Herzinsuffizienz<br />
und Herzinfarkt. Ein ebenso viel versprechender<br />
Weg ist die In-vitro-Differenzierung<br />
insulinbildender Zellen zur Beh<strong>an</strong>dlung<br />
des Diabetes mellitus.<br />
Korrelation zwischen Selbsterneuerungspotenzial und ontogenetischem<br />
Alter bei einem und demselben Phänotyp von Blutstammzellen.<br />
Das Potenzial ist am höchsten bei Zellen aus fetaler<br />
Leber, gefolgt von denen aus Nagelschnurblut, und am niedrigsten<br />
aus erwachsenem Knochenmark.<br />
Quelle: Anthony D. Ho et al.<br />
In jüngster Zeit hat sich herausgestellt,<br />
dass adulte Stammzellen nicht<br />
nur Zellen des entsprechenden Org<strong>an</strong>s<br />
hervorbringen können, sondern auch<br />
Zellen <strong>an</strong>derer Gewebe oder Org<strong>an</strong>e.<br />
Aus dem Knochenmark wurden zum<br />
Beispiel nicht nur neue Blutzellen abgeleitet,<br />
sondern auch Zellen verschiedener<br />
Körpergewebe, wie Knochen,
D O K U M E N T A T I O N<br />
Knorpel, Sehnen, Muskeln, Leber. Sogar<br />
Nervenzellen bildeten sich. Neurale<br />
Stammzellen, isoliert aus einer erwachsenen<br />
Maus, können nach Impl<strong>an</strong>tation<br />
in frühe Embryonalstadien einer Empfängermaus<br />
in zahlreichen Geweben<br />
und Org<strong>an</strong>en identifiziert werden. Ein<br />
breites Differenzierungsspektrum ließ<br />
sich auch für Stammzellen aus dem<br />
Skelettmuskel nachweisen. Eine Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
von Knochenmarkzellen behob<br />
bei Mäusen einen <strong>an</strong>sonsten wahrscheinlich<br />
tödlich verlaufenden Leberschaden.<br />
Im April 2001 hat eine amerik<strong>an</strong>ische<br />
Arbeitsgruppe über die Regeneration<br />
von Cardiomyozyten nach<br />
Herzinfarkt berichtet. Sie umspritzte<br />
das infarzierte Gebiet mit Blutstammzellen<br />
aus einem Spendertier. Bei<br />
Mäuseherzen mit künstlich erzeugtem<br />
Infarkt erreichte eine weitere Arbeitsgruppe<br />
durch Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation von<br />
Blutstammzellen eine Gefäßneubildung<br />
und Regeneration der Cardiomyozyten.<br />
Auch autologe Blutstammzellen werden<br />
zur Gefäßneubildung nach einer induzierten<br />
Ischämie des Skelettmuskels<br />
verwendet. Allerdings gel<strong>an</strong>gen den<br />
Forschern die meisten Versuche bisher<br />
nur im Tiermodell.<br />
Klinische Relev<strong>an</strong>z fraglich<br />
Im Gegensatz zu den adulten Stammzellen<br />
sind die embryonalen Stammzellen<br />
aus Zelllinien eine fast unerschöpfliche<br />
Quelle. Die Konzentration pluripotenter<br />
Stammzellen im erwachsenen<br />
Org<strong>an</strong>ismus ist dagegen gering. Aber<br />
nur diese reifen in Gewebe mit sehr<br />
niedrigen Teilungsraten, wie Neuronen,<br />
Cardiomyozyten oder Inselzellen, aus.<br />
Bei den Tiermodellen wurden Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tate<br />
aus <strong>an</strong>gereicherten Zellen eines<br />
Spendertiers verwendet. Das Tier<br />
musste geopfert werden. Ob adulte<br />
Stammzellen klinische Relev<strong>an</strong>z erreichen,<br />
ist daher fragwürdig.<br />
Die Verwendung von embryonalen<br />
Stammzellen birgt jedoch ethische Probleme<br />
und auch einige Gefahren. Im<br />
Tierversuch induzierte die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
von unreifen embryonalen Zellen<br />
Teratome oder Teratokarzinome. Der<br />
Einsatz spezieller Kulturbedingungen<br />
k<strong>an</strong>n diese Gefahr allerdings zumindest<br />
im Tierversuch beseitigen. Eine Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
von aus ES-Zellen abgeleiteten<br />
Spenderzellen führt in einem erwachsenen<br />
Org<strong>an</strong>ismus möglicherweise<br />
zu Abstoßungsreaktionen. Daher<br />
müssen die ES-Zellen zuerst auf einen<br />
geordneten Differenzierungsweg gelenkt<br />
werden (Priming). Ob sich aus<br />
menschlichen ES-Zellen Spenderzellen<br />
gewinnen lassen, wird derzeit intensiv<br />
untersucht. Nur durch <strong>Forschung</strong>sarbeiten<br />
<strong>an</strong> menschlichen ES-Zellen lassen<br />
sich solche Informationen ableiten.<br />
Nabelschnurblut, das in der Regel<br />
nach der Geburt entsorgt wird, enthält<br />
eine begrenzte Anzahl von Blutstammzellen<br />
und pluripotenten Stammzellen.<br />
Durch Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation dieser Zellen<br />
lässt sich ein intaktes Blut- und Immunsystem<br />
wiederherstellen. Nabelschnurblut<br />
enthält jedoch keine ausreichende<br />
Zahl von Stammzellen, um auch größere<br />
Kinder und Erwachsene zu beh<strong>an</strong>deln.<br />
Deshalb versuchen Wissenschaftler seit<br />
Jahren, unter kontrollierten Bedingungen<br />
Stammzellen zu kultivieren und zu<br />
vermehren. Die pluripotenten Stammzellen<br />
brauchen aber offensichtlich spezielle<br />
Kulturbedingungen. Bisher ist ihre<br />
Vermehrung aus Knochenmark des Erwachsenen<br />
oder aus Nabelschnurblut<br />
noch nicht überzeugend gelungen.<br />
Alternative: fetale Stammzellen<br />
Fetale Gewebe kommen prinzipiell auch<br />
als Quelle pluripotenter Stammzellen infrage.Fetale<br />
Knochenmarks- und Leberzellen<br />
besitzen ein relativ hohes Proliferations-<br />
und Selbsterneuerungspotenzial.<br />
Ob das Plastizitätspotenzial mit den<br />
Selbsterneuerungs- und Proliferationspotenzialen<br />
korreliert, wird intensiv untersucht.<br />
Eventuell stellen diese Stammzellen<br />
eine Alternative für die regenerative<br />
Medizin dar (Grafik).<br />
Die fetalen Stammzellen können jedoch<br />
nur während eines sehr engen Entwicklungsfensters<br />
aus abortiertem Gewebe<br />
von Feten gewonnen werden.Da in<br />
der Regel nur aus medizinischen Gründen<br />
ein Abort eingeleitet wird, wahrscheinlich<br />
aufgrund einer Fehlbildung<br />
oder einer Embryopathie, ist solches Material<br />
möglicherweise mit zellulären<br />
Schäden assoziiert und nur bedingt für<br />
die Gewinnung therapeutisch einsetzbarer<br />
Spenderzellen geeignet.<br />
Durch In-vitro-M<strong>an</strong>ipulationen können<br />
aus dem „Rohstoff“ Stammzelle<br />
vermutlich eines Tages Knorpel-, Leber-<br />
oder Nervenzellen gezüchtet werden.<br />
Diese könnten sich zur Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
bei Patienten mit Gelenkserkr<strong>an</strong>kungen,<br />
Leberversagen, Alzheimer-Demenz,<br />
Morbus Parkinson, Schlag<strong>an</strong>fall<br />
oder Querschnittslähmungen eignen.<br />
Wegen ihrer enormen Selbsterneuerungsfähigkeit<br />
und des entwicklungsbiologischen<br />
Potenzials können embryonale<br />
Stammzellen wahrscheinlich<br />
für Zellersatzstrategien bei Geweben<br />
eingesetzt werden, die nur ein sehr eingeschränktes<br />
Regenerationsvermögen<br />
aufweisen. Adulte Stammzellen können<br />
auch neue Differenzierungswege „erlernen“,<br />
sind jedoch schwer im Org<strong>an</strong>ismus<br />
zu finden. Hinzu kommt, dass<br />
die Selbsterneuerungsfähigkeit solcher<br />
Stammzellen relativ gering ist. Es ist daher<br />
fragwürdig, ob diese theoretisch interess<strong>an</strong>te<br />
Alternative für den klinischen<br />
Einsatz bedeutsam sein wird.<br />
Beim derzeitigen St<strong>an</strong>d ist es daher besser,<br />
sich alle Wege offen zu halten, <strong>an</strong>statt<br />
sich auf eine feste Strategie der<br />
Stammzellforschung zu beschränken.<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. med. Anthony D. Ho<br />
Universität Heidelberg<br />
Medizinische Klinik und Poliklinik V<br />
Hospitalstraße 3, 69115 Heidelberg<br />
127
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 3, 18. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
Stammzellforschung<br />
Erfolg versprechende<br />
Therapie<strong>an</strong>sätze<br />
Die Entscheidung zur Stammzellforschung steht bevor. In der<br />
gesellschaftlichen Diskussion ist derzeit die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
adulten Stammzellen in den Hintergrund getreten, obwohl<br />
auch diese ein erhebliches Therapiepotenzial besitzen.<br />
Embryonale Stammzellen sind gerade<br />
schwer in Mode“, sagte der Vorsitzende<br />
des Nationalen Ethikrates,<br />
Prof. Dr. jur. Spiros Simitis, Anf<strong>an</strong>g J<strong>an</strong>uar<br />
in einem Interview mit dem „Spiegel“.<br />
<strong>Forschung</strong> dürfe sich jedoch nicht<br />
nach irgendwelchen Modetrends richten.<br />
Auch ökonomische Faktoren dürften<br />
bei der Entscheidung keine Rolle<br />
spielen. „Wenn die Länder und der<br />
Bund massiv in die <strong>Forschung</strong> mit adulten<br />
Stammzellen investierten, würden<br />
wir <strong>an</strong>dere Ergebnisse haben“, erklärte<br />
der Jurist. Das Dilemma der deutschen<br />
Stammzelldebatte sei es, dass sie zu einem<br />
Zeitpunkt begonnen habe, <strong>an</strong> dem<br />
die Vorentscheidungen bereits weitgehend<br />
getroffen waren, meint Simitis.Alternative<br />
Wege seien jetzt nur noch<br />
schwer zu beschreiten.<br />
Riss durch alle Parteien<br />
Tatsächlich dreht sich die politische Diskussion<br />
nahezu ausschließlich um die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
(ES-Zellen) und kaum um die <strong>an</strong> adulten<br />
Stammzellen (AS-Zellen). In einem<br />
fraktionsübergreifenden Gruppen<strong>an</strong>trag<br />
fordern die Gegner der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> ES-<br />
Zellen aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen,<br />
PDS und CSU die Bundesregierung<br />
nochmals auf, den Import von menschlichen<br />
Stammzelllinien zu verhindern. Zudem<br />
liegt ein Antrag von Importgegnern<br />
in der CDU vor. Als Antwort auf diese<br />
Anträge haben dagegen Befürworter des<br />
Stammzelllinien-Imports, darunter Margot<br />
von Renesse (SPD), Vorsitzende der<br />
Enquete-Kommission „Recht und Ethik<br />
der modernen Medizin“, ebenfalls eine<br />
Initiative verfasst. Darin plädieren sie für<br />
den Import, aber unter noch strengeren<br />
Vorschriften, als sie vom Nationalen<br />
Ethikrat empfohlen werden.<br />
Der Ethikrat befürwortet einen Import<br />
von ES-Zelllinien nur, wenn die verwendeten<br />
<strong>Embryonen</strong> unabhängig von<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben durch künstliche<br />
Befruchtung erzeugt wurden und nicht<br />
mehr tr<strong>an</strong>sferiert werden. Das Paar, aus<br />
dessen Keimzellen der Embryo erzeugt<br />
wurde, muss zustimmen. Die <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />
müssen eine medizinische<br />
Perspektive haben und interdisziplinär<br />
begutachtet werden. Die knappe<br />
Mehrheit des Rates hatte am 29. November<br />
2001 für den Import unter diesen<br />
Auflagen und mit einer Befristung auf<br />
drei Jahre plädiert. Kurz vor Weihnachten<br />
hat der Rat seine schriftliche Stellungnahme<br />
zum Import menschlicher ES-<br />
Zellen vorgelegt. Darin erläutert er seine<br />
Argumente sowohl für als auch gegen die<br />
Gewinnung von ES-Zellen. Ein großer<br />
Teil des Memor<strong>an</strong>dums beschäftigt sich<br />
mit den Argumenten für oder gegen deren<br />
Import. Dabei gel<strong>an</strong>gt der Nationale<br />
Ethikrat zu vier möglichen Schlussfolgerungen.<br />
Option A hält den Import<br />
und die Gewinnung von embryonalen<br />
Stammzellen aus überzähligen <strong>Embryonen</strong><br />
für zulässig (auch im Inl<strong>an</strong>d). Nach<br />
Option B dürfen die ES-Zellen zwar importiert,<br />
jedoch nicht erzeugt werden. 15<br />
Mitglieder sprachen sich für diese Option<br />
aus, darunter neun Mitglieder, die zugleich<br />
Option A befürworteten. Option<br />
C wendet sich vorläufig gegen den Import.<br />
Bis 2004 sollen noch offene Fragen<br />
geklärt werden, insbesondere soll die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten Stammzellen gezielt<br />
gefördert werden. Option D lehnt<br />
den Import grundsätzlich als ethisch unzulässig<br />
ab. Die Gewinnung von embryonalen<br />
Stammzellen wird als Tötung<br />
menschlichen Lebens <strong>an</strong>gesehen. Zehn<br />
Mitglieder sprachen sich für das Moratorium<br />
aus (Option C), darunter vier Mitglieder,<br />
die gleichzeitig für Option D<br />
stimmten. Einig ist sich der Ethikrat darin,<br />
dass die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen Fragen der Menschenwürde,<br />
des Lebensschutzes und der Wissenschaftsfreiheit<br />
aufwirft, die es gegenein<strong>an</strong>der<br />
abzuwägen gilt. Der Suche nach<br />
neuen Therapiemöglichkeiten misst er<br />
ein hohes Gewicht bei. Umstritten bleibt<br />
jedoch, welche Wege der <strong>Forschung</strong> mit<br />
hum<strong>an</strong>en Stammzellen notwendig und<br />
ethisch vertretbar sind.<br />
Bundesjustizministerin Prof. Dr. jur.<br />
Herta Däubler-Gmelin sähe es gern,<br />
wenn stärker auf adulte Stammzellen gesetzt<br />
würde. Dies sagte sie im Dezember<br />
bei einer Podiumsdiskussion der Wochenzeitung<br />
„Die Zeit“ in Berlin. Der<br />
Präsident der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG), Prof. Dr. rer. nat.<br />
Ernst-Ludwig Winnacker, und Prof. Dr.<br />
med. Otmar D.Wiestler, Direktor des Institutes<br />
für Neuropathologie der Universität<br />
Bonn, verteidigten die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
ES-Zellen. Diese würden viele Vorteile<br />
gegenüber den adulten Stammzellen bieten,<br />
beispielsweise die nahezu unbegrenzte<br />
Vermehrbarkeit. „M<strong>an</strong> darf die<br />
Zweige der Stammzellforschung nicht<br />
gegenein<strong>an</strong>der in die Waagschale legen“,<br />
betonte Wiestler. Der Verzicht auf ES-<br />
Zellen sei kurzsichtig, die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
adulten Stammzellen allein führe nicht<br />
zum Ziel. Winnacker berief sich auf die<br />
<strong>Forschung</strong>sfreiheit: „Jetzt hat m<strong>an</strong> schon<br />
ein schlechtes Gewissen, wenn m<strong>an</strong> nur<br />
darüber redet.“ Grundlegende <strong>Forschung</strong>serfolge<br />
habe es immer nur in<br />
Grenzbereichen gegeben. Die Justizministerin<br />
konterte: <strong>Forschung</strong>sfreiheit<br />
gehöre zwar zu den Grundrechten, Anwendungsforschung<br />
am Menschen sei jedoch<br />
nicht frei. „Egal, wie die Bundestags-Entscheidung<br />
ausfällt, sie wird<br />
großen Einfluss auf die DFG haben“, betonte<br />
Däubler-Gmelin.<br />
Den möglichen Einsatz adulter neuronaler<br />
Stammzellen als Zellersatz untersucht<br />
unter <strong>an</strong>derem der Neurobiologe<br />
Dr. rer. nat. Ludwig Aigner in einem<br />
Forscherteam * der Universität Regensburg.<br />
Er berichtete darüber bei ei-<br />
128
D O K U M E N T A T I O N<br />
nem Symposium der Berliner Medizinischen<br />
Gesellschaft Ende November in<br />
Berlin. Seine Arbeitsgruppe versucht,<br />
ausgehend von Resektaten aus der<br />
Epilepsiechirurgie, adulte neuronale<br />
Stammzellen zu kultivieren, zu differenzieren<br />
und in den Org<strong>an</strong>ismus zu retr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tieren.<br />
Dazu sollen zunächst<br />
geeignete Zellkulturmethoden zur Vermehrung<br />
und Reifung der adulten<br />
Stammzellen entwickelt werden.<br />
Der <strong>Forschung</strong>s<strong>an</strong>satz beruht auf der<br />
Erkenntnis, dass Stammzellen nicht nur<br />
während der embryonalen und fetalen<br />
Entwicklung, sondern auch im adulten<br />
Gehirn existieren und sich zu neuen<br />
Nervenzellen entwickeln können (Neurogenese).<br />
Bis vor wenigen Jahren<br />
glaubte m<strong>an</strong> noch, dass sich die Gehirnzellen<br />
nach der Geburt nur noch reduzieren,<br />
nicht aber regenerieren und vermehren<br />
können. Inzwischen ist jedoch<br />
die Neurogenese im adulten Gehirn<br />
nachgewiesen, vor allem im Bulbus olfactorius,<br />
im Gyrus dentatus des Hippocampus<br />
und im Neocortex.<br />
* Dr. rer. nat. H<strong>an</strong>s-Georg Kuhn, Dr. med. Norbert Weidner<br />
und Dr. med. Jürgen Winkler<br />
Nachgefragt<br />
DÄ: Herr Aigner, wird die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
von adulten neuralen Stammzellen<br />
die Therapie der Zukunft bei neurologischen<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen sein<br />
Aigner: Neurale Stammzellen des<br />
adulten Nervensystems werden sicherlich<br />
nicht das Allheilmittel sämtlicher<br />
neurologischer Erkr<strong>an</strong>kungen sein. Ihr<br />
Einsatz wird sich primär auf neurodegenerative<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen, wie den<br />
Morbus Parkinson oder entzündliche<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen, wie die multiple Sklerose,<br />
beschränken. Die derzeitigen Therapien<br />
versuchen lediglich den Zellverlust<br />
zu vermindern oder den Verlust von<br />
Neurotr<strong>an</strong>smitterstoffen zu kompensieren.<br />
Stammzelltherapien hingegen zielen<br />
auf einen zellulären Ersatz ab.<br />
Auf dem Gebiet der adulten Stammzellforschung<br />
beschäftigen sich Ärzte<br />
und Wissenschaftler mit zwei grundsätzlichen<br />
Bereichen: der Stimulation<br />
der adulten Neurogenese in vivo und<br />
der Regulation in vitro. Die „In-vivo-<br />
Stammzellforscher“ versuchen, die Neurogenese<br />
durch Wachstumsfaktoren,<br />
Unterdrückung von Apoptose-Signalen<br />
und äußere Reize „vor Ort“ zu stimulieren<br />
und auf diese Weise Reparaturvorgänge<br />
zu induzieren und Zellverluste<br />
direkt im Gehirn zu kompensieren<br />
(DÄ, Heft 33/2001).<br />
„In-vitro-Stammzellforscher“ wie<br />
Aigner nutzen ebenfalls die Multipotenz<br />
der adulten neuronalen Stammzellen.<br />
Sie entnehmen diese jedoch und versuchen,<br />
deren Proliferation und Differenzierung<br />
durch Medienzusätze zu beeinflussen.<br />
Aigners Vision ist es, körpereigene<br />
Zellen zu vermehren und in vitro<br />
zu neuen Nerven- beziehungsweise<br />
Gliazellen (Astrozyten sowie Oligodendrozyten)<br />
reifen zu lassen und diese dem<br />
Spender autolog zu tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tieren. Somit<br />
würde die Gefahr der Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tatabstoßung<br />
geb<strong>an</strong>nt, die bei der Tr<strong>an</strong>s-<br />
DÄ: Die adulten neuronalen Stammzellen bieten<br />
einige Vorteile: Sie sind ohne ethische Bedenken<br />
verfügbar und werden nach autologer Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
nicht vom Org<strong>an</strong>ismus abgestoßen. Ist es da<br />
überhaupt nötig, menschliche embryonale Stammzellen<br />
zur Züchtung von Zellersatz einzusetzen<br />
Aigner: Bei dem derzeitigen Wissensst<strong>an</strong>d sollen<br />
und müssen beide Zelltypen gleichwertig und intensiv<br />
zunächst im Tierexperiment auf ihr therapeutisches<br />
Potenzial und auf ihr Risiko getestet werden.<br />
Erst d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n einer Zellpopulation der Vorzug für<br />
die klinische Anwendung gegeben werden. Die adulte<br />
Stammzellforschung profitiert<br />
auf jeden Fall von den<br />
Kenntnissen, die <strong>an</strong> embryonalen<br />
Zellen gewonnen worden<br />
sind, da die Regulationsmech<strong>an</strong>ismen,<br />
die die Proliferation<br />
und Differenzierung kontrollieren,<br />
vergleichbar sind.<br />
DÄ: Welches sind die größten<br />
Hindernisse bis zum klinischen<br />
Einsatz von adulten<br />
Stammzellen<br />
Aigner: Derzeit ist der Einsatz<br />
primär durch die noch unzureichenden<br />
Zellkulturbedingungen<br />
limitiert. Im Gegensatz<br />
zu ES-Zellen vermehren sich<br />
adulte Stammzellen nur ungenügend.<br />
Wir müssen noch Wege finden, die Zellproliferation<br />
zu steigern, um aus einer möglichst<br />
kleinen Biopsie in relativ kurzer Zeit möglichst viele<br />
neurale Stammzellen zu züchten.<br />
Dr. rer. nat. Ludwig Aigner,<br />
Nachwuchsgruppenleiter<br />
der Universität Regensburg,<br />
VW-Stiftung Foto: privat<br />
DÄ: In welchem Zeitraum könnten die Therapiestrategien<br />
umgesetzt werden<br />
Aigner: Mit einer auf adulte neurale Stammzellen<br />
basierenden Zellersatztherapie k<strong>an</strong>n sicherlich<br />
nicht in den nächsten fünf Jahren gerechnet<br />
werden. Ein Zeitraum von zehn Jahren ist eher realistisch.<br />
pl<strong>an</strong>tation von embryonalen Stammzellen<br />
besteht.Neurale Stammzellen lassen<br />
sich bereits aus verschiedenen Gehirnregionen<br />
von Nagern und Menschen<br />
isolieren. „Durch geeignete Wachstumsfaktoren,<br />
wie den epidermalen<br />
Wachstumsfaktor (EGF) und den basischen<br />
Fibroblasten-Wachstumsfaktor<br />
(FGF-2) können die Zellen in Neurosphären<br />
(dreidimensionale Zellaggregate<br />
von neuralen Vorläuferzellen) <strong>an</strong>gereichert<br />
und vermehrt werden“, erklärt<br />
Aigner. Nach klonaler Exp<strong>an</strong>sion der<br />
Zellen entzog der Neurobiologe den<br />
Neurosphären die Wachstumsfaktoren<br />
und gab <strong>an</strong>dere Signalmoleküle hinzu<br />
(Retinolsäure sowie neurotrophe Faktoren).<br />
Daraufhin beobachtete er die<br />
Reifung der Stammzellen zu Nervenoder<br />
Gliazellen. Besonders erfolgversprechend<br />
sei der Einsatz der autologen<br />
Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation bei der Therapie des<br />
Morbus Parkinson, da dieser durch einen<br />
räumlich und funktionell relativ<br />
eng umschriebenen Nervenzellverlust<br />
charakterisiert ist. Bei Morbus Alzheimer<br />
hingegen sei eher eine endogene<br />
Stimulation der neuralen Stammzellen<br />
aussichtsreich. Bei Traumata, wie<br />
der Querschnittslähmung, ist ebenfalls<br />
die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation von neuralen<br />
Stammzellen erfolgversprechend. Die<br />
dadurch ersetzten Gliazellen könnten<br />
ein neues Gerüst zur Wiedereinsprossung<br />
unterbrochener Nervenbahnen<br />
bilden. „Bei der Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation gehen<br />
wir davon aus, dass die In-vivo-Umgebung<br />
des Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tats zusätzlich einen<br />
determinierenden Einfluss auf die<br />
Differenzierung ausübt“, erläuterte<br />
Aigner. Seinem Kollegen Weidner gel<strong>an</strong>g<br />
es bereits, aus dem erwachsenen<br />
ZNS gewonnene neurale Stammzellen<br />
in verletztes Rückenmark zu tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tieren,<br />
die sich in Gliazellen umw<strong>an</strong>delten.<br />
Am 30. J<strong>an</strong>uar werden die Abgeordneten<br />
des Deutschen Bundestages abschließend<br />
und allein nach ihrem Gewissen<br />
über die Zukunft der Stammzellforschung<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d diskutieren.<br />
Die Abstimmung gehört damit zu den<br />
wenigen,bei denen es keinen Fraktionszw<strong>an</strong>g<br />
gibt. Einen Tag später will die<br />
DFG entscheiden, ob der Import von<br />
embryonalen Stammzelllinien aus dem<br />
Ausl<strong>an</strong>d mit öffentlichen Geldern gefördert<br />
werden soll. Dr. med. Eva A. Richter<br />
129
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 4, 25. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
Stammzellforschung<br />
Durch- oder Dammbruch<br />
Nächste Woche, am 30. J<strong>an</strong>uar, will der<br />
Deutsche Bundestag darüber entscheiden,<br />
ob embryonale Stammzellen<br />
nach Deutschl<strong>an</strong>d importiert werden<br />
dürfen. Er will damit eine Frage klären,<br />
die das deutsche <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
offen gelassen hat – ob bewusst<br />
oder unbewusst, darüber streiten die<br />
Gelehrten. Die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
steht bereits am Drücker,<br />
um grünes Licht für <strong>Forschung</strong>en <strong>an</strong><br />
embryonalen Stammzellen zu geben.<br />
Im Vorfeld der Bundestagsentscheidung<br />
hat es gegensätzliche gutachterliche<br />
Stellungnahmen gegeben. Die<br />
Enquete-Kommission des Bundestages<br />
plädierte für ein Verbot des Imports,<br />
ließ aber vorsorglich Alternativen erkennen.<br />
Der Nationale Ethikrat des<br />
Bundesk<strong>an</strong>zlers sprach sich für den<br />
Import aus, und die Zentrale Ethikkommission<br />
bei der Bundesärztekammer<br />
kam fast zeitgleich zum gleichen<br />
Ergebnis.<br />
Eine Äußerung der Bundesärztekammer<br />
selbst steht aus, wenn m<strong>an</strong> von<br />
einer zurückhaltenden Entschließung<br />
des Deutschen Ärztetages aus dem verg<strong>an</strong>genen<br />
Jahr einmal absieht. Der Vorst<strong>an</strong>d<br />
der Bundesärztekammer hatte<br />
sich noch am 17. J<strong>an</strong>uar von Wissenschaftlern<br />
über den St<strong>an</strong>d der Erkenntnisse<br />
informieren lassen, eine eigene<br />
Entscheidung jedoch hint<strong>an</strong>gestellt.<br />
In den Bundestagsfraktionen und innerhalb<br />
der Bundesregierung sind die<br />
Auffassungen nach wie vor geteilt. Es<br />
bleibt also sp<strong>an</strong>nend, mit welcher<br />
Mehrheit der Bundestag abstimmen<br />
wird. Die Hoffnung der Befürworter<br />
der embryonalen Stammzellforschung<br />
geht dahin, dass die Abgeordneten<br />
durch die l<strong>an</strong>gwierige öffentliche Diskussion<br />
weich gekocht sind, wenn sie<br />
nicht ohnehin der Freiheit der <strong>Forschung</strong>,<br />
dem Wissenschaftsst<strong>an</strong>dort<br />
Deutschl<strong>an</strong>d und den Hoffnungen auf<br />
Heilung den Vorzug vor ethischen<br />
Überzeugungen geben.<br />
Eine positive Entscheidung des Bundestages<br />
würde von den einschlägigen<br />
Forschern gewiss als Durchbruch gewertet.<br />
Die Gegner befürchten eher einen<br />
Dammbruch. Ob Durchbruch oder<br />
Dammbruch, eine Zustimmung des<br />
Bundestages zum Import embryonaler<br />
Stammzellen wäre nur ein erster<br />
Schritt. Denn es würde nicht beim Import<br />
bleiben, sondern in der Logik der<br />
Entscheidung läge es, embryonale<br />
Stammzellen auch in Deutschl<strong>an</strong>d zu<br />
erzeugen und schließlich, <strong>Forschung</strong><br />
siegt, auch weitergehende <strong>Forschung</strong>en,<br />
so sie nur mit genügenden Heilsversprechungen<br />
verbunden sind, in die Wege<br />
zu leiten.<br />
Wenn der Bundestag das nicht will,<br />
d<strong>an</strong>n müsste er ein klares Wort sprechen<br />
und sich auf die Linie<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes begeben.<br />
Norbert Jachertz<br />
Heft 4, 25. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung und <strong>PID</strong><br />
„Ethik des Heilens“<br />
versus „Ethik der Menschenwürde“<br />
Eine kritische Betrachtung jenseits von Pro und Kontra<br />
Heinz Schott<br />
Nur wenige haben in ihrem Beruf<br />
unmittelbar mit menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
zu tun. Ontogenetisch gesehen<br />
bedeuten diese jedoch für alle<br />
gleichsam den dunklen Urgrund der individuellen<br />
Existenz,das „absolut Unbewusste“,<br />
wie der rom<strong>an</strong>tische Geburtshelfer,<br />
Naturforscher und Maler Carl<br />
Gustav Carus (1789 bis 1869) formulierte<br />
(2). Wir alle sind in unserem Leben<br />
selbst einmal <strong>Embryonen</strong> gewesen.Insofern<br />
h<strong>an</strong>delt die Thematik auch von uns<br />
selbst – und nicht nur von Zygoten, Zellhaufen,<br />
Blastozyten.<br />
130<br />
Die experimentelle <strong>Forschung</strong> in der<br />
naturwissenschaftlich-biologischen Medizin<br />
folgt einer logischen Strategie. Im<br />
ersten Schritt werden bestimmte diagnostische<br />
oder therapeutische Methoden<br />
durch Tierversuche (Tiermodell) etabliert.<br />
Im zweiten Schritt folgt die Übertragung<br />
tierexperimentell gewonnener<br />
Fähigkeiten und Erkenntnisse auf den<br />
Menschen.Einem solchen Hum<strong>an</strong>experiment<br />
können im gesetzlich vorgegebenen<br />
Rahmen gesunde Versuchspersonen oder<br />
Kr<strong>an</strong>ke (Heilversuch) unterzogen werden.<br />
Bei positiven <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />
ist d<strong>an</strong>n die klinisch-praktische Medizin<br />
um eine neue Methode oder ein neues<br />
Heilmittel bereichert,die in einem dritten<br />
Schritt in die klinische Praxis eingeführt<br />
werden.<br />
Die Bonner Neurowissenschaftler Otmar<br />
Wiestler und Oliver Brüstle wollten<br />
gerade den üblichen konsequenten<br />
Schritt vom Tier- zum Hum<strong>an</strong>experiment<br />
machen:nämlich von der nachweisbaren<br />
Rekonstruktion defekter Rattenhirne<br />
mit Stammzellen aus Mäuseembryonen<br />
zur eventuellen möglichen Rekonstruktion<br />
defekter menschlicher Ge-
D O K U M E N T A T I O N<br />
hirne mit Stammzellen aus menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong>. Was für die Forscher einen<br />
wissenschaftlich innovativen und therapeutisch<br />
viel versprechenden Schritt bedeutet,wird<br />
jedoch in der breiten Öffentlichkeit<br />
von vielen als Sk<strong>an</strong>dal empfunden,<br />
was zu schwerem Geschütz in den<br />
Feuilletons, heftigen Debatten in den<br />
Medien, programmatischen M<strong>an</strong>ifesten<br />
und Reden und vor allem zu einer Hochkonjunktur<br />
der professionellen Bioethik<br />
geführt hat. Diese hat sich zu einer Art<br />
„bioethics industry“ entwickelt. Nicht<br />
nur staatliche Großforschungsprojekte,<br />
sondern gerade auch die Privatunternehmen<br />
pl<strong>an</strong>en inzwischen von vornherein<br />
einen prozentualen Anteil der Investitionen<br />
für eine „begleitende“ Ethik ein.<br />
So ist der renommierte Moraltheologe<br />
Ronald M. Green Leiter der Ethikkommission<br />
der US-amerik<strong>an</strong>ischen Firma<br />
Adv<strong>an</strong>ced Cell Technology (ACT), die<br />
durch ihre jüngste Klonierung eines<br />
menschlichen Embryos weltweit Aufsehen<br />
erregt hat. Green vertritt eine liberale<br />
Eugenik: „Was wollen die Leute mit<br />
ihrem privaten Geld machen Das soll<br />
ihnen überlassen bleiben.“ Die Mitglieder<br />
seien, wie er sagt, von der Firma ACT<br />
unabhängig und arbeiteten quasi „ehrenamtlich“.<br />
Jedes Mitglied des Ethikrates<br />
habe aber von vornherein gewusst, was<br />
die Firma vorgehabt habe, nämlich das<br />
therapeutische Klonen. Insofern sei es<br />
um eine ethische „Begleitung“ geg<strong>an</strong>gen:<br />
„Ich habe niem<strong>an</strong>den in den Beirat<br />
berufen, der die Nutzung von <strong>Embryonen</strong><br />
oder die gesamte <strong>Forschung</strong>srichtung<br />
grundsätzlich ablehnt. Das würde<br />
keinen Sinn machen.“(8)<br />
Patt-Situation<br />
Die menschlichen <strong>Embryonen</strong> sind<br />
nicht nur wegen der Stammzellforschung<br />
in den Mittelpunkt der gegenwärtigen<br />
Kontroverse gerückt, sondern<br />
auch wegen der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>). In beiden Fällen geht es<br />
letztlich um die Frage, ob menschliche<br />
<strong>Embryonen</strong> unter bestimmten Voraussetzungen<br />
getötet werden dürfen: Im ersteren<br />
Fall werden zur Gewinnung von<br />
Stammzellen <strong>Embryonen</strong> „verbraucht“,<br />
im letzteren Fall defiziente <strong>Embryonen</strong><br />
nach genetischer Testung „verworfen“.<br />
Die Debatte hat inzwischen eine typische<br />
Pro-und-Kontra-Struktur <strong>an</strong>genommen.<br />
❃ Pro-Argumentation: Die Befürworter<br />
sagen, es gehe bei der <strong>Forschung</strong> mit<br />
menschlichen embryonalen Stammzellen<br />
um hochr<strong>an</strong>gige Ziele.Wer diese <strong>Forschung</strong><br />
unterbinden wolle, mache sich<br />
schuldig. Er verhindere ungeahnte<br />
Ch<strong>an</strong>cen des medizinischen Fortschrittes<br />
und verstoße gegen den „therapeutischen<br />
Imperativ“ beziehungsweise die<br />
„Ethik des Heilens“ (3). So haben für<br />
den Rechtsphilosophen Reinhard Merkel<br />
die mit der <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
„verfolgten Ziele der Hilfe für schwerkr<strong>an</strong>ke<br />
Menschen . . . ein so erhebliches<br />
Gewicht, dass sie die Verweigerung der<br />
Solidarität gegenüber frühesten <strong>Embryonen</strong>...rechtfertigen<br />
können“ (13).<br />
Demgegenüber tritt der Vorwurf, die<br />
Freiheit der Wissenschaft werde durch<br />
generelle Restriktionen der verbrauchenden<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung verletzt,<br />
zunehmend in den Hintergrund.<br />
❃ Kontra-Argumentation: Die Gegner<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
stützen sich auf eine „Ethik der<br />
Menschenwürde“: Wer menschliche<br />
<strong>Embryonen</strong> – direkt oder indirekt – tötet,<br />
verstoße gegen die Menschenwürde,<br />
die dem menschlichen Embryo mit der<br />
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle<br />
zukomme. Dies bedeute einen Dammbruch,<br />
das Überschreiten des Rubikon.<br />
Der Begriff „Menschenwürde“ wird von<br />
drei dogmatischen Säulen gestützt: der<br />
Gottebenbildlichkeit im Sinne der Bibel<br />
(Gen. 1, 27), K<strong>an</strong>ts Rede vom Person-<br />
Sein des Menschen als „Zweck <strong>an</strong> sich<br />
selbst“ (12) sowie dem einleitenden Satz<br />
des Grundgesetzes („Die Würde des<br />
Menschen ist un<strong>an</strong>tastbar.“).<br />
„Ethik des Heilens“ versus „Ethik der<br />
Menschwürde“: Im Schachspiel nennt<br />
m<strong>an</strong> eine solche Situation „Patt“. Zug<br />
um Zug wird das Ja der einen Seite durch<br />
das Nein der <strong>an</strong>deren gekontert, <strong>an</strong>nulliert<br />
und vice versa.<br />
Angst und Schuld: die Macht<br />
von Metaphern<br />
Woher kommt die starke Emotionalität<br />
in dieser Kontroverse Achten wir hier<br />
zunächst auf ihre Metaphorik. Die Gegner<br />
der verbrauchenden <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
und der <strong>PID</strong> orientieren sich <strong>an</strong><br />
der zentralen Metapher des Dammbruchs.<br />
Diese setzt Assoziationen zum<br />
Terminus „Tabubruch“ frei und impliziert<br />
das Schreckensbild einer Überschwemmung<br />
mit der Gefahr des Ertrinkens.<br />
Ähnliches meint auch die Rede<br />
vom Überschreiten des Rubikon, der<br />
schiefen Ebene (slippery slope), einer<br />
„Bahn ohne Halt“ (Joh<strong>an</strong>nes Rau).<br />
Dementsprechend prognostiziert der<br />
Bonner Zellbiologe Volker Herzog eine<br />
„Kaskade zur Klonierung des Menschen“:<br />
von der Freigabe vorh<strong>an</strong>dener<br />
menschlicher embryonaler Stammzell-<br />
Linien, über die Verwendung überschüssiger<br />
<strong>Embryonen</strong>, Schaffung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken bis hin<br />
zum therapeutischen und schließlich reproduktiven<br />
Klonen (10).<br />
Die Vorstellung eines unaufhaltsamen<br />
Eroberungszugs (Stichwort: Rubikon)<br />
oder die eines automatischen Abrutschens<br />
in finstere Abgründe (Stichwort:<br />
schiefe Ebene) erzeugen Angst:<br />
Angst vor einer entfesselten Menschenzüchtung<br />
mit dem Verlust traditioneller<br />
Ideale unseres kulturellen Selbstverständnisses,<br />
die im Begriff der Menschenwürde<br />
ver<strong>an</strong>kert sind. Abgesehen<br />
davon, dass wohl auch m<strong>an</strong>ch ein Befürworter<br />
der verbrauchenden <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
beziehungsweise der <strong>PID</strong><br />
insgeheim Angst oder Unbehagen <strong>an</strong>gesichts<br />
der neuen Zugriffsmöglichkeiten<br />
verspüren dürfte, kommt in der „Ethik<br />
des Heilens“ noch eine <strong>an</strong>dere Angst<br />
zum Vorschein: nämlich schwer kr<strong>an</strong>ke<br />
Menschen ohne mögliche Hilfe ihrem<br />
Schicksal zu überlassen, „erbarmungslos“<br />
oder „unbarmherzig“ <strong>an</strong> ihrer Not<br />
vorbeizugehen.<br />
Die Schuld des Menschen <strong>an</strong> seiner<br />
Kr<strong>an</strong>kheit, die Kr<strong>an</strong>kheit als Folge der<br />
Sünde ist auch in unserer gegenwärtigen<br />
Medizin ein wirksamer, verborgener Topos,<br />
denken wir nur <strong>an</strong> alltägliche Bemerkungen<br />
über die kr<strong>an</strong>k machenden<br />
Folgen des übermäßigen Fettverzehrs<br />
oder des Zigarettenrauchens. Doch nirgends<br />
war und ist die Schuldfrage so bris<strong>an</strong>t<br />
wie bei der Eugenik. Dies lässt sich<br />
historisch <strong>an</strong> der Propagierung der<br />
Zw<strong>an</strong>gssterilisation illustrieren: Das<br />
Missachten der erbbiologischen Naturgesetze,<br />
etwa durch die Weitergabe<br />
kr<strong>an</strong>khafter Erb<strong>an</strong>lagen <strong>an</strong> die Nachkommen,<br />
wurde in NS-Propag<strong>an</strong>dafilmen<br />
vor Millionenpublikum wortwört-<br />
131
D O K U M E N T A T I O N<br />
lich als Schuld der Eltern, als Sünde wider<br />
die Natur gebr<strong>an</strong>dmarkt. Dies lässt<br />
sich aber auch aktuell belegen: In Fr<strong>an</strong>kreich<br />
haben Gerichte entschieden, dass<br />
Kinder mit pränatal absehbaren (mehr<br />
oder weniger schweren) Behinderungen<br />
ein Recht auf Nichtexistenz haben, ihr<br />
Geborenwerden also unter Umständen<br />
schuldhaft (durch fehlerhafte Pränataldiagnostik)<br />
zust<strong>an</strong>de kommt.<br />
Es gibt auch Metaphern der Angst,<br />
die den politökonomischen Bereich betreffen:<br />
etwa die Metapher vom Verpassen<br />
des Zuges, vom Zuspätkommen, von<br />
der Vertreibung von Wissenschaftlern<br />
und <strong>Forschung</strong>skapital ins Ausl<strong>an</strong>d. Hier<br />
meldet sich die Angst zu Wort, im neoliberalen<br />
Überlebenskampf zu kurz zu<br />
kommen und der Konkurrenz zu unterliegen,<br />
vom Ausl<strong>an</strong>d abhängig zu werden,<br />
den St<strong>an</strong>dort Deutschl<strong>an</strong>d zu ruinieren<br />
et cetera.<br />
Im Schatten von Darwinismus<br />
und Biologismus<br />
Nach dem Philosophen Robert Spaem<strong>an</strong>n<br />
setzt der Ged<strong>an</strong>ke des Menschenrechts<br />
voraus, „dass jeder Mensch als<br />
geborenes Mitglied der Menschheit<br />
kraft eigenen Rechts den <strong>an</strong>deren gegenübertritt,<br />
und dies wiederum bedeutet,<br />
dass die biologische Zugehörigkeit<br />
zur Spezies homo sapiens allein es sein<br />
darf, die jene Minimalwürde begründet,<br />
welche wir Menschenwürde nennen“<br />
(16). Die „Instruktion“ des Vatik<strong>an</strong>s<br />
„Donum Vitae“ von 1987 formulierte<br />
unmissverständlich: „Die in vitro erzeugten<br />
menschlichen <strong>Embryonen</strong> sind<br />
als menschliche Geschöpfe und rechtsfähige<br />
Wesen zu betrachten: Ihre Würde<br />
und ihr Recht auf Leben sind vom<br />
ersten Augenblick des Lebens <strong>an</strong> zu<br />
achten.“ (4)<br />
Die „Ethik des Heilens“, auf die sich<br />
die biomedizinische <strong>Forschung</strong> beruft,<br />
relativiert diesen Status menschlicher<br />
<strong>Embryonen</strong>. Sie versucht,Vorstufen zur<br />
Menschwerdung zu definieren, etwa einen<br />
„Prä-Embryo“ (17), dem noch keine<br />
un<strong>an</strong>tastbare Menschenwürde zuzubilligen<br />
sei – zum Beispiel sol<strong>an</strong>ge noch<br />
keine Einnistung erfolgt oder sol<strong>an</strong>ge<br />
noch die Zwillingsbildung möglich sei.<br />
Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald, Präsident der<br />
Alex<strong>an</strong>der von Humboldt-Stiftung, hat<br />
132<br />
<strong>an</strong>gesichts der gegensätzlichen St<strong>an</strong>dpunkte<br />
einen „Kulturkampf“ – „christlich,<br />
zumindest k<strong>an</strong>ti<strong>an</strong>isches Menschenbild“<br />
einerseits versus „szientistisch-sozialdarwinistisches<br />
Menschenbild“<br />
<strong>an</strong>derseits – diagnostiziert (6, 7).<br />
Ohne Zweifel begegnen wir heute – im<br />
Verbund mit dem wirtschaftlichen Neoliberalismus<br />
– einem wieder belebten<br />
(sozial)darwinistischen Denken, das <strong>an</strong>gesichts<br />
gentechnologischer Möglichkeiten<br />
die evolutionäre Leiter vom Affen<br />
zum Menschen nach oben für ausziehbar<br />
hält. Die Vision von der gentechnologischen<br />
Verbesserung des Menschen (enh<strong>an</strong>cement)<br />
spukt in vielen Köpfen. So<br />
erklärte der Nobelpreisträger James D.<br />
Watson, „dass menschliches und <strong>an</strong>deres<br />
Leben nicht von Gott geschaffen wurde,<br />
sondern durch einen evolutionären Prozess<br />
entsteht, den Darwinschen Prinzipien<br />
der natürlichen Auslese folgt“ (18).<br />
Atmen wir heute wirklich noch oder<br />
wieder den Geist des darwinistischen<br />
Zeitalters (der ja seinerzeit unter <strong>an</strong>derem<br />
auch Nationalismus und Imperialismus<br />
beflügelte)<br />
Natur und Geist: der<br />
vergessene Kontext<br />
Im gesamten Diskurs über den Status<br />
menschlicher <strong>Embryonen</strong> fehlt eine<br />
Ausein<strong>an</strong>dersetzung mit dem Begriff der<br />
Natur und dem des Geistes. So vermisse<br />
ich als Medizinhistoriker vor allem die<br />
klassischen Fragen der Naturphilosophie<br />
– beispielsweise: Was bedeutet irdisches<br />
Leben im Kosmos Wie verhalten<br />
sich org<strong>an</strong>ische und <strong>an</strong>org<strong>an</strong>ische Natur<br />
zuein<strong>an</strong>der Wie ist das Verhältnis von<br />
Mensch und Welt (Mikrokosmos und<br />
Makrokosmos) beschaffen Wie begegnen<br />
sich tierische und geistige Natur im<br />
Menschen<br />
Ist schon der Begriff der Natur für die<br />
Biomedizin ein blinder Fleck, so gilt dies<br />
umso mehr für den Begriff des Geistes.<br />
Der Bonner Philosoph Wolfram Hogrebe<br />
hat dies polemisch auf die Formel gebracht:<br />
„Im Stile einer Renaiss<strong>an</strong>ce des<br />
19. Jahrhunderts propagiert m<strong>an</strong> heute,<br />
nur um dem Geist ausweichen zu können,<br />
Life Sciences, Lebenswissenschaften.<br />
Sie sollen die Geisteswissenschaften<br />
unnötig machen. . . . Was braucht m<strong>an</strong><br />
Geist, wenn m<strong>an</strong> die Gene hat, mit denen<br />
Geld zu machen ist . . .Wenn wir jem<strong>an</strong>den<br />
fragen: ‚Wer bist du‘, d<strong>an</strong>n fragen<br />
wir nicht nach seinen Genen, sondern<br />
nach seiner geschichtlichen Identität,<br />
über die er zugleich immer auch<br />
hinaus ist.“ (11) Der Begriff des Geistes<br />
ist für den Diskurs der Biomedizin offensichtlich<br />
bedeutungslos.<br />
Die Leitbegriffe der Ethikdebatte,<br />
wie Menschenwürde, Lebensrecht, Heilen,<br />
Güterabwägung et cetera, können<br />
keine konstruktive gesellschaftskritische<br />
Kraft entfalten, da weder die historischen<br />
Quellen noch der globale Kontext<br />
ins Auge gefasst werden. Ein K<strong>an</strong>t-Zitat<br />
zur Würde der Person und der Verweis<br />
auf Artikel 1 des Grundgesetzes oder die<br />
Rede vom „therapeutischen Imperativ“<br />
und dem „Kinderwunsch“ als Postulat<br />
der Autonomie bedeuten noch keine kritische<br />
Analyse unserer geistigen Situation,<br />
unseres Aufenthaltsortes in der Natur-<br />
und Menschheitsgeschichte. Erst<br />
wenn wir uns mit diesem Kontext der<br />
modernen Biomedizin ausein<strong>an</strong>der setzen,<br />
können wir in historischer Perspektive<br />
durch „Erinnern, Wiederholen und<br />
Durcharbeiten“ (Freud) eine Gemeinschaft<br />
verändernde Orientierung für die<br />
Zukunft gewinnen. Können, dürfen wir<br />
uns schon jene Freiheit herausnehmen,<br />
welche die liberale Eugenik gegenwärtig<br />
bereits einfordert Oder müsste sie nicht<br />
erst durch disziplinierte Bildungsarbeit<br />
<strong>an</strong> uns selbst errungen werden<br />
Sexualität – Eros – Liebe<br />
1978 wurde das erste Kind nach In-vitro-<br />
Fertilisation in Engl<strong>an</strong>d geboren. Vor<br />
dem „Retortenbaby“ Louise Brown<br />
wurden alle Babys der Welt durch Invivo-Fertilisation<br />
gezeugt. Diese Zeugung<br />
geschieht bek<strong>an</strong>ntlich im Sp<strong>an</strong>nungsfeld<br />
von Sexualität und Liebe – und<br />
in schlimmen Fällen im Sp<strong>an</strong>nungsfeld<br />
von Sexualität und Gewalt. <strong>Embryonen</strong><br />
werden heute – unabhängig von ihrer<br />
ethisch-rechtlichen Bewertung – als isolierte<br />
biologische Monaden dargestellt<br />
und imaginiert, abgelöst von ihren org<strong>an</strong>ischen<br />
Ursprungsorten im Körper der<br />
Frau und des M<strong>an</strong>nes, abgelöst vom Zeugungsakt,<br />
der sich in einen Herstellungsakt<br />
verw<strong>an</strong>delt hat. Solche biotechnischen<br />
Eingriffe würden die „intuitive<br />
Unterscheidung zwischen Gewachse-
D O K U M E N T A T I O N<br />
nem und Gemachtem“ verwirren, beklagte<br />
kürzlich Jürgen Habermas (9).<br />
Die Begriffe Sexualität, Eros, Liebe<br />
haben im bioethischen Diskurs keine<br />
nennenswerte Bedeutung,sieht m<strong>an</strong> einmal<br />
von der Position der katholischen<br />
Kirche ab, welche – gemäß der Enzyklika<br />
„Hum<strong>an</strong>ae vitae“ von Paul VI. – die<br />
„biologische Integrität des Geschlechtsaktes“,<br />
gewissermaßen also die „Würde<br />
des Sex“ (4), verteidigt. Dafür stoßen wir<br />
auf den Begriff des Kinderwunsches, der<br />
die Prozeduren der Reproduktionsmedizin<br />
unter dem Vorzeichen der Autonomie<br />
der Patienten beziehungsweise Klienten<br />
legitimiert. Doch inwiefern ist Sterilität<br />
überhaupt als Kr<strong>an</strong>kheit zu definieren<br />
Und inwiefern ist der Kinderwunsch<br />
und seine reproduktionsmedizinische<br />
Realisierung tatsächlich als<br />
Rechts<strong>an</strong>spruch „autonomer“ Personen<br />
auf ihre gesundheitliche Integrität zu begreifen<br />
Der Traum vom<br />
Menschenmachen<br />
Wahrscheinlich ist in unserer <strong>an</strong>geblich<br />
säkularen, pluralen, liberalen Gesellschaft<br />
der Druck, Kinder zu bekommen,<br />
keineswegs geringer als etwa in traditionellen<br />
Kulturen oder Entwicklungsländern<br />
mit Großfamilien beziehungsweise<br />
unkontrolliertem Kinderreichtum. Dieser<br />
Druck tritt bei uns im Gegensatz zu<br />
früheren Zeiten und <strong>an</strong>deren Kulturkreisen<br />
nur zeitverschoben auf: Relativ<br />
junge Frauen sollen bis zum Erreichen<br />
einer bestimmten Stufe ihrer Berufsund<br />
Lebenskarriere keine Kinder bekommen,<br />
d<strong>an</strong>n aber umso gesicherter.<br />
Der Druck,zunächst keine Kinder zu bekommen,verkehrt<br />
sich in den Druck,um<br />
jeden Preis noch Kinder zu bekommen.<br />
Was bedeutet da eigentlich der Kinderwunsch<br />
als Rechts<strong>an</strong>spruch auf reproduktionsmedizinische<br />
Beh<strong>an</strong>dlung<br />
Hybris bezeichnete ursprünglich den<br />
Hochmut, die Selbstüberhebung des<br />
Menschen gegenüber den Göttern und<br />
ist im Diskurs der „life sciences“ durchaus<br />
virulent. So meinte James D. Watson:<br />
In der Verg<strong>an</strong>genheit „konnten nur<br />
die Götter die Zukunft vorhersagen<br />
und unserem künftigen Schicksal eine<br />
gute oder schlechte Wendung geben.<br />
Heute liegt dies zum Teil in unseren eigenen<br />
Händen.“ (17) Namhafte Fachleute<br />
wie Peter Propping (15) oder die<br />
Nobelpreisträgerin Christi<strong>an</strong>e Nüsslein-Volhard<br />
(14) sind gegenüber solchen<br />
Allmachtsf<strong>an</strong>tasien skeptisch und<br />
mahnen zur Bescheidenheit. Doch die<br />
Hoffnung, einen Qu<strong>an</strong>tensprung der<br />
wissenschaftlichen Medizin vollziehen<br />
zu können, ist wohl für alle Beteiligten<br />
ein starkes Motiv.<br />
Ein kurzer Einblick in Kultur- und<br />
Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass es<br />
offenbar einem uralten Menschheitstraum<br />
entspricht, die Rolle des Schöpfergottes<br />
zu übernehmen und selbst einen<br />
Menschen zu schaffen. In Mythen,<br />
Sagen und in der Literatur begegnen uns<br />
Golems, Homunculi und Roboter, von<br />
der jüdischen Kabbala bis hin zu rom<strong>an</strong>tischen<br />
Schauerrom<strong>an</strong>en. Merkwürdigerweise<br />
liegt auf den überlieferten Visionen,<br />
künstlich einen Menschen zu<br />
schaffen, kein Segen. Zumeist werden<br />
nämlich durch gotteslästerliche, teuflische<br />
Akte Zerrbilder des Menschen geschaffen,<br />
die <strong>an</strong>gst- und ekelerregend<br />
sind und der Menschheit sehr gefährlich<br />
werden können, wie zum Beispiel Mary<br />
Shellys Fr<strong>an</strong>kenstein-Rom<strong>an</strong> zeigt. Verena<br />
Wetzstein, die diesen mythischen<br />
Stoffen des Menschenmachens nachgeg<strong>an</strong>gen<br />
ist, kommt zum Schluss: „Diese<br />
zumindest im Unterbewusstsein der Öffentlichkeit<br />
noch präsenten Mythen sind<br />
in der heutigen öffentlichen Diskussion<br />
über Stammzellenforschung mitzubedenken,<br />
will m<strong>an</strong> die Hitze der Debatte<br />
verstehen. . . . Die Klonierung von Menschen<br />
erscheint als die Verwirklichung<br />
des Homunculus. Wer sollte da nicht <strong>an</strong><br />
die zügellosen Geschöpfe und die Bestrafung<br />
des blasphemischen Schöpfertums<br />
denken, die uns Mythen und Sagen<br />
jahrtausendel<strong>an</strong>g erzählt haben“ (19)<br />
Hybris versus Selbstreflexion<br />
In unserem Selbstverständnis gehen wir<br />
davon aus, in einer so gen<strong>an</strong>nten säkularen<br />
und pluralistischen Gesellschaft zu<br />
leben, die zu religiöser Neutralität und<br />
den universalen Menschenrechten verpflichtet<br />
ist. Inwiefern k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n<br />
überhaupt noch im herkömmlichen Sinn<br />
von Hybris sprechen, wenn die Vorstellung<br />
von Gott oder den Göttern unverbindliche<br />
Privatmeinung ist, wenn die<br />
Freiheit eines „Nichtchristenmenschen“<br />
(Markl) gleichermaßen gilt Zumindest<br />
eine Hybris besteht darin, die Geschichte<br />
der Menschheit mit ihren Mythen und<br />
Sagen, die Geschichte der Wissenschaft<br />
mit ihren Aufbrüchen und Irrwegen, die<br />
Geschichte der eigenen Person mit ihren<br />
Träumen und Intuitionen zu ignorieren,<br />
das heißt, ihnen keine wissenschaftliche<br />
Bedeutung für das eigene Wissenschaft-<br />
Treiben zuzubilligen.<br />
Diese Hybris besteht aus einer historischen<br />
Selbstvergessenheit: nämlich der<br />
Idealisierung des Selbst-machen-Könnens,<br />
der Vorstellung einer eigenen Verfügungsgewalt<br />
über die Zukunft,gepaart<br />
mit der Abwehr des Ged<strong>an</strong>kens einer<br />
unaufhebbaren Nicht-Autonomie des<br />
Menschen, seiner Abhängigkeit, Hilflosigkeit<br />
und Verletzbarkeit auf dieser<br />
selbst wiederum vergänglichen Erde,nur<br />
einer von „unendlich vielen Erden“, wie<br />
Giord<strong>an</strong>o Bruno vor mehr als 400 Jahren<br />
spekulierte (1).<br />
Was jenseits von Pro und Kontra, jenseits<br />
von K<strong>an</strong>t- und Darwin-Zitaten, jenseits<br />
von tagespolitischen Aufgeregtheiten<br />
von allen gefordert wird, ist das Infragestellen<br />
von gewohnten Gewissheiten,<br />
das Heraushören leiser Zwischentöne<br />
aus dem menschheitsgeschichtlichen<br />
und tr<strong>an</strong>skulturellen „Hintergrundrauschen“,<br />
die kritische und vor allem wissenschaftskritische<br />
Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
mit den vorherrschenden Menschenund<br />
Weltbildern. Vor Hybris schützt nur<br />
kritische Selbstreflexion, die – salopp gesprochen<br />
– „Dekonstruktion“ und Demut<br />
zusammenbringt.<br />
Stark gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags zum<br />
Schwerpunkt „Bioethik“ beim Dies Academicus des Studium<br />
Universale der Universität Bonn am 5. Dezember 2001<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 172–175 [Heft 4]<br />
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis,<br />
das über den Sonderdruck beim Verfasser<br />
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott<br />
Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn<br />
Sigmund-Freud-Straße 25<br />
53105 Bonn<br />
133
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 5, 1. Februar 2002<br />
Stammzellforschung<br />
Das Argument des Sokrates<br />
oder: Die Frage nach dem therapeutischen Gebrauch menschlicher embryonaler Stammzellen<br />
Das Denken des modernen Menschen<br />
ist geprägt von den Abläufen<br />
der Technik.In der Rationalität der<br />
Technik ist das Verhältnis von Mittel und<br />
Ziel für alle klar. Gut ist ein technisches<br />
Mittel, wenn es effizient ist. Gut ist eine<br />
Druckmaschine, wenn sie schnell und<br />
kostengünstig Papier bedruckt, und besser<br />
ist ihr Nachfolgemodell, wenn es diese<br />
Effizienz zu erhöhen vermag. Kein<br />
technisches Mittel hat einen Wert in sich,<br />
sondern es definiert sich allein über seine<br />
funktionale Brauchbarkeit.<br />
Die Allgegenwart technischer und<br />
wirtschaftlicher Rationalität der Gegenwart<br />
stellt eine Herausforderung für<br />
das philosophische Nachdenken über<br />
menschliches H<strong>an</strong>deln dar, das Ethik<br />
gen<strong>an</strong>nt wird. Auch menschliches H<strong>an</strong>deln<br />
kennt Ziele ebenso wie Mittel zum<br />
Ziel. Die Frage drängt sich auf: Ist es<br />
nicht auch in der Ethik so, dass mit der<br />
Festlegung eines Zieles die Auswahl der<br />
Mittel nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit<br />
darstellt Wenn ein Ziel gut<br />
ist – k<strong>an</strong>n es d<strong>an</strong>n überhaupt noch ein<br />
<strong>an</strong>deres Kriterium für das Gutsein der<br />
Mittel geben als die Effizienz<br />
Das umfassende Gut-Sein<br />
Um die Bedeutung der Thematik zu begreifen,<br />
empfiehlt es sich, einen Blick auf<br />
den berühmtesten Justizmord der Geschichte<br />
zu werfen, der im Jahr 399 v. Chr.<br />
stattf<strong>an</strong>d. Sein prominentes Opfer: der<br />
griechische Philosoph Sokrates. Der tragische<br />
Urteilsspruch gegen ihn beruhte<br />
auf vielerlei Gründen, zu denen das allgemeine<br />
Klima welt<strong>an</strong>schaulicher Unsicherheit<br />
und eine gewisse Unbeholfenheit<br />
der attischen Gesetze gehörten. Orientierungslos<br />
war Athen nach der Niederlage<br />
im Peloponnesischen Krieg vor<br />
* Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld ist Lehrbeauftragter<br />
für Bioethik und Mitglied der Ethikkommission <strong>an</strong> der<br />
Charité, Humboldt-Universität, zu Berlin.<br />
Alfred Sonnenfeld*<br />
allem dadurch geworden, dass seine öffentliche<br />
Moral zu einer gesellschaftlichen<br />
Konvention degeneriert war. Einen<br />
sichtbaren Beleg dafür bot die überragende<br />
Stelle der Sophisten, die Rhetorik und<br />
M<strong>an</strong>ipulation <strong>an</strong> die Stelle objektiver<br />
Wahrheit gesetzt hatten.Durch sein kompromissloses,ja<br />
herausforderndes Verhalten<br />
gegen deren These von der bloßen<br />
Konventionalität der Moral galt Sokrates<br />
als unerhörter Provokateur. Sokrates<br />
wagte es, die scheinbar gesellschaftlich<br />
allgemein akzeptierte und gut legitimierte<br />
Polis-Sittlichkeit der Athener freimütig<br />
im Namen allgemeingültiger Wahrheiten<br />
und Werte infrage zu stellen.Dies brachte<br />
ihm den Tod ein.<br />
Früh hat m<strong>an</strong> erk<strong>an</strong>nt,<br />
dass der Tod des<br />
Sokrates mehr ist als<br />
einer der vielen bedauerlichen<br />
Justizirrtümer<br />
der Geschichte. Er ist<br />
ein bis heute gültiges<br />
Paradigma für eine<br />
Grundentscheidung in der Beurteilung<br />
sittlichen H<strong>an</strong>delns.Platon hat dies in seinem<br />
Dialog „Kriton“ zum Ausdruck zu<br />
bringen versucht. Dieser Dialog zwischen<br />
dem gleichnamigen Freund des Sokrates<br />
und dem Meister spielt in dessen<br />
Gefängniszelle, morgens vor Sonnenaufg<strong>an</strong>g,<br />
zwei Tage vor der Hinrichtung. Im<br />
letzten möglichen Augenblick sucht Kriton<br />
seinen Freund auf, um ihn zur Flucht<br />
ins Ausl<strong>an</strong>d zu überreden; alles Notwendige<br />
dafür hat er schon in die Wege geleitet.<br />
Doch Sokrates lehnt ab.<br />
In den unterschiedlichen Argumentationen<br />
des Kriton und des Sokrates <strong>an</strong>gesichts<br />
des Problems „Fliehen oder<br />
bleiben“ begegnen uns zwei grundsätzliche,<br />
konträre Sichtweisen für die Beurteilung<br />
menschlichen Verhaltens. Kriton<br />
argumentiert g<strong>an</strong>z vom übergeordneten<br />
(guten) Zweck her, der die Flucht als<br />
Kein übergeordneter<br />
guter Zweck k<strong>an</strong>n<br />
zur Legitimation eines<br />
Verhaltens dienen,<br />
das in sich betrachtet<br />
schlecht und ungerecht ist.<br />
Mittel zu solchem Zweck rechtfertigen<br />
soll. M<strong>an</strong> würde heute sagen: Kriton argumentiert<br />
„teleologisch“ oder „ver<strong>an</strong>twortungsethisch“.<br />
Auf einen <strong>an</strong>deren<br />
St<strong>an</strong>dpunkt stellt sich Sokrates. Für ihn<br />
zählt nur die Frage, ob die H<strong>an</strong>dlung<br />
selbst, die zur Debatte steht, also die<br />
Flucht, als solche gerecht ist. Für ihn gilt<br />
das unumstößliche Axiom: M<strong>an</strong> darf auf<br />
keine Weise Unrecht tun. Kein übergeordneter<br />
guter Zweck k<strong>an</strong>n zur Legitimation<br />
eines Verhaltens dienen, das in<br />
sich betrachtet schlecht und ungerecht<br />
ist. Denn, so gibt der Philosoph seinem<br />
Freund Kriton zu bedenken: „M<strong>an</strong> soll<br />
nicht einfach dem Leben den größten<br />
Wert beimessen, sondern dem Recht-<br />
Leben“ 1 . Darum entscheidet sich Sokrates<br />
dafür, den Gesetzen<br />
nicht zu entfliehen<br />
und lieber den<br />
Tod zu erleiden, als<br />
ein Unrecht zu tun.<br />
Sokrates ist zutiefst<br />
davon überzeugt, dass<br />
es in einer Entscheidungssituation<br />
für den<br />
H<strong>an</strong>delnden allemal besser ist, „Unrecht<br />
zu leiden, als Unrecht zu tun“. Nicht ein<br />
Pragmatismus, der alles in Kauf nimmt,<br />
um seine Ziele und Interessen durchzusetzen,<br />
ist das höchste Gut für den Menschen,<br />
sondern das umfassendere Gut-<br />
Sein der Seele. Die moralische Integrität<br />
einer menschlichen H<strong>an</strong>dlung wird also<br />
durch das Erleiden eines Unrechts nicht<br />
beeinträchtigt, wohl aber durch jedes<br />
Unrechttun – auch wenn es scheinbar nur<br />
den Bereich der Mittel betrifft. Das Unrechttun<br />
ist nicht nur deshalb schlecht,<br />
wenn der H<strong>an</strong>delnde sich dadurch <strong>an</strong> einer<br />
<strong>an</strong>deren Person vergeht, sondern es<br />
ist abzulehnen, weil der H<strong>an</strong>delnde sich<br />
selbst, sofern er ein zur Sittlichkeit befähigtes<br />
Wesen ist, damit schädigt. Diese<br />
Sittlichkeit orientiert sich <strong>an</strong> H<strong>an</strong>dlungs-<br />
1 Platon, Kriton, 47 d–48 b (Stuttgart 1998), S. 46.<br />
134
D O K U M E N T A T I O N<br />
normen, die absolut und allgemein gelten,<br />
ohne dass übergeordnete Zwecke<br />
diese Geltung relativieren könnten. Darum<br />
gibt es konkrete H<strong>an</strong>dlungsforderungen<br />
und -verbote, die sich jeglicher Abwägung<br />
entziehen.<br />
Solche Verbotsnormen zeigen Grenzen<br />
menschlichen H<strong>an</strong>delns <strong>an</strong>, die nicht<br />
überschritten werden dürfen. Ebenfalls<br />
wie für Sokrates sind für Aristoteles 2 absolute<br />
H<strong>an</strong>dlungsverbote menschliche<br />
H<strong>an</strong>dlungen, die immer gelten. Weil sie<br />
objektiv schlecht sind, das heißt: sie sind<br />
unter allen Umständen sittlich verdorben,<br />
deshalb sollen sie immer und für jeden<br />
Fall unterlassen werden. Das gilt<br />
auch d<strong>an</strong>n, wenn solche H<strong>an</strong>dlungen<br />
durch hinzukommende, gut gemeinte<br />
Absichten beeinflusst werden. Die moralische<br />
Identität der absoluten H<strong>an</strong>dlungsverbote<br />
k<strong>an</strong>n durch keine dazukommende<br />
Absicht oder Folgenabschätzung<br />
neu beschrieben oder neu definiert<br />
werden. Sie bleibt resistent gegenüber<br />
allen hinzukommenden, gut gemeinten<br />
Überlegungen.<br />
Tugend der Gerechtigkeit<br />
Absolute H<strong>an</strong>dlungsverbote beziehen<br />
sich auf bestimmte H<strong>an</strong>dlungsweisen,<br />
die einen konkreten ethischen Kontext<br />
ausdrücken, die, wenn sie dennoch beg<strong>an</strong>gen<br />
werden, einen schweren Verstoß<br />
gegen eine oder mehrere Tugenden implizieren<br />
3 . Ein absolutes H<strong>an</strong>dlungsverbot<br />
wählen bedeutet, sich gegen eine bestimmte<br />
Tugend zu entscheiden. So wird<br />
etwa durch die gezielte Tötung eines<br />
Embryos zu <strong>Forschung</strong>szwecken die Tugend<br />
der Gerechtigkeit empfindlich getroffen.<br />
Mit der Entfernung der inneren<br />
Zellmasse des Embryos im Blastozystenstadium<br />
wählt der Arzt den Tod eines<br />
Menschen.Dieser H<strong>an</strong>dlungsvollzug<br />
fällt immer unter die Intention des Tötens<br />
und prägt den Willen des Arztes. Er<br />
ist in sich betrachtet ein Akt der Unge-<br />
2 Aristoteles, Nikomachische Ethik, II, 61107 a 9–18.<br />
3 Vgl.: Rhonheimer M: Die Perspektiven der Moral. Philosophische<br />
Grundlagen der Tugendethik (Berlin 2001),<br />
S. 303–321.<br />
4 Vgl.: Sonnenfeld A: Selbstverwirklichung oder Selbstvernichtung.<br />
Gewissen und ethisches H<strong>an</strong>deln im ärztlichen<br />
Beruf, in: Dtsch Arztebl, 1990; 87: A 1507–1515<br />
[Heft 19].<br />
5 Vgl.: Röm, 3,8, in abgew<strong>an</strong>delter Form: „M<strong>an</strong> darf nie<br />
etwas Schlechtes tun, um ein Gut zu erwirken.“<br />
rechtigkeit, weil er die Entscheidung für<br />
den Tod eines unschuldigen Menschen<br />
impliziert.<br />
Die Tugend der Gerechtigkeit bedeutet<br />
ja vor allem, dass ich den <strong>an</strong>deren als<br />
mir Ebenbürtigen <strong>an</strong>erkenne. Die goldene<br />
Regel aber verbietet mir, dass ich dem<br />
Nächsten seine Existenz aberkenne:<br />
„Was du nicht willst, das m<strong>an</strong> dir tut, das<br />
füg auch keinem <strong>an</strong>deren zu.“ Dieses Lebensrecht<br />
jeder Person ist die Grenze aller<br />
Güterabwägungen. Die Folgen einer<br />
solchen H<strong>an</strong>dlung führen <strong>an</strong> erster Stelle<br />
zu einer Verformung im Willen des H<strong>an</strong>delnden<br />
selbst. Sollte sich diese H<strong>an</strong>dlung<br />
wiederholen, bliebe eine dauernde<br />
Verformung des Gewissens nicht aus 4 .<br />
Um diese Gefahr zu vermeiden, sollte<br />
eine bioethische Debatte stattfinden, die<br />
nicht fragt, wie sich die Menschen faktisch<br />
verhalten, sondern wie sie sich verhalten<br />
sollen. Medizinische Ethik zielt<br />
nicht darauf ab, ob eine H<strong>an</strong>dlungsweise<br />
für richtig gehalten wird, sondern ob sie<br />
richtig ist, das heißt also, ob sie tatsächlich<br />
der menschlichen Würde dient. Das<br />
Argument des Sokrates bleibt aktuell. In<br />
der bioethischen Debatte geht es im Wesentlichen<br />
um dasselbe Problem wie damals:<br />
Es geht um die Frage nach der Absolutheit<br />
und Allgemeingültigkeit von<br />
H<strong>an</strong>dlungsnormen <strong>an</strong>gesichts von übergeordneten<br />
Zielsetzungen, die diese<br />
Normen scheinbar relativieren. Und<br />
g<strong>an</strong>z konkret geht es um die Frage, ob<br />
der Grundsatz, „dass m<strong>an</strong> niemals die<br />
Tötung eines Unschuldigen als Mittel zu<br />
einem <strong>an</strong>deren Zweck <strong>an</strong>streben oder<br />
wählen darf“ 5 , zu diesen un<strong>an</strong>tastbaren<br />
ethischen Grundsätzen zählt.<br />
Das Ziel medizinischer Ethik zu formulieren<br />
scheint einfach zu sein: Es h<strong>an</strong>delt<br />
sich, so lautet ein überzeugender<br />
Vorschlag, um eine „Ethik des Heilens“.<br />
Die Formel klingt überzeugend. Niem<strong>an</strong>d<br />
wird bezweifeln, dass etwa im<br />
Blick auf einen Parkinson-Kr<strong>an</strong>ken die<br />
Heilung genau dieses Leidens für den<br />
Arzt eine ethisch gute Tat ist. Nun aber<br />
muss auch über die konkrete Umsetzung<br />
des ethischen Leitsatzes nachgedacht<br />
werden. Damit steht m<strong>an</strong> vor dem entscheidenden<br />
Schritt in der aktuellen<br />
Stammzelldiskussion.<br />
Beim Umg<strong>an</strong>g mit <strong>Embryonen</strong> hat<br />
m<strong>an</strong> es mit einer H<strong>an</strong>dlung zu tun, die in<br />
sich selbst beurteilt werden muss, weil sie<br />
ein Objekt betrifft, das stets in sich, in seinem<br />
Eigenwert, und niemals bloß als Mittel<br />
fremder Zwecke zu betrachten ist.<br />
Denn mit der Vereinigung der beiden Vorkerne<br />
von Ei- und Samenzelle ist die genetische<br />
Identität des neu entst<strong>an</strong>denen<br />
menschlichen Lebens fixiert.Damit ist seine<br />
Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies<br />
festgelegt. Seine Sonderstellung liegt<br />
im einzigartigen Chromosomensatz begründet,der<br />
das inhärierende Potenzial einer<br />
kontinuierlichen Entwicklung in sich<br />
vereint. Somit kommt dem Embryo in<br />
vollem Umf<strong>an</strong>g Menschenwürde zu. Jede<br />
<strong>an</strong>dere Position würde eine Instrumentalisierung<br />
der Menschenwürde bedeuten.<br />
Die Würde des Menschen<br />
Erst in der g<strong>an</strong>zheitlichen, Ziel und Mittel<br />
in ihrem untrennbaren Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
berücksichtigenden Betrachtung<br />
wird medizinische Ethik ihrem Anspruch<br />
gerecht, „Ethik des Heilens“ zu<br />
sein. Denn auch der Heilungswille darf<br />
den Arzt nicht dazu ver<strong>an</strong>lassen, die<br />
ethische Betrachtung einer H<strong>an</strong>dlung<br />
am Maßstab einer aspekthaften, am Paradigma<br />
der Technik ausgerichteten<br />
Zweckrationalität vorzunehmen. In der<br />
Technik k<strong>an</strong>n das Mittel zur reinen<br />
Funktion erklärt werden, ohne dass m<strong>an</strong><br />
den Gesamtprozess falsch einschätzt.<br />
Menschliches H<strong>an</strong>deln dagegen ist<br />
nur d<strong>an</strong>n gut, wenn das gute Ziel auch<br />
durch solche Mittel verwirklicht wird, die<br />
in sich der Würde des Menschen, den<br />
m<strong>an</strong> beh<strong>an</strong>delt, nicht widersprechen. Beh<strong>an</strong>delt<br />
wird aber nicht nur der Patient,<br />
sondern auch der ungeborene Mensch,<br />
dessen Körpermaterial m<strong>an</strong> benutzen<br />
will. Therapeutisches H<strong>an</strong>deln ist wie jedes<br />
H<strong>an</strong>deln nur d<strong>an</strong>n „gut“ im umfassenden<br />
Sinne, wenn darin der Mensch in<br />
jedem Stadium seiner Existenz davor geschützt<br />
wird, zum bloßen Mittel erklärt<br />
und damit als Person negiert zu werden.<br />
Nur wenn der Arzt in diesem größeren<br />
Sinne „gut“ h<strong>an</strong>deln will,tut er etwas,das<br />
ihn selbst erfüllen k<strong>an</strong>n.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 271–272 [Heft 5].<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld<br />
Universitätsklinikum Charité<br />
Ethik-Kommission des Virchow-Klinikums. Lehrgebäude<br />
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin<br />
135
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 6, 8. Februar 2002<br />
Stammzellenimport<br />
Unter Auflagen zugelassen<br />
Nach dem Beschluss des Bundestages dürfen bestehende<br />
embryonale Stammzelllinien importiert, jedoch keine<br />
weiteren <strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken getötet werden.<br />
Der Bundestag hat entschieden:<br />
Der Import bereits existierender<br />
embryonaler Stammzelllinien nach<br />
Deutschl<strong>an</strong>d wird unter Auflagen erlaubt,<br />
die Tötung weiterer <strong>Embryonen</strong><br />
soll jedoch durch eine Stichtagsregelung<br />
verhindert werden. Gegen 18.30 Uhr am<br />
30. J<strong>an</strong>uar verkündete Bundestagsvizepräsident<br />
Dr. h.c. Rudolf Seiters das Ergebnis.<br />
340 von 618 Abgeordneten hatten<br />
sich nach einer viereinhalbstündigen<br />
Debatte in einem zweiten Wahlg<strong>an</strong>g für<br />
den fraktionsübergreifenden Kompromiss<strong>an</strong>trag<br />
von Dr. Maria Böhmer<br />
(CDU),Margot von Renesse (SPD) und<br />
Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen)<br />
entschieden. „Der gewundene<br />
Weg führt nicht selten zum Ausweg“,<br />
hatte Renesse zuvor in der sehr sachlich<br />
geführten Debatte gesagt.<br />
Ein Ausweg aus dieser schwierigen<br />
Gewissensfrage war der „Nein-aber-<br />
Antrag“ wohl für alle diejenigen, die<br />
sich nicht zwischen den Werten Lebensschutz<br />
und <strong>Forschung</strong>sfreiheit entscheiden<br />
mochten. Seine Argumentation<br />
setzt auf Konsens, weniger auf Klarheit.<br />
So bekräftigt er einerseits die<br />
Zielsetzung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes:<br />
„<strong>Embryonen</strong> dürfen nur zum<br />
Zweck der Fortpfl<strong>an</strong>zung erzeugt werden.<br />
Eine Tötung von <strong>Embryonen</strong> zu<br />
<strong>Forschung</strong>szwecken muss verboten<br />
bleiben.“ Andererseits ist eine Zeile<br />
später zu lesen, dass menschliche embryonale<br />
Stammzellen keine <strong>Embryonen</strong><br />
seien, weil sie sich nicht zu einem<br />
vollständigen menschlichen Org<strong>an</strong>ismus<br />
entwickeln könnten. „Ein unmittelbarer<br />
Grundrechtsschutz k<strong>an</strong>n für sie<br />
nicht in Anspruch genommen werden“,<br />
heißt es in dem Antrag. Dieser sei kein<br />
Kompromiss, sondern das Ergebnis einer<br />
Verständigung zwischen Befürwortern<br />
und Gegnern der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
embryonalen Stammzellen, erklärte<br />
Renesse den Abgeordneten, die <strong>an</strong> diesem<br />
Tag ohne Fraktionszw<strong>an</strong>g entscheiden<br />
konnten.<br />
Für den Mittelweg warb neben Dr.<br />
Angela Merkel (CDU) auch Bundesk<strong>an</strong>zler<br />
Gerhard Schröder. Damit werde<br />
weder eine neue Rechtslage geschaffen,<br />
noch gehe Deutschl<strong>an</strong>d einen Sonderweg,<br />
sagte Schröder, der ausdrücklich<br />
nicht als K<strong>an</strong>zler, sondern als SPD-<br />
Abgeordneter sprach. Bei der Debatte<br />
ergriff kein Minister das Wort; weder<br />
<strong>Forschung</strong>sministerin Edelgard Bulmahn<br />
(SPD), die seit Monaten für eine<br />
Liberalisierung der <strong>Forschung</strong> plädiert,<br />
noch Justizministerin Prof. Dr. Herta<br />
Däubler-Gmelin, die aus verfassungsrechtlicher<br />
Sicht die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen ablehnt.<br />
Die <strong>an</strong>deren beiden Anträge hatten<br />
sich für eine eindeutige Ja- beziehungsweise<br />
Nein-Regelung ausgesprochen.<br />
Beide klaren Positionen erhielten jedoch<br />
keine absolute Mehrheit. Der Antrag<br />
der Importgegner,den Dr.Wolfg<strong>an</strong>g<br />
Wodarg (SPD), Dr. Herm<strong>an</strong>n Kues<br />
(CDU) und Monika Knoche (Bündnis<br />
90/Die Grünen) gestellt hatten, erhielt<br />
im ersten Abstimmungsg<strong>an</strong>g 262 Stimmen,<br />
im zweiten 265. Er sprach sich sowohl<br />
gegen eine Tötung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken aus als auch<br />
gegen einen Import von Zelllinien.<br />
„Wenn wir die Tötung von <strong>Embryonen</strong><br />
im Ausl<strong>an</strong>d billigen, wird sie auch später<br />
im Inl<strong>an</strong>d gebilligt“,argumentierte Kues.<br />
Klar sei schon jetzt, dass die Forscher<br />
mehr als nur den Import wollten. Auch<br />
Knoche forderte die Abgeordneten auf,<br />
sich „ehrlich zwischen Ja oder Nein zu<br />
entscheiden“. Mit der Erlaubnis des Imports<br />
würde erstmals eine Statusdefinition<br />
des Embryos vorgenommen.<br />
Für den Antrag der Befürworter der<br />
embryonalen Stammzellforschung, den<br />
hauptsächlich die FDP unter Ulrike<br />
Flach sowie Peter Hintze (CDU) und<br />
Dr. Wolfg<strong>an</strong>g Schäuble (CDU) stellten,<br />
stimmten im ersten Wahlg<strong>an</strong>g 106 Abgeordnete.<br />
Sie schlossen sich im zweiten<br />
Abstimmungsg<strong>an</strong>g dem Kompromiss<strong>an</strong>trag<br />
<strong>an</strong>. Auch Flach hatte zuvor für<br />
eine eindeutige Entscheidung geworben;<br />
der Kompromiss<strong>an</strong>trag mogele<br />
sich um diese herum. Ihr Antrag<br />
plädierte sowohl für den Import als<br />
auch für die Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
und die Herstellung<br />
von embryonalen Stammzelllinien in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d – falls dies erforderlich sei.<br />
Darauf müssen die Forscher in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d nun verzichten. Dennoch<br />
begrüßte die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) den Beschluss des<br />
Bundestages als „erkennbares Abwägen<br />
zwischen den Bel<strong>an</strong>gen der <strong>Forschung</strong>sfreiheit<br />
und den ethischen Bedenken“.<br />
Der DFG-Hauptausschuss genehmigte<br />
am 31. J<strong>an</strong>uar den Antrag des Bonner<br />
Neurowissenschaftlers Prof. Dr. med.<br />
Oliver Brüstle. Er will hum<strong>an</strong>e embryonale<br />
Stammzelllinien aus Israel nach<br />
Deutschl<strong>an</strong>d importieren. Die DFG-<br />
Fördermittel in Höhe von 102 000 A erhält<br />
er für sein Projekt jedoch erst, wenn<br />
das erforderliche Gesetz zur Regelung<br />
des Imports in Kraft ist und die darin gen<strong>an</strong>nten<br />
Voraussetzungen erfüllt sind.<br />
Brüstle sagte in Bonn, er hoffe, noch vor<br />
der Sommerpause mit den Arbeiten beginnen<br />
zu können.<br />
Dem Bundesforschungsministerium<br />
zufolge wird bereits mit Hochdruck <strong>an</strong><br />
dem Gesetzentwurf gearbeitet. Er soll in<br />
der zweiten Februarhälfte in das Parlament<br />
eingebracht und bis Juni verabschiedet<br />
werden.Das neue Gesetz soll die<br />
Bedingungen für einen Import regeln. So<br />
soll eine von einer Ethikkommission beratene<br />
Kontrollbehörde geschaffen werden,<br />
die wahrscheinlich im Bereich des<br />
Bundesgesundheitsministeriums <strong>an</strong>gesiedelt<br />
sein wird. Sie soll alle Kriterien<br />
überwachen und sicherstellen, dass die<br />
<strong>Embryonen</strong> nicht zu <strong>Forschung</strong>szwecken<br />
erzeugt wurden, die Eltern zugestimmt,<br />
jedoch keine fin<strong>an</strong>zielle Entlohnung erhalten<br />
haben. Der vom Parlament <strong>an</strong>genommene<br />
Antrag sieht ferner vor, dass<br />
nach einem bestimmten Datum hergestellte<br />
Stammzelllinien nicht nach<br />
Deutschl<strong>an</strong>d importiert werden dürfen.<br />
Dabei wird der 30. J<strong>an</strong>uar 2002 als der<br />
späteste Termin gen<strong>an</strong>nt. Die Antragstel-<br />
136
D O K U M E N T A T I O N<br />
Nachgefragt<br />
Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker,<br />
Präsident der Deutschen<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
Foto: dpa<br />
DÄ: Der Deutsche Bundestag<br />
hat entschieden, den Import<br />
von bestehenden hum<strong>an</strong>en<br />
embryonalen Stammzelllinien<br />
zu erlauben, die Herstellung<br />
neuer Zelllinien in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d jedoch zu verhindern.<br />
Sind Sie mit diesem<br />
Kompromiss zufrieden<br />
Winnacker: Wir können<br />
mit diesem Kompromiss leben<br />
und gehen davon aus, dass<br />
unter den weltweit existierenden<br />
72 Stammzelllinien<br />
hinreichend viele sind, die<br />
sich als für die <strong>Forschung</strong> geeignet<br />
erweisen. Ein Problem<br />
auf längere Sicht könnte allerdings<br />
die Frage der Kosten für<br />
die einzelnen Linien werden.<br />
DÄ: Halten Sie die Herstellung<br />
von neuen hum<strong>an</strong>en embryonalen<br />
Stammzelllinien für<br />
erforderlich, um eine erfolgreiche<br />
<strong>Forschung</strong> auf diesem<br />
Gebiet zu gewährleisten<br />
Winnacker: Der Deutsche<br />
Bundestag hat entschieden,<br />
dass Stammzellenimport<br />
nur von bereits existierenden<br />
Stammzelllinien möglich sein<br />
soll – dar<strong>an</strong> werden wir uns<br />
halten.<br />
DÄ: Vor wenigen Tagen<br />
wurde bek<strong>an</strong>nt, dass es der<br />
Stammzellforscherin Catherine<br />
Verfaillie gelungen ist,<br />
adulte multipotente Stammzellen<br />
beim Menschen zu gewinnen,<br />
die ähnliche Eigenschaften<br />
wie embryonale<br />
Stammzellen besitzen. Wäre<br />
eine ethisch unbedenkliche<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> diesen Zellen<br />
nicht die bessere<br />
Winnacker: Die Deutsche<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft hat<br />
in den letzten Jahren insgesamt<br />
43 Millionen Euro in die<br />
Förderung der adulten Stammzellforschung<br />
investiert. Selbstverständlich<br />
geben wir dieser<br />
<strong>Forschung</strong> den Vorr<strong>an</strong>g – daraus<br />
haben wir nie ein Hehl gemacht.<br />
Schon in unserer Stellungnahme<br />
vom Mai 2001<br />
haben wir ausgeführt, dass<br />
wir davon ausgehen, dass nur<br />
für eine gewisse Zeit vergleichende<br />
<strong>Forschung</strong> mit embryonalen<br />
Stammzelllinien erforderlich<br />
ist, um d<strong>an</strong>n längerfristig<br />
auf den Königsweg<br />
der adulten Stammzellen zu<br />
setzen.<br />
DÄ: Bis zum Mai verg<strong>an</strong>genen<br />
Jahres hatten Sie ausschließlich<br />
für eine <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> adulten Stammzellen plädiert.<br />
Wie kam es zu Ihrer<br />
Meinungsänderung<br />
Winnacker: Es war kein<br />
plötzlicher Meinungsumschwung,<br />
auch wenn es vielleicht<br />
so gewirkt hat. Vielmehr<br />
hat sich die Wissenschaft<br />
auf diesem Gebiet so<br />
ras<strong>an</strong>t fortentwickelt, dass<br />
wir dies nicht mehr übersehen<br />
konnten und auch nicht<br />
mehr ver<strong>an</strong>tworten konnten,<br />
deutsche Wissenschaftler<br />
von der Teilnahme <strong>an</strong> diesem<br />
Förderungszweig auszuschließen.<br />
DÄ: Haben Sie die Diskussion<br />
um die Stammzellforschung<br />
in den letzten Monaten<br />
als fair gegenüber der <strong>Forschung</strong><br />
empfunden<br />
Winnacker: Die Diskussion<br />
war hart und zielte m<strong>an</strong>chmal<br />
auch unter die Gürtellinie<br />
– insgesamt aber bin ich froh<br />
um diese bundesweite Debatte,<br />
da sie dazu beigetragen<br />
hat, die Positionen zu klären<br />
und letztlich auch zu dem Ergebnis<br />
vom 30. J<strong>an</strong>uar geführt<br />
hat.<br />
ler wollen dadurch verhindern, dass zum<br />
Zwecke des Imports weitere <strong>Embryonen</strong><br />
getötet werden. Doch um diese Stichtagsregelung<br />
gibt es bereits Streit. Die <strong>Forschung</strong>sbefürworter<br />
in der FDP und der<br />
Union fordern inzwischen, den Termin<br />
nach hinten zu verschieben. Fischer und<br />
Böhmer schlagen stattdessen den 9. August<br />
2001 vor. Dieser Stichtag gilt in den<br />
USA. Einen Tag vor der Entscheidung<br />
hatte Fischer auf dem Kongress der Ev<strong>an</strong>gelischen<br />
Kirche in Deutschl<strong>an</strong>d (EKD)<br />
in Berlin erklärt, dass der von ihr unterstützte<br />
Kompromiss<strong>an</strong>trag nicht zur Ausweitung<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzelllinien führe. Deren Verwendung<br />
sei eng begrenzt. „Wir werden das<br />
Fenster nur einen Spalt öffnen, um es d<strong>an</strong>ach<br />
wieder zu schließen“,bekräftigte die<br />
Grünen-Politikerin.<br />
Enttäuscht haben die Kirchen auf<br />
den Bundestagsbeschluss reagiert.<br />
„Durch diese Entscheidung sind Lebensrecht<br />
und uneingeschränkter Lebensschutz<br />
des Menschen vom Zeitpunkt<br />
der Befruchtung <strong>an</strong> nicht mehr<br />
gewährleistet“, kritisierten die Spitzen<br />
der katholischen und ev<strong>an</strong>gelischen<br />
Kirche in einer gemeinsamen Erklärung.<br />
Bereits im Vorfeld hatten die<br />
Bischofskonferenz und die EKD <strong>Forschung</strong>smethoden,<br />
die eine „Vernichtung<br />
embryonaler Menschen“ beinhalten,<br />
als inakzeptabel bezeichnet. Sie<br />
plädieren für eine <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten<br />
Stammzellen. Dr. med. Eva A. Richter<br />
Heft 5, 1. Februar 2002<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
„Verfassungsrechtlich<br />
unzulässig“<br />
Experten und Mitglieder der Bundestagsausschüsse<br />
diskutieren kontrovers.<br />
Mit einem klaren Nein be<strong>an</strong>twortete<br />
jetzt ein prominenter Verfassungsrechtler<br />
die umstrittene<br />
Frage, ob die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) zugelassen werden sollte.<br />
Prof. Dr. Ernst Benda, Präsident des<br />
Bundesverfassungsgerichts von 1971<br />
bis 1983 und ehemaliger CDU-Innenminister<br />
(1968 bis 1969), hält die <strong>PID</strong><br />
aus verfassungsrechtlicher Sicht für unzulässig.<br />
Sie bedeute, dass nach einer Invitro-Fertilisation<br />
alle <strong>Embryonen</strong>, die<br />
Anlass zu Bedenken geben, im Wege einer<br />
negativen Auswahl verworfen und<br />
vernichtet würden, erklärte er bei der<br />
Anhörung des Rechts- und Gesundheitsausschusses<br />
des Deutschen Bundestages<br />
zum Gesetzentwurf der FDP-<br />
Fraktion am 23. J<strong>an</strong>uar in Berlin. Dieser<br />
sieht vor, die <strong>PID</strong> rechtlich abzusichern,<br />
wenn sich Paare aufgrund der Ver<strong>an</strong>lagung<br />
zu einer schwerwiegenden Erbkr<strong>an</strong>kheit<br />
nach gründlicher Beratung<br />
durch ihren Arzt und einem positiven<br />
Votum einer Ethikkommission zu einem<br />
solchen Schritt entscheiden.<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
hält den FDP-Antrag und die Zulassung<br />
der <strong>PID</strong> ebenfalls für ethisch und rechtlich<br />
bedenklich.Diese Meinung habe sich<br />
137
D O K U M E N T A T I O N<br />
mehrheitlich auch bei den Abgeordneten<br />
und Sachverständigen abgezeichnet, sagte<br />
er im Anschluss <strong>an</strong> die Anhörung. „Es<br />
müsste einen erheblichen Gesinnungsw<strong>an</strong>del<br />
geben, wenn das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
geändert und die <strong>PID</strong> zugelassen<br />
werden sollten.“ Der Status des<br />
Embryos und seine Schutzwürdigkeit<br />
müssten jedoch noch grundlegend und<br />
präzise geklärt werden.<br />
Für Benda liegt die rechtliche Situation<br />
auf der H<strong>an</strong>d: „Die Frage, von welchem<br />
Zeitpunkt <strong>an</strong> menschliches Leben<br />
unter dem Schutz der Menschenwürde<br />
steht, ist verfassungsrechtlich dahin zu<br />
be<strong>an</strong>tworten, dass dies vom Zeitpunkt<br />
der Befruchtung – in vivo oder in vitro –<br />
der Fall ist“, sagte er. Nach der Entscheidung<br />
des Ersten Senats von 1975 komme<br />
jedem menschlichen Leben Menschenwürde<br />
zu. Dabei sei es unwesentlich, ob<br />
sich der Träger dieser bewusst sei<br />
(BVerfGE 39, 1). „Abstufungen der<br />
Menschenwürde gibt es nicht“, erklärte<br />
Benda. „Die <strong>PID</strong> verbietet sich daher.“<br />
Dieser Ansicht ist auch Prof. Dr.<br />
Wolfram Höfling, Staatsrechtler <strong>an</strong> der<br />
Universität Köln. Ein explizites Verbot<br />
der <strong>PID</strong> könnte verfassungsrechtlich<br />
gerechtfertigt werden, meinte er; eine<br />
Klarstellung durch den Gesetzgeber<br />
müsste aber dennoch erfolgen. Als Argumente<br />
gegen die <strong>PID</strong> führte er das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz <strong>an</strong>. Darin werde<br />
nach §2 Abs.1 bestraft, wer einen<br />
extrakorporal erzeugten Embryo zu einem<br />
nicht seiner Erhaltung dienenden<br />
Zweck verwendet. Als Embryo gelte<br />
nach §8 Abs.12 auch jede einem Embryo<br />
entnommene totipotente Zelle.<br />
„Untersucht m<strong>an</strong> die Stellungnahmen<br />
der Vertreter, die die <strong>PID</strong> und die Verwerfung<br />
eines geschädigten Embryos für<br />
strafbar halten, fragt m<strong>an</strong> vergeblich<br />
nach einer haltbaren juristischen Begründung“,<br />
meint hingegen Prof. Dr.<br />
Monika Frommel, Direktorin des Instituts<br />
für S<strong>an</strong>ktionsrecht und Kriminologie<br />
der Universität Kiel. „De lege lata ist die<br />
<strong>PID</strong> unter engen Voraussetzungen in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d erlaubt.“ Als Rechtfertigungsgründe<br />
nennt Frommel die spezielle<br />
medizinische Situation sowie einen allgemeinen<br />
Notst<strong>an</strong>d. Dieser könne entstehen,<br />
da eine risikoreiche Impl<strong>an</strong>tation<br />
die körperliche und seelische Gesundheit<br />
der Patientin schädige. Der Arzt<br />
dürfe deshalb nach § 34 StGB eine Güterabwägung<br />
treffen und die Gesundheit<br />
der Frau als das höhere Rechtsgut zulasten<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzes retten.<br />
Für ethisch vertretbar hält Dr.Viktoria<br />
Stein-Hobohm vom Justizministerium<br />
Rheinl<strong>an</strong>d-Pfalz die <strong>PID</strong>, wenn diese<br />
auf Hochrisikopaare begrenzt wird.<br />
Zu diesem Ergebnis kommt auch der<br />
Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer.<br />
Er appelliert deshalb <strong>an</strong><br />
den Gesetzgeber, die Rechtslage zu<br />
klären. „Sollte die <strong>PID</strong> erlaubt werden,<br />
ist die Indikation in jedem Einzelfall zu<br />
prüfen“, ergänzte Hoppe. Eine Festlegung<br />
auf bestimmte Diagnosen verbiete<br />
sich, um eine regelhafte Anwendung der<br />
<strong>PID</strong> in solchen Fällen zu vermeiden. Es<br />
soll lediglich der Zust<strong>an</strong>d einer Erkr<strong>an</strong>kung<br />
beschrieben werden. Gegen die<br />
Auflistung der Erkr<strong>an</strong>kungen mit einer<br />
„Generalklausel“ wendet sich Benda.<br />
Dies widerspräche der vom Bundesverfassungsgericht<br />
entwickelten Wesentlichkeitstheorie.<br />
D<strong>an</strong>ach müssen wesentliche<br />
Entscheidungen vom Gesetzgeber<br />
selbst getroffen werden und dürfen nicht<br />
<strong>an</strong> <strong>an</strong>dere Entscheidungsgegner (<strong>an</strong> die<br />
Eltern, den Arzt und die Ethikkommission)<br />
delegiert werden. Dr. med. Eva A. Richter<br />
Heft 7, 15. Februar 2002<br />
Eine Sternstunde des deutschen Parlamentarismus<br />
sei die Debatte um die<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung im Bundestag<br />
gewesen – so das Urteil zahlloser Kommentatoren.<br />
Ohne Polemik und Fraktionszw<strong>an</strong>g,<br />
sachlich und ernst seien die<br />
Abgeordneten ihrem Auftrag nachgekommen.<br />
Eines wird dabei übersehen: Wieder<br />
hat die Politik nicht den Mut aufgebracht,<br />
zu einer klaren Entscheidung zu<br />
kommen, wieder einmal hat sie ein entschiedenes<br />
„Jein“ zust<strong>an</strong>de gebracht.<br />
Die Meinungsverschiedenheiten über<br />
den genauen Wortlaut des nun fälligen<br />
Gesetzes zeigen einmal mehr, dass Politik<br />
hierzul<strong>an</strong>de nicht mehr die Kunst<br />
des Machbaren bedeutet, sondern vielmehr<br />
die Kunst, jedes größere Problem<br />
ungelöst vor sich herzuschieben.<br />
Die Nicht-Entscheidung des Bundestages<br />
zur <strong>Embryonen</strong>forschung ist<br />
Deutsche (Gesundheits-)Politik<br />
Ein klares Jein<br />
nur ein Beispiel für die lähmende Unentschlossenheit<br />
der Politik. Wohin<br />
m<strong>an</strong> blickt in der Gesundheitspolitik –<br />
überall herrscht Stillst<strong>an</strong>d. Wem k<strong>an</strong>n<br />
m<strong>an</strong> noch plausibel vermitteln, dass es<br />
über eine schier endlose Zeit hinweg<br />
nicht möglich ist, die Medizinerausbildung<br />
zu reformieren Wer –<br />
außer einer H<strong>an</strong>d voll Experten – ist<br />
noch in der Lage, innerhalb eines Kr<strong>an</strong>kenversicherungssystems,<br />
das dringend<br />
reformbedürftig ist, aber seit Jahrzehnten<br />
Opfer einer detailversessenen Regelungswut<br />
ist, den Überblick zu bewahren<br />
Wie immer m<strong>an</strong> zur Rezertifizierung<br />
der ärztlichen Approbation<br />
stehen mag – fast unerträglich ist die<br />
Vorstellung, dass dieses Thema in den<br />
nächsten zehn Jahren l<strong>an</strong>dauf, l<strong>an</strong>dab<br />
in diversen Ländergremien beh<strong>an</strong>delt<br />
wird, ohne dass eine klare Entscheidung<br />
fällt. Das föderale System, für<br />
dessen Etablierung es einmal gute<br />
Gründe gab, dient inzwischen dazu, jeden<br />
Reform<strong>an</strong>satz, der den Abstimmungsprozess<br />
auf Bundesebene überst<strong>an</strong>den<br />
hat, aus politischem Kalkül<br />
oder Koalitionsräson zunichte zu machen.<br />
(Gesundheits-)Politiker müssen entscheiden,<br />
und sie müssen die Ver<strong>an</strong>twortung<br />
dafür übernehmen. Politik<br />
k<strong>an</strong>n nicht heißen, es jedem recht machen<br />
zu wollen und jedem größeren<br />
Problem eleg<strong>an</strong>t aus dem Weg zu gehen.Aber<br />
noch herrscht die Devise „im<br />
Großen kleckern, im Kleinen klotzen“<br />
vor. Und so freuen wir uns auf die Gesetzesinitiative<br />
der Bundesregierung,<br />
mit der Jugendlichen unter 16 Jahren<br />
mithilfe einer Chipkarte die Benutzung<br />
von Zigarettenautomaten verwehrt<br />
werden soll. In welcher Welt leben die<br />
Politiker<br />
Thomas Gerst<br />
138
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 7, 15. Feburar 2002<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung<br />
Machtproben<br />
Forscher rütteln am Kompromiss des Bundestages.<br />
Die Meinungsbildung in der Ärzteschaft ist offen;<br />
zwischen Bundesärztekammer und deren Wissenschaftlichem<br />
Beirat bahnt sich eine Machtprobe <strong>an</strong>.<br />
Kaum hatte der Bundestag am 30.<br />
J<strong>an</strong>uar über den Import embryonaler<br />
Stammzellen abgestimmt,<br />
setzten auch schon Überlegungen ein,<br />
wie der gefundene Kompromiss zugunsten<br />
der <strong>Forschung</strong> ausgeweitet werden<br />
könnte.<br />
Angelpunkt ist die Stichtagsregelung.<br />
Der Bundestag hatte beschlossen,<br />
embryonale Stammzellen nicht zu importieren,<br />
abgesehen von Stammzelllinien,<br />
die zu einem Stichtag bereits existierten.<br />
Unter den Abgeordneten kursierte<br />
die Überlegung, als Stichtag den<br />
30. J<strong>an</strong>uar, zu nehmen, <strong>an</strong>dere plädierten<br />
für den 7. August 2001, einen in den<br />
USA <strong>an</strong>gesetzten Stichtag. Im August<br />
verg<strong>an</strong>genen Jahres sollen 72 Stammzelllinien<br />
existiert haben. Deren Zahl<br />
hat sich inzwischen wohl erhöht. Die<br />
deutschen Forscher, die den <strong>Embryonen</strong>import<br />
befördern wollen, plädieren<br />
für einen weit hinaus geschobenen<br />
Stichtag. M<strong>an</strong> sucht nach möglichst „frischem<br />
Material“. Ein früher Stichtag<br />
schränkt zudem die Menge des Angebots<br />
ein. Der Import nach Deutschl<strong>an</strong>d<br />
könnte somit teuer werden. Dabei geht<br />
es nicht allein um Geld. Die Anbieter<br />
von Zelllinien könnten von deutschen<br />
Forschern auch verl<strong>an</strong>gen, am <strong>Forschung</strong>sdesign<br />
und <strong>an</strong> den Ergebnissen<br />
beteiligt zu werden. Solche Befürchtungen<br />
st<strong>an</strong>den schon im Raum, als Professor<br />
Dr. Oliver Brüstle sich nach Israel<br />
orientierte, nachdem er zuvor Kontakte<br />
in die USA gepflegt hatte.<br />
Solche Argumente werden bei der<br />
Formulierung des Gesetzentwurfes und<br />
bei den Beratungen in den Bundestagsausschüssen<br />
ihre Rolle spielen. Der Gesetzentwurf<br />
wird im Bundesforschungsministerium<br />
erarbeitet. Im Bundestag<br />
wird der <strong>Forschung</strong>sausschuss federführend<br />
sein. Beide gelten als Befürworter<br />
„liberaler“ Lösungen. Eine<br />
Machtprobe zwischen jenen, die <strong>Embryonen</strong>import<br />
strikt begrenzen wollen<br />
und jenen, die den Forschern entgegenkommen<br />
wollen, ist zu erwarten.<br />
Eine Machtprobe im Kleinen bahnt<br />
sich unterdessen innerhalb der Ärzteschaft<br />
<strong>an</strong>. Die Bundesärztekammer hat<br />
sich in Sachen <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
noch nicht definitiv entschieden. Es gibt<br />
allerdings einen Beschluss des 104.<br />
Deutschen Ärztetages aus 2001, der den<br />
Import embryonaler Stammzellen als<br />
ethisch nicht akzeptabel kennzeichnet<br />
und der die Wissenschaft dazu auffordert,<br />
mit Versprechungen zurückhaltend zu<br />
sein. Der Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
wollte, so der letzte St<strong>an</strong>d der<br />
Überlegungen, die Abstimmung im<br />
Bundestag abwarten. Das Thema dürfte<br />
den kommenden Ärztetag, Ende<br />
Mai diesen Jahres, erneut beschäftigen.<br />
Im Vorfeld der Bundestagsentscheidung<br />
hatte der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. Jörg-Dietrich<br />
Hoppe, in einem Pressegespräch Position<br />
gegen verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
bezogen und vor Heilsversprechungen<br />
gewarnt. Gegen Hoppe<br />
machte der Vorsitzende des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. Karl-Friedrich Sewing,<br />
Front. In einem (inzwischen auch<br />
öffentlich verbreiteten) Brief <strong>an</strong> Hoppe<br />
bekundete Sewing, er fühle sich verpflichtet,<br />
sich „schützend vor die zahlreichen<br />
Ärzte zu stellen, die als Wissenschaftler<br />
in Kliniken und <strong>Forschung</strong>slaboratorien<br />
mit Erfolg für die praktizierenden<br />
Ärzte die Instrumentarien erarbeiten,<br />
mit denen diese ihre Patienten<br />
zunehmend erfolgreicher beh<strong>an</strong>deln<br />
können.“ Sewing verl<strong>an</strong>gte von Hoppe<br />
zu verdeutlichen, dass seine, Hoppes,<br />
Verlautbarungen, „nicht die einhellige<br />
Meinung der Ärzteschaft darstellen<br />
und nicht dem Rat der dafür zuständigen<br />
Gremien entspringen“.<br />
Sewing ließ zudem auf eigene Faust<br />
(zusammen mit der Zentralen Ethikkommission<br />
bei der Bundesärztekammer)<br />
eine Presseerklärung ab, in der er<br />
namens des Wissenschaftlichen Beirats<br />
die Bundestagsentscheidung als richtig,<br />
ethisch ausgewogen und mutig bezeichnete.<br />
Es gibt freilich bisher keine förmliche<br />
Beschlussfassung des Wissenschaftlichen<br />
Beirats, auf die sich Sewing berufen<br />
könnte, geschweige denn eine Vorlage<br />
des Beirats <strong>an</strong> den Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer.<br />
Der aber wäre das zuständige<br />
Gremium, um die Auffassung<br />
der Ärzteschaft zu vertreten.<br />
Die Bundesärztekammer wird nach<br />
dem Eindruck von Beobachtern klarstellen<br />
müssen, inwieweit sie selbst die<br />
Positionen der Ärzteschaft zu embryonaler<br />
Stammzellforschung darlegt oder<br />
ob sie bereit ist, ihrem Beratungsgremium,<br />
dem Wissenschaftlichen Beirat, das<br />
Feld zu überlassen. Die Klärung erscheint<br />
umso vordringlicher, als die<br />
nächste Machtprobe sich bereits abzeichnet:<br />
Noch in diesem Monat will<br />
der Bundestag das heiße Thema Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
<strong>an</strong>gehen. Der<br />
Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer<br />
hat sich auch dazu bereits<br />
positioniert.<br />
Norbert Jachertz<br />
139
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 9, 1. März 2002<br />
Symposium in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung<br />
Solidarität mit den<br />
„fortpfl<strong>an</strong>zungswilligen<br />
Schichten“<br />
Reproduktionsmediziner fordern die Zulassung<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Desinteresse <strong>an</strong> der menschlichen<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zung warf Prof. Dr. med.<br />
Jürgen Hammerstein, Geschäftsführer<br />
der Kaiserin-Friedrich-Stiftung,<br />
Berlin, am 23. Februar der Politik vor:<br />
„In Deutschl<strong>an</strong>d herrscht eine fortpfl<strong>an</strong>zungsbehindernde<br />
Gesetzgebung“, sagte<br />
der ehemalige Reproduktionsmediziner<br />
des Klinikums Steglitz der Freien<br />
Universität Berlin, zum Abschluss des<br />
26. Symposiums für Juristen und Ärzte,<br />
das die Kaiserin-Friedrich-Stiftung in<br />
diesem Jahr zum Thema Reproduktionsmedizin<br />
org<strong>an</strong>isierte. Die Befürworter<br />
„liberaler“ Lösungen waren dabei<br />
weitgehend unter sich.<br />
Hammerstein erklärte, die Solidarität<br />
der Entscheidungsträger mit den<br />
fortpfl<strong>an</strong>zungswilligen Schichten des<br />
Volkes drohe verloren zu gehen. Das<br />
Grundgesetz zum Schutz von Ehe und<br />
Familie würde zunehmend ausgehöhlt.<br />
Der Gynäkologe verwies auf liberalere<br />
Gesetze zur Reproduktionsmedizin in<br />
<strong>an</strong>deren europäischen Ländern. So sei<br />
in Großbrit<strong>an</strong>nien, Schweden, Dänemark,<br />
den Niederl<strong>an</strong>den, Finnl<strong>an</strong>d, Belgien,<br />
Fr<strong>an</strong>kreich, Sp<strong>an</strong>ien, Italien und<br />
Griechenl<strong>an</strong>d die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) erlaubt und werde dort<br />
erfolgreich praktiziert. Von einem<br />
Dammbruch könne in diesen christlichen<br />
Ländern nicht die Rede sein, betonte<br />
Prof. Dr. med. Herm<strong>an</strong>n Hepp,<br />
Direktor der Klinik und Poliklinik für<br />
Frauenheilkunde und Geburtshilfe des<br />
Klinikums Großhadern, München.<br />
Hepp ist Mitglied im Wissenschaftlichen<br />
Beirat der Bundesärztekammer<br />
und war dort federführend mit der Erstellung<br />
des Diskussionsentwurfs zur<br />
<strong>PID</strong> befasst. Dieser befürwortet die<br />
<strong>PID</strong> in Grenzen (DÄ, Heft 9/2000).<br />
Als zulässig erklärt die <strong>PID</strong> auch der<br />
Artikel 18 der Bioethikkonvention des<br />
Europarates vom April 1997, die aber<br />
zugleich restriktivere, nationale Regelungen<br />
befürwortet. Das deutsche<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz, das seit dem<br />
1. J<strong>an</strong>uar 1991 in Kraft ist, steht der <strong>PID</strong><br />
nach Ansicht der meisten Experten entgegen.<br />
D<strong>an</strong>ach dürfen <strong>Embryonen</strong> nur<br />
zum Zwecke der Fortpfl<strong>an</strong>zung erzeugt<br />
werden.Alle <strong>Embryonen</strong> (zwei bis drei)<br />
müssen der künftigen Mutter eingepfl<strong>an</strong>zt<br />
werden. Eine Auswahl ist nur im<br />
Vorkernstadium gestattet.<br />
Erfolgsraten optimieren<br />
„Durch diese restriktiven Regelungen<br />
sind die Schw<strong>an</strong>gerschaftsraten für kinderlose<br />
Paare nach In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF) deutlich eingeschränkt“, bedauert<br />
Prof. Dr. med. H<strong>an</strong>s V<strong>an</strong> der Ven, Direktor<br />
der Abteilung für Gynäkologie, Endokrinologie<br />
und Reproduktionsmedizin<br />
am Universitätsklinikum Bonn. Diese<br />
lägen derzeit in Deutschl<strong>an</strong>d je nach<br />
Alter der Frau zwischen 15 und 25 Prozent.<br />
Dies sei zwar beachtlich, verglichen<br />
mit der natürlichen Befruchtung, bei der<br />
die Erfolgsrate auch nur etwa 28 Prozent<br />
betrage; die Baby-take-home-Raten<br />
nach IVF im Ausl<strong>an</strong>d würden jedoch bei<br />
etwa 50 Prozent liegen. Grund dafür sei<br />
die Möglichkeit, ein oder zwei <strong>Embryonen</strong><br />
mit optimalen Eigenschaften auszuwählen.Ein<br />
weiterer Vorteil sei dabei die<br />
Reduktion der Mehrlingsschw<strong>an</strong>gerschaften<br />
nach IVF.<br />
„Untersuchungen haben gezeigt, dass<br />
die <strong>PID</strong> zu einer zweifachen Impl<strong>an</strong>tationsrate<br />
und zu einer 2,5fachen Abnahme<br />
von Spont<strong>an</strong>aborten führt“, bekräftigte<br />
Prof. Dr. med. Gerhard Wolff, Direktor<br />
des Instituts für Hum<strong>an</strong>genetik<br />
und Anthropologie der Universität Freiburg.<br />
Das Einpfl<strong>an</strong>zen von <strong>Embryonen</strong><br />
mit Chromosomenstörungen, die die<br />
Hauptursache für Fehlgeburten darstellen,<br />
könne deutlich minimiert werden,<br />
wenn die <strong>Embryonen</strong> vorher untersucht<br />
und gegebenenfalls verworfen werden.<br />
Angesichts der Gesetzeslage in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d gelte es, die technischen<br />
Möglichkeiten im Vorkernstadium zu<br />
optimieren, meint V<strong>an</strong> der Ven. Dies wäre<br />
durch eine verbesserte Beurteilung<br />
der Vorkerne, den optimalen Zeitpunkt<br />
des <strong>Embryonen</strong>tr<strong>an</strong>sfers sowie die Polkörperbiopsie<br />
möglich.<br />
Prof. Dr. med. Heribert Kentenich,<br />
Chefarzt der Gynäkologischen Abteilung<br />
der DRK-Frauenklinik Westend,<br />
Berlin, geht weiter: Er forderte auf dem<br />
Symposion eine Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes,<br />
das die eingeschränkte<br />
Selektion von <strong>Embryonen</strong><br />
und den Blastozystentr<strong>an</strong>sfer erlauben<br />
sollte. Die <strong>PID</strong> müsse gestattet werden,<br />
da die betroffenen Frauen <strong>an</strong>sonsten zu<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe gezwungen<br />
wären oder vom Arzt ins Ausl<strong>an</strong>d<br />
geschickt werden müssten. Ferner<br />
plädiert Kentenich dafür, die heterologe<br />
Insemination, die Eizellspende, die<br />
Beh<strong>an</strong>dlung lesbischer Paare und die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> zu gestatten.<br />
Eine internationale Regelung sei<br />
dringend erforderlich, meint Prof. Dr.<br />
jur. Eberhard Eichenhofer. „Nationale<br />
Zwischenschritte sind zwar unvermeidbar“,<br />
sagte der Inhaber des Lehrstuhls<br />
Sozialrecht und Bürgerliches Recht der<br />
Universität Jena, „aber liberalere Regelungen<br />
haben gegenüber konservativen<br />
den Vorr<strong>an</strong>g.“ Die Gründe für den<br />
„deutschen Sonderweg“ sieht er in den<br />
Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus.<br />
Doch: „Wir können einen<br />
rechtlichen Sonderweg nur einfordern,<br />
wenn wir die Güterabwägung mit <strong>an</strong>deren<br />
Argumenten treffen als die übrigen<br />
europäischen Länder – aber dies tun<br />
wir nicht“, sagte der Jurist. Es sei <strong>an</strong> der<br />
Zeit, von der „Germ<strong>an</strong> disease“ Abschied<br />
zu nehmen und sich in den europäischen<br />
Kontext einzuordnen.<br />
Dies sei jedoch mit dem ärztlichen Berufsrecht<br />
kaum zu vereinbaren, argumentiert<br />
Prof.Dr.jur.Dr.h.c.Adolf Laufs<br />
vom Institut für Deutsches,Europäisches<br />
140
D O K U M E N T A T I O N<br />
und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht<br />
und Bioethik der Universitäten<br />
Heidelberg und M<strong>an</strong>nheim – er<br />
war der einzige Jurist, der einen kritischen<br />
Vortrag zum Thema <strong>PID</strong> hielt. Der<br />
Arzt müsse ungeborenes Leben erhalten;<br />
der Heilauftrag sei bei der <strong>PID</strong> zweifelhaft,<br />
sagte Laufs. Ihre Zulassung und<br />
die Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
stehe zudem dem Verfassungsrecht<br />
entgegen.Völlig <strong>an</strong>derer Ansicht ist<br />
sein M<strong>an</strong>nheimer Kollege Prof. Dr. iur.<br />
Jochen Taupitz, Mitglied im Nationalen<br />
Ethikrat und in der Zentralen Ethikkommission<br />
bei der Bundesärztekammer.<br />
Für ihn ist der erste Artikel des Grundgesetzes<br />
(„Die Menschenwürde ist un<strong>an</strong>tastbar“)<br />
kein „Totschlagargument“. Die<br />
Menschenwürde sei nicht statisch konzipiert;Änderungen<br />
könnten sich ergeben.<br />
Zudem habe das Verfassungsrecht dem<br />
Embryo niemals Grundrechte zugesprochen,<br />
sondern nur den Schutz durch die<br />
Gesellschaft. Dieser käme jedoch auch<br />
dem menschlichen Leichnam, der Natur<br />
und den Tieren zu. Auch Margot von<br />
Renesse,Vorsitzende der Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin“ des Bundestages, hält einen liberaleren<br />
Umg<strong>an</strong>g mit dem Artikel 1 des<br />
Grundgesetzes für <strong>an</strong>gemessen. Sie sieht<br />
die Diskussion um die <strong>PID</strong> als eine Suche<br />
nach der Grenze des Strafrechts <strong>an</strong>.Menschen<br />
in Notsituationen müssten unter<br />
Umständen straffrei bleiben können –<br />
ähnlich wie bei der Abtreibungsregelung.<br />
Beh<strong>an</strong>dlungsch<strong>an</strong>cen und die Erweiterung<br />
des Wissens sollten nicht beschränkt<br />
werden.<br />
Dass die Beschränkungen innerhalb<br />
der Reproduktionsmedizin die menschliche<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zung stark beeinträchtigen,<br />
bezweifelt Prof. Dr. habil. Elmar<br />
Brähler von der Klinik für Psychotherapie<br />
und Psychosomatik der Universität<br />
Leipzig. „Nach empirischen Untersuchungen<br />
sind zwar 30 Prozent aller<br />
Frauen zeitweilig ungewollt kinderlos,<br />
von einer dauerhaft ungewollten Kinderlosigkeit<br />
sind jedoch lediglich ein bis<br />
drei Prozent aller Frauen betroffen.“<br />
Die Ergebnisse seiner Repräsentativerhebung<br />
von 1999 zeigen auch, dass die<br />
Hälfte aller Schw<strong>an</strong>gerschaften ungepl<strong>an</strong>t<br />
zust<strong>an</strong>de kommen. Brählers Fazit:<br />
„M<strong>an</strong> sollte <strong>an</strong> spont<strong>an</strong>er Zeugung festhalten,<br />
da sonst die Geburtenzahl noch<br />
weiter zurückgeht.“ Dr. med. Eva A. Richter<br />
Heft 12, 22. März 2002<br />
Stammzellgesetz<br />
Tauziehen um Definitionen<br />
Der Entwurf des Stammzellgesetzes weicht vom Beschluss<br />
des Deutschen Bundestages vom 30. J<strong>an</strong>uar ab –<br />
zugunsten der <strong>Forschung</strong>. Er wird jetzt überarbeitet.<br />
Der Entwurf zum gepl<strong>an</strong>ten<br />
Stammzellgesetz hält nicht, was<br />
der Beschluss des Deutschen<br />
Bundestages vom 30. J<strong>an</strong>uar versprach:<br />
„Keine verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung“.<br />
Einige Regelungen im jetzigen<br />
Entwurf, den 115 Abgeordnete von<br />
SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die<br />
Grünen erstellten, weichen die Auflagen<br />
wieder auf, die das Parlament <strong>an</strong><br />
einen Import von hum<strong>an</strong>en menschlichen<br />
Stammzelllinien knüpfte.<br />
Bei der mehr als sechsstündigen Anhörung<br />
des Ausschusses für Bildung,<br />
<strong>Forschung</strong> und Technikfolgenabschätzung<br />
im Bundestag am 11. März wies vor<br />
allem die Enquetekommission „Recht<br />
und Ethik der modernen Medizin“ wiederholt<br />
auf die eigentliche Intention des<br />
Gesetzes hin – nämlich die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
embryonalen Stammzelllinien sowie deren<br />
Import nur in Ausnahmefällen zuzulassen.<br />
An dem Gesetzentwurf kritisierten<br />
die Sachverständigen hauptsächlich,<br />
dass nunmehr embryonale Stammzellen<br />
statt embryonaler Stammzelllinien eingeführt<br />
werden sollen. Ferner bemängelten<br />
sie, dass nicht die Eltern der<br />
Stammzellgewinnung zustimmen müssen,<br />
sondern lediglich „nach dem Recht<br />
des Herkunftsl<strong>an</strong>des dazu berechtigte<br />
natürliche Personen“.Auch dass sich die<br />
neu zu schaffende zentrale Ethikkommission<br />
der Zulassungsbehörde vorr<strong>an</strong>gig<br />
aus Naturwissenschaftlern zusammensetzen<br />
soll, lehnen die Sachverständigen<br />
ab.<br />
Damit treten Probleme zutage, die<br />
mit der Gratw<strong>an</strong>derung des Bundestages,<br />
der sich weder für ein klares Ja noch<br />
für ein klares Nein entscheiden konnte,<br />
schon programmiert waren. Der Gesetzestext<br />
soll nun bis zum 26.April überarbeitet<br />
werden. Die zweite und dritte Lesung<br />
im Bundestag ist für den 26. April<br />
vorgesehen.<br />
Tatsächlich kommt der Formulierung<br />
des Stammzellgesetzes große Bedeutung<br />
zu. Erst mit ihm werden die Weichen<br />
gestellt, wie die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
geh<strong>an</strong>dhabt werden soll. Federführend<br />
für die Erarbeitung des Stammzellgesetzes<br />
ist das <strong>Forschung</strong>sministerium.<br />
Von ihm werden der Gesundheits-, der<br />
Rechts- und der Familienausschuss sowie<br />
die Enquetekommission „Recht<br />
und Ethik der modernen Medizin“ zur<br />
Beratung her<strong>an</strong>gezogen.<br />
„Der Import hum<strong>an</strong>er embryonaler<br />
Stammzellen wird auf bestehende Stammzelllinien,<br />
die zu einem bestimmten Stichtag<br />
etabliert wurden, beschränkt“, heißt es<br />
in dem von den Bundestagsabgeordneten<br />
beschlossenen Antrag.Jetzt ist jedoch nur<br />
noch von Stammzellen die Rede. Die Begriffe<br />
„Stammzelllinien“ und „Stammzellen“<br />
würden in der amerik<strong>an</strong>ischen Literatur<br />
synonym gebraucht, verteidigte<br />
Prof.Dr.Bärbel Friedrich,Institut für Biologie<br />
der Humboldt-Universität Berlin<br />
und Präsidiumsmitglied der Deutschen<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft, die jetzige Formulierung.<br />
Prof. Dr. Peter Gruss, Max-<br />
Pl<strong>an</strong>ck-Institut für Biophysikalische Chemie,<br />
Göttingen, und designierter Präsident<br />
der Max-Pl<strong>an</strong>ck-Gesellschaft, gab zu<br />
bedenken, dass die Mehrzahl der in den<br />
USA registrierten Stammzelllinien uncharaktisiert<br />
sei und damit der biologischen<br />
Definition von „Linien“ nicht entspreche.<br />
Die Formulierung „Stammzellen“<br />
müsse unbedingt ins Gesetz, wolle<br />
m<strong>an</strong> die <strong>Forschung</strong> nicht behindern.<br />
Gegner der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> sehen hinter der geänderten<br />
Formulierung jedoch die Gefahr<br />
der Ausweitung und des Missbrauchs.<br />
Das „Herstellungsdatum“ sei nicht<br />
mehr nachweisbar, wenn Stammzellen<br />
importiert werden könnten, aus denen<br />
erst später Stammzelllinien gezüchtet<br />
141
D O K U M E N T A T I O N<br />
würden, befürchtet Dr. Ingrid Schneider,<br />
Institut für Politikwissenschaft der<br />
Universität Hamburg. Zudem sollte<br />
nach ihrer Ansicht im Gesetz ver<strong>an</strong>kert<br />
werden, dass nur kryokonservierte <strong>Embryonen</strong><br />
zur Herstellung von Stammzelllinien<br />
verwendet werden dürfen.<br />
Ansonsten sei nicht gewährleistet, dass<br />
diese tatsächlich „überzählig“ seien.<br />
Feilschen um den Stichtag<br />
Ein Streitpunkt war bei der Anhörung<br />
erneut die Stichtagsregelung – obwohl<br />
sich die Abgeordneten bereits Ende Februar<br />
auf den 1. J<strong>an</strong>uar 2002 als Stichtag<br />
geeinigt hatten. Damit waren sie der<br />
Vorgabe des Bundestagsbeschlusses<br />
nachgekommen, nur den Import von<br />
Stammzelllinien zu erlauben, die vor einem<br />
bestimmten Stichtag hergestellt<br />
wurden. Die <strong>Forschung</strong>spolitiker um Peter<br />
Hintze, Katharina Reiche (beide<br />
CDU) und Ulrike Flach (FDP) fordern<br />
jedoch eine liberalere Genehmigungspraxis<br />
und einen flexiblen Stichtag. Dabei<br />
soll jeweils zwischen dem Antrag der<br />
Forscher auf Import und der Herstellung<br />
der Stammzellen ein bestimmter Zeitpunkt<br />
liegen,beispielsweise sechs Monate,<br />
wie Flach meint. Behielte m<strong>an</strong> die<br />
vorgesehene Stichtagsregelung bei, würde<br />
dies bedeuten, dass sich die Forscher<br />
auf wenige Stammzelllinien beschränken<br />
müssten.<br />
Die Naturwissenschaftler unterstützen<br />
diesen Vorschlag. Für die Grundlagenforschung<br />
reichten die Stammzelllinien,<br />
die den deutschen Forschern<br />
durch die bisherige Stichtagsregelung<br />
zur Verfügung stünden, zwar aus, die<br />
Entwicklung von Therapien wäre jedoch<br />
nicht möglich, erklärte Friedrich.<br />
Als Gründe führte die Biologin einerseits<br />
die geringe Anzahl der Stammzelllinien<br />
<strong>an</strong>, <strong>an</strong>dererseits aber deren Kontaminierung<br />
mit tierischen Zellen und<br />
Viren. In der Tat basieren die meisten<br />
der etwa 80 weltweit existierenden und<br />
in den USA registrierten Stammzelllinien<br />
auf Mausnährzellen und können<br />
„verseucht“ und somit für die Anwendung<br />
am Menschen ungeeignet sein.<br />
Prof. Dr. Dr. h. c. Rüdiger Wolfrum,<br />
Max-Pl<strong>an</strong>ck-Institut für ausländisches<br />
Recht und Völkerrecht, Heidelberg, hat<br />
rechtliche Bedenken bezüglich der Stichtagsregelung.<br />
Der § 5 des neuen Stammzellgesetzes<br />
spreche nicht nur von<br />
Grundlagenforschung,sondern nenne als<br />
Ziel auch die Entwicklung diagnostischer,<br />
präventiver und therapeutischer<br />
Verfahren zur Anwendung beim Menschen.<br />
Dies müsse bei der Stichtagsregelung<br />
bedacht werden, wenn das Gesetz<br />
einige Jahre gültig sein solle. Ein weiteres<br />
Problem sei die rechtliche Verfügbarkeit<br />
der Stammzelllinien.Denn auf die amerik<strong>an</strong>ischen<br />
Zelllinien sind meist Patente<br />
<strong>an</strong>gemeldet. Jede <strong>Forschung</strong> bedarf der<br />
Genehmigung der Verwertungsfirmen.<br />
Die Firma Gerold besitze sogar die Lizenz<br />
auf die Herstellung der Stammzelllinien,<br />
argumentiert Schneider. „Alle Forscher<br />
müssen somit dieses Patent beachten.<br />
Nicht der Stichtag schreibt das Monopol<br />
der Stammzell<strong>an</strong>bieter vor, sondern<br />
das internationale Patentrecht.“<br />
Die Vertreter der ev<strong>an</strong>gelischen und<br />
katholischen Kirche sind enttäuscht<br />
über die Ausgestaltung des Gesetzes.<br />
Besonders beklagen sie die „ungleichmäßige“<br />
Zusammensetzung der zentralen<br />
Ethikkommission der Zulassungsbehörde,<br />
die die Erfüllung der Auflagen<br />
überprüfen und entscheiden soll, ob die<br />
<strong>Forschung</strong>sprojekte ethisch vertretbar<br />
sind. Die Kommission soll sich aus fünf<br />
Naturwissenschaftlern und Medizinern,<br />
aber nur aus vier Ethikern und Theologen<br />
zusammensetzen. Juristen warnten<br />
vor zu einschneidenden Regelungen im<br />
Gesetz. Es laufe dadurch Gefahr, verfassungswidrig<br />
zu sein. Die Hürden, die<br />
es setze, müssten bewältigbar bleiben.<br />
Die „Haltbarkeitsdauer“ des Gesetzes<br />
ist ihrer Meinung nach sowieso bereits<br />
eng begrenzt. Dr. med. Eva A. Richter<br />
Heft 16, 19. April 2002<br />
Die Vertreter der beiden großen christlichen<br />
Kirchen in Deutschl<strong>an</strong>d sind<br />
sich einig: In einer Stellungnahme <strong>an</strong>lässlich<br />
der „Woche für das Leben“ betonen<br />
Präses M<strong>an</strong>fred Kock und Kardinal<br />
Karl Lehm<strong>an</strong>n, dass für die Kirchen „die<br />
Erkenntnis maßgeblich ist, dass menschliches<br />
Leben mit der Befruchtung von<br />
Ei- und Samenzelle beginnt. Der<br />
Mensch entwickelt sich von diesem Zeitpunkt<br />
<strong>an</strong> nicht mehr zum Menschen,<br />
sondern als Mensch.“<br />
Folglich lehnen sie auch die „Vernutzung<br />
menschlicher <strong>Embryonen</strong>, wie sie<br />
bei der embryonalen Stammzellforschung<br />
geschieht, aus christlicher Sicht<br />
entschieden ab, selbst wenn sie zugunsten<br />
der Heilung <strong>an</strong>derer Menschen <strong>an</strong>gestrebt<br />
wird.“ Denn die Gewinnung<br />
Kirchen<br />
Absage <strong>an</strong> <strong>PID</strong><br />
menschlicher embryonaler Stammzellen<br />
ist, wie die Kirchen betonen, nur<br />
durch die Vernichtung von <strong>Embryonen</strong><br />
möglich. Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) stößt ebenfalls auf scharfe<br />
Kritik. Im Gegensatz zur Pränataldiagnostik<br />
diene die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
keinerlei therapeutischen<br />
Zwecken, sondern sei allein auf die Selektion<br />
von menschlichem Leben ausgerichtet.<br />
Einen Anspruch auf ein Kind,<br />
gar auf ein gesundes Kind, gebe es nicht.<br />
Die Kirchen wollen es jedoch nicht bei<br />
dieser Stellungnahme belassen, sie wollen<br />
auch auf die Politik einwirken.Sie bedauern<br />
den Beschluss des Bundestages<br />
zum Import embryonaler Stammzelllinien<br />
und hoffen, dass die strikte Begrenzung<br />
des Imports embryonaler Stammzellen<br />
im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens<br />
nicht aufgeweicht werde. Der<br />
Beschluss des Bundestages müsse so umgesetzt<br />
werden, „dass das grundsätzliche<br />
Nein zum Import und der Koppelung der<br />
ausnahmsweisen Zulassung <strong>an</strong> enge Voraussetzungen<br />
auch deutlich wird“, so<br />
Kock.In Bezug auf die <strong>PID</strong> begrüßen die<br />
Kirchen das „Votum der Enquete-Kommission<br />
und hoffen, dass der Bundestag<br />
diesem Votum folgen wird“.<br />
Ob die Kirchen tatsächlich Einfluss auf<br />
politische Entscheidungen nehmen werden,<br />
bleibt abzuwarten. Die ökumenische<br />
„Woche für das Leben“, auf der sie gemeinsam<br />
ihre St<strong>an</strong>dpunkte vertreten, ist<br />
jedenfalls ein Beitrag zur Debatte über<br />
medizinethische Themen, der nicht überhört<br />
werden sollte. Gisela Klinkhammer<br />
142
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 17, 26. April 2002<br />
Stammzellgesetz<br />
Klarheit oder Kompromiss<br />
Dem Stammzellgesetz, das den Import<br />
menschlicher embryonaler<br />
Stammzellen nach Deutschl<strong>an</strong>d regeln<br />
soll, scheint das Schicksal so m<strong>an</strong>cher<br />
Kompromisse zu drohen. Es wird von<br />
mehreren Seiten gleichzeitig <strong>an</strong>gegriffen<br />
und könnte bei der zweiten Lesung<br />
des Gesetzentwurfs <strong>an</strong> diesem Freitag<br />
im Bundestag zerrissen werden.<br />
Die Vorsitzende des <strong>Forschung</strong>sausschusses,<br />
Ulrike Flach (FDP), will die<br />
Stichtagsregelung aufweichen und für jedes<br />
<strong>Forschung</strong>sprojekt einen eigenen<br />
Stichtag durchsetzen.Die Grünen-Abgeordnete<br />
Monika Knoche will sich dagegen<br />
gemeinsam mit Wolfg<strong>an</strong>g Wodarg<br />
(SPD) und Hubert Hüppe (CDU) für ein<br />
eindeutiges Importverbot einsetzen. Damit<br />
wäre die Ausg<strong>an</strong>gssituation der Bundestagsdebatte<br />
zum Stammzellimport<br />
vom 30. J<strong>an</strong>uar wieder hergestellt: „Ja“<br />
kontra „Nein“ kontra „Konsens“.<br />
Bei den mitberatenden Ausschüssen<br />
bestehen bis jetzt große Differenzen über<br />
die Ausgestaltung des Gesetzes.Während<br />
der federführende Bundestagsausschuss<br />
für Bildung, <strong>Forschung</strong> und Technikfolgenabschätzung<br />
einem geänderten Entwurf<br />
des Stammzellgesetzes mit großer<br />
Mehrheit zustimmte, lehnte der Rechtsausschuss<br />
diesen grundsätzlich ab.<br />
Sachverständige hatten bei einer Anhörung<br />
im März (DÄ, Heft 22/2002) bereits<br />
den Gesetzentwurf von Dr. Maria<br />
Böhmer (CDU), Wolf-Michael Catenhusen<br />
(SPD) und Andrea Fischer<br />
(Bündnis 90/Die Grünen) kritisiert.<br />
Diese versuchen jetzt wieder einen<br />
Spagat und haben den Entwurf geändert.<br />
D<strong>an</strong>ach sollen Stammzellen statt<br />
Stammzelllinien importiert werden.<br />
Der Begriff wird allerdings konkretisiert.Als<br />
Stichtag für die Erzeugung der<br />
Stammzellen soll weiterhin der 1. J<strong>an</strong>uar<br />
2002 gelten. Die Gewinnung soll sich<br />
nach den Rechtsvorschriften des Herkunftsl<strong>an</strong>des<br />
richten, aber auch den<br />
Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung<br />
folgen.<br />
Die Abstimmung im Bundestag wird<br />
vermutlich namentlich und ohne Fraktionszw<strong>an</strong>g<br />
erfolgen (über den aktuellen<br />
St<strong>an</strong>d informiert der tägliche Nachrichtendienst<br />
des DÄ im Internet unter<br />
www.aerzteblatt.de).Vielleicht setzt m<strong>an</strong><br />
ja diesmal auf Klarheit statt auf einen verwaschenen<br />
Konsens. Dr. med. Eva A. Richter<br />
Heft 18, 3. Mai 2002<br />
Entscheidung zum Stammzellgesetz<br />
Die Tür steht einen Spalt offen<br />
Die Mehrheit des Bundestages plädierte dafür, den Import von<br />
menschlichen embryonalen Stammzellen unter Auflagen zu erlauben.<br />
Selig sind die, die Frieden stiften“, zitierte<br />
Margot von Renesse aus der<br />
Bergpredigt und meinte damit diejenigen,<br />
die zwei Stunden später nochmals<br />
für den Kompromiss zum Import von<br />
menschlichen embryonalen Stammzellen<br />
stimmen würden. Dies taten am<br />
Abend des 25.April zwei Drittel der 563<br />
<strong>an</strong>wesenden Bundestagsabgeordneten.<br />
Sie verabschiedeten in zweiter und dritter<br />
Lesung den Gesetzentwurf von Dr.<br />
Maria Böhmer (CDU), Wolf-Michael<br />
Catenhusen (SPD), Andrea Fischer<br />
(Bündnis 90/Die Grünen) und Margot<br />
von Renesse (SPD), der den Beschluss<br />
des Bundestages vom 30. J<strong>an</strong>uar in geltendes<br />
Recht umsetzen soll. Erlaubt ist<br />
nun der Import von embryonalen<br />
Stammzellen, die vor dem 1. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
im Ausl<strong>an</strong>d hergestellt wurden, sofern<br />
das Gesetz im Mai (wie allgemein erwartet<br />
wird) den Bundesrat passiert.<br />
Die Diskussion in der verg<strong>an</strong>genen<br />
Woche war die etwas kleinere Neuauflage<br />
der Bundestagsdebatte vom 30. J<strong>an</strong>uar.<br />
Allein ihrem Gewissen verpflichtet,<br />
stimmten die Abgeordneten wieder<br />
namentlich und ohne Fraktionszw<strong>an</strong>g<br />
über drei Vari<strong>an</strong>ten ab: über ein „Nein“<br />
oder ein „Ja“ zur Stammzellforschung<br />
sowie über die Kompromisslösung. Für<br />
diese plädierten 360 Abgeordnete; für<br />
das „Nein“ 190. Der forschungsfreundliche<br />
Antrag der FDP, in dem Ulrike<br />
Flach einen flexiblen Stichtag forderte,<br />
fiel bereits vorher ohne namentliche<br />
Abstimmung durch. Die Neuauflage<br />
der Debatte zeigt,dass der im J<strong>an</strong>uar erzielte<br />
Kompromiss nur eine Notlösung<br />
war. Ein Konsens, der offensichtlich vielen<br />
Bauchschmerzen bereitete. Der Gesetzentwurf<br />
konnte keine Brücken zwischen<br />
Importgegnern und Befürwortern<br />
bauen. Im Gegenteil: Er verschärfte<br />
die Situation.<br />
„Ein bioethischer Eiert<strong>an</strong>z – der Bundestag<br />
wird hinters Licht geführt“, kritisierte<br />
Wolfg<strong>an</strong>g Wodarg (SPD) den Entwurf.<br />
Dieser hielte nicht, was der Beschluss<br />
vom J<strong>an</strong>uar versprochen hätte,<br />
nämlich lediglich eine Genehmigung<br />
des Importes von Stammzellen aus etablierten<br />
embryonalen Stammzelllinien.<br />
„Stattdessen erlaubt das Gesetz den<br />
Import von kultivierten und kryokonservierten<br />
Stammzellen, die d<strong>an</strong>n in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d vermehrt werden können“,<br />
sagte Wodarg. Der SPD-Abgeordnete<br />
plädierte deshalb dafür, nur den Import<br />
von Stammzellen aus etablierten Zellli-<br />
143
D O K U M E N T A T I O N<br />
Das Gesetz im Überblick<br />
Das vom Bundestag verabschiedete Stammzellgesetz<br />
verbietet grundsätzlich die Gewinnung<br />
von menschlichen embryonalen Stammzellen<br />
(ESZ) in Deutschl<strong>an</strong>d. Ein Import der Zellen und<br />
die <strong>Forschung</strong> dar<strong>an</strong> ist nur unter folgenden Bedingungen<br />
erlaubt:<br />
❃ Es dürfen nur ESZ eingeführt werden, die am<br />
1. J<strong>an</strong>uar 2002 bereits vorh<strong>an</strong>den waren und die<br />
in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Herkunftsl<strong>an</strong>d<br />
gewonnen wurden.<br />
❃ Es müssen hochr<strong>an</strong>gige <strong>Forschung</strong>sziele verfolgt<br />
werden, die mit <strong>an</strong>deren Zellen nicht zu erreichen<br />
sind.<br />
❃ Die ESZ müssen aus „überzähligen <strong>Embryonen</strong>“<br />
stammen, die definitiv nicht mehr zur Erzeugung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft verwendet werden.<br />
❃ Den Spendern darf kein Entgelt gezahlt werden.<br />
❃ Jeder Import und jede Verwendung von ESZ bedarf<br />
der Genehmigung der zuständigen Behörde<br />
(Robert Koch-Institut oder Paul-Ehrlich-Institut).<br />
❃ Eine zentrale Ethikkommission, der neun Sachverständige<br />
aus Biologie, Medizin, Ethik und<br />
Theologie <strong>an</strong>gehören, muss die Projekte begutachten.<br />
❃ Zuwiderh<strong>an</strong>dlungen werden mit Gefängnisoder<br />
Geldstrafen geahndet.<br />
❃ Anstiftung oder Beihilfe zu einer nach deutschem<br />
Recht strafbaren Verwendung von ESZ im<br />
Ausl<strong>an</strong>d werden gleichfalls bestraft.<br />
nien zu gestatten, die „stabilisiert, vermehrbar<br />
und hinreichend charakterisiert<br />
sind“. Sein Antrag wurde abgelehnt.<br />
„Die ethische W<strong>an</strong>derdüne hat sich<br />
bereits in Bewegung gesetzt“, kommentierte<br />
Hubert Hüppe (CDU). Gemeinsam<br />
mit Monika Knoche (Bündnis<br />
90/Die Grünen) forderten Hüppe und<br />
Wodarg ein generelles Importverbot.<br />
Dagegen sprächen keinerlei rechtliche<br />
Gründe, verteidigten sie ihren Antrag.<br />
„Der Mittelweg ist kein Ausweg“, sagte<br />
Knoche. Nicht grundsätzliche philosophische<br />
und ethische Argumentationen<br />
seien jetzt wichtig, sondern der harte<br />
Gesetzestext. „Darin darf keine Doppelmoral<br />
stecken.“ Das für den Gesetzentwurf<br />
ver<strong>an</strong>twortliche Quartett Böhmer,<br />
Fischer, Catenhusen und von Renesse<br />
verteidigte diesen. „Für die deutsche<br />
<strong>Forschung</strong> hat kein Embryo das<br />
Leben zu lassen.Wir haben den Auftrag<br />
des Parlaments loyal erfüllt“, sagte die<br />
Juristin Margot von Renesse.<br />
Bereits bei einer Anhörung des federführenden<br />
Ausschusses für Bildung, <strong>Forschung</strong><br />
und Technikfolgenabschätzung<br />
im Bundestag am 11.März war Kritik am<br />
144<br />
Entwurf laut geworden. Bemängelt hatten<br />
Sachverständige,dass lediglich „nach<br />
dem Recht des Herkunftsl<strong>an</strong>des dazu<br />
berechtigte natürliche Personen“ der<br />
Stammzellgewinnung zustimmen müssen;<br />
sich die zentrale Ethikkommission<br />
hauptsächlich aus Naturwissenschaftlern<br />
zusammensetzen soll und deutsche<br />
Forscher im Ausl<strong>an</strong>d straffrei mit jenen<br />
menschlichen embryonalen Stammzellen<br />
forschen können, die nicht nach<br />
deutschen Bedingungen gewonnen wurden.<br />
„Darauf haben wir reagiert“, sagte<br />
von Renesse. Der Zustimmungspassus<br />
wurde gestrichen. Für die Gewinnung<br />
von Stammzellen dürfen jetzt nur <strong>Embryonen</strong><br />
verwendet worden sein, die<br />
zum Zwecke einer Schw<strong>an</strong>gerschaft extrakorporal<br />
erzeugt, aber endgültig<br />
nicht mehr dafür verwendet werden.<br />
Gendefekte dürfen nicht festgestellt<br />
worden sein. Der Begriff „embryonale<br />
Stammzelle“ wird zudem genau<br />
definiert. Einen Tag vor der abschließenden<br />
Beratung legten Böhmer, Fischer<br />
und von Renesse einen weiteren Änderungs<strong>an</strong>trag<br />
vor (Catenhusen klinkte<br />
sich aus). Dieser beharrt auf den Vorschriften<br />
des Strafgesetzbuches. Das<br />
Parlament nahm den Antrag <strong>an</strong>. Damit<br />
bleibt ein deutscher Forscher strafbar,<br />
wenn er im Ausl<strong>an</strong>d Forscher <strong>an</strong>stiftet<br />
oder Beihilfe leistet, embryonale<br />
Stammzellen zu gewinnen oder in <strong>an</strong>derer<br />
Weise zu verwenden, als es das deutsche<br />
Gesetz vorschreibt.<br />
Besonders schwer tat sich nach eigenen<br />
Angaben Andrea Fischer mit der<br />
Arbeit am Gesetzentwurf. „Ich habe<br />
mich immer wieder gefragt, ob ich meine<br />
eigene Position verrate“, sagte sie.<br />
„Denn bei Leben und Tod k<strong>an</strong>n es keinen<br />
Kompromiss geben. Unser Entwurf<br />
ist jedoch keiner.“ Das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
werde auf Dauer festgeschrieben.<br />
„Wir beziehen uns nur auf die<br />
unabänderliche Verg<strong>an</strong>genheit.“ Diese<br />
Ausnahme müsse m<strong>an</strong> machen, um sich<br />
den Widersprüchen zu stellen, erklärte<br />
Fischer. Viele Menschen würden große<br />
Hoffnung in die Stammzellforschung<br />
setzen. „Die <strong>Forschung</strong> hat uns Brücken<br />
gebaut, wir sollten das jetzt auch tun.“<br />
Die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
(DFG) hatte die Bundestagsdebatte<br />
im J<strong>an</strong>uar abgewartet, bevor sie ihrerseits<br />
entschied, <strong>Forschung</strong>sprojekte<br />
<strong>an</strong> menschlichen embryonalen Stammzellen<br />
zu fördern. Der DFG-Präsident,<br />
Prof. Dr. med. Ernst-Ludwig Winnacker,<br />
zeigte sich jetzt erleichtert über die Verabschiedung<br />
des Stammzellgesetzes. Zufrieden<br />
ist er mit dem Stichtag allerdings<br />
nicht. „Wir können mit dieser Regelung<br />
leben“, äußerte sich Winnacker vorsichtig.<br />
Kritik übte er <strong>an</strong> der ins Gesetz aufgenommenen<br />
Strafbewehrung. Diese<br />
müsse überdacht werden, falls deutsche<br />
Wissenschaftler im internationalen Kontext<br />
h<strong>an</strong>dlungsunfähig würden.<br />
„Kleinstes Übel“ oder „Besser den<br />
Spatz in der H<strong>an</strong>d“ – die Beweggründe<br />
der Abgeordneten, die für den Gesetzentwurf<br />
stimmten, waren unterschiedlich.<br />
Wie l<strong>an</strong>ge das verabschiedete<br />
Stammzellgesetz Best<strong>an</strong>d haben wird,<br />
ist fraglich. „Ich sehe das gelassen“, sagt<br />
Ulrike Flach (FDP), die mit ihrem Antrag<br />
auf einen flexiblen Stichtag scheiterte.<br />
„Wenn sich <strong>Forschung</strong>serfolge<br />
zeigen, wird das Gesetz sowieso geändert.“<br />
Dr. med. Eva A. Richter
D O K U M E N T A T I O N<br />
Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald<br />
Heft 19, 10. Mai 2002<br />
Grenzfragen zwischen Wissenschaft und Ethik<br />
Die Bedrohung der<br />
Gattung „Mensch“<br />
Dem „Imperativ des Fortschritts“ in Naturwissenschaft und<br />
Technik begegnet der Imperativ der moralischen Vernunft.<br />
Dieser Aufsatz ist die leicht gekürzte und bearbeitete Fassung<br />
eines Vortrages, den Prof. Dr. phil. Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald<br />
<strong>an</strong>lässlich des Festaktes zum 50-jährigen Bestehen<br />
des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer<br />
am 8. März in Berlin gehalten hat (dazu DÄ, Heft 11/<br />
2002). Frühwald ist der Präsident der Alex<strong>an</strong>der von<br />
Humboldt-Stiftung und war von 1992 bis 1997 Präsident<br />
der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft.<br />
Erinnerungen sind keine Geschichtsquellen,<br />
auch wenn sich die so gen<strong>an</strong>nte<br />
oral history auf das Gedächtnis<br />
und die Aussagen von Zeitgenossen<br />
stützt. Das Problem der Quellenkritik<br />
aber, das Basisproblem historisch<br />
arbeitender Disziplinen, stellt sich<br />
bei dieser Art von Geschichtsschreibung<br />
besonders dringlich und kompliziert.<br />
Die individuelle Erinnerung, von<br />
der Horst Bienek meinte, sie laufe im<br />
Bewusstsein wie ein falsch belichteter<br />
Film ab, bei dem nur ab und zu ein Bild<br />
scharf gestellt ist, überliefert <strong>an</strong>dere Ereignisse<br />
als das kollektive oder gar das<br />
kulturelle Gedächtnis.<br />
Nach spätestens 80 Jahren verblasst<br />
die Erinnerung, mischen sich Gelesenes<br />
und Erlebtes ununterscheidbar. Nach<br />
40 Jahren schon bedarf die Erinnerung<br />
der Mitlebenden der kulturellen Stütze,<br />
der schriftlichen Aufzeichnung, des<br />
Denkmals, des Museums oder gar des<br />
Gedenktages, des Sonntags in der<br />
gleichförmigen Reihe aller Tage. So haben<br />
Jahreszahlen (und damit Jubiläen)<br />
eine eigene Magie, der m<strong>an</strong> sich nur<br />
schwer zu entziehen vermag.<br />
Für mich war das Jahr 1952 ein wegweisendes<br />
Jahr in meinem Leben, weil<br />
ich damals, mit 17 Jahren, erstmals meiner<br />
Frau begegnet bin. Das mag für einen<br />
umgrenzten Kreis von Menschen<br />
durchaus bedeutsam geworden sein, für<br />
unsere Kinder, vielleicht auch für unsere<br />
Enkelkinder. Für die Gesellschaft, in<br />
der wir leben, ist dies ein nebensächliches<br />
Datum. Für Staat und Gesellschaft,<br />
ja für den europäischen Kontinent<br />
und den europäischen Kulturkreis,<br />
war es sicher bedeutsamer, dass in diesem<br />
Jahr 1952 die Hilfslieferungen des<br />
Marshall-Pl<strong>an</strong>es endeten, dass Europa<br />
beg<strong>an</strong>n, wieder auf eigenen Füßen zu<br />
stehen, dass die Pläne zu einer europäischen<br />
Agrar-Union zwar stagnierten,<br />
das Gesetz über die Mont<strong>an</strong>-Union<br />
aber vom Deutschen Bundestag verabschiedet<br />
wurde. Die Verfassungsklage<br />
der damaligen parlamentarischen Opposition<br />
gegen die EVG wurde abgewiesen.<br />
Auch wenn die Europäische<br />
Verteidigungsgemeinschaft d<strong>an</strong>n am<br />
Widerst<strong>an</strong>d des fr<strong>an</strong>zösischen Parlaments<br />
scheiterte – Europa machte sich<br />
doch auf den schweren und l<strong>an</strong>gsamen<br />
Weg seiner Einigung.<br />
1952 war das Jahr, in dem Christi<strong>an</strong><br />
Dior die „fließende Linie“ mit der<br />
„w<strong>an</strong>dernden Taille“ in einer eleg<strong>an</strong>ten<br />
und dem Auge (zumindest dem Männer-Auge)<br />
schmeichelnden Damenmode<br />
kreierte. Wichtiger für die allgemeine<br />
Geschichte aber war wohl das Faktum,<br />
dass sich damals eine das Aussehen<br />
von Frauen und Männern gleichermaßen<br />
verändernde, amerik<strong>an</strong>ische<br />
Mode in Europa fast seuchenartig ausbreitete:<br />
die aus blauem Baumwollstoff<br />
gefertigten Hosen, mit aufgenieteten<br />
Taschen, nach der Genueser Herkunft<br />
des Stoffes gen<strong>an</strong>nt Blue Je<strong>an</strong>s. Ihre rasche<br />
Ausbreitung verweist nicht nur auf<br />
eine Mode, sondern auf eine Zeitstimmung,<br />
auf die verbreitete Mentalität<br />
junger Menschen, die (ähnlich wie das<br />
Werther-Fieber im 18. Jahrhundert) aus<br />
dem Gefühl der Einsamkeit und der<br />
Verlorenheit, aber auch aus Zukunftshoffnung,<br />
stiller Rebellion, aus Sehnsucht<br />
nach Jugendsolidarität und<br />
Selbstironie gespeist wurde. Das Kultbuch<br />
der Je<strong>an</strong>s-Literatur, Jerome David<br />
Salingers Rom<strong>an</strong> „The Catcher in the<br />
Rye“ (Der Fänger im Roggen), erschien<br />
in den USA 1951, in deutscher<br />
Übersetzung zuerst 1954.<br />
Damals, mitten im Kalten Krieg,<br />
gehörte ein existenziell, aber auch ein<br />
sozial gedachtes Christentum zur Basis<br />
der <strong>an</strong>tibolschewistischen Stimmung<br />
des Westens. Fr<strong>an</strong>çois Mauriac, der<br />
Dichter verzweifelter Einsamkeit des<br />
Menschen, seiner Verfallenheit <strong>an</strong> das<br />
Böse und seiner Erlösung aus Gnade,<br />
erhielt in diesem Jahr den Nobelpreis<br />
für Literatur; Rom<strong>an</strong>o Guardini, der in<br />
München eine spezielle Spielart der<br />
Existenzphilosophie lehrende Religionsphilosoph,<br />
wurde mit dem Friedenspreis<br />
des Deutschen Buchh<strong>an</strong>dels ausgezeichnet.<br />
Albert Schweitzer war der<br />
Friedens-Nobelpreisträger dieses Jahres.<br />
Das Preisgeld hat er in sein Urwald-<br />
Hospital in Lambarene investiert.<br />
Thomas M<strong>an</strong>n ist 1952 aus den unter<br />
der Kommunistenjagd McCarthys sich<br />
verdüsternden USA nach Europa<br />
zurückgekehrt. Er hat zu Beginn des<br />
Folgejahres die Erzählung „Die Betrogene“<br />
geschrieben, in der eine deutsche<br />
Baronin im Klimakterium unter der<br />
Berührung durch die Liebe zu einem<br />
jungen Amerik<strong>an</strong>er wieder fruchtbar zu<br />
werden meint. Rosalie von Tümmler,<br />
die im Zeitpunkt der erzählten H<strong>an</strong>dlung<br />
der Novelle etwa so alt ist wie das<br />
Jahrhundert im Jahr der Publikation<br />
dieses Textes (also 53 Jahre alt), muss<br />
schließlich erkennen, dass ihre Blutungen<br />
Symptome eines Unterleibs-Karzinoms<br />
sind.Thomas M<strong>an</strong>n hat seiner Rosalie<br />
von Tümmler nicht zufällig die Züge<br />
der deutschen Schriftstellerin Gertrud<br />
von Le Fort (1876–1971) gegeben,<br />
das alternde Europa, das sich der Liebe<br />
zu dem jugendfrischen Amerika hin-<br />
145
D O K U M E N T A T I O N<br />
146<br />
Mit dem Jahr 1952 beg<strong>an</strong>n<br />
das halbe Jahrhundert jener<br />
nachmodernen Erfahrungsexplosion,<br />
welche die Welt<br />
von Grund auf verändert hat.<br />
gibt, meint diese Erzählung, trägt in sich<br />
die Kr<strong>an</strong>kheit zum Tode.<br />
M<strong>an</strong> hat später diese hier flüchtig<br />
skizzierte Zeitstimmung aus Verzweiflung<br />
und Nostalgie, aus noch kaum artikulierter<br />
Sehnsucht nach Überwindung<br />
der „Welt der alten Männer“ und<br />
Selbstironie als „restaurativ“ bezeichnet<br />
und dabei übersehen, wie sich im<br />
Untergrund die Zukunft vorbereitete,<br />
wie sich ein starker demokratischer<br />
Kern bildete, der auch die Krisen der<br />
60er- und der 70er-Jahre zu überstehen<br />
vermochte. Dabei gab es genügend Signale,<br />
die auf die Zukunft verwiesen,<br />
doch haben wir als Zeitgenossen diese<br />
Signale nur unzureichend gedeutet.<br />
1952, als in Ost und West die ersten<br />
Wasserstoffbomben explodierten, als<br />
sich die Welt in zwei Machtblöcken<br />
verhärtete, gab es bereits Anzeichen<br />
jener Mobilität, die das Blocksystem<br />
der Welt gleichsam von innen her<br />
zerstört hat. Im Jahr 1952 nämlich purzelten<br />
die Geschwindigkeitsrekorde<br />
nicht nur in der Schiffspassage über den<br />
Atl<strong>an</strong>tik, sondern vor allem bei den<br />
L<strong>an</strong>gstreckenflügen. In neun Stunden<br />
und 50 Minuten flog erstmals ein<br />
amerik<strong>an</strong>ischer Düsenbomber non stop<br />
über den Pazifik von Alaska nach Jap<strong>an</strong>.<br />
Die Gravitationsfelder der Welt<br />
beg<strong>an</strong>nen sich unmerklich aus dem<br />
Westen der Welt in den Osten zu verschieben.<br />
Der stärkste Motor der Veränderung<br />
aber war (und ist) die Wissenschaft,<br />
deren technische Anwendungen jetzt<br />
von basalen Veränderungen<br />
sprachen.<br />
Mit dem Jahr<br />
1952 beg<strong>an</strong>n das<br />
halbe Jahrhundert<br />
jener nachmodernen<br />
Erfahrungsexplosion,<br />
welche die<br />
Welt von Grund<br />
auf verändert hat, bis wir in unseren Tagen<br />
– um mit Jürgen Habermas zu sprechen<br />
– nicht mehr neue Antworten auf<br />
alte Fragen suchen, sondern vor Fragen<br />
einer <strong>an</strong>deren Art stehen.<br />
Im Jahr 1952 wurde der Nobelpreis<br />
für Medizin <strong>an</strong> Selm<strong>an</strong> Abraham Waksm<strong>an</strong><br />
für die Mitentdeckung des Streptomycins<br />
vergeben, und im gleichen Jahr<br />
wurden Bakterien gezüchtet, die gegen<br />
dieses Antibiotikum 250 000-mal widerst<strong>an</strong>dsfähiger<br />
sind als die Ausg<strong>an</strong>gsform.<br />
Im Folgejahr schon (1953) haben<br />
Crick und Watson in der Zeitschrift<br />
„Nature“ jene klassische Beschreibung<br />
der DNA-Doppelhelix publiziert, die<br />
das biologische Zeitalter einleitete und<br />
die Mikrobiologie als Leitwissenschaft<br />
<strong>an</strong> die Stelle der Atomphysik setzte.<br />
Dass sich die Bundesärztekammer<br />
im Jahr 1952 einen Wissenschaftlichen<br />
Beirat geschaffen hat, war somit eine<br />
weitreichende und eine vorausschauende<br />
Entscheidung.<br />
Von nun <strong>an</strong> nämlich<br />
wurde der Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
von<br />
Biologie oder besser<br />
von Biochemie<br />
und Medizin so eng, dass der Abst<strong>an</strong>d<br />
zwischen Grundlagenforschung und<br />
Entwicklung rasch zu schrumpfen beg<strong>an</strong>n,<br />
wissenschaftliche Entdeckungen<br />
und Entwicklungen das soziale Leben<br />
revolutionierten und die Entwicklungen<br />
bereits der Grundlagenforschung in<br />
wirtschaftliche und ethisch relev<strong>an</strong>te<br />
Bereiche eindr<strong>an</strong>gen. Die Aufgabe der<br />
Ärztekammern, für einen wissenschaftlich<br />
und ethisch hoch stehenden Ärztest<strong>an</strong>d<br />
Sorge zu tragen, war ohne fachkundige<br />
Beratung in beiden Bereichen<br />
nicht mehr zu erfüllen.<br />
Dass sich Ethik, insbesondere ärztliches<br />
Ethos, und Wissenschaft widersprechen<br />
können und solche Widersprüche<br />
in neuerer Zeit auch unter demokratischen<br />
Verhältnissen häufiger<br />
werden, liegt vermutlich <strong>an</strong> der besonderen<br />
Art, in der<br />
Naturwissenschaft und<br />
Technik sind geradezu durch<br />
ihren Fortschritt definiert.<br />
sich Naturwissenschaft<br />
und Technik<br />
weiterentwickeln.<br />
Der Begriff des<br />
„Fortschritts“, der<br />
seit wenigstens 1795<br />
im heutigen Wortgebrauch<br />
überliefert<br />
ist, als „Vermehrung der Einsichten,<br />
der Erfahrung, des Muts, der Fertigkeit<br />
im Guten oder auch im Bösen“,<br />
gehört zu den Naturwissenschaften und<br />
zur Technik in einem g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>deren<br />
Maße als zu Kunst, Literatur und Geisteswissenschaften.<br />
Naturwissenschaft und Technik sind<br />
geradezu durch ihren Fortschritt definiert,<br />
„Die Kernphysik überwindet die<br />
Alchimie; durch die Molekularbiologie<br />
wird die Physiologie der Körpersäfte<br />
überholt. Dasselbe gilt für die Anwendungen:E-Mail<br />
stellt eine Verbesserung<br />
gegenüber dem Semaphor dar, ein<br />
Überschallflugzeug überflügelt eine<br />
Galeone, das Chloroform ver<strong>an</strong>schaulicht<br />
das Heraustreten des Menschen<br />
aus unvorstellbaren Schmerzen. Keine<br />
Winde der Mode werden Naturwissenschaft<br />
oder Technologie in die Verg<strong>an</strong>genheit<br />
zurückwehen“ (G. Steiner).<br />
Durch die Beschleunigung des Erfahrungsw<strong>an</strong>dels,<br />
welche<br />
das grundlegende<br />
Kennzeichen<br />
der Moderne und<br />
der Nachmoderne<br />
ist, sind wir alle in<br />
der Lage, solche Fortschritte am eigenen<br />
Leibe zu prüfen: Wer in seiner<br />
Kindheit die Gefahren der Poliomyelitis<br />
gesehen hat, weiß, welch kluge Entscheidung<br />
es war,die wenigen zur Verfügung<br />
stehenden Mittel in den 50er-Jahren<br />
des letzten Jahrhunderts nicht in die<br />
Perfektionierung der Eisernen Lungen,<br />
sondern in die virologische Grundlagenforschung<br />
und damit in die Entwicklung<br />
eines Impfstoffes zu investieren.<br />
Der Fortschritt in den Naturwissenschaften<br />
aber hat es <strong>an</strong> sich, dass er von<br />
Einzelnen kaum zu beeinflussen ist,<br />
dass er sich prozesshaft, gleichsam aus<br />
sich selbst heraus fortschreibt, dass damit<br />
auch alle Grenzen, welche die <strong>Forschung</strong><br />
sich selbst setzt und sich selbst<br />
setzen will, nicht haltbar sind. Die Summe<br />
der naturwissenschaftlichen Fortschritte,<br />
sagt George Steiner, übersteige<br />
„exponentiell ihre einzelnen Teile, und<br />
seien sie auch noch so sehr von persönlichem<br />
Genie inspiriert“. In einem gewissen<br />
und starken Sinne sei der naturwissenschaftlich-technische<br />
Fortschritt<br />
demnach „träge und oze<strong>an</strong>isch“, ließen<br />
sich „naturwissenschaftliche Theorien<br />
und Entdeckungen [nur]. . . als <strong>an</strong>onym<br />
denken. Die große Flut kommt herein“.<br />
Der g<strong>an</strong>ze Unterschied aber zu der „<strong>an</strong>deren“<br />
Kultur, der g<strong>an</strong>ze Unterschied<br />
zwischen „science“ und „literature“, ist<br />
d<strong>an</strong>n in Steiners Frage enthalten, die da<br />
lautet: „Was stellt im Gegensatz hierzu<br />
einen Fortschritt gegenüber Homer<br />
oder Sophokles, gegenüber Platon oder<br />
D<strong>an</strong>te dar“ So fügt er <strong>an</strong> diese – absurde<br />
– Frage die lapidare Antwort <strong>an</strong>:<br />
„Ernsthafte Werke werden weder über-
D O K U M E N T A T I O N<br />
holt noch verdrängt; große Kunst wird<br />
nicht <strong>an</strong>tiquarischem Status über<strong>an</strong>twortet;<br />
[die Kathedrale von] Chartres<br />
altert nicht.“ Dies bedeutet, dass „in<br />
den bildenden Künsten, in der Literatur<br />
und der Musik . . . Dauer nicht Zeit“ ist,<br />
dass auch die ethischen Fragen der<br />
Menschheit nicht altern, weil es tatsächlich<br />
so etwas gibt wie „den“ Menschen<br />
und seine Verfasstheit in der Welt.<br />
Das ist keine neue Erkenntnis, aber<br />
eine immer wieder vergessene Einsicht,<br />
die schon Goethe unter dem Eindruck<br />
der auf naturwissenschaftlicher Grundlage<br />
entstehenden Technik seiner Zeit<br />
so formuliert hat: „Neue Erfindungen<br />
können und werden geschehen, allein<br />
es k<strong>an</strong>n nichts Neues ausgedacht werden,<br />
was auf den sittlichen Menschen<br />
Bezug hat.“ Der Hum<strong>an</strong>itäts-Diskurs<br />
ist von <strong>an</strong>derer Art als der moderne<br />
Wissenschafts-Diskurs. Dort, wo sich<br />
beide Diskurse nicht durchdringen und<br />
widerständig aufein<strong>an</strong>der beziehen,<br />
gerät die Welt aus dem Gleichgewicht.<br />
So steht die Geschichte der Einsamkeit<br />
(und die ethische<br />
Entscheidung<br />
gehört zu ihr) gegen<br />
die Geschichte<br />
des Fortschritts, die<br />
Geschichte zeitloser<br />
Dauer gegen die der Geschwindigkeit<br />
wirtschaftlicher und wissenschaftlicher<br />
Entwicklungen, die Geschichte der<br />
prozesshaft und „oze<strong>an</strong>isch“ sich ausbreitenden<br />
naturwissenschaftlichen<br />
Einsicht in die Welt gegen die dem Zufall,<br />
der Gewalt und dem Irrtum ausgesetzte<br />
Geschichte des Individuums und<br />
– da die Geschichte der Naturwissenschaft<br />
zugleich eine Geschichte des<br />
Rückzugs der Sprache ist – die Geschichte<br />
der sprachlichen Erklärung gegen<br />
die der Formel und die erst kurze<br />
Geschichte der Visualisierung hochkomplexer<br />
Zustände. Auf diesem völlig<br />
unübersichtlichen Gelände ist der Wissenschaftliche<br />
Beirat (nicht nur der<br />
Bundesärztekammer) positioniert, auf<br />
einem Feld, auf dem sich unterschiedliche<br />
Denkkulturen mit jeweils starken<br />
Eigentraditionen begegnen und herrisch<br />
ihr Recht fordern.<br />
Dem „Imperativ des Fortschritts“ in<br />
Naturwissenschaft und Technik begegnet<br />
der Imperativ der moralischen Vernunft.<br />
Dieser Imperativ aber fordert,<br />
Der Hum<strong>an</strong>itäts-Diskurs ist<br />
von <strong>an</strong>derer Art als der moderne<br />
Wissenschafts-Diskurs.<br />
Grenzen und Dämme dort zu ziehen,<br />
wo der Erkenntnisstrom längst über die<br />
Ufer getreten ist, damit ein Stück bewohnbares<br />
L<strong>an</strong>d für die Menschen verbleibt.<br />
Pragmatismus, in den viele vor<br />
der komplexen Problemlage heute zu<br />
flüchten versuchen, hilft in einer solchen<br />
Situation nur dem, der sich bereits<br />
mit Haut und Haaren dem „magischen<br />
Turnus der Investitionen und Auslöschungen“<br />
(D. Grünbein) verschrieben<br />
hat. Ein solcher Turnus zerstört unser<br />
Gedächtnis ebenso wie die Grundlagen<br />
unseres Zusammenlebens.<br />
Kein historischer Vergleich hat derzeit<br />
so Konjunktur wie der des „Rubikon“.<br />
Seit der Streit um die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen des Menschen<br />
in Europa und den USA begonnen<br />
hat, ist der kleine Fluss, der südlich<br />
von Ravenna in die Adria mündet, zu einer<br />
Leitmetapher in der Frage nach der<br />
ethischen Grenzziehung in Biologie und<br />
Medizin geworden. Es sei noch viel<br />
Raum diesseits des Rubikon, hat der<br />
Bundespräsident am 18. Mai 2001 in<br />
seiner berühmt gewordenen<br />
Berliner<br />
Rede über einen<br />
Fortschritt nach<br />
menschlichem Maß<br />
gesagt und damit<br />
heftigen Widerspruch geerntet. Das<br />
Grenzbild nämlich bezieht sich auf die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
des Menschen,für deren Gewinnung<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> in vitro hergestellt<br />
und innerhalb der ersten 14 Entwicklungstage<br />
getötet werden müssen.<br />
Es bezieht sich auf die weitgehend unbe<strong>an</strong>twortete<br />
Frage, weshalb die ethisch<br />
unproblematische <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten<br />
Stammzellen nicht priorisiert wird, weshalb<br />
nicht wenigstens die Tierversuchsreihen<br />
abgeschlossen werden, ehe auf<br />
„menschliches Material“ übergegriffen<br />
wird Es bezieht sich schließlich darauf,<br />
dass die Debatte in Deutschl<strong>an</strong>d nur eine<br />
Vari<strong>an</strong>te im weltweiten <strong>Embryonen</strong>streit<br />
ist, die hier einer gegebenen Gesetzeslage<br />
gerecht zu werden versucht,<br />
aber keine grundsätzlich <strong>an</strong>dere Debatte<br />
als die internationale Diskussion ist.<br />
Die Maximalforderungen der <strong>Forschung</strong><br />
in Deutschl<strong>an</strong>d stimmen mit den Forderungen<br />
der <strong>Forschung</strong> überein, die weltweit<br />
auf verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
zielen.<br />
Joh<strong>an</strong>nes Rau, Hubert Markl, die<br />
Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft, Jürgen<br />
Habermas,Konrad Beyreuther und<br />
viele <strong>an</strong>dere bemühen den Rubikon,<br />
um eine endlich erreichte Grenze des<br />
Wissens und die Gefahr oder die Ch<strong>an</strong>ce<br />
der Grenzüberschreitung <strong>an</strong>schaulich<br />
zu machen. Der Rubikon ist jener<br />
Grenzfluss zwischen der Provinz Gallia<br />
Cisalpina und dem römischen Stamml<strong>an</strong>d,<br />
den Caesar im Jahr 49 v. Chr. mit<br />
seinen Legionen in Richtung auf Rom<br />
überschritten und damit die Lex Cornelia<br />
Majestatis gebrochen hat, die es einem<br />
Feldherrn untersagte, seine Armee<br />
aus der von ihm befehligten Provinz<br />
herauszuführen. Caesar hat mit dieser<br />
Entscheidung einen drei Jahre dauernden<br />
Bürgerkrieg eröffnet. Der Rubikon<br />
ist im Streit um <strong>Embryonen</strong>verbrauch<br />
und Stammzellenimport, um Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) und Keimbahnintervention,<br />
um therapeutisches<br />
und reproduktives Klonieren, um das<br />
Designer-Baby, den künstlichen Uterus<br />
und letztlich jenes body net, in welcher<br />
der Mensch „in einer Molekülkette, die<br />
theoretisch ununterbrochen sein könnte,<br />
zu einer Episode seiner oder ihrer<br />
früheren Inkarnationen werden könnte“<br />
(G. Steiner), zum Bild der Grenze<br />
geworden, welche die Gesellschaft der<br />
Wissenschaft zu setzen versucht.<br />
Schließlich vergeht kein Tag, <strong>an</strong> dem<br />
nicht neue Sensationsmeldungen aus<br />
Pränatal- und Perinatalmedizin durch<br />
die Weltmedien geistern, <strong>an</strong> denen der<br />
„Imperativ des Fortschritts“ nicht nachdrücklich<br />
und durchaus staunenswert<br />
bewusst gemacht wird.<br />
Es scheint, als stehe nach den schon<br />
von Sigmund Freud konstatierten<br />
Kränkungen des Menschen, die nach<br />
dem Befund von Jürgen Habermas allesamt<br />
„Dezentrierungen“ gewesen sind,<br />
nun eine dritte Kränkung bevor. Sie<br />
wird jedem von uns auf den Leib rücken<br />
und nicht nur das kollektive Bewusstsein<br />
beeinflussen. Nach der kopernik<strong>an</strong>ischen<br />
Wende, welche die Erde aus<br />
dem Mittelpunkt des Kosmos genommen<br />
hat, war die Darwinsche Kränkung,<br />
die den Menschen – Krone der<br />
Schöpfung! – <strong>an</strong> die Kette seiner natürlichen<br />
Abstammung gelegt hat, die<br />
zweite Dezentrierungs-Erfahrung der<br />
Menschheit. Jetzt aber hat es den Anschein,<br />
als könne der Mensch eine nicht<br />
147
D O K U M E N T A T I O N<br />
nur vorgestellte,sondern seine leibhafte<br />
Mitte verlieren, seinen nur ihm zugehörigen<br />
Leib, der gezeugt, nicht erzeugt<br />
ist, den er frei verschenken und<br />
sogar zerstören k<strong>an</strong>n, der aber (noch)<br />
nicht zu m<strong>an</strong>ipulieren und nach dem<br />
Willen <strong>an</strong>derer irreversibel zu programmieren<br />
und zu verändern ist. Es hat den<br />
Anschein, als könne schon in absehbarer<br />
Zukunft der Mensch nicht mehr<br />
„Leib sein“, sondern nur noch „Körper<br />
haben“ (H. Plessner). Dies nämlich wäre<br />
die notwendige Konsequenz einer<br />
nicht nur im Einzelfall, sondern seriell<br />
durchgeführten Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Die Konjunktur der Körpermoden,<br />
der Körper-Erforschung, der<br />
Leichen-Plastinierung, der ästhetischen<br />
Präsentation plastinierter Körper in<br />
<strong>an</strong>atomischen Ausstellungen, der Paradigma-Bildung<br />
um Körper und Körperlichkeit<br />
in historischen und philologischen<br />
Wissenschafts-Disziplinen, aber<br />
auch der Körperverachtung in terroristischen<br />
Attacken und neuen Waffen,<br />
verweist in ihrer Massierung vermutlich<br />
doch eher auf eine Verlusterfahrung als<br />
auf die triumphale Entdeckung neuer<br />
Körperlichkeit.<br />
„Leibhaftig“ heißt die (2002 erschienene)<br />
Erzählung von Christa Wolf, in<br />
der eine schwer<br />
So gewinnt die Medizin eine<br />
Position, die ihr die Rolle des<br />
Vermittlers in einem Wertekonflikt<br />
zuschreibt, wie er<br />
zugespitzter kaum denkbar ist.<br />
kr<strong>an</strong>ke Frau die<br />
Entfremdung von<br />
ihrem eigenen Körper<br />
zu überwinden<br />
sucht, versucht, wieder<br />
Leib zu sein,<br />
statt nur noch einen<br />
Körper zu haben, der nach dem<br />
Zusammenbruch des Immunsystems<br />
sich selbst aufzufressen beginnt: „Das<br />
Martyrium und der Unterg<strong>an</strong>g der<br />
Leiber“, heißt es in diesem Text in<br />
schlagzeilenartiger Erinnerung <strong>an</strong> das<br />
blutige 20.Jahrhundert,„mein Leib mitten<br />
unter ihnen.“<br />
Im kollektiven Bewusstsein entsteht<br />
heute allmählich die Vorstellung, dass<br />
der Mensch seine leibhafte Mitte verlieren<br />
könnte, dass sich die letzte ihm verbliebene<br />
biologische Gewissheit auflösen<br />
könnte in die Beliebigkeit austauschbarer,<br />
zu züchtender Einzelorg<strong>an</strong>e.<br />
Im gleichen Maße, in dem „immer<br />
rudimentärere Lebensformen [entdeckt<br />
oder im Modell entworfen werden],<br />
die der Schwelle zum Anorg<strong>an</strong>ischen<br />
immer näher stehen“, im gleichen<br />
Maße, in dem in den Tiefen des Weltinnenraums<br />
und des Kosmos das geschichtliche<br />
Bild des Menschen in die<br />
Kälte der Äonen entschwindet, verblasst<br />
auch die Vorstellung von der<br />
Würde, der Unverwechselbarkeit, der<br />
Nichtaustauschbarkeit der einen und<br />
einzelnen, in ihrer Einzelheit kostbaren,<br />
unwiederholbar konkreten Person.<br />
Das nicht-personale Zeitalter, in das<br />
wir, nüchtern gesehen, vor etwa 50<br />
Jahren eingetreten sind, ist ein naturwissenschaftlich-technisch<br />
dominiertes<br />
Zeitalter, in diesem Zeitalter verändert<br />
sich nicht nur das Verhältnis des Menschen<br />
zur Natur (auch des eigenen Leibes),<br />
verliert dieses Verhältnis nicht nur<br />
die Anschaulichkeit, in dieser Ära wird<br />
die Realisierung einer bisher nur in den<br />
Mythen und Sagen der Menschheit existierenden<br />
Vorstellung wahrscheinlich,<br />
dass in nicht allzu ferner Zeit „genetisches<br />
Material, das zur Selbstreproduktion<br />
fähig ist, im Laboratorium geschaffen<br />
werden wird. Der adamische Akt<br />
und die Erschaffung des Golems sind<br />
rational denkbar“. (G. Steiner)<br />
So gewinnt die Medizin, die es trotz,<br />
vermutlich sogar wegen ihrer naturwissenschaftlichen<br />
Grundlegung mit der<br />
verblassenden leibhaften<br />
Mitte des<br />
Menschen, mit dem<br />
konkreten, g<strong>an</strong>zen<br />
und komplexen Menschen<br />
zu tun hat,<br />
auf dem Konfliktfeld<br />
von naturwissenschaftlicher<br />
und sozialer Bestimmung<br />
des Menschen eine Position, die<br />
ihr die Rolle des Vermittlers in einem<br />
Wertekonflikt zuschreibt, wie er zugespitzter<br />
kaum denkbar ist. Denn um<br />
einen Wertekonflikt geht es bei der<br />
<strong>Embryonen</strong>debatte in den Wissenschaftsländern<br />
der Welt, nicht so sehr<br />
um eine naturwissenschaftlich mit dem<br />
Sachverst<strong>an</strong>d der Molekularbiologie<br />
zu entscheidende Frage. Es geht um die<br />
Frage, was schützenswertes menschliches<br />
Leben ist, welche Erbgutm<strong>an</strong>ipulationen<br />
wir uns erlauben dürfen,<br />
welche Mittel der therapeutische Zweck<br />
fordert.<br />
Der Wissenschaftliche Beirat der<br />
Bundesärztekammer wird in Zukunft<br />
immer stärker von solchen Grenzfragen<br />
zwischen Wissenschaft und Ethik gefordert<br />
sein,weil dies die Fragen sind,in denen<br />
Gesellschaft und Politik nun vermehrt<br />
Beratung brauchen, in denen der<br />
einseitig (naturwissenschaftlich oder sozial)<br />
gepolte Sachverst<strong>an</strong>d nicht ausreicht,<br />
um urteilsfähig zu sein. Ein solides<br />
naturwissenschaftliches Fundament<br />
des Wissens, die Fähigkeit zur sozialen<br />
Einbettung der zu entscheidenden Fragen<br />
in die Gemeinschaft von Werten<br />
und Kulturen und der Mut zur öffentlichen<br />
Aussprache der gefundenen Entscheidung<br />
sind die drei Säulen, auf denen<br />
die Stellungnahmen des Wissenschaftlichen<br />
Beirates beruhen. Es lohnt<br />
sich deshalb, die Rede des Bundespräsidenten<br />
von Mai 2001 nachzulesen,in der<br />
Fortschritt und Maß mitein<strong>an</strong>der korreliert<br />
sind, eben jene beiden Begriffe, die<br />
den gen<strong>an</strong>nten Entscheidungen zugrunde<br />
liegen. „Auch wenn wir über die neuen<br />
Möglichkeiten der Lebenswissenschaften<br />
sprechen“, sagte Joh<strong>an</strong>nes<br />
Rau, „geht es nicht in erster Linie um<br />
wissenschaftliche oder um technische<br />
Fragen. Zuerst und zuletzt geht es um<br />
Wertentscheidungen. Wir müssen wissen,<br />
welches Bild vom Menschen wir haben<br />
und wie wir leben wollen.“<br />
Wie weit heute schon die naturwissenschaftliche<br />
Beurteilung von möglichen<br />
medizinischen Methoden in das<br />
soziale Leben eingreift, ist vermutlich<br />
am Beispiel der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
am einleuchtendsten zu beschreiben.<br />
Es steht dort nämlich inzwischen<br />
nicht mehr Zulassung oder Verbot<br />
eines diagnostischen Verfahrens zur<br />
Debatte, sondern die Begriffe von Gesundheit<br />
und Kr<strong>an</strong>kheit in einem relativen<br />
oder normativen Verständnis überhaupt.<br />
Eine der großen Überraschungen<br />
des Hum<strong>an</strong>genomprojekts, sagt<br />
Konrad Beyreuther, sei das Faktum,<br />
dass sich „die Entstehung des Hum<strong>an</strong>genoms<br />
auf ein unglaubliches Gemisch<br />
von Bruchstücken unterschiedlichster<br />
Herkunft zurückführen“ lasse. „Im Genom<br />
finden sich zahlreiche Kopien ehemaliger<br />
Viren.Virusinfektionen, die unsere<br />
Vorfahren erlitten, haben sich als<br />
‚Immigr<strong>an</strong>ten‘ im Genom niedergelassen.“<br />
Das bedeutet doch nichts <strong>an</strong>deres,<br />
als dass wir durch Kr<strong>an</strong>kheit gesund<br />
sind, dass Gesundheit und Kr<strong>an</strong>kheit<br />
nicht normativ, sondern nur entwicklungsgeschichtlich<br />
zu bestimmen sind,<br />
148
D O K U M E N T A T I O N<br />
weil die Genkombinationen scheinbare<br />
Kr<strong>an</strong>kheitsdispositionen in Vorteile<br />
für die Genträger verw<strong>an</strong>deln können<br />
„Warum konnten sich kr<strong>an</strong>kheitsdisponierende<br />
Vari<strong>an</strong>ten bestimmter<br />
Gene durchsetzen“ fragt Konrad Beyreuther.<br />
„Was ist ihr Vorteil“ Und er<br />
<strong>an</strong>twortet: „Bei der Sichelzell<strong>an</strong>ämie,<br />
die bei 40 Prozent der Nordafrik<strong>an</strong>er<br />
vorkommt, kennt m<strong>an</strong> den Grund. Die<br />
Ver<strong>an</strong>lagung schützt vor Malaria. Sie<br />
hat aber den Nachteil, dass bei schwerer<br />
körperlicher Arbeit die sichelförmige<br />
Veränderung der roten Blutzellen zu<br />
Verstopfung der Blutgefäße führt und<br />
damit tödlich sein k<strong>an</strong>n.“ Eine Menschenzüchtung<br />
also, die abstrakt und rationalistisch<br />
seriell nach Design und<br />
Programm fragt und die unvorstellbare,<br />
überkomplexe Fülle des Lebens vernachlässigt,<br />
wird Monstren, nicht Menschen,<br />
jedenfalls nicht Menschen nach<br />
dem heute noch gültigen und <strong>an</strong>schaulichen<br />
Bild dieser Spezies, herstellen. Der<br />
Eingriff in die Erb<strong>an</strong>lagen des Menschen<br />
unterliegt gesellschaftlichen und<br />
naturwissenschaftlichen Wertentscheidungen.<br />
„Was heute als nutzlose oder<br />
schädliche Genvari<strong>an</strong>te erscheinen<br />
mag, k<strong>an</strong>n sich morgen als Schlüssel<br />
zum Fortbest<strong>an</strong>d der Spezies Mensch<br />
erweisen. Klar scheint jedenfalls zu<br />
sein, was genetisch sinnvoll ist, k<strong>an</strong>n<br />
sich binnen kurzem verändern, und das<br />
Abnorme k<strong>an</strong>n sich über Nacht zur<br />
Norm entwickeln. Die Normalität des<br />
genetisch Abnormen macht offensichtlich<br />
Sinn. <strong>PID</strong> ohne strengste Indikationen<br />
und Keimbahnm<strong>an</strong>ipulationen<br />
beim Klonen von Menschen wären gefährliche<br />
Eingriffe in dieses Reservoir.“<br />
(K. Beyreuther)<br />
In die gesellschaftliche und wissenschaftliche<br />
Debatte um die Konkurrenz<br />
verblassender, sich spaltender und vielleicht<br />
sogar auflösender Menschenbilder<br />
hat Jürgen Habermas mit der Frage<br />
nach der Gattungsethik des Menschen<br />
ein Argument eingeführt, das in der kasuistischen<br />
deutschen Diskussion um<br />
Gesetzeslücken und Stammzellenimport<br />
unterzugehen droht. Habermas<br />
meint, dass der heutige Umg<strong>an</strong>g mit<br />
vorpersonalem menschlichen Leben<br />
Fragen eines Kalibers aufwerfe, die normale<br />
Differenzen der Denkkulturen<br />
oder auch der Kulturkreise weit überschreiten.<br />
„Sie berühren nicht diese<br />
oder jene Differenz in der Vielfalt kultureller<br />
Lebensformen, sondern intuitive<br />
Selbstbeschreibungen, unter denen<br />
wir uns als Menschen identifizieren und<br />
von <strong>an</strong>deren Lebewesen unterscheiden<br />
– also das Selbstverständnis von uns als<br />
Gattungswesen.“ Die emotionalen Reaktionen<br />
auf die verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung,<br />
auf die „Zeugung<br />
von <strong>Embryonen</strong> unter Vorbehalt“ und<br />
die „Vernutzung“ von menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong>, die ja bis zum Vorwurf „archaisch-k<strong>an</strong>nibalistischer<br />
Praktiken“<br />
reichen, drückten den „Abscheu vor<br />
etwas Obszönem“<br />
aus. Er sei zu vergleichen<br />
dem „Ekel<br />
beim Anblick der<br />
chimärischen Verletzung<br />
der Artgrenzen,<br />
die wir<br />
naiverweise für unverrückbar<br />
gehalten<br />
hatten“. Das „ethische Neul<strong>an</strong>d“,<br />
das wir beträten, bestehe „in der Verunsicherung<br />
der Gattungsidentität“.Wenn<br />
dieser Befund richtig ist, und ich habe<br />
keinen Grund, dar<strong>an</strong> zu zweifeln, d<strong>an</strong>n<br />
müssen wir vermutlich lernen einzusehen,<br />
dass es zu dem von uns (von uns<br />
Menschen) erzeugten und entwickelten,<br />
umstrittenen und geglaubten Bild<br />
des Menschen, das seit den ersten M<strong>an</strong>ifestationen<br />
menschlichen Bewusstseins<br />
in der leibhaften Identität des Gattungswesens<br />
Mensch wurzelt, eine Alternative<br />
zu geben scheint: die Auflösung<br />
dieser leibhaften Identität durch<br />
die genetische Vor- und Umprogrammierung<br />
gezüchteter Menschen. Ein<br />
von seinen Eltern oder seinen Erzeugern<br />
irreversibel und programmgemäß<br />
geschaffener Mensch wird ein <strong>an</strong>deres<br />
Verhältnis zu seiner und seiner Mitlebenden<br />
Existenz haben als ein aus der<br />
Zufallsentscheidung der Natur entst<strong>an</strong>dener<br />
Mensch. „Die Vergegenwärtigung<br />
der vorverg<strong>an</strong>genen Programmierung<br />
eigener Erb<strong>an</strong>lagen mutet uns gewissermaßen<br />
existenziell zu, das Leibsein<br />
dem Körperhaben nach- und unterzuordnen.“<br />
Das sind weitreichende Fragen und<br />
sie stellen sich jetzt. Auch wenn die<br />
Apologeten der umst<strong>an</strong>dslosen <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
des Menschen nur g<strong>an</strong>z kleine Brötchen<br />
zu backen meinen, hat ihre „Ethik des<br />
Der genetische Zufall des<br />
bunten Menschengewimmels<br />
ist etwas grundsätzlich<br />
<strong>an</strong>deres als die technisierte<br />
Pl<strong>an</strong>ung eines optimierten,<br />
eines gezüchteten Menschen.<br />
Heilens“ gegenüber diesen Grundfragen<br />
des Menschseins etwas rührend<br />
Naives <strong>an</strong> sich. Zeugung und Erzeugung<br />
von menschlichem Leben sind unterschiedliche<br />
Ursprungsweisen. Der<br />
genetische Zufall des bunten Menschengewimmels<br />
ist etwas grundsätzlich<br />
<strong>an</strong>deres als die technisierte Pl<strong>an</strong>ung<br />
eines optimierten, eines gezüchteten<br />
Menschen.<br />
Menschenzucht liegt sicher (noch)<br />
nicht in der aktuellen Absicht der seriösen<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen Embryonalzellen<br />
und gehört derzeit noch<br />
zum Propag<strong>an</strong>da-<br />
Arsenal der „Spinner“,<br />
aber, und das<br />
wird allzu oft übersehen,<br />
sie liegt in<br />
der Entwicklungstendenz<br />
dieser <strong>Forschung</strong>.<br />
„<strong>Embryonen</strong>zucht<br />
und <strong>PID</strong>“,<br />
konstatiert Habermas, „erregen die<br />
Gemüter vor allem deshalb, weil sie<br />
eine Gefahr exemplifizieren, die sich<br />
mit der Perspektive der ‚Menschenzüchtung‘<br />
verbindet. Zusammen mit<br />
der Kontingenz der Verschmelzung<br />
von jeweils zwei Chromosomensätzen<br />
verliert der Generationenzusammenh<strong>an</strong>g<br />
die Naturwüchsigkeit, die bisher<br />
zum trivialen Hintergrund unseres<br />
gattungsethischen Selbstverständnisses<br />
gehörte.“<br />
Es könnte also sein, dass durch die<br />
Fortschritte der Genetik und ihrer Anwendungsform,<br />
der Gentechnologie,<br />
die überlieferte Weise der vom Menschen<br />
ausgeübten Herrschaft über die<br />
Natur verändert wird. „Mit den hum<strong>an</strong>genetischen<br />
Eingriffen schlägt Naturbeherrschung<br />
in einen Akt der Selbstbemächtigung<br />
um, der unser gattungsethisches<br />
Selbstverständnis verändert –<br />
und notwendige Bedingungen für autonome<br />
Lebensführung und ein universalistisches<br />
Verständnis von Moral<br />
berühren könnte.“ Wer von den ihm<br />
Vor<strong>an</strong>gehenden (seinen Eltern, seinen<br />
Erzeugern, seinen Ei- und Samenspendern)<br />
nicht durch natürliche Zufallsentscheidung,<br />
sondern durch technische<br />
Intervention irreversibel genetisch programmiert<br />
ist, verliert nichts weniger als<br />
die Freiheit gegenüber dem vorherbestimmenden,<br />
auch gegenüber dem erzieherischen<br />
Willen der Eltern. Zwar ist<br />
149
D O K U M E N T A T I O N<br />
dies eine Frage, die stärker das Bewusstsein<br />
als den Org<strong>an</strong>ismus betrifft, doch<br />
ist es die Kernfrage nach dem Selbstverständnis<br />
des Menschen. „. . . warum sollen<br />
wir moralisch sein wollen“, heißt es<br />
bei Habermas, „wenn die Biotechnik<br />
stillschweigend unsere Identität als<br />
Gattungswesen unterläuft“ Anders<br />
gefragt: Warum sollten wir moralisch<br />
sein wollen, wenn wir durch Programm<br />
und Design vorbestimmt, optimiert<br />
und in eine Entwicklungsbahn gezwungen<br />
sind, der wir nicht entkommen<br />
können<br />
Mit der durch Programm und Design<br />
zerstörten Freiheit der Entscheidung<br />
könnte der „Impuls des moralischen<br />
Wollens“ aus der Welt entschwinden.<br />
„Aber das Leben im moralischen Vakuum<br />
[so nochmals Habermas], in einer<br />
Lebensform, die nicht einmal mehr moralischen<br />
Zynismus kennen würde, wäre<br />
nicht lebenswert. Dieses Urteil<br />
drückt einfach den ‚Impuls‘ aus, ein<br />
menschenwürdiges Dasein der Kälte einer<br />
Lebensform vorzuziehen, die von<br />
moralischen Rücksichten unberührt<br />
ist.“ Dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen.<br />
Die Perspektive, unter der wir<br />
diskutieren, ist die aktuelle Bedrohung<br />
nicht mehr nur des Individuums oder<br />
der Gesellschaft, sondern die Bedrohung<br />
der Gattung „Mensch“. Wir streiten<br />
nicht um neue oder veraltete wissenschaftliche<br />
Methoden, nicht um Gesetzeslücken<br />
und Gesetzesnovellierung,<br />
nicht einmal um <strong>Forschung</strong>sfreiheit<br />
und Menschenwürde, wir streiten<br />
um die bisher naturwüchsige, scheinbar<br />
alternativenlose leibhafte Basis unserer<br />
Urteile und Entscheidungen, um den<br />
Begriff des Menschen und seines Leibes,<br />
um den Begriff menschlicher Freiheit<br />
und die physischen Möglichkeiten<br />
hum<strong>an</strong>en, ethischen Wollens. Einen solchen<br />
Streit hat es in der Geschichte der<br />
Menschheit noch nicht gegeben. Hier<br />
stellen sich tatsächlich „Fragen <strong>an</strong>derer<br />
Art“, und darum lohnt sich der Streit.<br />
Die Stimme des Wissenschaftlichen<br />
Beirates der Bundesärztekammer hat<br />
in diesem Streit Gewicht.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dtsch Ärztebl 2002; 99: A 1281–1286 [Heft 19]<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. phil. Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald<br />
Römerstädter Straße 4 k, 86199 Augsburg<br />
Heft 19, 10. Mai 2002<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
„Die Argumente<br />
sind auf dem Tisch“<br />
Experten diskutierten über <strong>PID</strong>.<br />
Jetzt müsse die Politik nur noch endgültig<br />
die Entscheidung treffen und<br />
die Bundesärztekammer die Rahmenbedingungen<br />
für die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) festzurren, sagte<br />
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Direktor<br />
der Universitätsfrauenklinik Lübeck,<br />
zum Schluss einer Diskussionsver<strong>an</strong>staltung<br />
der Wochenzeitung „Die Zeit“<br />
am 29.April in Berlin.<br />
So einfach wie diese Äußerung<br />
klingt, so überzeugt müssten eigentlich<br />
am Ende der Ver<strong>an</strong>staltung die Laien<br />
unter den Zuhörern vom Nutzen der<br />
<strong>PID</strong> gewesen sein. Diesen hatten zuvor<br />
drei der vier (ausschließlich männlichen!)<br />
Gäste eingehend erläutert.<br />
Lediglich Dr. Wolfg<strong>an</strong>g Schäuble,<br />
Mitglied des CDU-Bundesvorst<strong>an</strong>des,<br />
steuerte der Meinung von Diedrich,<br />
Heft 21, 24. Mai 2002<br />
Prof. Dr. med. Claus R. Bartram, Leiter<br />
des Instituts für Hum<strong>an</strong>genetik der<br />
Universität Heidelberg, und Dr. h. c.<br />
Dr. habil. Richard Schröder, <strong>Theologische</strong><br />
Fakultät der Humboldt-Universität<br />
zu Berlin, entgegen. Er ist besorgt,<br />
dass sich die Menschheit künftig generell<br />
<strong>an</strong>maßen könnte, Kinder nach<br />
Wunsch zu schaffen. Die Pränataldiagnostik<br />
(<strong>PND</strong>), bei der behinderte Kinder<br />
in der Folge abgetrieben werden,<br />
habe sich bereits ausgeweitet.<br />
Eine solche Entwicklung werde es<br />
bei der <strong>PID</strong> nicht geben, beschwichtigte<br />
Schröder, denn diese sei nur auf wenige<br />
Indikationen und damit auf etwa 100<br />
Paare pro Jahr begrenzt. „Es ist ein Irrtum,<br />
dass die <strong>PID</strong> ein Beschaffenheitstest<br />
ist“, betonte auch Diedrich. Allein<br />
technisch könnte immer nur auf eine<br />
bestimmte Kr<strong>an</strong>kheit getestet werden.<br />
Frauen würden nur in Notsituationen<br />
die Strapazen einer In-vitro-Fertilisation<br />
bei der <strong>PID</strong> auf sich nehmen, ergänzte<br />
Bartram. Dies täte keine Frau, die<br />
normal oder mit <strong>PND</strong> gebären könne.<br />
Bei der <strong>PID</strong> gehe es nicht um das Recht<br />
auf ein gesundes Kind, sondern um das<br />
Recht auf Beh<strong>an</strong>dlung.<br />
ER<br />
Stammzellforschung<br />
Freie Bahn in Europa<br />
Die Stammzellforschung wird in Europa voraussichtlich ohne<br />
strenge Auflagen mit EU-Mitteln gefördert werden.<br />
Konflikte mit der deutschen Gesetzgebung sind programmiert.<br />
Der vor knapp einem Monat im<br />
Bundestag geschlossene Kompromiss<br />
zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen<br />
embryonalen Stammzellen könnte<br />
bereits in naher Zukunft <strong>an</strong> seine Grenzen<br />
stoßen – <strong>an</strong> europäische Grenzen.<br />
Denn von 2003 <strong>an</strong> wird in Europa die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen embryonalen<br />
Stammzellen ohne strenge Auflagen<br />
mit EU-Mitteln gefördert werden. Dies<br />
sieht das sechste Rahmenforschungsprogramm<br />
der EU vor, das das Europaparlament<br />
in Straßburg am 15. Mai in<br />
zweiter und abschließender Lesung verabschiedet<br />
hat.<br />
17,5 Milliarden Euro sollen bis 2006<br />
für die <strong>Forschung</strong>sförderung von der<br />
EU bereitgestellt werden, davon etwa<br />
zwei Milliarden für die Biotechnologie.<br />
Damit können auch Forscher gefördert<br />
werden, die jetzt oder künftig aus<br />
„überzähligen“ menschlichen <strong>Embryonen</strong><br />
weitere Stammzelllinien gewinnen.<br />
So will es auch die Mehrzahl der europäischen<br />
Länder. Im Ausschuss der<br />
Ständigen Vertreter der Länder plä-<br />
150
D O K U M E N T A T I O N<br />
dierten neben Deutschl<strong>an</strong>d lediglich<br />
Österreich und Italien dafür, die Förderung<br />
auf Projekte <strong>an</strong> bestehenden<br />
Stammzelllinien zu beschränken.<br />
Doch nach monatel<strong>an</strong>gem Streit zu<br />
den ethischen Fragen verzichtete das<br />
EU-Parlament auf seine ursprüngliche<br />
Forderung nach strengen ethischen<br />
Grenzen und beugte sich damit dem<br />
Ministerrat, der diese abgelehnt hatte.<br />
Schriftlich fixiert wurden somit nur allgemeine<br />
ethische Erwägungen. So soll<br />
die Bioethik-Konvention des Europarates<br />
eingehalten werden. Die Europäische<br />
Kommission gab allerdings zu Protokoll,<br />
dass sie die Genehmigungspraxis<br />
restriktiver gestalten wolle.Die konkreten<br />
Auswirkungen dieser Ankündigung<br />
sind jedoch fraglich, denn diese Zusage<br />
ist rechtlich nicht bindend. „2005 wird<br />
eine neue Kommission eingesetzt. Diese<br />
muss sich d<strong>an</strong>n nicht <strong>an</strong> die Vorgabe<br />
halten“, erläutert Gentechnik-Experte<br />
Dr. med. Peter Liese (CDU), Mitglied<br />
des Europäischen Parlaments. Voraussichtlich<br />
wird sich die Kommission<br />
(zunächst) <strong>an</strong> den Regelungen orientieren,<br />
die das Europäische Parlament<br />
bei der ersten Lesung am 14. Dezember<br />
2001 vorgeschlagen hatte. D<strong>an</strong>ach sollen<br />
weder die Herstellung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken noch <strong>Forschung</strong>saktivitäten,<br />
die auf das repro-<br />
Enquete-Kommission: Klares Nein zur <strong>PID</strong><br />
Eine deutliche Mehrheit der Enquete-Kommission des Bundestages „Recht und<br />
Ethik der modernen Medizin“ plädierte dafür, das bestehende Verbot der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) beizubehalten. Lediglich eine Minderheit von drei<br />
Kommissionsmitgliedern, darunter die Vorsitzende der Kommission, Margot von<br />
Renesse (SPD), hält eine Zulassung zumindest in Einzelfällen für vertretbar. Der<br />
Bundestag wird voraussichtlich am 14. Juni über das Thema debattieren. Mit einer<br />
Entscheidung ist jedoch nicht mehr in dieser Legislaturperiode zu rechnen. Ihre<br />
Empfehlung zur <strong>PID</strong> legte die Enquete-Kommission in ihrem Abschlussbericht vor,<br />
den sie am 14. Mai in Berlin <strong>an</strong> Bundestagspräsident Wolfg<strong>an</strong>g Thierse (SPD) übergab.<br />
Darin empfiehlt die Kommission unter <strong>an</strong>derem, gentechnische Untersuchungen<br />
am Menschen in einem umfassenden Gentechnikgesetz zu regeln.<br />
Mit dem Bericht endet die Arbeit der Enquete-Kommission. Der Deutsche Bundestag<br />
hatte sie mit Zustimmung aller Fraktionen am 24. März 2000 mit dem Auftrag<br />
eingesetzt, Empfehlungen für die ethische Bewertung von medizinischen Zukunftsfragen<br />
zu erarbeiten. Die Kommission hat in diesem Zeitraum zwei Teilberichte<br />
vorgelegt.Der erste beschäftigte sich mit dem Schutz des geistigen Eigentums<br />
in der Biotechnologie und der Umsetzung der Biopatent-Richtlinie der Europäischen<br />
Union in deutsches Recht. Der zweite Zwischenbericht widmete sich der<br />
Stammzellforschung.<br />
Der Kommission gehörten dreizehn parlamentarische Mitglieder sowie dreizehn<br />
Sachverständige <strong>an</strong>. Sie plädierten bei der Übergabe des Abschlussberichtes<br />
dafür, dass auch der nächste Bundestag wieder eine Enquete-Kommission zur<br />
Bioethik einsetzen solle.<br />
ER<br />
duktive Klonen von Menschen zielen<br />
oder das menschliche Erbmaterial verändern,<br />
mit EU-Mitteln gefördert werden.<br />
Auch das therapeutische Klonen<br />
soll nicht fin<strong>an</strong>ziert werden.<br />
Im Juni wird der Rat der EU-<strong>Forschung</strong>sminister<br />
das spezifische Programm<br />
des 6. <strong>Forschung</strong>srahmenprogramms<br />
erarbeiten – ohne Mitspracherecht<br />
des Parlaments. D<strong>an</strong>n wird es darauf<br />
<strong>an</strong>kommen, dass Deutschl<strong>an</strong>d auf<br />
einer Präzisierung der Regelungen besteht.<br />
Bisher hat Bundesforschungsministerin<br />
Edelgard Bulmahn (SPD) dies<br />
auch konsequent get<strong>an</strong>, doch die Erklärung<br />
der Ministerin wurde lediglich<br />
zur Kenntnis genommen. „Wir vertreten<br />
auch weiterhin strikt und ohne<br />
Kompromisse die Position des Deutschen<br />
Bundestages“, sagt jetzt ihre<br />
Sprecherin. Eine „Rückfallposition“<br />
der Ministerin gäbe es nicht. Das Papier<br />
aus dem <strong>Forschung</strong>sministerium, das eine<br />
solche erwägt und das vor einigen<br />
Wochen <strong>an</strong> die Öffentlichkeit gedrungen<br />
war, sei lediglich der Entwurf eines<br />
Fachreferenten und weder mit der Ministerin<br />
abgestimmt noch deren Strategie.<br />
Über diese schweigt m<strong>an</strong> jedoch im<br />
Bundesforschungsministerium.<br />
Beschließt der Ministerrat endgültig,<br />
die Stammzellforschung ab 2003 ohne<br />
Beschränkungen zu fördern, sind Konflikte<br />
mit dem neuen deutschen Stammzellgesetz,<br />
das der Bundestag soeben<br />
verabschiedet hat, programmiert. D<strong>an</strong>ach<br />
darf in Deutschl<strong>an</strong>d nur <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen geforscht werden,die<br />
vor dem 1. J<strong>an</strong>uar 2002 im Ausl<strong>an</strong>d hergestellt<br />
wurden. Zudem dürfen deutsche<br />
Forscher auch im Ausl<strong>an</strong>d nur <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzellen forschen,die der<br />
deutschen Stichtagsregelung entsprechen.<br />
Doch: „Ob deutsche Forscher im<br />
Ausl<strong>an</strong>d <strong>an</strong> <strong>Forschung</strong>sarbeiten <strong>an</strong> frisch<br />
hergestellten Stammzellen beteiligt sind,<br />
wird niem<strong>an</strong>d genau kontrollieren können“,<br />
vermutet Dr. med. Wolfg<strong>an</strong>g Wodarg<br />
(SPD), Mitglied der Enquete-<br />
Kommission „Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin“ des Bundestages.<br />
Probleme bei der Kooperation<br />
Auch der Bonner Stammzellforscher<br />
Prof. Dr. med. Oliver Brüstle beklagt<br />
eine mögliche Kollision der deutschen<br />
Gesetzgebung mit dem 6. <strong>Forschung</strong>srahmenprogramm<br />
der Europäischen<br />
Union. „Das Stammzellgesetz behindert<br />
die Zusammenarbeit mit europäischen<br />
Labors, die gerade im Begriff<br />
sind, neue Stammzelllinien zu<br />
etablieren“, befürchtet er. Hervorragende<br />
Forscher würden nicht nach<br />
Deutschl<strong>an</strong>d kommen. Da die meisten<br />
der bisl<strong>an</strong>g gut charakterisierten Zelllinien<br />
aus Israel, Australien oder den<br />
USA stammten, erklärt Brüstle, würden<br />
deutsche Forscher quasi gezwungen,<br />
auf diesem Gebiet mit außereuropäischen<br />
Partnern zusammenzuarbeiten.<br />
Dr. med. Eva A. Richter<br />
151
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 25, 21. Juni 2002<br />
Arzt-Patient-Beziehung aus christlicher Sicht<br />
Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit<br />
Das christliche Menschenbild ist geprägt von der Vorstellung, Kr<strong>an</strong>ksein<br />
und Kr<strong>an</strong>kheit seien Teil eines Lebensvorg<strong>an</strong>ges. Das Heilen ist d<strong>an</strong>ach ein Akt,<br />
der dem Leben hilft, und nicht die Reparatur eines „Maschinendefektes“.<br />
Eckhard Nagel<br />
Auf ein christlich geprägtes Menschenbild<br />
geht die Gründung von<br />
Kr<strong>an</strong>kenhäusern, Betreuungsstationen,die<br />
Versorgung akut in Not Geratener,<br />
die Unterbrechung kriegerischer<br />
H<strong>an</strong>dlungen zur Versorgung Verletzter<br />
und letztlich auch die tiefere Begründung<br />
für die Solidarität mit Kr<strong>an</strong>ken innerhalb<br />
einer Gesellschaft zurück. Das<br />
so gen<strong>an</strong>nte ärztliche Ethos bezieht sich<br />
auch heute noch gern auf seine hippokratische<br />
Tradition, die eine gewisse<br />
Rechtssicherheit im Vertragsverhältnis<br />
zwischen Arzt und Patient vermittelte<br />
und den medizinischen H<strong>an</strong>dlungsauftrag<br />
mit der Pflicht verb<strong>an</strong>d, primär um<br />
das Wohl des Kr<strong>an</strong>ken bemüht zu sein<br />
und in jedem Fall für das Leben einzustehen.<br />
Der Ged<strong>an</strong>ke der Hinwendung<br />
zum leidenden Menschen jedoch, der<br />
den Kr<strong>an</strong>ken nicht als Vertragspartner,<br />
den es sachgemäß und höflich zu beh<strong>an</strong>deln<br />
gilt, sondern als Mitmenschen begreift,<br />
geht auf die christliche Tradition<br />
zurück.<br />
Die Kernfrage nach der menschlichen<br />
Existenz lässt sich trotz aller wissenschaftlicher<br />
Fortschritte und aller intellektueller<br />
Fähigkeit nicht erkenntnistheoretisch<br />
erklären, stattdessen betrachtet<br />
m<strong>an</strong> einen Ausschnitt.So dienen<br />
neue biologische Erkenntnisse als Mosaiksteine<br />
beim Ausfüllen der biochemischen<br />
und physiologischen L<strong>an</strong>dkarte<br />
der Existenz. Sir John Eccles, Nobelpreisträger<br />
für Medizin und der wohl bek<strong>an</strong>nteste<br />
Neurophysiologe des zurückliegenden<br />
Jahrhunderts, ist es zu verd<strong>an</strong>ken,<br />
dass die Strukturen von Rückenmark,<br />
spinaler Ebene, Hirnstamm,<br />
Kleinhirn, Mittelhirn und Großhirnrinde<br />
heute ein funktionelles Bild ergeben,<br />
das viele Kr<strong>an</strong>kheiten im neurologischen<br />
Bereich besser erklären hilft. Eindrucksvoll<br />
ist sein Fazit nach fast 50-<br />
jähriger wissenschaftlicher Tätigkeit, in<br />
dem er feststellt, dass bei allen Erkenntnissen<br />
aus Experiment und Beobachtung,<br />
die Individualität des Einzelnen,<br />
der Kontext zwischen Geist und Psyche<br />
oder ein Hinweis für den Sitz der Seele<br />
im Körper nicht zu finden war. Auch 25<br />
Jahre nach Eccles gibt es solche Hinweise<br />
nicht. Ebenso muss im Hinblick auf<br />
den Anf<strong>an</strong>g und das Ende des menschlichen<br />
Lebens konstatiert werden, dass<br />
die Biologie nur einen Teilaspekt erklärt.<br />
Mit dieser Feststellung ist keineswegs<br />
verneint, dass bestimmte Zeitpunkte in<br />
der Existenz des Menschen medizinisch<br />
definierbar sind. So ist ohne Frage die<br />
Bestimmung des Todeszeitpunktes aus<br />
naturwissenschaftlicher, erfahrungspsychologischer<br />
und letztlich gesellschaftlich<br />
konventioneller<br />
Begründung heraus<br />
möglich und heute<br />
auch mit dem eingetretenen<br />
Hirn- und<br />
Herztod festgelegt.<br />
Für die Frage nach dem Beginn des<br />
menschlichen Lebens ließe sich in Analogie<br />
die Verschmelzung von Ei und Samenzelle<br />
als Zeitpunkt benennen. Beide<br />
Zeitpunkte akzeptieren, dass sowohl<br />
vorher als auch nachher bestimmte biologische<br />
und darüber hinausgehende,<br />
nicht definierbare Prozesse stattfinden,<br />
die zum Anf<strong>an</strong>g oder Ende des menschlichen<br />
Lebens gehören. Die Akzept<strong>an</strong>z<br />
von spezifischen Zeitpunkten für das<br />
Ende oder den Anf<strong>an</strong>g des Lebens bedeutet<br />
in sich nicht eine Biologiesierung<br />
oder Materialisierung der menschlichen<br />
Existenz.<br />
Dennoch führt die zeitliche Fixierung<br />
des Lebensbeginns und des Lebensendes<br />
Die L<strong>an</strong>gfassung des Aufsatzes im Internet:<br />
www.aerzteblatt.de, Rubrik: DÄ plus/Zusatzinfo<br />
Das Leben entwickelt sich<br />
einem Ziel entgegen; alles<br />
ist dieser Prozesshaftigkeit<br />
unterworfen.<br />
zu wichtigen Schlussfolgerungen für den<br />
Umg<strong>an</strong>g mit dem Individuum. Besondere<br />
Beachtung ist der fraglichen Einheit<br />
oder Getrenntheit der geistigen beziehungsweise<br />
körperlichen Existenz entgegenzubringen.<br />
Wird beim Ausfall aller<br />
Hirnfunktionen von einem Ausein<strong>an</strong>derbrechen<br />
der körperlichen Koordination<br />
und geistigen Integration gesprochen<br />
und somit vom Ende des materiellen Lebens,<br />
bedeutet dies nicht, dass darin eine<br />
strenge Trennungslinie zwischen Körper<br />
und Geist zum Ausdruck kommt. Der<br />
Mensch ist aus christlicher Sicht ein von<br />
Gott geschaffener, eine geistlich leibliche,<br />
gewollte Daseinsform und verkörpert<br />
diese Einheit aus Geist und Materie.<br />
Gott steht der geistigen Dimension des<br />
Menschen in keiner Weise näher als der<br />
leiblichen.Der Schöpfungsglaube,<br />
davon<br />
überzeugt, dass alles,<br />
was Gott geschaffen<br />
hat, positiv bestimmt<br />
ist, konstituiert den<br />
Menschen als ein Individuum, das seinen<br />
Sinn in sich selbst trägt.<br />
In diesem Sinne ist festzuhalten, dass<br />
das Leben eine l<strong>an</strong>gsame Geburt zum<br />
Leben darstellt. Das Leben entwickelt<br />
sich einem Ziel entgegen; alles ist dieser<br />
Prozesshaftigkeit unterworfen. Dass der<br />
Körper dabei ungeheure Potenziale des<br />
Ausgleichs und der Regeneration aufweist,<br />
gehört zum Wunder des Lebens:<br />
Aus der Vereinigung von Ei- und Samenzelle<br />
entsteht ein spezifisches Genom, in<br />
seiner Individualität einzigartig, zumindest<br />
in seiner endgültigen Ausprägung.<br />
Dieses Entwicklungspotenzial verlässt<br />
den Menschen in vielerlei Hinsicht nicht<br />
mehr und ist häufig die Grundlage therapeutischen<br />
H<strong>an</strong>delns, zum Beispiel im<br />
Hinblick auf die Regenerationsfähigkeit<br />
nach chirurgischen Eingriffen.<br />
152
D O K U M E N T A T I O N<br />
Während die Gesundheit heute Voraussetzung<br />
für das Bestehen in einer<br />
durch Konkurrenz gekennzeichneten<br />
sozialen Situation ist,k<strong>an</strong>n das Verständnis<br />
dessen, was als Kr<strong>an</strong>ksein <strong>an</strong>gesehen<br />
wird, sehr unterschiedlich ausfallen: In<br />
der kulturellen Vorstellung bedeutet<br />
Kr<strong>an</strong>kheit eine Störung übergreifender<br />
Art. Mit übergreifender Art ist gemeint,<br />
dass nicht nur die körperlichen Aspekte<br />
dazugehören, sondern, dass auch zum<br />
Der homo compatiens – das<br />
Gegenüber in Pflege und<br />
Medizin – hat die Aufgabe,<br />
als Mitfühlender und<br />
Geduldiger dem Erleidenden<br />
und Erduldenden<br />
Hilfestellung zu geben.<br />
Beispiel seelische<br />
Momente eine wichtige<br />
Rolle spielen.<br />
Dass auch ökologische<br />
und soziale Faktoren<br />
kr<strong>an</strong>kheitsauslösend<br />
sein können,<br />
gehört schon zu den<br />
Erkenntnissen Rudolf<br />
Virchows. Der<br />
H<strong>an</strong>nover<strong>an</strong>er Internist und Philosoph<br />
Fritz Hartm<strong>an</strong>n unterscheidet zwischen<br />
dem homo patiens und homo compatiens.<br />
Als gesund charakterisiert er einen<br />
Menschen, der mit oder ohne nachweisbare<br />
Mängel seiner Leiblichkeit allein<br />
oder mithilfe <strong>an</strong>derer dazu fähig ist, seine<br />
persönlichen Anlagen und Lebensentwürfe<br />
so zu verwirklichen, dass er am<br />
Ende sagen k<strong>an</strong>n: Dies war mein Leben,<br />
meine Kr<strong>an</strong>kheit, mein Sterben. Der homo<br />
compatiens – das Gegenüber in Pflege<br />
und Medizin – hat die Aufgabe, als<br />
Mitfühlender und Geduldiger dem Erleidenden<br />
und Erduldenden Hilfestellung<br />
zu geben.<br />
So ist denn auch der erste Satz des<br />
Genfer Ärztegelöbnisses in Fortschreibung<br />
des hippokratischen Credos formuliert<br />
als: „Die Gesundheit des Patienten<br />
wird meine erste Sorge sein.“ Christus<br />
als Heilender, als derjenige, der sich<br />
den Entrechteten, den Hilflosen, den<br />
Kr<strong>an</strong>ken, Schwachen und Alten vordringlich<br />
zugew<strong>an</strong>dt hat, hat dieses Prinzip<br />
neu begründet, hat aus dem Wohlwollenprinzip<br />
die Hinwendung zum leidenden<br />
Menschen geformt und damit<br />
ärztliches H<strong>an</strong>deln unveränderlich geprägt.<br />
Das begründende ethische Prinzip<br />
ist das der Nächstenliebe, so wie es sich<br />
in der Bergpredigt in der Formulierung<br />
findet: Alles nun, was Ihr wollt, dass<br />
Euch die Leute tun sollen, das tut ihnen<br />
auch! (Matthäus 7, 12). In der kritischen<br />
Philosophie K<strong>an</strong>ts wird hieraus der kategorische<br />
Imperativ auch in der Formulierung<br />
dahingehend, dass m<strong>an</strong> nach derjenigen<br />
Maxime h<strong>an</strong>deln solle, von der<br />
m<strong>an</strong> wolle, dass sie ein allgemeines Gesetz<br />
werde. K<strong>an</strong>t spricht von einer praktischen<br />
Notwendigkeit, die sich aus der<br />
Forderung der Vernunft ableitet. Sie ist<br />
Ausdruck der „Autonomie der praktischen<br />
Vernunft“ und zeigt die Freiheit<br />
des Einzelnen.<br />
Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit<br />
werden zu konstituierenden Elementen<br />
der menschlichen<br />
Existenz, zur<br />
Richtschnur medizinethischen<br />
Verhaltens<br />
und formen damit<br />
das Menschenbild<br />
in der Arzt-Patient-Beziehung.<br />
Die<br />
Medizin wird als<br />
Mittel, dem Nächsten<br />
zu dienen,gesehen.Ärztliche Therapiefreiheit<br />
im wohlverst<strong>an</strong>denen Sinne<br />
findet hier ihren Ursprung. Das Leben<br />
wird verst<strong>an</strong>den als ein Geschenk, nicht<br />
im Sinne eines einmaligen Aktes, sondern<br />
als ein sich immer wiederholender<br />
Prozess – wissend, dass naturgemäß der<br />
äußere Mensch verfällt, während, wie<br />
Paulus es beschreibt, der innere sich von<br />
Tag zu Tag erneuert: „Denn was sichtbar<br />
ist, dass ist vergänglich, das Unsichtbare<br />
ist ewig“ (2. Korinther 4,18).<br />
Die Entwicklungen moderner Naturwissenschaften<br />
haben die Praxis des medizinischen<br />
H<strong>an</strong>delns bei Diagnose und<br />
Therapie grundsätzlich verändert. Die<br />
Frage aber stellt sich,ob sich dadurch der<br />
ärztliche Beh<strong>an</strong>dlungsauftrag<br />
oder<br />
gar das Bild des Patienten<br />
und des Arztes<br />
gew<strong>an</strong>delt haben.<br />
Die Diskussion um<br />
gentechnologische<br />
Entwicklungen, die Stammzellforschung<br />
oder die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
stellen den vorläufigen Höhepunkt dieser<br />
Anfrage dar:Gibt es einen Wertew<strong>an</strong>del<br />
in den Rollen von Arzt und Patient<br />
Die so gen<strong>an</strong>nte Mech<strong>an</strong>isierung der<br />
ärztlichen Theorie und Praxis hat nicht<br />
mit Gentechnik und Stammzellforschung<br />
begonnen, aber sie steht in einem<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g mit dem engsten Forschritt<br />
medizinischer Wissenschaft und<br />
Technik: Was den Fortschritt getragen<br />
hat, hat auch die Gefährdung gebracht.<br />
Ohne eine moralische<br />
Identität, ohne die<br />
Befolgung des kategorischen<br />
Imperatives wäre<br />
H<strong>an</strong>dlung gleich Mech<strong>an</strong>ik.<br />
Die Vorstellung, die Descartes nicht unwesentlich<br />
beeinflusst hat, nämlich, dass<br />
der Mensch als eine hoch differenzierte<br />
Apparatur zu verstehen sei, war und ist<br />
für das wissenschaftlich-medizinische<br />
Denken eine große Versuchung.<br />
An den Grundprinzipien des Lebens<br />
verändert sich dadurch aber nichts. Die<br />
heute divergent diskutierten Darstellungen<br />
menschlichen Selbstverständnisses<br />
gehen auf eine <strong>an</strong>dere Veränderung<br />
zurück: Fr<strong>an</strong>cis Bacon und David Hume<br />
waren es, die eine zunehmend <strong>an</strong>thropozentrische<br />
Sichtweise des Denkens mit<br />
dem Empirismus einführten. Sie haben<br />
damit das bürgerliche Selbstverständnis<br />
und besonders auch das Selbstverständnis<br />
der <strong>an</strong>gelsächsischen Wissenschaft<br />
nachhaltig geprägt. Die <strong>an</strong>thropozentrische<br />
Welt<strong>an</strong>schauung war die ideologische<br />
Selbstrechtfertigung des die Welt<br />
erobernden, die Natur ausbeutenden<br />
und sich selbst in eine Gott ähnliche Position<br />
befördernden europäischen M<strong>an</strong>nes<br />
des 19. und 20. Jahrhundert.<br />
Dies gilt auch sicher für das kontinental<br />
europäische Denken und hat auch in<br />
den kirchlichen Überlegungen der damaligen<br />
Zeit bisweilen Rückhalt gefunden.Aber<br />
die Diskrep<strong>an</strong>z zu der Welt<strong>an</strong>schauung,<br />
die den Menschen nicht im<br />
Mittelpunkt, sondern als Teil eines<br />
G<strong>an</strong>zen sieht, hat sich nachhaltig verfestigt.<br />
D<strong>an</strong>ach hat jeder Mensch und auch<br />
jedes Lebewesen in der Natur sein Lebensrecht<br />
g<strong>an</strong>z unabhängig von seiner<br />
Tüchtigkeit, seiner Gesundheit und<br />
Konkurrenzfähigkeit. Das christliche<br />
Menschenbild ist geprägt<br />
durch die Vorstellung,<br />
Kr<strong>an</strong>ksein<br />
und Kr<strong>an</strong>kheit seien<br />
Teil eines Lebensvorg<strong>an</strong>ges<br />
und das Heilen<br />
ein Akt, der dem<br />
Leben hilft, nicht die Reparatur eines<br />
Maschinendefektes.<br />
Es gehört wohl zu den tiefen ev<strong>an</strong>gelischen<br />
Einsichten, dass Gott selbst <strong>an</strong><br />
der Geschöpflichkeit des Menschen leidet<br />
und dass sich seine Schöpferkraft in<br />
der Unerschöpflichkeit seiner Leidensfähigkeit<br />
zeigt. So paradox dies m<strong>an</strong>chmal<br />
für Andersgläubige sein mag: Gottes<br />
Leidenskraft ist Zeichen seiner Stärke.<br />
Damit wird er wahrhaftig zum<br />
Ebenbild unserer Patientinnen und Patienten.<br />
Gott ist Schöpfer und Erlöser<br />
153
D O K U M E N T A T I O N<br />
zugleich. Er ist frei und befähigt den<br />
Menschen zur Freiheit, er verpflichtet<br />
ihn dazu. Freiheit bedeutet nicht Autonomie,<br />
so wie K<strong>an</strong>t es in seiner kritischen<br />
Philosophie verst<strong>an</strong>den hat.Aber<br />
auch der autonome Mensch findet zu<br />
den göttlichen Geboten in der unbedingten<br />
Geltung der sittlichen Gesetze.<br />
Ohne eine moralische Identität, ohne<br />
die Befolgung des kategorischen Imperatives<br />
wäre H<strong>an</strong>dlung gleich Mech<strong>an</strong>ik.<br />
Die Freiheit und die Würde des<br />
Menschen setzen Grenzen für H<strong>an</strong>deln<br />
und Forschen. Diese Grenzen sind maßgeblich,<br />
weil sie den Menschen schützen<br />
und ihm gleichzeitig vollen Respekt<br />
entgegenbringen.<br />
Das Neue Testament hat zu einer<br />
Überwindung der Opferrituale geführt.<br />
Es wird d<strong>an</strong>ach eine Form menschlicher<br />
Lebensbewältigung ermöglicht, die darauf<br />
verzichtet, Lebensgewinn und<br />
Angstreduktion durch Ausgrenzung<br />
und Ausnutzung <strong>an</strong>derer zu erl<strong>an</strong>gen.<br />
Trotz schlimmer Grausamkeit der (Kirchen-)Geschichte<br />
ist dieses Grundverständnis<br />
doch wach geblieben. Frühformen<br />
des menschlichen Lebens zu nutzen,<br />
um potenzielle Heilungsch<strong>an</strong>cen<br />
zukünftiger Patienten zu verbessern, erscheint<br />
in diesem Kontext als ein Rückfall<br />
in ein Verständnis, das Opfer für die<br />
Bewältigung der Ängste für nötig erachtet.<br />
Dass dazu unter Umständen weder<br />
Eltern noch Vormünder, geschweige<br />
denn wissenschaftlich Interessierte<br />
berechtigt sind, hat der Göttinger Philosoph<br />
Günter Patzig formuliert: Es besteht<br />
die Pflicht, Interessen der Schutzbefohlenen<br />
wahrzunehmen, und es besteht<br />
ein Verbot, das <strong>an</strong>vertraute Leben<br />
aufzuopfern oder unter Gemeinschaftsinteressen<br />
aufzugeben. Deshalb sei es<br />
legitim, unter Umständen wissenschaftlichen<br />
Fortschritt einzuschränken, zumindest<br />
jedoch eine Verl<strong>an</strong>gsamung des<br />
Fortschritts in Kauf zu nehmen.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 1730–1732 [Heft 25]<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel<br />
Direktor des Instituts für Medzinm<strong>an</strong>agement<br />
und Gesundheitswissenschaften<br />
Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth<br />
E-Mail: eckhard.nagel@uni-bayreuth.de<br />
Leiter des Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationszentrums<br />
Klinikum Augsburg, 86156 Augsburg<br />
E-Mail: eckhard.nagel@klinikum-augsburg.de<br />
Heft 28-29, 15. Juli 2002<br />
Eugenik und Euth<strong>an</strong>asie<br />
Aktuelle Verg<strong>an</strong>genheit<br />
Ein Projekt der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin beschäftigt<br />
sich mit der Rolle von Arzt und Medizin im Nationalsozialismus.<br />
Der l<strong>an</strong>ge Atem der Eugenik, der<br />
positiven („Verbesserung der<br />
Rasse“) wie der negativen („Vernichtung<br />
lebensunwerten Lebens“)<br />
weht auch in das 21. Jahrhundert hinein.<br />
Mit der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
kommt der Wunsch nach dem designten<br />
Kind auf. Die höchstrichterliche Rechtsprechung<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d hat das<br />
„Kind als Schaden“ <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt. In den<br />
Niederl<strong>an</strong>den und in Belgien wurde die<br />
Tötung auf Verl<strong>an</strong>gen freigegeben.<br />
Von der Theorie bis zur Untat<br />
Zu solchen Parallelen kam der Berliner<br />
Medizinhistoriker Prof. Dr. phil. Dr.<br />
med. Rolf Winau. Er sprach auf einer<br />
Ver<strong>an</strong>staltung der Kassenärztlichen<br />
Vereinigung (KV) Berlin am 26. Juni.<br />
Sein Thema: Der l<strong>an</strong>ge Atem der Eugenik<br />
– von der Eugenik der Weimarer<br />
Zeit bis zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Er zog die große Linie von Darwin<br />
und seinem deutschen Gefolgsm<strong>an</strong>n<br />
Ernst Haeckel bis hin zur Umsetzung<br />
der Theorien: den Untaten der Nationalsozialisten.<br />
Dar<strong>an</strong> waren nicht nur<br />
NS-Ideologen und -funktionäre, sondern<br />
auch eine <strong>an</strong>sehnliche Anzahl von<br />
Ärzten und Wissenschaftlern beteiligt.<br />
Schon Haeckel hat den Ged<strong>an</strong>ken einer<br />
Züchtung hin zu einem höheren<br />
Kulturvolk vorgebracht. Er verteidigte<br />
die Tötung von neugeborenen verkrüppelten<br />
Kindern. Diese dürfe „vernünftigerweise<br />
nicht unter den Begriff des<br />
Mordens fallen, wie es noch in unseren<br />
modernen Gesetzbüchern geschieht.<br />
Vielmehr müssen wir dieselbe als<br />
zweckmäßige, sowohl für die Beteiligten<br />
als auch für die Gesellschaft nützliche<br />
Maßregel billigen.“ Nützlichkeitserwägungen<br />
haben auch die Nationalsozialisten<br />
getrieben, nicht allein die<br />
bloße Ideologie. So hat Reichsärzteführer<br />
Wagner 1935 auf dem Parteitag der<br />
NSDAP in Nürnberg die ungeheuere<br />
Belastung des Staatshaushaltes durch<br />
Geisteskr<strong>an</strong>ke und Minderwertige beklagt.<br />
Winau berichtete, dass die Kostenfrage<br />
sogar Eing<strong>an</strong>g in die Schulbücher<br />
f<strong>an</strong>d, wo in den Rechenaufgaben<br />
eine neue Rubrik Erb- und Rassenkunde<br />
erschien.<br />
Der Weg von der Erwägung zur Tat<br />
war d<strong>an</strong>ach nur noch kurz. Er führte direkt<br />
zur Euth<strong>an</strong>asie.Die Euth<strong>an</strong>asiediskussion<br />
hatte allerdings bereits vor der<br />
NS-Zeit eingesetzt und den Boden bereitet.<br />
In dem berühmt-berüchtigten<br />
Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten<br />
Lebens“ des Juristen<br />
Karl Binding und des Psychiaters Alfred<br />
Hoche aus dem Jahre 1920 wurde<br />
festgestellt, es gebe menschliches Leben,<br />
das weder für den Einzelnen noch<br />
für die Gesellschaft von Wert sei.<br />
Winau erinnerte in seinem Vortrag<br />
<strong>an</strong> die zwei groß <strong>an</strong>gelegten, mit deutscher<br />
bürokratischer Gründlichkeit<br />
durchgeführten Tötungsaktionen: Die<br />
Kindereuth<strong>an</strong>asie in den so gen<strong>an</strong>nten<br />
Kinderfachabteilungen sowie die Aktion<br />
T4. In beiden Fällen ging die Erfassung<br />
der betroffenen Patientengruppen<br />
dem Morden voraus. Der Reichsausschuss<br />
zur wissenschaftlichen Erfassung<br />
erb- und <strong>an</strong>lagebedingter schwerer<br />
Leiden ließ ab 1939 Kinder ausfindig<br />
machen, die <strong>an</strong> Idiotie, Mongolismus,<br />
Hydrozephalus und <strong>an</strong>deren Missbildungen<br />
litten. Ähnlich die Vorbereitung<br />
zu T4: Von den Anstalten waren<br />
ab 1939 alle Patienten zu melden, die<br />
<strong>an</strong> Schizophrenie, Epilepsie, Paralyse,<br />
Schwachsinn, Enzephalitis oder Huntingtonscher<br />
Chorea litten und nicht<br />
oder nur mit mech<strong>an</strong>ischen Arbeiten<br />
beschäftigt werden konnten. Auch Kriminelle<br />
und Patienten, die sich schon<br />
länger als fünf Jahre in der Anstalt bef<strong>an</strong>den,<br />
sollten gemeldet werden.<br />
154
D O K U M E N T A T I O N<br />
Schematische Begutachtung<br />
Der Schein von Wissenschaftlichkeit<br />
wurde gewahrt, die Diagnose, sprich, die<br />
Entscheidung über Leben und Tod,stellten<br />
Ärzte. In den „Kinderfachabteilungen“<br />
wurden mindestens 5 000 Kinder<br />
umgebracht.Bei T4 wurden 70 000 Menschen<br />
ermordet.Als die Aktion 1941 eingestellt<br />
werden musste – nachdem sich<br />
die Kirchen, aber auch einzelne Ärzte<br />
dagegen w<strong>an</strong>dten und in der Bevölkerung<br />
Unruhe entst<strong>an</strong>d –, lagen noch<br />
30 000 begutachtete Meldebögen vor,<br />
die bei einer Wiederaufnahme der Aktion<br />
hätten verw<strong>an</strong>dt werden können. Die<br />
Begutachtungen durch Ärzte verliefen<br />
schematisch. Mit Plus oder Minus wurde<br />
das Urteil gesprochen.<br />
Auch nach der Beendigung von T4<br />
wurden die Tötungsaktionen fortgesetzt.<br />
Es gab Sonderaktionen ab 1942<br />
mit mindestens 20 000 Opfern und<br />
schließlich die wilde Euth<strong>an</strong>asie mit<br />
mehr als 25 000 Ermordeten. Winau<br />
machte darauf aufmerksam, dass der<br />
Begriff wilde Euth<strong>an</strong>asie irreführend<br />
ist. Tatsächlich hätten neuere Untersuchungen<br />
gezeigt, dass es sich auch hier<br />
um eine zentral gesteuerte Form des<br />
Patientenmords geh<strong>an</strong>delt habe.<br />
Parallel zur negativen Eugenik in<br />
Gestalt der Ermordung von „Ballastexistenzen“<br />
lief die positive Eugenik,<br />
also die Förderung erwünschter Rassenmerkmale<br />
und die Unterdrückung<br />
unerwünschter. Menschen mit unerwünschten<br />
Eigenschaften wurden sterilisiert.<br />
Zw<strong>an</strong>gssterilisationen, auch diese<br />
formal korrekt gesetzlich geregelt,<br />
wurden bei mehr als 350 000 Menschen<br />
vorgenommen. Als Indikation – auch<br />
die wurde von Ärzten gestellt – wurde<br />
in mehr als der Hälfte aller Fälle erblicher<br />
Schwachsinn <strong>an</strong>gegeben.<br />
Mit dem Ende des NS-Staates endet<br />
zwar auch das Morden. Beteiligte Wissenschaftler<br />
konnten aber zum Teil l<strong>an</strong>ge<br />
unbehelligt weiterarbeiten. Das Gesetz<br />
zur Verhütung erbkr<strong>an</strong>ken Nachwuchses,<br />
auf dessen Basis sterilisiert<br />
wurde, wurde nicht als Nazigesetz <strong>an</strong>gesehen.<br />
Die Opfer erhielten erst 1980 aus<br />
einem Fonds pauschale Entschädigungen.<br />
Schon in den 50er-Jahren wurde ein<br />
neues Sterilisationsgesetz gefordert, teilte<br />
Winau mit, und noch 1961 bef<strong>an</strong>d der<br />
Berliner Genetiker H<strong>an</strong>s Nachtsheim:<br />
„Ein Eugenik-Gesetz ohne jeden<br />
Zw<strong>an</strong>g ist erbhygienisch ebenso unwirksam<br />
wie ein Impfgesetz ohne Zw<strong>an</strong>g.“<br />
Eugenisches Ged<strong>an</strong>kengut wurde<br />
noch 1962 auf dem bek<strong>an</strong>nten Ciba-<br />
Symposion „M<strong>an</strong> <strong>an</strong>d his future“ gepflegt.<br />
Der Biologe Juli<strong>an</strong> Huxley forderte<br />
dazu auf, wieder den „uralten<br />
Kurs einer positiven Verbesserung“ einzuschlagen.<br />
Das Symposion versammelte<br />
27 international bek<strong>an</strong>nte Wissenschaftler,<br />
auch ein Zeichen dafür,<br />
dass Eugenik in der (westlichen) Welt<br />
weit verbreitet war. Das aber ist ein<br />
Thema für sich.<br />
Das Berliner Projekt<br />
Winaus Vortrag war Teil einer Vortragsreihe<br />
der KV Berlin, die sich im Weiteren<br />
insbesondere mit der Rolle der<br />
KVen im Nationalsozialismus, einschließlich<br />
der Ausschaltung jüdischer Ärzte in<br />
Berlin beschäftigen wird. Der Rolle der<br />
Heft 44, 1. November 2002<br />
Verg<strong>an</strong>genheit<br />
Zu dem Beitrag „Eugenik und Euth<strong>an</strong>asie:<br />
Aktuelle Verg<strong>an</strong>genheit“ von Norbert Jachertz<br />
in Heft 28–29/2002:<br />
Starker Tobak<br />
Haeckel und Darwin, verdienstvolle<br />
Forscher, als geistige Wegbereiter der<br />
Euth<strong>an</strong>asie des Nationalsozialismus<br />
Tötung auf Verl<strong>an</strong>gen, Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
als bedauerlicher Atem<br />
der Eugenik, der ins 21. Jahrhundert<br />
weht Starker Tobak, der von dem<br />
Vortragenden präsentiert wird. Schnell<br />
wird der innere Zusammenh<strong>an</strong>g und<br />
der rote Faden deutlich, dem der Hass<br />
des Vortragenden gilt, und der diese<br />
Punkte verbindet, es ist die Frage:Wie<br />
lässt sich menschliches Leid verhindern<br />
und ein möglichst selbstbestimmtes<br />
und würdiges Leben führen Keine<br />
<strong>an</strong>dere Frage liegt dem Arztberuf zugrunde.<br />
Gerade die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
k<strong>an</strong>n wie keine <strong>an</strong>dere<br />
Methode zukünftiges Leid erkennen<br />
und bietet dadurch die Möglichkeit, es<br />
zu verhindern. Durch die Kontamination<br />
KV gilt zudem ein <strong>Forschung</strong>sprojekt,<br />
<strong>an</strong>gestoßen durch Berliner jüdische<br />
Ärzte und Psychologen, mit dem die<br />
Historikerin Dr. phil. Rebecca Schwoch<br />
beauftragt ist. Die KV Berlin war in<br />
der NS-Zeit eine Untergliederung der<br />
Kassenärztlichen Vereinigung Deutschl<strong>an</strong>ds<br />
und diese wiederum Teil der<br />
Reichsärztekammer. Das <strong>Forschung</strong>sprojekt<br />
könnte Aufschluss geben, inwieweit<br />
eine Untergliederung selbstständig<br />
h<strong>an</strong>deln konnte, oder ob sie gemäß<br />
dem Führerprinzip strikt <strong>an</strong> Anweisungen<br />
von oben gebunden war. Der Berliner<br />
KV-Vorsitzende, Dr. med. M<strong>an</strong>fred<br />
Richter-Reichhelm, befragt, weshalb<br />
sich die KV diesem Thema zuwendet,<br />
<strong>an</strong>twortete kurz und bündig: „Es wurde<br />
einfach Zeit.“ Die Berliner Ärztekammer<br />
habe bereits 1983 damit begonnen,<br />
damals habe es harsche Attacken seitens<br />
der KV gegeben. Norbert Jachertz<br />
mit dem Faschismus sollen Haeckel<br />
und Darwin in den Schmutz gezogen<br />
und eine bitter notwendige Diskussion<br />
abgewürgt werden. Der Faschismus war<br />
ein originärer Gegner eines solchen<br />
Programms, das eine Minimierung des<br />
irdischen Jammertals für die Mehrheit<br />
vorsah. Und wenn schon nach geistigen<br />
Wegbereitern gesucht wird, sind sie in<br />
den Reihen derer zu finden, die auch<br />
heute gegen die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
vorgehen.An erster Stelle ist<br />
die katholische Kirche zu nennen,<br />
deren Judenhass von Hitler übernommen<br />
wurde und wahrscheinlich ihn <strong>an</strong><br />
vergossenem Blut immer noch übertrifft.<br />
Das Hitler-Konkordat, das den<br />
Kirchen den Religionsunterricht <strong>an</strong><br />
den Schulen und die staatliche Einziehung<br />
der Kirchensteuer gar<strong>an</strong>tiert,<br />
heute immerhin 15 Milliarden DM<br />
jährlich, wurde von der Bundesrepublik<br />
nahtlos übernommen, ist heute noch<br />
gültig und war der Lohn für die weltweit<br />
erste staatliche Anerkennung des<br />
Faschismus durch den Vatik<strong>an</strong>.<br />
Dr. Karl Albert Mutter,<br />
Am Waldpark 29, 63071 Offenbach<br />
155
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 30, 26. Juli 2002<br />
Stammzellgesetz<br />
Umsetzung geregelt<br />
Robert Koch-Institut soll<br />
<strong>Forschung</strong>s<strong>an</strong>träge genehmigen.<br />
Die Rechtsverordnung zur Umsetzung des<br />
Stammzellgesetzes ist am 24. Juli in Kraft getreten.<br />
D<strong>an</strong>ach ist künftig das Robert Koch-Institut für<br />
die Genehmigung der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen<br />
embryonalen Stammzellen zuständig. Außerdem<br />
trat am 22. Juli die Zentrale Ethik-Kommission aus<br />
Medizinern, Biologen, Theologen und Ethikern zu<br />
ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Sie<br />
wählte Prof. Dr. phil. Ludwig Siep zum Vorsitzenden.<br />
Stellvertreter sind Prof. Dr. med. Marion B. Kiechle<br />
und Prof. Dr. rer. nat. Henning M. Beier.<br />
„Mit dem Gesetz haben wir klare Regelungen<br />
für die Wissenschaftler in Deutschl<strong>an</strong>d geschaffen“,<br />
erklärten Bundesforschungsministerin Edelgard<br />
Bulmahn und Bundesgesundheitsministerin Ulla<br />
Schmidt. Einerseits erweitere es den Schutzbereich<br />
des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes, indem es<br />
die bisher ohne Einschränkungen erlaubte Einfuhr<br />
und Verwendung menschlicher embryonaler<br />
Stammzellen grundsätzlich verbiete. Andererseits<br />
ermögliche es der <strong>Forschung</strong> den Anschluss <strong>an</strong><br />
den internationalen St<strong>an</strong>dard. Nach dem Gesetz<br />
dürfen nur menschliche embryonale Stammzellen<br />
eingeführt werden, die vor dem 1. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
gewonnen wurden. <strong>Forschung</strong>sprojekte müssen<br />
von der Zentralen Ethik-Kommission geprüft und<br />
behördlich genehmigt werden. Ab Ende 2003<br />
soll die Regierung dem Bundestag alle zwei Jahre<br />
über die Ergebnisse der Stammzellforschung berichten.<br />
Heft 36, 6. September 2002<br />
M<strong>an</strong> muss schon suchen in den Wahlprogrammen,<br />
um Stellungnahmen der Parteien zu<br />
medizinethischen Fragen zu finden. Die Aussagen<br />
sind durchweg eher dürftig. Dabei k<strong>an</strong>n es durchaus<br />
sein, dass in der nächsten Legislaturperiode<br />
schneller entschieden werden muss, als es der<br />
d<strong>an</strong>n amtierenden Regierung lieb ist. So geht das<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz nicht auf einen möglichen<br />
Import von embryonalen Stammzellen ein. Deshalb<br />
best<strong>an</strong>d H<strong>an</strong>dlungsbedarf, als im Jahr 2000 der<br />
Bonner Neuropathologe Prof. Dr. med. Oliver Brüstle<br />
einen Antrag <strong>an</strong> die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> importierten embryonalen<br />
Stammzellen einreichte. Die<br />
Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
wollte das Votum des Bundestages<br />
abwarten. Dieser entschied für einen<br />
Import bereits existierender embryonaler<br />
Stammzelllinien unter bestimmten<br />
Auflagen, die Tötung weiterer<br />
<strong>Embryonen</strong> sollte durch eine<br />
Stichtagsregelung verboten werden.<br />
Wie l<strong>an</strong>ge das Ende April verabschiedete<br />
Stammzellgesetz Best<strong>an</strong>d haben wird,<br />
ist fraglich. Die Union will „<strong>an</strong> den strengen<br />
Grundsätzen des deutschen <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
festhalten“. In diesem Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
lehnt sie in ihrem Regierungsprogramm auch eine<br />
„Legalisierung der aktiven Sterbehilfe“ ab. „Wir<br />
unterstützen nachdrücklich den Einsatz für ein Leben<br />
in Würde, wie etwa in der Hospizbewegung.“<br />
Die Union würde in ihrer Einstellung zu ethischen<br />
Fragen am ehesten bei den Grünen<br />
Gleichgesinnte finden. Diese lehnen verbrauchende<br />
<strong>Embryonen</strong>forschung ab: „Wir wollen die realistischen<br />
Ch<strong>an</strong>cen für die Heilung von Menschen<br />
nutzen und fördern. Aber wir lehnen die Zielsetzung<br />
ab, mithilfe der Gentechnik den ,perfekten<br />
Menschen’ zu erschaffen. Unser Maßstab ist die Individualität<br />
jedes Menschen, nicht seine Angepasstheit<br />
<strong>an</strong> vermeintliche Normen der körperlichen<br />
,Gesundheit’, ,Fitness’ oder ,Schönheit’.“<br />
Ethik<br />
Dürftige<br />
Aussagen<br />
Die PDS hält zwar „eine politische Rahmensetzung“<br />
für notwendig, geht aber über einige<br />
allgemeine Statements nicht hinaus: „Das Interesse<br />
der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
und der Zugriff auf die weibliche Reproduktionsfähigkeit<br />
dürfen nicht über das Selbstbestimmungsrecht<br />
von Frauen und die Menschenwürde<br />
gestellt werden“, heißt es im PDS-Regierungsprogramm.<br />
Auch die SPD hält sich eher bedeckt; sie lässt allerdings<br />
eine gewisse Offenheit gegenüber<br />
gentechnischen Möglichkeiten erkennen – offenbar<br />
getreu nach Gerhard Schröders geforderter<br />
„Ethik des Heilens“: „Die Gesundheits-<br />
und Genomforschung liefert<br />
neue Erkenntnisse über die Ursachen<br />
von Erkr<strong>an</strong>kungen und deren<br />
Entstehung. Damit lassen sich die<br />
Lebensqualität der Menschen, ihre<br />
Lebenserwartung und die Heilung<br />
von Kr<strong>an</strong>kheiten verbessern. Wir<br />
werden deshalb die Gesundheitsund<br />
Genomforschung stärken, damit<br />
neue Präventions- und Therapieverfahren entwickelt<br />
werden können.“ Dezidierter forschungsfreundlich<br />
nehmen die Freien Demokraten Stellung.<br />
Sie bezeichnen das Stammzellgesetz als „Minimalkonsens“.<br />
Die FDP habe ihm zugestimmt, sei<br />
sich aber bewusst, dass es nachgebessert werden<br />
müsse. „Durch die restriktive Stichtagsregelung<br />
werden kaum Zelllinien zur Verfügung stehen, die<br />
qualitativ für therapeutische <strong>Forschung</strong> geeignet<br />
sind.“ Immerhin soll aber auch nach dem Willen<br />
der Freien Demokraten das Klonen von Menschen<br />
verboten und international geächtet bleiben.<br />
Einige Parteiprogramme nehmen auch explizit<br />
Stellung zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>). Die<br />
Grünen lehnen die <strong>PID</strong> „als eine Methode zur Selektion<br />
behinderten Lebens bei künstlicher Befruchtung<br />
ab“. Im Gegensatz dazu tritt die FDP dafür ein, sie in<br />
engen rechtlichen Grenzen auch in Deutschl<strong>an</strong>d zu<br />
ermöglichen.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
156
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 39, 27. September 2002<br />
Stammzellforschung<br />
Pharmaunternehmen:<br />
Eigene Richtlinien<br />
Theologen, Politiker und Journalisten diskutierten<br />
unter <strong>an</strong>derem mit Vertretern des Pharmaunternehmens<br />
Novartis darüber, ob <strong>Forschung</strong> mit <strong>Embryonen</strong><br />
eine Verletzung der Menschenwürde darstellt.<br />
Novartis ist ein Konzern mit weltweit<br />
rund 3 000 <strong>an</strong>gestellten Wissenschaftlern,<br />
die in Ländern<br />
mit unterschiedlichsten – oder fehlenden<br />
– Gesetzgebungen zur embryonalen<br />
Stammzellforschung tätig sind. Das<br />
Unternehmen sah deshalb die Notwendigkeit,<br />
Richtlinien zu erarbeiten, die<br />
nicht vorh<strong>an</strong>dene staatliche Regelungen<br />
ersetzen können und gegen bestehende<br />
Gesetze nicht verstoßen.<br />
Um die Entscheidungsfindung tr<strong>an</strong>sparent<br />
zu machen, lud der Konzern Ende<br />
August Theologen, Politiker und<br />
Journalisten zu einer Diskussionsver<strong>an</strong>staltung<br />
nach Neuchâtel (Schweiz) ein.<br />
In der Schweiz wird derzeit vom Bundesrat<br />
ein Gesetzentwurf zur <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> überzähligen <strong>Embryonen</strong> und embryonalen<br />
Stammzellen vorbereitet.<br />
D<strong>an</strong>ach soll therapeutisches Klonen<br />
verboten werden. Die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
überzähligen <strong>Embryonen</strong> ist jedoch erlaubt,<br />
und <strong>an</strong>ders als in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
gibt es keine Stichtagsregelung. Prof.<br />
Paul L. Herrling, <strong>Forschung</strong>sleiter der<br />
Novartis Pharma AG, begrüßte diesen<br />
Entwurf. Seiner Ansicht nach ist die<br />
Stammzellforschung ein „viel versprechendes<br />
Gebiet mit Therapiemöglichkeiten<br />
für viele zurzeit unlösbare medizinische<br />
Fragestellungen“. Doch weil<br />
<strong>Forschung</strong> der Gesetzgebung in den<br />
meisten Fällen vorauseile, „mussten wir<br />
uns selber Schr<strong>an</strong>ken auferlegen“.<br />
Den Richtlinien zufolge sollen hum<strong>an</strong>e<br />
embryonale Stammzellen nur<br />
aus überzähligen In-vitro-Fertilisations-<br />
<strong>Embryonen</strong> oder von primordialen<br />
Keimzellen aus abortierten Föten verwendet<br />
werden. Das therapeutische<br />
Klonen ist nach diesen Richtlinien unzulässig.<br />
„Die Verwendung überzähliger<br />
<strong>Embryonen</strong> setzt das Einverständnis<br />
der Eltern oder der Mutter voraus“, sagte<br />
Herrling. Die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> Zellen<br />
aus abortierten Föten sei nur d<strong>an</strong>n<br />
zulässig, wenn der Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
aus Gründen vorgenommen wurde,<br />
die in keinerlei Zusammenh<strong>an</strong>g mit<br />
dem <strong>Forschung</strong>svorhaben stehen. Jeder<br />
H<strong>an</strong>del mit <strong>Embryonen</strong> sei unzulässig.<br />
Alle <strong>Forschung</strong>sprojekte mit hum<strong>an</strong>en<br />
Stammzellen müssten von der <strong>Forschung</strong>sleitung<br />
unter Einbeziehung des<br />
Votums vom Novartis-Ethikrat bewilligt<br />
werden.<br />
Dass diese Richtlinien ebenso wie<br />
der Schweizer Gesetzentwurf nicht<br />
unwidersprochen bleiben, wurde auf<br />
der Diskussionsver<strong>an</strong>staltung deutlich.<br />
Schließlich scheiden sich nach wie vor<br />
die Geister <strong>an</strong> der Frage, ob <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen nicht<br />
grundsätzlich eine Verletzung der Menschenwürde<br />
darstellt. Mit dieser Frage<br />
beschäftigte sich auch der Vorsitzende<br />
des Ethikrates von Novartis, der Züricher<br />
Theologe und Philosoph Prof. Dr.<br />
H<strong>an</strong>s-Peter Schreiber. Seiner Auffassung<br />
nach ist zwar die Menschenwürde<br />
un<strong>an</strong>tastbar, nicht aber der Lebensschutz.<br />
Der Schweizer Gesetzentwurf<br />
basiere auf dem „in unserer Gesellschaft<br />
moralisch ver<strong>an</strong>kerten differenzierten<br />
Schutzmodell, demzufolge<br />
frühe Entwicklungsformen menschlichen<br />
Lebens weder einen rechtspersonalen<br />
Status noch einen absoluten<br />
Rechts<strong>an</strong>spruch auf Leben haben“.<br />
Einen völlig <strong>an</strong>deren St<strong>an</strong>dpunkt<br />
vertritt dagegen der katholische Baseler<br />
Bischof Dr. Kurt Koch. Christliche<br />
Ethik gehe davon aus, dass vom Zeitpunkt<br />
der Befruchtung <strong>an</strong> menschliches<br />
Leben gegeben sei, das sich fort<strong>an</strong> kontinuierlich<br />
weiterentwickele. Dieser<br />
Ausg<strong>an</strong>gspunkt der ethischen Reflexion<br />
entspreche auch dem derzeitigen<br />
Wissensst<strong>an</strong>d der modernen Entwicklungsbiologie.<br />
Koch: „Auf diese Erkenntnisse<br />
k<strong>an</strong>n sich die heute weit verbreitete<br />
These einer nicht von Anf<strong>an</strong>g<br />
<strong>an</strong> gegebenen, sondern erst graduell<br />
einsetzenden Schutzwürdigkeit des embryonalen<br />
Lebens nicht abstützen.“<br />
Diese Ansicht wird auch von Schweizer<br />
Politikern geteilt. „Bei der embryonalen<br />
Stammzellforschung geht es um reine<br />
Zweckentfremdung“, sagte Nationalrätin<br />
Ursula Wyss. Selbst eine <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> überzähligen <strong>Embryonen</strong> bedeutet<br />
für Koch einen Verstoß gegen<br />
die Menschenwürde: „Ethisch ist es, sie<br />
sterben zu lassen und nicht für <strong>Forschung</strong>szwecke<br />
zu instrumentalisieren.“<br />
Und schließlich fragte er: „Darf<br />
m<strong>an</strong> <strong>an</strong>gesichts des großen Elends<br />
und der erschreckenden Ungerechtigkeit<br />
in der Welt so viel Geld in die<br />
Stammzellen- und <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
stecken, die nur sehr unsichere<br />
Erfolgsaussichten hat und von der,<br />
wenn sie Erfolg hat, nur Menschen in<br />
den reichsten Industrienationen profitieren<br />
werden“ Gisela Klinkhammer<br />
157
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 39, 27. September 2002<br />
Pränataldiagnostik:<br />
Ver<strong>an</strong>twortliche ärztliche Tätigkeit<br />
im Grenzbereich<br />
Fr<strong>an</strong>z Kainer<br />
Zusammenfassung<br />
Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten<br />
der pränatalen Diagnostik haben<br />
sich in den letzten 20 Jahren rasch weiterentwickelt.<br />
Durch die Verbesserung der Ultraschallgeräte<br />
und der Eingriffstechniken k<strong>an</strong>n<br />
nun eine Vielzahl von Erkr<strong>an</strong>kungen erk<strong>an</strong>nt<br />
und beh<strong>an</strong>delt werden. Die invasiven Eingriffe<br />
(Chorionbiopsie, Amniozentese, Nabelschnurpunktion,<br />
Fetoskopie, intrauterine Shunteinlage)<br />
werden – sonographisch gesteuert – mit<br />
geringen fetalen und maternalen Risiken<br />
durchgeführt. Die intrauterine Entnahme von<br />
Nabelschnurblut ist in ausgewählten Fällen eine<br />
unverzichtbare Methode geworden. Es<br />
wird dadurch eine zuverlässige und rasche<br />
Diagnostik (Hämoglobinbestimmung, pH-<br />
Wert, Chromosomen<strong>an</strong>alyse, Stoffwechselerkr<strong>an</strong>kungen)<br />
ermöglicht. Eine intrauterine<br />
Tr<strong>an</strong>sfusion k<strong>an</strong>n bereits ab 15 Schw<strong>an</strong>gerschaftswochen<br />
durchgeführt werden. Die fetoskopisch<br />
kontrollierte Laserkoagulation von<br />
Gefäß<strong>an</strong>astomosen ist zu einem klinisch erprobten<br />
Eingriff beim fetofetalen Tr<strong>an</strong>sfusionssyndrom<br />
geworden. In Zukunft ist durch<br />
die Weiterentwicklung von minimalinvasiven<br />
Eingriffen der Einsatz bei weiteren Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
zu erwarten. Die pränatale Diagnose ist eine<br />
wichtige Voraussetzung für eine optimale<br />
Beh<strong>an</strong>dlung von fetalen Erkr<strong>an</strong>kungen und<br />
Fehlbildungen.<br />
Schlüsselwörter: pränatale Diagnostik, <strong>an</strong>geborene<br />
Fehlbildungen, intrauterine Therapie<br />
Summary<br />
Prenatal Diagnosis: Medical Activity<br />
at the Limits<br />
Over the past two decades prenatal diagnosis<br />
<strong>an</strong>d therapy has evolved rapidly. New imaging<br />
<strong>an</strong>d sampling techniques c<strong>an</strong> be offered for<br />
a number of disorders with low risks for the<br />
fetus <strong>an</strong>d the pregn<strong>an</strong>t women. The invasive<br />
techniques (chorionic villous sampling, amniocentesis,<br />
fetal blood sampling, fetoscopy,<br />
shunts) are performed under the guid<strong>an</strong>ce of<br />
sonography. Fetal blood sampling is <strong>an</strong> import<strong>an</strong>t<br />
addition to the techniques of prenatal<br />
diagnosis in selected cases. The benefit of<br />
this procedure is the rapidity with which<br />
results (hemoglobin, blood pH, chromosomal<br />
or metabolic disorders) c<strong>an</strong> be obtained.<br />
Intrauterine tr<strong>an</strong>sfusion c<strong>an</strong> be performed as<br />
early as in 15 weeks <strong>an</strong>d c<strong>an</strong> be repeated if<br />
necessary. Fetoscopy <strong>an</strong>d endoscopic laser<br />
coagulation of vascular placental <strong>an</strong>astomoses<br />
is a well established technique in severe twin<br />
to twin tr<strong>an</strong>sfusion syndrome in the second<br />
trimester. Minimal invasive surgical techniques<br />
may improve the outcome in selected<br />
cases. Prenatal diagnosis is <strong>an</strong> import<strong>an</strong>t prerequisite<br />
for the appropriate m<strong>an</strong>agement of<br />
compromised fetuses.<br />
Key words: prenatal diagnosis, congenital malformation,<br />
intrauterine therapy<br />
158<br />
Aufgrund der Diskussion über die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik wird<br />
auch die Pränataldiagnostik wieder<br />
öffentlich diskutiert. Pränataldiagnostik<br />
wird teilweise als Weg zur ethisch bedenklichen<br />
Menschenselektion <strong>an</strong>gesehen.<br />
Das ärztliche H<strong>an</strong>deln gerät dabei<br />
neben ethischen Gesichtspunkten zunehmend<br />
auch von rechtlicher Seite in eine<br />
unlösbare Konfliktsituation. Einerseits<br />
droht eine Verurteilung des pränataldiagnostisch<br />
tätigen Arztes, wenn ein<br />
ungeborenes Kind nicht optimal beh<strong>an</strong>delt<br />
wird, <strong>an</strong>dererseits sind rechtliche<br />
Konsequenzen zu erwarten, wenn aufgrund<br />
von Fehlbildungen eines Kindes<br />
die Schw<strong>an</strong>gerschaft nicht rechtzeitig abgebrochen<br />
wird. Der Pränatal- und Geburtsmediziner<br />
ist zurzeit der einzige<br />
Vertreter unter den Ärzten, der mit juristischen<br />
Folgen zu rechnen hat, wenn eine<br />
Tötung des ihm <strong>an</strong>vertrauten Patienten<br />
im vorgelegten Zeitraum nicht<br />
durchgeführt wurde. Ver<strong>an</strong>twortungsbewusste<br />
pränatale Diagnostik bedeutet,<br />
Schw<strong>an</strong>gere auch in extremen Notsituationen<br />
zu betreuen und sich nicht auf<br />
„ethisch unbedenkliche“ Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
zu berufen. Die positiven Aspekte der<br />
Pränataldiagnostik werden vielfach<br />
durch eine Gleichstellung der Pränataldiagnostik<br />
mit Menschenselektion überdeckt.<br />
Pränataldiagnostik wird mit „find<br />
<strong>an</strong>d destroy“ gleichgesetzt. Eine offene<br />
Diskussion der Vor- und Nachteile der<br />
Pränataldiagnostik ist erforderlich. Es<br />
stellt sich beispielsweise die Frage, ob es<br />
ethisch überhaupt vertretbar ist, ein Ungeborenes<br />
absterben zu lassen, nur weil<br />
m<strong>an</strong> die Pränataldiagnostik ablehnt.Andererseits<br />
kommt m<strong>an</strong> durch Pränataldiagnostik<br />
zw<strong>an</strong>gsläufig in die Situation,<br />
dass Fehlbildungen erk<strong>an</strong>nt werden, bei<br />
denen die Eltern den Wunsch nach einer<br />
I. Frauenklinik (Kommissarischer Direktor: Prof. Dr. med.<br />
Günther Kinderm<strong>an</strong>n), Klinikum Innenstadt der Ludwig-<br />
Maximili<strong>an</strong>s-Universität, München<br />
Beendigung der Schw<strong>an</strong>gerschaft haben.<br />
Eine klare Abgrenzung von „normaler<br />
Schw<strong>an</strong>gerenvorsorge“ und „pränataler<br />
Diagnostik“ im Sinne von Fehlbildungssuche<br />
ist durch die große Überschneidung<br />
von Schw<strong>an</strong>gerenvorsorge, Ultraschalldiagnostik<br />
und pränataler Diagnostik<br />
nicht möglich und auch nicht sinnvoll.<br />
Pränataldiagnostik ist daher nicht<br />
mehr abgekoppelt von einer sorgfältigen<br />
Schw<strong>an</strong>gerenbetreuung machbar.<br />
Pränataldiagnostik<br />
Die Pränataldiagnostik ist die Diagnose<br />
von fetalen Erkr<strong>an</strong>kungen und Fehlbildungen<br />
vor der Geburt. Jede Schw<strong>an</strong>gerenvorsorgeuntersuchung<br />
ist daher eine<br />
pränataldiagnostische Maßnahme. Der<br />
wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer<br />
definiert Pränataldiagnostik<br />
als eine Diagnostik die dazu dient, die<br />
Schw<strong>an</strong>gere von der Angst vor einem
D O K U M E N T A T I O N<br />
kr<strong>an</strong>ken oder behinderten Kind zu befreien<br />
sowie Entwicklungsstörungen des<br />
Ungeborenen so frühzeitig zu erkennen,<br />
dass eine intrauterine Therapie oder eine<br />
adäquate Geburtspl<strong>an</strong>ung unter Einbeziehung<br />
entsprechender Spezialisten für<br />
die unmittelbare postnatale Versorgung<br />
des Ungeborenen erfolgen k<strong>an</strong>n (10).<br />
Unter invasiver Pränataldiagnostik versteht<br />
m<strong>an</strong> eine ultraschallkontrollierte<br />
Punktion von Plazenta (Chorionbiopsie,<br />
Plazentozentese), Fruchthöhle (Amniozentese),<br />
Nabelschnurgefäßen (Nabelschnurpunktion)<br />
oder die direkte Punktion<br />
des Feten (Drainge, Shunteinlage)<br />
mit Nadeln oder optischen Instrumenten<br />
(Fetoskopie). Die nichtinvasive Pränataldiagnostik<br />
umfasst die Diagnose von<br />
fetalen Erkr<strong>an</strong>kungen mittels Ultraschall<br />
oder mütterlicher Blutuntersuchungen.<br />
Die invasive pränatale Therapie<br />
ist ein ultraschallkontrollierter Eingriff<br />
durch Punktion der Nabelschnur<br />
(Tr<strong>an</strong>sfusion von Erythrozyten- oder<br />
Thrombozytenkonzentraten). Zukünftig<br />
wird dazu auch die intrauterine Stammzelltr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
zählen (derzeit nur<br />
Einzelfallberichte).<br />
Ultraschall in der<br />
Frühschw<strong>an</strong>gerschaft<br />
Durch die technische Verbesserung der<br />
Ultraschallgeräte hat die Sonographie in<br />
den letzten 20 Jahren einen zentralen<br />
Stellenwert in der Schw<strong>an</strong>gerenvorsorge<br />
erhalten (Textkasten 1). Ein Schwerpunkt<br />
besteht in der Möglichkeit die Lo-<br />
Textkasten 1<br />
Methoden der Pränataldiagnostik<br />
Klinische Schw<strong>an</strong>gerenvorsorge<br />
❃ Ultraschall<br />
– Ausschluss der Extrauteringravidität<br />
– Gestationszeitbestimmung<br />
– Diagnose von Mehrlingsschw<strong>an</strong>gerschaften<br />
– Biometrie, Plazentalokalisation<br />
– Zervixbeurteilung<br />
– Dopplersonographie<br />
– Fehlbildungsdiagnostik<br />
❃ Kardiotokographie<br />
❃ Invasive Diagnostik<br />
– Chorionbiopsie<br />
– Amniozentese<br />
– Nabelschnurpunktion<br />
– Fetoskopie<br />
kalisation (Ausschluss der Extrauteringravidität)<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaft bereits<br />
zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu erfassen<br />
und das Alter der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
sehr exakt festlegen zu können. Eine<br />
rupturierte Eileiterschw<strong>an</strong>gerschaft mit<br />
starkem mütterlichen Blutverlust ist dadurch<br />
extrem selten geworden. Durch<br />
die rechtzeitige Operation k<strong>an</strong>n in den<br />
meisten Fällen auch die Entfernung des<br />
Eileiters unterbleiben. Durch die genaue<br />
Bestimmung der Schw<strong>an</strong>gerschaftsdauer<br />
können unnötige Geburtseinleitungen<br />
aufgrund von unklarer Gestationszeit<br />
vermieden werden. Schwere Fehlbildungen<br />
können gerade in der Frühschw<strong>an</strong>gerschaft<br />
durch die übersichtliche Darstellung<br />
des Feten gut erk<strong>an</strong>nt werden.<br />
Eine Anenzephalie oder eine verbreiterte<br />
Nackentr<strong>an</strong>sparenz (Nackenödem)<br />
k<strong>an</strong>n im Rahmen der Messung der Scheitelsteißlänge<br />
diagnostiziert werden. Der<br />
Befund darf der Schw<strong>an</strong>geren aber nicht<br />
verschwiegen werden. Es k<strong>an</strong>n sich zum<br />
Beispiel um eine Herzfehlbildung h<strong>an</strong>deln,die<br />
unmittelbar postnatal beh<strong>an</strong>delt<br />
werden muss. Andererseits k<strong>an</strong>n dies<br />
auch ein Hinweis für eine Trisomie 21<br />
sein. Die Diagnose von Mehrlingsschw<strong>an</strong>gerschaften<br />
und die Beurteilung<br />
der Chorionizität ist in der Frühschw<strong>an</strong>gerschaft<br />
einfacher als später. Bei monoamnioten<br />
Zwillingsschw<strong>an</strong>gerschaften<br />
ist das Risiko für einen intrauterinen<br />
Fruchttod deutlich erhöht. Eine engmaschige<br />
Kontrolle mit terminierter Schnittentbindung<br />
k<strong>an</strong>n die Risiken wesentlich<br />
reduzieren. Bei diamniot monochorialen<br />
Zwillingsschw<strong>an</strong>gerschaften k<strong>an</strong>n frühzeitig<br />
ein mögliches fetofetales Tr<strong>an</strong>sfusionssyndrom<br />
erk<strong>an</strong>nt und beh<strong>an</strong>delt werden.<br />
Die geringsten Risiken bestehen bei<br />
diamnioter dichorialer Zwillingsschw<strong>an</strong>gerschaft.<br />
Ultraschall-<br />
„Fehlbildungsscreening“<br />
Aufgrund der Mutterschaftsrichtlinien<br />
ist mit 10, 20 und 30 Schw<strong>an</strong>gerschaftswochen<br />
eine Ultraschalluntersuchung<br />
vorgesehen.Neben der Biometrie dienen<br />
die Untersuchungen auch der Entdeckung<br />
von fetalen Entwicklungs<strong>an</strong>omalien.<br />
Da der Großteil der fetalen<br />
Fehlbildungen nicht aufgrund von Risikofaktoren,<br />
sondern im Rahmen der<br />
Routinesonographie entdeckt wird, ist<br />
eine generelle Untersuchung aller<br />
Schw<strong>an</strong>geren auch sinnvoll (7).Wird eine<br />
Fehlbildung diagnostiziert, d<strong>an</strong>n ist das<br />
weitere Vorgehen neben der Schwere der<br />
Erkr<strong>an</strong>kung hauptsächlich von den Vorstellungen<br />
der Schw<strong>an</strong>geren bestimmt.<br />
Prinzipiell können die Fehlbildungen<br />
in drei große Gruppen eingeteilt werden.<br />
Gruppe I (letale Fehlbildungen): zum<br />
Beispiel: letale Chromosomenstörungen,<br />
letaler Herzfehler, letale Skelettdysplasie.<br />
Gruppe II (schwerwiegend mit L<strong>an</strong>gzeith<strong>an</strong>dicap):<br />
zum Beispiel: intrakr<strong>an</strong>ielle<br />
Störungen, Spina bifida aperta,<br />
Skelettdysplasie, nichtletale Chromosomenstörung.<br />
Gruppe III (leichte Fehlbildung): zum<br />
Beispiel: Extremitäten<strong>an</strong>omalien, Omphalozele,<br />
Gastroschisis, Lippen-Kiefer-<br />
Gaumenspalte.<br />
Nach Stiller (8) entscheiden sich in der<br />
Gruppe I mit letalen Fehlbildungen über<br />
zwei Drittel für eine Beendigung der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft. In Gruppe II erfolgte<br />
ein Abbruch in 50 Prozent der Fälle und<br />
in Gruppe III wurde die Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
in über 90 Prozent der Fälle ausgetragen.<br />
Das heißt, es wird nicht automatisch<br />
eine Schw<strong>an</strong>gerschaft nach Diagnose<br />
von schweren Fehlbildungen beendet.<br />
Die Untersuchung sämtlicher fetaler Org<strong>an</strong>e<br />
k<strong>an</strong>n für die Prognose bei einer<br />
Vielzahl von Erkr<strong>an</strong>kungen wichtig sein.<br />
Die pränatale Diagnose hat nicht nur<br />
Einfluss auf die Betreuung während der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft, sondern auf das perinatale<br />
M<strong>an</strong>agement. Allein die Wahl des<br />
optimalen Geburtsortes mit adäquater<br />
postnataler Betreuung des Neugeborenen<br />
k<strong>an</strong>n entscheidend für die weitere<br />
Prognose sein. So ist bei einem Aneurysma<br />
der Vena Galeni eine optimale postnatale<br />
Betreuung die Grundvoraussetzung<br />
für eine erfolgreiche Operation.<br />
Ebenso erfordern ausgeprägte Gesichtsund<br />
Halstumoren eine gute Koordination<br />
eines perinatalen Teams, was nur nach<br />
pränataler Diagnostik möglich ist. Pleuraergüsse<br />
können bereits intrauterine<br />
Therapiemaßnahmen erforderlich machen.<br />
Bei Zwerchfellhernien k<strong>an</strong>n eine<br />
zu späte postnatale Intubation eine eventuell<br />
erfolgreiche Operation verhindern.<br />
Fehlbildungen wie Darmstenosen, Ösophagusatresien<br />
und Nierenfehlbildungen<br />
erfordern eine unmittelbare postnatale<br />
159
D O K U M E N T A T I O N<br />
Versorgung, bevor erste Komplikationen<br />
eine Therapie erforderlich machen.Auch<br />
der Geburtsmodus (Sektio bei großen<br />
Tumoren, Spina bifida aperta, Siamesische<br />
Zwillinge) k<strong>an</strong>n durch Fehlbildungen<br />
beeinflusst werden. Um im individuellen<br />
Fall das optimale Vorgehen zu gewährleisten,<br />
ist ein interdisziplinäres<br />
Team von Neonatologen, Genetikern,<br />
Kinderchirurgen sowie von psychosozial<br />
geschulten Mitarbeitern erforderlich.<br />
Neben der Diagnostik von Fehlbildungen<br />
ist die Sonographie für die fetale<br />
Überwachung der Spätschw<strong>an</strong>gerschaft<br />
bedeutsam. Die Bestimmung des<br />
optimalen Entbindungszeitpunktes von<br />
Feten mit Wachstumsstörungen gelingt<br />
durch die Biometrie und Dopplersonographie<br />
der fetomaternalen Gefäße in<br />
einem hohen Maße. Bei Feten mit ausreichender<br />
intrauteriner Versorgung<br />
können unnötige Geburtseinleitungen<br />
vermieden und der spont<strong>an</strong>e Wehenbeginn<br />
k<strong>an</strong>n abgewartet werden.<br />
Invasive Diagnostik und<br />
Therapie<br />
160<br />
In über 90 Prozent der Fälle wird eine<br />
Amniozentese zur fetalen Karyotypisierung<br />
durchgeführt. In der gleichen<br />
Probe wird das Alpha-Feto-Protein<br />
zum Ausschluss von Spaltbildungen der<br />
Wirbelsäule (eventuell mit Acetylcholinesterase)<br />
und des Abdomens mitbestimmt.<br />
Die Untersuchung wird ab 14<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftswochen durchgeführt.<br />
Nach Zellkultur k<strong>an</strong>n aus den Amnionzellen<br />
auch eine DNA-Analyse<br />
und die Bestimmung von Enzymaktivitäten<br />
bei Stoffwechselerkr<strong>an</strong>kungen<br />
erfolgen. Mit der FISH-Diagnostik ist<br />
eine Bestimmung der häufigsten Chromosomen<strong>an</strong>omalien<br />
(Trisomie 21, Trisomie<br />
13,Trisomie 18) innerhalb von 24<br />
Stunden möglich.Vor allem für die Diagnose<br />
einer fetalen Infektion bei Toxoplasmose<br />
und Zytomegalie ist die Amniozentese<br />
unerlässlich. Bei Rhesusinkompatibilität<br />
k<strong>an</strong>n die Bestimmung<br />
des Bilirubins aus dem Fruchtwasser einen<br />
Anhalt für die Schwere der Erkr<strong>an</strong>kung<br />
darstellen. Eine zuverlässigere<br />
Diagnostik der fetalen Anämie ist allerdings<br />
durch die Nabelschnurpunktion<br />
gegeben. Bei Verdacht auf eine diabetogene<br />
Fetopathie ermöglicht die Bestimmung<br />
des Fruchtwasserinsulins eine Beurteilung<br />
des fetalen Insulinstoffwechsels.<br />
In der Abklärung eines Amnioninfektionssyndromes<br />
k<strong>an</strong>n die Bestimmung<br />
von Interleukinen (IL-6) aus dem<br />
Fruchtwasser eine wichtige Zusatzinformation<br />
in der klinischen Entscheidung<br />
darstellen. Das Risiko des Eingriffs<br />
besteht vor allem im vorzeitigen<br />
Blasensprung (1 Prozent). Die Prognose<br />
für den weiteren Schw<strong>an</strong>gerschaftsverlauf<br />
ist gut, da der Fruchtwasserabg<strong>an</strong>g<br />
meist nicht persistiert (1).Von den<br />
meisten Zentren wird eine Abortrate<br />
von 0,5 bis 1 Prozent <strong>an</strong>gegeben. Eine<br />
therapeutische Punktion der Fruchthöhle<br />
k<strong>an</strong>n bei Poly- und Oligohydramnion<br />
eingesetzt werden. Die häufigste<br />
Indikation ist eine Polyhydramnie mit<br />
subjektiven Beschwerden der Schw<strong>an</strong>geren.<br />
Durch das Abpunktieren kommt<br />
es zu einer deutlichen Verbesserung der<br />
subjektiven Beschwerden und es ist<br />
dadurch bei früher Gestationszeit eine<br />
Verlängerung der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
möglich. Im Rahmen eines fetofetalen<br />
Tr<strong>an</strong>sfusionssyndromes ist die Entlastungspunktion<br />
eine Alternative zur fetoskopischen<br />
Laserkoagulation.<br />
Eine Fruchtwasserauffüllung verbessert<br />
die sonographische Beurteilbarkeit<br />
des Feten. Zusätzlich k<strong>an</strong>n so ein Blasensprung<br />
durch gleichzeitige Instillation<br />
von Indigokarmin gesichert werden.<br />
Bei Anhydramnie k<strong>an</strong>n intrapartal<br />
eine beeinträchtigte Nabelschnurdurchblutung<br />
verbessert werden und es<br />
können Dezellerationen der fetalen<br />
Herzfrequenz vermieden werden. Die<br />
Gabe von Medikamenten in das Fruchtwasser<br />
(zum Beispiel Thyroxin zur Förderung<br />
der Lungenreife) spielt bisl<strong>an</strong>g<br />
keine Rolle.<br />
Chorion - und Plazentabiopsie<br />
Die Chorionbiopsie und Plazentabiopsie<br />
spielen für eine rasche Karyotypisierung<br />
eine wichtige Rolle. Die Untersuchung<br />
k<strong>an</strong>n ab 11 Schw<strong>an</strong>gerschaftswochen<br />
durchgeführt werden. Es k<strong>an</strong>n innerhalb<br />
von 1 bis 2 Tagen ein zuverlässiger<br />
Chromosomenbefund erhoben werden.<br />
Zusätzlich ist die Diagnose von<br />
zahlreichen Gendefekten und <strong>an</strong>geborenen<br />
Stoffwechselerkr<strong>an</strong>kungen möglich.<br />
Auch die Bestimmung des fetalen<br />
Rhesusfaktors sowie die Diagnose einer<br />
fetalen Rötelinfektion ist aus Chorionzotten<br />
möglich. Die Punktion unter<br />
Ultraschallsicht erfolgt meist tr<strong>an</strong>sabdominal.<br />
Der Eingriff ist im Vergleich<br />
zur Nabelschnurpunktion technisch einfacher<br />
und mit einem geringeren fetalen<br />
Risiko verbunden. Die Abortrate<br />
beträgt bei erfahrenen Untersuchern<br />
circa 1 Prozent. Das Abortrisiko unterscheidet<br />
sich nicht signifik<strong>an</strong>t von dem<br />
der Amniozentese.<br />
Nabelschnurpunktion<br />
Die Möglichkeit bereits ab der 18.<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche relativ gefahrlos<br />
eine fetale Blutuntersuchung durchzuführen,<br />
hat vor allem bei fetalen Anämien<br />
die Prognose entscheidend verbessert.<br />
Die Beh<strong>an</strong>dlung einer schweren<br />
fetalen Anämie (Hämoglobin < 10g<br />
Prozent) durch eine intrauterine Tr<strong>an</strong>sfusion<br />
ist ein Routineeingriff mit geringem<br />
Risiko geworden. Neben der Bestimmung<br />
des fetalen Hämoglobins<br />
wird aus der Nabelschnur auch die Abklärung<br />
für fetale Infektionen durchgeführt<br />
(Parvovirus B19, Zytomegalie,Toxoplasmose).<br />
Die primäre Abklärung<br />
von Infektionen (Toxoplasmose, Zytomegalie)<br />
erfolgt jedoch durch die sensitivere<br />
Methode des Erregernachweises<br />
mit der Polymerasekettenreaktion<br />
(PCR) aus dem Fruchtwasser. In Fällen<br />
mit therapierefraktärer fetaler Tachykardie<br />
k<strong>an</strong>n eine direkte medikamentöse<br />
Therapie des Feten über die Nabelschnur<br />
versucht werden. Dabei werden<br />
2 bis 5 mg/kg (geschätztes fetales Gewicht)<br />
Amiodaron (Coradex) über 10<br />
min in die Nabelvene verabreicht (2).<br />
Bei Alloimmunerkr<strong>an</strong>kungen k<strong>an</strong>n<br />
durch eine wiederholte Tr<strong>an</strong>sfusion von<br />
Thrombozytenkonzentraten die Rate<br />
von schweren Komplikationen (intrauterine<br />
Hirnblutungen) verringert werden.<br />
Die primäre Bestimmung des<br />
Karyogrammes (drei bis sechs Tage)<br />
k<strong>an</strong>n auch aus dem Nabelschnurblut erfolgen,<br />
hier ist aber aufgrund des geringeren<br />
Risikos der Plazentozentese der<br />
Vorzug zu geben.<br />
Das Risiko für einen intrauterinen<br />
Fruchttod ist in erster Linie von der<br />
Grunderkr<strong>an</strong>kung des Feten abhängig.<br />
Die fetale Verlustrate aufgrund des Eingriffes<br />
wird in Übersichtsarbeiten mit circa<br />
1 Prozent <strong>an</strong>gegeben.Blutungen in die
D O K U M E N T A T I O N<br />
Fruchthöhle bei Punktion der freien Nabelschnur<br />
sistieren meist nach 10 bis 20<br />
Sekunden.Vorübergehende Bradykardien<br />
werden vor allem bei Punktion der<br />
Nabelarterie und bei wiederholten Punktionsversuchen<br />
beobachtet (6).<br />
Fetoskopie<br />
Die Fetoskopie ist für die Abklärung von<br />
Fehlbildungen kaum bedeutsam. Bei einigen<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen ist die fetoskopisch<br />
gesteuerte Therapie jedoch ein erfolgreiches<br />
Verfahren. Der Eingriff wird in Sedierung<br />
und Analgesie der Schw<strong>an</strong>geren<br />
durchgeführt.Nach Inzision der Haut<br />
mit einem Skalpell wird ein Troikar mit<br />
Schaft bei einem Außendurchmesser von<br />
3,8 mm unter Ultraschallsicht in die<br />
Fruchthöhle eingebracht. Die fetoskopisch<br />
kontrollierte Laserkoagulation von<br />
plazentaren Gefäß<strong>an</strong>astomosen beim fetofetalen<br />
Tr<strong>an</strong>sfusionssyndrom hat einen<br />
klinischen Stellenwert erreicht (4). Bei<br />
diesem Kr<strong>an</strong>kheitsbild mit praktisch infauster<br />
Prognose gel<strong>an</strong>g es eine Überlebensrate<br />
von bis zu 70 Prozent zu erreichen.<br />
Beim Akardius, einer meist letalen<br />
Störung bei Zwillingsschw<strong>an</strong>gerschaften,<br />
k<strong>an</strong>n durch eine Laserkoagulation der<br />
Nabelschnurgefäße beim Akardius der<br />
zweite Zwilling gerettet werden (5). Das<br />
Risiko des Eingriffes für einen Blasensprung<br />
wird mit 4 bis 8 Prozent <strong>an</strong>gegeben.<br />
Mütterliche Verletzungen von Gefäßen,<br />
Blase und Darmschlingen sind extrem<br />
selten,stellen aber durch den relativ<br />
großen Außendurchmesser der Punktionsnadel<br />
im Gegensatz zur Amniozentese<br />
ein größeres Risiko dar. Bei fetaler<br />
Zwerchfellhernie mit schlechter Prognose<br />
(Leber im Thorax,kleine kontralaterale<br />
Lunge) k<strong>an</strong>n mit einer temporären<br />
Trachealokklusion die Prognose für die<br />
Feten verbessert werden (9).Der Eingriff<br />
wird allerdings derzeit nur in wenigen<br />
Zentren durchgeführt.<br />
Pränatale Punktion bei<br />
pathologischer Raumforderung<br />
Einige fetale Anomalien (Textkasten 2)<br />
führen bereits intrauterin zu einer schweren<br />
Beeinträchtigung des Feten. Hier ist<br />
eine intrauterine Therapie indiziert. Die<br />
offene Fetalchirurgie hat aufgrund der<br />
hohen Risiken noch keinen Eing<strong>an</strong>g in<br />
Textkasten 2<br />
Fetale Anomalien mit möglicher<br />
intrauteriner Therapie<br />
Fehlbildung<br />
Hydrothorax<br />
Harnwegsobstruktion<br />
Zwerchfellhernie<br />
Lungenadenomatose<br />
Steißbeinteratom<br />
Spina bifida<br />
Tr<strong>an</strong>sfusionssyndrom<br />
Therapieoptionen<br />
Shunt<br />
Shunt<br />
Trachealokklusion<br />
Tumorresektion<br />
Laserkoagulation<br />
Fetoskopische Deckung<br />
Laserkoagulation<br />
die klinische Routine gefunden, sondern<br />
wird zunehmend von der minimal invasiven<br />
Chirurgie abgelöst. Bei Oligohydramnie<br />
mit beidseitiger Obstruktion<br />
der ableitenden Harnwege und ausreichender<br />
Nierenfunktion ist die Einlage<br />
eines vesikoamnionalen Shunts indiziert.<br />
Der Katheter wird in Lokal<strong>an</strong>ästhesie<br />
nach Inzision der Haut mit einem Skalpell<br />
in die Fruchthöhle eingeführt. Nach<br />
Punktion des fetalen Hohlraumes (Blase,<br />
Hydrothorax, Zysten) wird der Shunt<br />
durch die Nadel eingeführt und am Erfolgsorg<strong>an</strong><br />
platziert.Trotz der Häufigkeit<br />
von obstruktiven Uropathien (1 : 200 Lebendgeburten)<br />
besteht die Indikation<br />
zur Intervention jedoch extrem selten,da<br />
die Prognose vielfach durch Begleitfehlbildungen<br />
beeinträchtigt wird. Eine<br />
weitere mögliche Indikation besteht bei<br />
ausgeprägtem Hydrothorax. Die dadurch<br />
bedingte Kompression der Lungen<br />
k<strong>an</strong>n durch die Einlage eines thorakoamnialen<br />
Shunts verhindert werden.<br />
Besteht ein Hydrops fetalis aufgrund einer<br />
makrozystischen Lungenmalformation<br />
(kongenital zystische-adenomatoide<br />
Lungenmalformation), d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n<br />
die Prognose bei dieser normalerweise<br />
infausten Erkr<strong>an</strong>kung durch eine Shunteinlage<br />
entscheidend verbessert werden<br />
(3). Eine intrauterine Drainage bei<br />
fetaler Erweiterung der Hirnventrikel<br />
hat sich hingegen nicht bewährt (1). Bei<br />
Makrozephalie mit infauster Prognose<br />
k<strong>an</strong>n die Abpunktion des Hydrozephalus<br />
sinnvoll sein, wenn dadurch eine vaginale<br />
Entbindung ermöglicht wird.<br />
Über eine pränatale Stammzelltherapie<br />
existieren derzeit nur Einzelfallberichte<br />
und diese viel versprechende Methode<br />
hat derzeit noch keinen klinischen<br />
Stellenwert.<br />
Fehlbildungen in der<br />
Spätschw<strong>an</strong>gerschaft<br />
Bei einer Diagnose von Fehlbildungen<br />
in der zweiten Schw<strong>an</strong>gerschaftshälfte<br />
besteht die Konsequenz meist in der<br />
Vorbereitung einer optimalen Therapie<br />
nach der Geburt. Bei Fehlbildungen mit<br />
infauster Prognose für den Feten gilt es<br />
den für die betroffene Schw<strong>an</strong>gere optimalen<br />
Weg für die Bewältigung dieser<br />
psychisch extrem schwierigen Situation<br />
zu finden. Durch den Wegfall der embryopathischen<br />
Indikation alter Fassung<br />
ist die Zäsur von 22 Schw<strong>an</strong>gerschaftswochen<br />
post conceptionem für<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche nach Pränataldiagnostik<br />
scheinbar hinfällig geworden.<br />
Hier ist jedoch eine Klarstellung<br />
durch den wissenschaftlichen Beirat<br />
der Bundesärztekammer in der Erklärung<br />
zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
nach Pränataldiagnostik (20. November<br />
1998) und in den Richtlinien zur pränatalen<br />
Diagnostik von Kr<strong>an</strong>kheiten und<br />
Kr<strong>an</strong>kheitsdispositionen (11. Dezember<br />
1998) erfolgt. Der Zeitpunkt, zu<br />
dem die extrauterine Lebensfähigkeit<br />
des Ungeborenen gegeben ist, soll weiterhin,<br />
abgesehen von seltenen Ausnahmefällen,<br />
als zeitliche Begrenzung für<br />
einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch nach<br />
pränataldiagnostisch erhobenem auffälligen<br />
Befund <strong>an</strong>gesehen werden. In<br />
besonderen Ausnahmefällen schwerster<br />
unbeh<strong>an</strong>delbarer Kr<strong>an</strong>kheiten oder<br />
Entwicklungsstörungen des Ungeborenen,<br />
bei denen postnatal in der Regel<br />
keine lebenserhaltenden Maßnahmen<br />
ergriffen würden, k<strong>an</strong>n nach Diagnosesicherung<br />
und interdisziplinärer Konsensfindung<br />
von dieser zeitlichen Begrenzung<br />
abgewichen werden.<br />
Ist einmal im Rahmen der Indikationsstellung<br />
gemeinsam mit der<br />
Schw<strong>an</strong>geren die Entscheidung gefallen,<br />
dass das Ungeborene getötet werden<br />
soll, liegt die sich dar<strong>an</strong> <strong>an</strong>schließende<br />
Wahl der Abbruchmethode in der Ver<strong>an</strong>twortung<br />
des Arztes. Eine der möglichen<br />
Methoden ist der Fetozid durch Injektion<br />
von Kaliumchlorid oder Unterbindung<br />
der Blutversorgung über die Nabelschnur.<br />
Auf diese Weise ist das Ungeborene<br />
tot, bevor die Geburt eingeleitet<br />
wird. Ein Fetozid, bei dem die beschriebene<br />
Methode nur gewählt wurde, um<br />
den „Erfolg“ eines späten Abbruchs bei<br />
161
D O K U M E N T A T I O N<br />
162<br />
gegebener extrauteriner Lebensfähigkeit<br />
des Ungeborenen zu ermöglichen,<br />
wird als nicht akzeptabel <strong>an</strong>gesehen.Vertretbar<br />
ist die Methode aber möglicherweise,<br />
wenn sie bei ohnehin indiziertem<br />
Abbruch für das Ungeborene je nach<br />
dessen Entwicklungsst<strong>an</strong>d das geringste<br />
verfahrensbedingte Leiden mit sich<br />
bringt. Ein Fetozid bei lebensfähigen<br />
Fehlbildungen wird daher weiterhin als<br />
nicht akzeptabel <strong>an</strong>gesehen.<br />
Die Bundesärztekammer hat, entstehend<br />
aus der 5. medizinisch-ethischen<br />
Klausur- und Arbeitstagung vom Oktober<br />
1997 in Schloß Schwarzenfeld unter<br />
dem Titel „Pränatale Medizin im Sp<strong>an</strong>nungsfeld<br />
von Ethik und Recht“, in Zusammenarbeit<br />
mit den betroffenen Fachgesellschaften<br />
und Arbeitsgruppen eine<br />
Erklärung mit dem Ziel verfasst, in der<br />
Öffentlichkeit die Diskussion über die<br />
aufgezeigten Konflikte und Probleme<br />
<strong>an</strong>zuregen und eine Änderung im gesellschaftlichen<br />
Bewusstsein zu bewirken. In<br />
dieser Erklärung wird der mit Einwilligung<br />
der Schw<strong>an</strong>geren von einem<br />
Arzt vorgenommene Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
d<strong>an</strong>n nicht als rechtswidrig <strong>an</strong>gesehen,<br />
wenn der Abbruch der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
unter Berücksichtigung der gegenwärtigen<br />
und zukünftigen Lebensverhältnisse<br />
der Schw<strong>an</strong>geren nach ärztlicher<br />
Erkenntnis <strong>an</strong>gezeigt ist. Der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch ist nur möglich,<br />
um eine Gefahr für das Leben oder<br />
die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung<br />
des körperlichen oder<br />
seelischen Gesundheitszust<strong>an</strong>des der<br />
Schw<strong>an</strong>geren abzuwenden, und wenn<br />
diese Gefahr nicht auf eine <strong>an</strong>dere für<br />
sie zumutbare Weise abgewendet werden<br />
k<strong>an</strong>n.<br />
Die juristischen Vorgaben und die<br />
Stellungnahmen der Bundesärztekammer<br />
sind aufgrund von zu allgemein gehaltenen<br />
Aussagen zurzeit für die<br />
Schw<strong>an</strong>gere und die Ärzte keine ausreichende<br />
Hilfestellung bei der Problematik<br />
der Spätabtreibung. Es wird der<br />
Schw<strong>an</strong>geren aufgrund des Gesetzestextes<br />
eine Abtötung des Feten bis zum Wehenbeginn<br />
in Aussicht gestellt, es bleibt<br />
aber unklar in welchen Fällen dies möglich<br />
ist. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung<br />
des seelischen Gesundheitszust<strong>an</strong>des<br />
ist durchaus auch bei leichten<br />
Fehlbildungen wie zum Beispiel der Trisomie<br />
21 möglich. Ist aufgrund des Gesundheitszust<strong>an</strong>des<br />
der Schw<strong>an</strong>geren eine<br />
Spätabtreibung ver<strong>an</strong>twortbar, d<strong>an</strong>n<br />
beginnt meist eine für die Schw<strong>an</strong>gere<br />
unzumutbare Suche nach einem Zentrum,<br />
das den Eingriff eventuell vornimmt.<br />
Schw<strong>an</strong>gere bleiben in einer extrem<br />
schwierigen psychischen Ausnahmesituation<br />
aufgrund unzureichender<br />
gesetzlicher Vorgaben auf sich alleine gestellt.Eine<br />
Lösung,die alle ethischen und<br />
medizinischen Aspekte für Mutter und<br />
Kind abdeckt, ist nicht möglich, eine Verbesserung<br />
der derzeitigen Situation ist<br />
aber unerlässlich.<br />
Die pränatale Diagnostik ist bei einer<br />
Vielzahl von Erkr<strong>an</strong>kungen die Grundvoraussetzung<br />
um überhaupt eine Therapie<br />
durchführen zu können. Dies ist klar<br />
im Interesse von Mutter und Kind. Die<br />
Schw<strong>an</strong>gere ist jedoch vor der ersten Ultraschalluntersuchung<br />
darüber aufzuklären,<br />
dass auch Fehlbildungen erfasst<br />
werden können, bei denen es keine Therapiemöglichkeit<br />
gibt. Die Schw<strong>an</strong>gere<br />
entscheidet aufgrund der Aufklärung<br />
welche diagnostischen Möglichkeiten sie<br />
in Anspruch nehmen will.<br />
Eine ver<strong>an</strong>twortungsvolle Betreuung<br />
von Schw<strong>an</strong>geren ist ohne Pränataldiagnostik<br />
nicht möglich. Da es durch die<br />
Diagnose von Fehlbildungen zu schweren<br />
Konfliktsituationen kommen k<strong>an</strong>n,<br />
ist die Beratung vor der Untersuchung<br />
und vor allem die umfassende Betreuung<br />
nach der Diagnose die Grundvoraussetzung<br />
für eine kompetente Pränataldiagnostik.<br />
Die Beratung vor einer Ultraschalluntersuchung<br />
wird daher in Zukunft einen<br />
wesentlich höheren Stellenwert erhalten<br />
müssen, um der Schw<strong>an</strong>geren die<br />
Entscheidung für oder gegen eine Ultraschall-<br />
oder invasive Diagnostik zu erleichtern.<br />
Die schwerwiegenden ethischen<br />
Probleme im Zusammenh<strong>an</strong>g mit<br />
der Pränataldiagnostik werden nicht dadurch<br />
gelöst werden, indem m<strong>an</strong> die<br />
Pränataldiagnostik als „Selektionsmethode“<br />
<strong>an</strong>pr<strong>an</strong>gert, da dadurch auch<br />
Kinder zu Schaden kommen, die ohne<br />
Pränataldiagnostik nicht beh<strong>an</strong>delt werden<br />
können.Die umfassende Betreuung<br />
von Schw<strong>an</strong>geren im Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
mit Pränataldiagnostik muss jedoch verbessert<br />
werden. Neben dem durchwegs<br />
hohen Niveau der medizinischen Betreuung<br />
ist eine kompetente psychosoziale<br />
Begleitung vor und nach der Diagnostik<br />
von fetalen Fehlbildungen noch<br />
unzureichend. Es gilt ein Netzwerk aufzubauen,<br />
welches Schw<strong>an</strong>geren bei der<br />
Diagnose von fetalen Fehlbildungen in<br />
dieser extrem schwierigen Situation eine<br />
optimale individuelle Lösung ermöglicht.<br />
M<strong>an</strong>uskript eingereicht: 15. 4. 2002, <strong>an</strong>genommen:<br />
10. 5. 2002<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2545–2552 [Heft 39]<br />
Literatur<br />
1. Crombleholme TM: Invasive fetal therapy: Current<br />
status <strong>an</strong>d future directions. Sem Perinatol 1994; 18:<br />
385–397.<br />
2. Gembruch U, M<strong>an</strong>z M, Bald R: Repeated intravascular<br />
treatment with amidarone in a fetus with refractory<br />
supraventricular tacycardia <strong>an</strong>d hydrops fetalis. Am<br />
Heart J 1989; 118: 1335–1338.<br />
3. Harrison MR,Adzick NS:The fetus as a patient. Surgical<br />
considerations.Ann Surg 1991; 213: 279–291.<br />
4. Hecher K, Plath H, Bregenzer T, H<strong>an</strong>sm<strong>an</strong>n M, Hackeloer<br />
BJ: Endoscopic laser surgery versus serial amniocenteses<br />
in the treatment of severe twin-twin tr<strong>an</strong>sfusion<br />
syndrome.Am J Obstet Gynecol 1999; 180: 717–724.<br />
5. Hecher K, Hackeloer BJ,Ville Y: Umbilical cord coagulation<br />
by operative microendoscopy at 16 weeks' gestation<br />
in <strong>an</strong> acardiac twin. Ultrasound Obstet Gynecol 1997;<br />
10: 130–132.<br />
6. Ludomirsky A: Intrauterine fetal blood sampling – a<br />
multicenter registry: evaluation of 7 462 procedures.<br />
Am J Obstet Gynecol 1993; 168: 318.<br />
7. Neilson JP: Ultrasound for fetal assessment in early<br />
pregn<strong>an</strong>cy.The Cochr<strong>an</strong> library 2000 Issue 2: 1–9.<br />
8. Stiller R, Huch R, Huch A, Zimmerm<strong>an</strong>n R: Qualität der<br />
pränatalen sonographischen Diagnostik – Vergleich sonographisch<br />
erfasster Fehlbildungen mit dem tatsächlichen<br />
fetalen Outcome in der Schweiz. Ultraschall in<br />
Med 2001; 22: 225–230.<br />
9.V<strong>an</strong>derWall KJ, Bruch SW, Meuli M: Fetal endoskopic<br />
(Fetendo) tracheal clip. J Pediatr Surg 1996; 31:<br />
1101–1104.<br />
10.Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: Erklärung<br />
zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik.<br />
Dtsch Arztebl 1998; 95: A-3013–3016<br />
[Heft 47].<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. med. Fr<strong>an</strong>z Kainer<br />
I. Frauenklinik<br />
Klinikum Innenstadt<br />
Ludwig-Maximili<strong>an</strong>s-Universität<br />
Maistraße 11, 80337 München<br />
E-Mail: fkainer@fk-i.med.uni-muenchen.de<br />
Weitere Informationen im Internet<br />
www.degum.de<br />
www.fetalmedicine.com<br />
http//www.eurofoetus.org/PROTOCOL.HTM
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 8, 21. Februar 2003<br />
DISKUSSION<br />
zu dem Beitrag<br />
Pränataldiagnostik:<br />
Ver<strong>an</strong>twortliche<br />
ärztliche Tätigkeit im<br />
Grenzbereich<br />
von<br />
Prof. Dr. med. Fr<strong>an</strong>z Kainer<br />
in Heft 39/2002<br />
Psychosoziale Begleitung<br />
verbessern<br />
Der Artikel beleuchtete am Schluss<br />
den Punkt der psychosozialen Betreuung<br />
von Schw<strong>an</strong>geren vor und nach<br />
der Diagnostik von Fehlbildungen.<br />
Leider berichteten mir Schw<strong>an</strong>gere<br />
aus meinem Umfeld, die das 35. Lebensjahr<br />
überschritten hatten, dass in<br />
diesem Punkt die Beratung durch die<br />
beh<strong>an</strong>delnden Ärzte als unzureichend<br />
empfunden wurde. Sie fühlten sich<br />
nach Aufklärungsgesprächen über eine<br />
Amniozentese, deren Nutzen ich<br />
d<strong>an</strong>k des Artikels besser verst<strong>an</strong>den<br />
habe, verunsichert, unter Druck gesetzt<br />
und unverst<strong>an</strong>den, weil sie begriffen<br />
hatten, dass diese Untersuchung<br />
klären sollte, ob eine Fehlbildung<br />
vorliege, die zu einer Abtreibung<br />
berechtigen würde. Dies k<strong>an</strong>n nicht<br />
Sinn von Schw<strong>an</strong>gerschaftsvorsorge<br />
sein.<br />
Mein Verdacht ist, dass die Angst<br />
vor juristischen Konsequenzen hinter<br />
diesen fehlgelaufenen Aufklärungsgesprächen<br />
steckt. Deshalb meine Bitte<br />
<strong>an</strong> die Frauenärzte, welche Schw<strong>an</strong>gerschaftsvorsorge<br />
praktizieren: Verbessert<br />
die nach Auffassung des Autors<br />
unzureichende psychosoziale Begleitung<br />
von Schw<strong>an</strong>geren vor und<br />
nach einer Fehlbildungsdiagnostik.<br />
Meiner Ansicht nach lässt sich dadurch<br />
auch die Gleichsetzung von pränataler<br />
Diagnostik mit Menschenselektion<br />
abwenden.<br />
Dr. med. Eva Meisters<br />
Api<strong>an</strong>straße 14<br />
84152 Mengkofen<br />
Keine Abtreibung nach<br />
Pränataldiagnostik<br />
Die informativen Darlegungen lassen<br />
nachdenken, welchen Wert oder Unwert<br />
diese Diagnostik hat. Entscheidend<br />
ist die Frage: Erfolgt diese Diagnostik<br />
im Interesse des Kindes oder<br />
im Interesse der Eltern Im ersten Fall<br />
ist diese Diagnostik zu begrüßen, da<br />
sie, im Fall einer Erkr<strong>an</strong>kung des Kindes,<br />
eine intrauterine oder unmittelbar<br />
postnatale Therapie ermöglicht. Im<br />
zweiten Fall ist zu fragen, ob die Eltern<br />
sich lediglich orientieren wollen, welche<br />
Maßnahmen bei Geburt eines behinderten<br />
Kindes für das Kind getroffen<br />
werden können, oder ob die Eltern<br />
von vornherein die Annahme eines<br />
behinderten Kindes verweigern und<br />
das Kind durch Abtreibung töten lassen.<br />
Im letzteren Fall ist eine Pränataldiagnostik<br />
abzulehnen. Das Gebot:<br />
Du sollst nicht töten, hat absolute Gültigkeit.<br />
Dr. med. Herwig Stingl<br />
Schulstraße 24<br />
92690 Pressath<br />
Hauptsache gesund<br />
Die seltene Gelegenheit einer Therapie<br />
pränatal entdeckter Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
in Ehren, Kehrseite der Medaille<br />
bleiben unzählige (und unselige) diagnostische<br />
Bemühungen mit dem Ziel,<br />
Kinder mit Trisomie 21 aufzuspüren<br />
und abzutreiben. Im Gemenge aus<br />
Heilsversprechen und Eradikationsbereitschaft<br />
entsteht leicht ein Klima<br />
von Intoler<strong>an</strong>z und Diskriminierung<br />
(„so ein Kind muss doch heute nicht<br />
mehr sein“). Frauen, eigentlich in der<br />
Hoffnung, werden, dem gesellschaftlichen<br />
Erwartungsdruck folgend, genötigt,<br />
perfekte Kinder zu gebären<br />
(„Hauptsache gesund“). Besonders<br />
ärgerlich, weil irrig, ist die gebetsmühlenhaft<br />
wiederholte Behauptung,<br />
die Erziehung eines Kindes mit Behinderung<br />
mache kr<strong>an</strong>k. Der Wunsch<br />
nach Abtreibung enthält genau genommen<br />
den versteckten Notruf:<br />
„Hilf mir, mein Kind <strong>an</strong>zunehmen!“<br />
Diese Hilfeleistung wird bisl<strong>an</strong>g leider<br />
meist unterlassen. Wärmstens empfohlen<br />
sei <strong>an</strong> dieser Stelle das Deutsche<br />
Down-Syndrom InfoCenter, Hammerhöhe<br />
3, 91207 Lauf <strong>an</strong> der Pegnitz.<br />
Hier bekommt m<strong>an</strong> kompetente<br />
Beratung von Experten, die selbst Eltern<br />
eines Kindes mit Down-Syndrom<br />
sind.<br />
Dres. med. Isabel und Christoph Starz<br />
Valentin-Becker-Straße 2<br />
97769 Bad Brückenau<br />
Schlusswort<br />
Ein zahlenmäßiges Aufrechnen von<br />
pränatal beh<strong>an</strong>delbaren Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
gegen Fälle mit Beendigung der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft bei Trisomie 21 ist<br />
nicht zielführend. Das würde bedeuten,<br />
dass ein „Aufspüren“ und „Beseitigen“<br />
von Feten mit Trisomie 21<br />
nicht zu hinterfragen wäre, wenn die<br />
Anzahl der beh<strong>an</strong>delbaren Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
zahlenmäßig höher wäre. Es<br />
steht außer Frage, dass mehr get<strong>an</strong><br />
werden muss, damit es bei Kindern<br />
mit Trisomie 21 nicht automatisch zu<br />
einer Beendigung der Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
kommt. Es steht aber auch<br />
außer Frage, das täglich unzählige ungeborene<br />
Kinder (bei intrauteriner<br />
Wachstumsstörung, vorzeitigem Blasensprung,<br />
Übertragung, Mehrlingsschw<strong>an</strong>gerschaften)<br />
auch ohne Fehlbildungen<br />
von der pränatalen Ultraschalluntersuchung<br />
durch das Festlegen<br />
des optimalen Geburtszeitpunktes<br />
profitieren. Frauen können durch<br />
die pränatale Diagnostik nicht genötigt<br />
werden, perfekte Kinder zu gebären,<br />
da dazu die pränatale Diagnostik<br />
glücklicherweise gar nicht in<br />
der Lage ist. Pränataldiagnostik k<strong>an</strong>n<br />
nicht in „gute“ oder „schlechte“ Diagnostik<br />
eingeteilt werden. Eine zuverlässige<br />
Diagnose ist die entscheidende<br />
Grundvoraussetzung für eine individuell<br />
optimale Beh<strong>an</strong>dlung.<br />
Prof. Dr. med. Fr<strong>an</strong>z Kainer<br />
I. Frauenklinik<br />
Klinikum der Innenstadt der<br />
Ludwig-Maximili<strong>an</strong>s-Universität<br />
Maistraße 11<br />
80337 München<br />
163
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 41, 11. Oktober 2002<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Bildung einer<br />
ärztlichen Identität<br />
Ein Vergleich von Medizinstudenten mit Studierenden sozialdienstlicher<br />
Studiengänge <strong>an</strong> zwei kirchlichen Fachhochschulen<br />
Götz Fabry, Ruth Marquard<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) ist ein kontrovers diskutiertes<br />
Thema, das exemplarisch für<br />
die Konflikte in der modernen Medizin<br />
steht (2, 4, 9). Einmal mehr scheint hier<br />
eine Kluft zu bestehen zwischen technischer<br />
Machbarkeit einerseits und Unsicherheiten<br />
bei der ethischen Bewertung<br />
<strong>an</strong>dererseits (10, 12). Die <strong>PID</strong> – in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten – ist ein komplexer<br />
und l<strong>an</strong>g dauernder Prozess, <strong>an</strong> dem<br />
verschiedene Berufsgruppen beteiligt<br />
sind. Schon im Vorfeld des Verfahrens,<br />
aber auch während der gesamten Prozedur,<br />
die sich über Monate bis Jahre<br />
erstrecken k<strong>an</strong>n, kommt der psychosozialen<br />
Beratung und Begleitung des betroffenen<br />
Paares ein großer Stellenwert<br />
zu (5, 6). Darüber hinaus würde auch<br />
die Arbeit mit behinderten Menschen<br />
durch eine Legalisierung der <strong>PID</strong> unter<br />
<strong>an</strong>deren Vorzeichen und gesellschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen vonstatten<br />
gehen als ohne diese Option (13).<br />
Bei Studien<strong>an</strong>fängern und Studierenden<br />
höherer Semester sollte ermittelt<br />
werden, wie künftige Ärzte einerseits<br />
und Studierende der Sozialarbeit<br />
und Sozialpädagogik <strong>an</strong> konfessionellen<br />
Fachhochschulen <strong>an</strong>dererseits das<br />
Verfahren und die damit verbundenen<br />
moralischen Probleme bewerten.<br />
Im Wintersemester 2001/2002 wurden<br />
in Freiburg 321 Studierende befragt, 213<br />
Studien<strong>an</strong>fänger, 108 höherer Semester.<br />
Es wurde ein Fragebogen benutzt, der<br />
neben soziodemographischen Daten 25<br />
Fragen zu drei Themenbereichen umfasste:<br />
1) Fragen zur allgemeinen moralischen<br />
Einschätzung der <strong>PID</strong> und den damit<br />
verbundenen Problemen. 2) Fragen<br />
zur Bewertung von reproduktionsmedizinischen<br />
Optionen, die Alternativen zur<br />
<strong>PID</strong> sein können.3) Fragen,die die praktische<br />
Anwendung der <strong>PID</strong> betreffen,<br />
wie etwa die Bewertung von Indikationen,<br />
die künftig den Einsatz der <strong>PID</strong><br />
rechtfertigen könnten.<br />
Das Durchschnittsalter der Befragten<br />
beträgt 23,3 Jahre, das Geschlechterverhältnis<br />
zeigt mit 70 : 30 einen<br />
deutlichen Frauenüberh<strong>an</strong>g, was darauf<br />
zurückzuführen ist, dass <strong>an</strong> den kirchlichen<br />
Fachhochulen überwiegend Frauen<br />
studieren. Die Auswertung zeigte jedoch<br />
keine geschlechtspezifischen Unterschiede<br />
bei den Antworten. Die<br />
überwiegende Mehrheit der Befragten<br />
(in keiner Gruppe unter 87 Prozent)<br />
gibt <strong>an</strong>, mit dem Thema <strong>PID</strong> schon<br />
in unterschiedlicher Weise (Medien,<br />
Studium) in Berührung gekommen zu<br />
sein.<br />
Die Frage, ob es in ihrem Bek<strong>an</strong>ntenkreis<br />
Menschen mit körperlicher oder<br />
geistiger Behinderung gibt, wird ebenfalls<br />
von der Mehrheit bejaht, allerdings<br />
von den Medizinstudenten tendenziell<br />
etwas weniger häufig (47 beziehungsweise<br />
63 Prozent) als von den Studierenden<br />
<strong>an</strong> den kirchlichen Fachhochschulen<br />
(67 bis 78 Prozent).<br />
Der Status des Embryos<br />
Ein Kernpunkt der Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
um die <strong>PID</strong> ist der Status des Embryos<br />
vor allem im Hinblick auf die Frage,<br />
ob ihm ein absolutes Lebensrecht<br />
zukommt (3, 8). Die Befragten bejahen<br />
dies mit deutlicher Mehrheit. Obwohl<br />
die Zustimmung in der Gruppe der<br />
Fünftsemester <strong>an</strong> der katholischen<br />
Fachhochschule (KFH) mit 90 Prozent<br />
deutlich über der der Medizinstudenten<br />
aus dem siebten Semester (63 Prozent)<br />
liegt, ergibt das Antwortverhalten ein<br />
recht homogenes Bild. Denn auch in<br />
dieser Gruppe, bei der die Zustimmung<br />
noch am geringsten ausfällt, bejahen<br />
fast zwei Drittel ein absolutes Lebensrecht<br />
des Embryos. Mehr als 80 Prozent<br />
der fortgeschrittenen Medizinstudenten<br />
stimmen auch der Aussage zu, dass<br />
jedes menschliche Lebewesen das gleiche<br />
Recht auf Leben hat; bei den Studierenden<br />
im fünften Semester <strong>an</strong> den<br />
kirchlichen Fachhochschulen liegt die<br />
Zustimmung bei <strong>an</strong>nähernd hundert<br />
Prozent. Auf die Frage, wie die<br />
Studienteilnehmer einen Embryo im<br />
Vier- bis Achtzellstadium beschreiben<br />
würden, findet sich keine eindeutige<br />
Übereinstimmung. Am ehesten findet<br />
die Umschreibung „Gebilde, das zum<br />
Mensch wird“ Zustimmung (in allen<br />
Gruppen etwa 60 Prozent). Medizinstudenten<br />
des siebten Semesters votieren<br />
häufiger als ihre Studienkollegen für<br />
die Umschreibung „Ansammlung von<br />
Zellen“ (22 Prozent) und bezeichnen<br />
den Embryo zu 15 Prozent als „noch<br />
nicht so schützenswert wie ein schon<br />
fertiges Lebewesen“. Deutliche Unterschiede<br />
wurden jedoch nicht festgestellt.<br />
Indikationen zur <strong>PID</strong><br />
Fragen nach möglichen Indikationen<br />
der <strong>PID</strong> zeigen auffällige Unterschiede<br />
zwischen den Medizinstudenten und<br />
den Studierenden der kirchlichen Fachhochschulen,<br />
die zu Beginn des Studiums<br />
meist nur als Trend erkennbar sind,<br />
mit zunehmender Semesterzahl aber<br />
eindeutig werden. Auf die Frage etwa,<br />
ob eine <strong>PID</strong> zum Ausschluss einer Trisomie<br />
21 beziehungsweise einer schweren<br />
geistigen Behinderung auch d<strong>an</strong>n<br />
vorgenommen werden sollte, wenn gar<br />
kein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko<br />
vorliegt, <strong>an</strong>tworten die Studien<strong>an</strong>fänger<br />
aller drei Untersuchungsgruppen<br />
übereinstimmend zurückhaltend<br />
(25 bis 33 Prozent).<br />
Während sich diese Skepsis bei den<br />
Studierenden <strong>an</strong> den kirchlichen Fachhochschulen<br />
im weiteren Verlauf noch<br />
verstärkt (16 beziehungsweise 20 Pro-<br />
164
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zent), befürworten mehr als 60 Prozent<br />
der Medizinstudenten des siebten Semesters<br />
den Einsatz der <strong>PID</strong> für solche<br />
Fälle. Ähnlich fällt die Bewertung für<br />
die Chorea Huntington aus, die für die<br />
nichtmedizinischen Untersuchungsgruppen<br />
als „Erkr<strong>an</strong>kung, die erst mit<br />
40 Jahren auftritt“ umschrieben wurde.<br />
In diesem Fall ist die Zustimmung der<br />
Medizinstudenten im siebten Semester<br />
mit 49 Prozent doppelt so hoch wie die<br />
der Studien<strong>an</strong>fänger. Die Studierenden<br />
der kirchlichen Fachhochschulen dagegen<br />
sind signifik<strong>an</strong>t zurückhaltender, in<br />
keiner Gruppe steigt die Zustimmung<br />
über fünf Prozent.<br />
Dem gleichen Trend folgt das Antwortverhalten,<br />
wenn d<strong>an</strong>ach gefragt<br />
wird, welche Konsequenzen aus einem<br />
positiven Testergebnis (also einem festgestellten<br />
genetischen Defekt) gezogen<br />
werden sollen. Knapp 38 Prozent der<br />
Studien<strong>an</strong>fänger im Fach Hum<strong>an</strong>medizin<br />
würden Trisomie 21 beziehungsweise<br />
eine zu erwartende schwere geistige<br />
Behinderung als Grund akzeptieren,<br />
den Embryo nicht für eine Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
zu verwenden, die Erstsemester<br />
der kirchlichen Fachhochschulen liegen<br />
mit 31 beziehungsweise 26 Prozent Zustimmung<br />
in etwa gleich.<br />
Deutliche Unterschiede zeigen dagegen<br />
die Antworten der höheren Semester:<br />
Die Akzept<strong>an</strong>z unter den Medizinern<br />
ist auf fast zwei Drittel gestiegen,<br />
wohingegen sie <strong>an</strong> der ev<strong>an</strong>gelischen<br />
Fachhochschule (EFH) auf 27 Prozent,<br />
<strong>an</strong> der katholischen sogar auf zehn<br />
Prozent gesunken ist. Auch <strong>an</strong>dere<br />
mögliche Indikationen, wie zum Beispiel<br />
schwere körperliche Missbildungen,<br />
werden sehr unterschiedlich<br />
bewertet.<br />
Diesen Differenzen liegen offensichtlich<br />
prinzipiell verschiedene Einstellungen<br />
zugrunde, die sich mit zunehmender<br />
Studiendauer stärker ausprägen.<br />
Dies lässt sich deutlich <strong>an</strong> der Bewertung<br />
der Aussage „ich hätte gar<br />
nicht erst testen lassen“ ablesen.<br />
Während die Studien<strong>an</strong>fänger aller drei<br />
Gruppen in ihrer Zustimmung dabei<br />
noch relativ dicht beiein<strong>an</strong>der liegen<br />
(43 bis 58 Prozent), unterscheiden sich<br />
die höheren Semester deutlich: Die Zustimmung<br />
bei den Medizinern geht auf<br />
31 Prozent zurück, wohingegen sie <strong>an</strong><br />
den kirchlichen Hochschulen auf 70<br />
Prozent (ev<strong>an</strong>gelische Fachhochschule)<br />
beziehungsweise 77 Prozent (katholische<br />
Fachhochschule) steigt. Ein Drittel<br />
der Studierenden des fünften Semesters<br />
der KFH würde, wenn sie selbst betroffen<br />
wären, eine Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
auch mit einem wahrscheinlich kr<strong>an</strong>ken<br />
Embryo entstehen lassen.<br />
Bewertung der <strong>PID</strong> insgesamt<br />
Die Frage, ob die <strong>PID</strong> auch weiterhin in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten bleiben sollte,<br />
be<strong>an</strong>tworten die Studien<strong>an</strong>fänger aller<br />
drei Hochschulen weitgehend übereinstimmend:<br />
36 Prozent der Mediziner<br />
und jeweils etwa die Hälfte der beiden<br />
<strong>an</strong>deren Gruppen der ersten Semester<br />
befürworten dies. G<strong>an</strong>z <strong>an</strong>ders dagegen<br />
sehen erneut die Antworten der höheren<br />
Semester aus: Die Zustimmung der<br />
Mediziner ist auf zwölf Prozent gesunken,<br />
<strong>an</strong> den kirchlichen Hochschulen ist<br />
sie dagegen auf 62 Prozent (EFH) beziehungsweise<br />
sogar auf 80 Prozent<br />
(KFH) gestiegen. Die höheren Semester<br />
der Medizinstudenten und der Studierenden<br />
<strong>an</strong> der katholischen Fachhochschule<br />
unterscheiden sich damit<br />
erheblich von ihren Kommilitonen im<br />
ersten Semester. Außerdem heben<br />
sich die medizinischen Siebtsemester<br />
signifik<strong>an</strong>t gegen die hohen Semester<br />
der beiden kirchlichen Fachhochschulen<br />
ab.<br />
Analog bewertet wird die Aussage,<br />
die <strong>PID</strong> stelle einen begrüßenswerten<br />
Fortschritt der Medizin dar und werde<br />
Leiden verringern. Während die Studien<strong>an</strong>fänger<br />
aller drei Gruppen skeptisch<br />
sind, zeigen sich erneut deutliche<br />
Unterschiede unter den höheren Semestern.Von<br />
den Medizinern würden jetzt<br />
54 Prozent dieser Aussage zustimmen,<br />
wohingegen die Zustimmung <strong>an</strong> den<br />
kirchlichen Fachhochschulen auf unter<br />
zehn Prozent gesunken ist. Auch hier<br />
sind die Unterschiede sowohl innerhalb<br />
der einzelnen Hochschulgruppen als<br />
auch zwischen den Medizinstudenten<br />
und den Studenten der kirchlichen<br />
Fachhochschulen bemerkenswert.<br />
An den Antworten auf die Frage<br />
„was wäre für Sie ein ethisch vertretbarer<br />
Einsatzbereich der <strong>PID</strong>“ zeigt<br />
sich, dass die Medizinstudenten ihre<br />
Bewertung <strong>an</strong> Indikationen orientieren,<br />
wohingegen die Studierenden der<br />
kirchlichen Fachhochschulen die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
grundsätzlich<br />
ablehnen, und dass diese Einstellung offensichtlich<br />
durch die Studiendauer beeinflusst<br />
wird. Am deutlichsten zeigt<br />
dies der Vergleich zwischen Medizinstudenten<br />
und Studierenden der katholischen<br />
Fachhochschule. Während die<br />
Studien<strong>an</strong>fänger der Medizin und der<br />
KFH den Einsatz der <strong>PID</strong> zur Diagnostik<br />
von schwersten geistigen und körperlichen<br />
Behinderungen mehrheitlich<br />
befürworten, sieht die Bewertung der<br />
höheren Semester beider Fachrichtungen<br />
g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>ders aus: Die Zustimmung<br />
unter den Medizinern ist von 65 auf 83<br />
Prozent gestiegen, unter den Studierenden<br />
<strong>an</strong> der katholischen Fachhochschule<br />
dagegen von 54 auf 33 Prozent gesunken.<br />
Umgekehrt wird die Aussage bewertet:<br />
„Überhaupt kein Einsatz wäre<br />
für mich ethisch vertretbar.“ Hier halbiert<br />
sich die Zustimmung der Mediziner<br />
von 36 (erstes Semester) auf 17 Prozent<br />
(siebtes Semester), wohingegen sie<br />
<strong>an</strong> der katholischen Fachhochschule<br />
von 49 (erstes Semester) auf 67 Prozent<br />
(fünftes Semester) <strong>an</strong>steigt.<br />
Der Einsatz der <strong>PID</strong> zur Geschlechtsdiagnostik<br />
ohne Kr<strong>an</strong>kheitsbezug<br />
oder zur Auswahl körperlicher<br />
Merkmale wird von allen Befragten<br />
deutlich abgelehnt. Was den Personenkreis<br />
der möglichen Nutzer der <strong>PID</strong> betrifft,<br />
so votieren die Medizinstudenten<br />
des siebten Semesters zu 60 Prozent für<br />
Paare, die ein erhöhtes Risiko für eine<br />
schwere Erbkr<strong>an</strong>kheit tragen. Die Studenten<br />
höherer Semester der katholischen<br />
Fachhochschule nennen dagegen<br />
zu 60 Prozent die Alternative „generell<br />
für niem<strong>an</strong>den“, wohingegen die Studierenden<br />
<strong>an</strong> der ev<strong>an</strong>gelischen Hochschule<br />
in ihrer Bewertung ungefähr dazwischen<br />
liegen.<br />
Konsequenzen für das eigene<br />
Verhalten<br />
Das bisher gezeigte Antwortmuster blieb<br />
auch d<strong>an</strong>n bestehen, wenn die Studierenden<br />
gefragt wurden, wie sie sich selbst<br />
verhalten würden, wenn sie mit einem<br />
25-prozentigen genetischen Risiko belastet<br />
wären. Als Antwortmöglichkeiten<br />
sollten der Verzicht auf ein Kind, die Ad-<br />
165
D O K U M E N T A T I O N<br />
option, eine künstliche Befruchtung mit<br />
<strong>PID</strong>, eine Schw<strong>an</strong>gerschaft mit Pränataldiagnostik<br />
und eventueller Abtreibung<br />
(in der Literatur auch als „Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
auf Probe“ bezeichnet [14]), die<br />
Samen- beziehungsweise Eizellspende<br />
und schließlich eine natürliche Zeugung<br />
ohne jegliche Intervention („es darauf<br />
<strong>an</strong>kommen lassen“) gegenein<strong>an</strong>der abgewogen<br />
werden. Die Studien<strong>an</strong>fänger<br />
<strong>an</strong> den kirchlichen Fachhochschulen<br />
äußern hier klare Präferenzen für die<br />
Adoption und die natürliche Zeugung<br />
ohne Intervention, die von jeweils etwa<br />
40 Prozent gen<strong>an</strong>nt werden. Bei allen <strong>an</strong>deren<br />
Alternativen liegt die Zustimmung<br />
jeweils im Bereich von nur zehn Prozent.<br />
Anders werten dagegen die Studien<strong>an</strong>fänger<br />
in Medizin. Zwar stimmen<br />
der Adoption 42 Prozent zu, doch d<strong>an</strong>n<br />
folgen die In-vitro-Fertilisation mit<br />
<strong>PID</strong> (29 Prozent) beziehungsweise die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft mit Pränataldiagnostik<br />
und eventuellem Abbruch (26 Prozent)<br />
vor der Schw<strong>an</strong>gerschaft ohne Intervention,<br />
die von knapp einem Viertel<br />
der Befragten gen<strong>an</strong>nt wird. Während<br />
diese Unterschiede jedoch lediglich<br />
Trends wiedergeben, unterscheiden<br />
sich die Antworten der Studierenden<br />
aus den höheren Semestern wieder<br />
deutlicher: Jetzt ist die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
die von den Medizinern<br />
mit fast 40 Prozent am häufigsten gen<strong>an</strong>nte<br />
Alternative, deren Akzept<strong>an</strong>z<br />
<strong>an</strong> den kirchlichen Fachhochschulen<br />
mit 5,4 (ev<strong>an</strong>gelisch) beziehungsweise<br />
null Prozent (katholisch) erheblich<br />
niedriger ist. Eine <strong>an</strong>aloge Bewertung<br />
ergibt sich für die so gen<strong>an</strong>nte Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
auf Probe.<br />
Zusammenfassung<br />
und Diskussion<br />
Weitgehende Einigkeit besteht bei allen<br />
Befragten über allgemeine moralische<br />
Aussagen. In Fragen der praktischen<br />
Umsetzung und Indikationen treten<br />
jedoch deutliche Unterschiede zutage:<br />
Die Studierenden der kirchlichen<br />
Fachhochschule stehen der <strong>PID</strong> im Vergleich<br />
zu den Medizinstudenten kritischer<br />
gegenüber. Am deutlichsten lehnen<br />
die Studierenden des fünften Semesters<br />
der katholischen Fachhochschule<br />
die <strong>PID</strong> ab, wohingegen die<br />
166<br />
Medizinstudenten des siebten Semesters<br />
die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik am<br />
stärksten befürworten. Diese Zustimmung<br />
orientiert sich allerdings <strong>an</strong> Indikationen;<br />
eine <strong>PID</strong> zur Diagnose des<br />
Geschlechts ohne Kr<strong>an</strong>kheitsbezug oder<br />
sogar um körperliche Merkmale zu bestimmen,<br />
lehnen auch die Medizinstudenten<br />
ab.<br />
Die Ergebnisse der Studie lassen den<br />
Schluss zu, dass die Sozialisation durch<br />
das jeweilige Studium offensichtlich einen<br />
deutlichen Einfluss auf die moralische<br />
Bewertung der <strong>PID</strong> hat. Interess<strong>an</strong>t<br />
ist, dass die Mediziner in ihrem<br />
Antwortverhalten weitgehend dem<br />
Richtlinien-Entwurf der Bundesärztekammer<br />
zur <strong>PID</strong> folgen (1). Es wurde<br />
zwar nicht ermittelt, inwieweit die Befragten<br />
diesen Entwurf k<strong>an</strong>nten, es lässt<br />
sich aber vermuten, dass dieser, wenn<br />
überhaupt, d<strong>an</strong>n nur oberflächlich bek<strong>an</strong>nt<br />
ist. Offensichtlich bildet sich aber<br />
während des Medizinstudiums eine<br />
ärztliche Identität, die bei aller Kontroverse<br />
im Detail doch gemeinsam<br />
geteilte Bewertungsmuster erkennen<br />
lässt. Dies gilt <strong>an</strong>alog auch für die<br />
Vergleichsgruppen <strong>an</strong> den kirchlichen<br />
Fachhochschulen, deren kritischere<br />
Haltung gegenüber der <strong>PID</strong> in höheren<br />
Semestern deutlicher ausgeprägt ist<br />
und sich inhaltlich <strong>an</strong> die offizielle<br />
Haltung der beiden großen Kirchen<br />
<strong>an</strong>nähert (7, 11).<br />
Die am Prozess der Entscheidungsfindung<br />
beteiligten Berufsgruppen<br />
bringen ihre eigenen, offensichtlich<br />
durch die berufliche Sozialisation geprägten<br />
Werthaltungen ein, die – wenn<br />
sie unhinterfragt und unverst<strong>an</strong>den<br />
bleiben – ein erhebliches Konfliktpotenzial<br />
in sich bergen. Insofern scheint<br />
im Hinblick auf die ärztliche Ausbildung<br />
eine bewusste Ausein<strong>an</strong>dersetzung<br />
mit den sozialisationsbedingten<br />
Einflüssen sowie der Identifikation mit<br />
der eigenen Berufsgruppe und deren<br />
St<strong>an</strong>dards ein unverzichtbares Element<br />
zu sein. Besonders erhellend<br />
könnten vor dem Hintergrund der Studie<br />
Lehrver<strong>an</strong>staltungen sein, <strong>an</strong> denen<br />
Lernende aus <strong>an</strong>deren Berufsgruppen,<br />
zum Beispiel den sozialdienstlichen<br />
Studiengängen oder von<br />
Kr<strong>an</strong>kenpflegeschulen, beteiligt sind.<br />
So könnte frühzeitig ein Prozess in<br />
G<strong>an</strong>g kommen, in dem die eigenen<br />
Normen und Werte als relativ begriffen<br />
werden, woraus die Notwendigkeit<br />
des lebensl<strong>an</strong>gen Lernens im Sinne der<br />
Erweiterung moralischer Kompetenz<br />
erwächst.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2690–2693 [Heft 41]<br />
Literatur:<br />
1. Bundesärztekammer: Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik. Dtsch Arzteblatt<br />
2000; 97: A 525–528 [Heft 9].<br />
2. Geraedts J, H<strong>an</strong>dyside A, Harper J et al.: ESHRE<br />
preimpl<strong>an</strong>tation genetic diagnosis (PGD) consortium:<br />
data collection II (May 2000). Hum Reprod 2000;<br />
15: 2673–2683.<br />
3. Habermas J: Auf dem Weg zu einer liberalen<br />
Eugenik Der Streit um das ethische Selbstverständnis<br />
der Gattung. In: Habermas J: Die Zukunft<br />
der menschlichen Natur. Fr<strong>an</strong>kfurt/Main: Suhrkamp<br />
2001; 34–125.<br />
4. H<strong>an</strong>dyside AH, Kontogi<strong>an</strong>ni EH, Hardy K, Winsten<br />
RM: Pregn<strong>an</strong>cies from biopsied hum<strong>an</strong> preimpl<strong>an</strong>tation<br />
embryos sexed by y-specific DNA amplification.<br />
Nature 1990; 344: 768–770.<br />
5. Hildt E: Über die Möglichkeit freier Entscheidungsfindung<br />
im Umfeld vorgeburtlicher Diagnostik. In:<br />
Düwell M, Mieth D: Ethik in der Hum<strong>an</strong>genetik. Tübingen:<br />
Fr<strong>an</strong>cke 1998; 202–204.<br />
6. Kollek R: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – Embryoselektion,<br />
weibliche Autonomie und Recht. Tübingen:<br />
Fr<strong>an</strong>cke 2000.<br />
7. Körtner V:Theologie und Biomedizin. EPD-<strong>Dokumentation</strong><br />
2001; 26/01.<br />
8. Kreß H: Diskussion: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, der<br />
Status von <strong>Embryonen</strong> und embryonale Stammzellen.<br />
ZEE 2001; 45: 230–235.<br />
9. Küpker W, Diedrich K: Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik im<br />
Sp<strong>an</strong>nungsfeld von Recht und Ethik. Gynäkologe<br />
1998; 31: 369–372.<br />
10. Ludwig M, Diedrich K: Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Gynäkologe 1998; 31: 353–359.<br />
11. Meisner J: Mensch von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>. Dtsch Arzteblatt<br />
2000; 97: A 888–890.<br />
12. Mieth D: Die Diktatur der Gene – Biotechnik zwischen<br />
Machbarkeit und Menschenwürde. Freiburg:<br />
Herder 2001.<br />
13. Radtke: Wehret den Fortschritten – subjektive Ansichten<br />
eines zum „Liegenlassen“ Bestimmten. In:<br />
Kleinert S (Hrsg.): Der medizinische Blick auf Behinderung.<br />
Würzburg: Königshausen & Neum<strong>an</strong>n,<br />
1997: 61–64.<br />
14. Rothm<strong>an</strong>n BK: The tentative pregn<strong>an</strong>cy. New York:<br />
Penguin 1986.<br />
Anschrift für die Verfasser:<br />
Dr. med. Götz Fabry<br />
Abteilung für Medizinische Psychologie<br />
Stef<strong>an</strong>-Meier-Straße 17<br />
79104 Freiburg<br />
E-Mail: fabry@uni-freiburg.de
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 41, 11. Oktober 2002<br />
Medizinreport<br />
Dem Amerik<strong>an</strong>er James Thomson<br />
gelingt erstmals im November<br />
1998, menschliche Embryonalzellen<br />
im Labor zu kultivieren. Mit einem<br />
Mal scheinen Visionen zum Greifen nahe:<br />
neue Neuronen für Parkinson-Patienten,<br />
Nervenzellersatz für Opfer eines<br />
Schlag<strong>an</strong>falles und des Hirnabbaus,<br />
Herzmuskelgewebe nach Infarkt und<br />
bei Herzinsuffizienz,Leberzellersatz bei<br />
Leberversagen, Hautzellen für Br<strong>an</strong>dverletzte<br />
und vieles mehr. Inzwischen<br />
betreiben weltweit mehr als 350 Unternehmen<br />
die Stammzellforschung<br />
und -<strong>an</strong>wendung (davon 80 börsennotiert).<br />
Definition, Arten, Ziel<br />
der Anwendung<br />
Stammzellen<br />
<strong>Forschung</strong> im Überblick<br />
Mehr als 350 Unternehmen konzentrieren sich auf<br />
diesen medizinischen Bereich.<br />
Stammzellen sind unreife Zellen, deren<br />
Entwicklung noch nicht festgelegt ist<br />
und die sich in die unterschiedlichsten<br />
Zelltypen differenzieren können (prospektive<br />
Potenz). Sie können sich sowohl<br />
beliebig vermehren und dabei ihre<br />
Multipotenz behalten als auch unter<br />
dem Einfluss verschiedener Faktoren<br />
(zum Beispiel Wachstumsfaktoren,<br />
genetische Faktoren, Nährstoffe) des<br />
Umgebungsmilieus zu Org<strong>an</strong>zellen und<br />
Geweben differenzieren.<br />
Je nach den Entwicklungsperspektiven<br />
werden totipotente und pluripotente<br />
Stammzellen unterschieden. Totipotente<br />
Stammzellen (gleich omnipotent)<br />
können zu einem vollständigen Lebewesen<br />
her<strong>an</strong>reifen. Dies gilt für Zellen<br />
eines menschlichen Embryos bis zum<br />
Achtzellstadium.<br />
Pluripotente (multipotente) Stammzellen<br />
sind solche, aus denen sich die<br />
verschiedensten Gewebe des menschlichen<br />
Körpers entwickeln können.<br />
Ein komplettes Individuum k<strong>an</strong>n aus<br />
diesen Zellen jedoch nicht mehr entstehen.<br />
Zu ihnen gehören die embryonalen<br />
Stammzellen und als nichtembryonale<br />
Stammzellen die Nabelschnurstammzellen,<br />
sowie die adulten – erwachsenen<br />
– Stammzellen.<br />
Embryonale Stammzellen<br />
Embryonale Stammzellen (ES-Zellen)<br />
werden dem Embryo aus der inneren<br />
Zellmasse der Blastozyste entnommen.<br />
In diesem Stadium sind sie nicht mehr<br />
totipotent. Dies bedeutet, dass aus ihnen<br />
kein eigenständiges Lebewesen<br />
mehr entstehen k<strong>an</strong>n (3). Sie können jedoch<br />
noch zu mehr als 200 verschiedenen<br />
Gewebetypen her<strong>an</strong>wachsen. Embryonale<br />
Stammzellen werden auf drei<br />
Arten gewonnen:<br />
❃ Aus überzähligen <strong>Embryonen</strong>:<br />
In seltenen Fällen werden bei künstlichen<br />
Befruchtungen nicht alle <strong>Embryonen</strong><br />
in den Uterus der Frau tr<strong>an</strong>sferiert.<br />
Sie lagern kryokonserviert in den Labors.<br />
In Deutschl<strong>an</strong>d sind im Unterschied<br />
zu <strong>an</strong>deren Staaten solche Fälle<br />
selten, weil hier laut <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
keine <strong>Embryonen</strong>, sondern lediglich<br />
Vorkernstadien (Pronukleusstadien)<br />
kryokonserviert werden dürfen.<br />
Nur in seltenen Fällen, in denen eine<br />
Frau die Fruchtbarkeitsbeh<strong>an</strong>dlung<br />
überraschend abbrechen muss, sind aus<br />
den Vorkernstadien bereits <strong>Embryonen</strong><br />
entst<strong>an</strong>den, die nicht übertragen werden.In<br />
Deutschl<strong>an</strong>d wird die Anzahl dieser<br />
so gen<strong>an</strong>nten verwaisten <strong>Embryonen</strong><br />
auf etwa 150 bis 200 geschätzt.<br />
❃ Aus abortierten Feten:<br />
Primordiale Keimzellen werden nach<br />
legal induziertem oder spont<strong>an</strong>em<br />
Abort aus fünf bis neun Wochen alten<br />
Feten isoliert und unter Kulturbedingungen<br />
zu Stammzellen weiterentwickelt.<br />
Aus hierdurch generierten pluripotenten<br />
Stammzelllinien konnten<br />
neuronale und auch myokardiale Zellarten<br />
entwickelt werden (28).<br />
❃ Therapeutisches Klonen:<br />
Dabei wird eine Eizelle entkernt und<br />
mit dem Erbmaterial einer Körperzelle<br />
versehen. Es entsteht eine Zelle, die<br />
sich wie ein normaler Embryo bis zum<br />
Blastozystenstadium weiterentwickelt.<br />
Dieses Verfahren hat für den Spender<br />
der Körperzelle den Vorteil, dass die<br />
entstehenden Stammzellen genetisch<br />
seinen Körperzellen ähnlich sind.<br />
In Deutschl<strong>an</strong>d ist die Gewinnung<br />
von embryonalen Stammzellen nach den<br />
drei gen<strong>an</strong>nten Verfahren nicht erlaubt,<br />
sondern lediglich der Import von vorh<strong>an</strong>denen,<br />
in Laboratorien verschiedener<br />
Länder gezüchteten Stammzelllinien<br />
seit J<strong>an</strong>uar 2002 gesetzlich möglich.<br />
Nicht alle bisherigen Stammzelllinien<br />
gelten jedoch als stabil genug für entsprechende<br />
<strong>Forschung</strong>en. Mit Altern der<br />
Zelllinien durch Verkürzung der Telomere<br />
ist möglicherweise zu rechnen. Invivo-Untersuchungen<br />
zeigen, dass die<br />
Lebensdauer embryonaler Stammzellen<br />
offenbar verkürzt ist.Außerdem ist nach<br />
Tr<strong>an</strong>sfusion embryonaler Stammzellen<br />
über das Auftreten von Teratokarzinomen<br />
berichtet worden.<br />
Nichtembryonale Stammzellen<br />
Die Nabelschnurstammzelle ist eine<br />
pluripotente Stammzelle. Der Vorteil<br />
gegenüber der adulten Stammzelle in<br />
späteren Lebensjahren besteht darin,<br />
dass das Nabelschnurblut noch weitgehend<br />
durch Keime und mögliche maligne<br />
tr<strong>an</strong>sformierte Zellen unbelastet<br />
zu sein scheint. Der Nachteil ist die relativ<br />
geringe Zahl, die bei der Anwendung<br />
im Erwachsenenalter eine vorherige<br />
Vermehrung der Zellen (Exp<strong>an</strong>sion) erforderlich<br />
macht, sowie die noch bestehende<br />
Problematik des Alterns der Zellen<br />
während der Exp<strong>an</strong>sion. Bezüglich<br />
der Exp<strong>an</strong>sion von Stammzellen<br />
scheint in diesem Jahr ein Fortschritt<br />
gelungen zu sein, mit der Entwicklung<br />
eines Prototyps zur membr<strong>an</strong>separierten<br />
Kokultivierung von Stammzellen im<br />
<strong>Forschung</strong>szentrum Jülich. Nach Untersuchung<br />
noch offener Fragen k<strong>an</strong>n<br />
gegebenenfalls mit einem klinischen<br />
Einsatz des Systems in zwei Jahren gerechnet<br />
werden (20). Die Frage der<br />
Gewebezüchtung aus Nabelschnurstammzellen<br />
mit unterschiedlichster Ziel-<br />
167
D O K U M E N T A T I O N<br />
richtung bietet außerordentliche Möglichkeiten.<br />
Adulte Stammzellen: Als adulte<br />
Stammzellen werden die Zellen bezeichnet,<br />
die in einem Org<strong>an</strong> für die Regeneration<br />
dieses Org<strong>an</strong>s zur Verfügung<br />
stehen und vom Org<strong>an</strong>ismus für<br />
diese Aufgabe vorgehalten werden.<br />
Diese Zellen wurden bisher als monopotent<br />
<strong>an</strong>gesehen, nur für die eine Aufgabe<br />
vorbereitet, ihr Org<strong>an</strong> regenerationsfähig<br />
zu halten.<br />
In den letzten zwei Jahren sind zahlreiche<br />
Ergebnisse berichtet worden, die<br />
jedoch auch für die adulten Stammzellen<br />
eine Multipotenz nachweisen. Nachdem<br />
tierexperimentell 2001 nachgewiesen<br />
werden konnte, dass Knochenmarkstammzellen<br />
nekrotische Muskelzellen<br />
nach Herzinfarkt ersetzen und Funktion<br />
sowie Überleben der Versuchstiere verbessern<br />
können (12, 21, 22, 27) wurde im<br />
Juli 2001 bereits von Strauer et al. (29)<br />
über sechs Knochenmarkstammzell-<br />
Tr<strong>an</strong>sfusionen bei Patienten mit Zust<strong>an</strong>d<br />
nach Infarkt berichtet.<br />
Mittlerweile hat die gleiche Arbeitsgruppe<br />
bereits 23 Patienten beh<strong>an</strong>delt,<br />
bei denen eigene Knochenmarkzellen<br />
über den Herzkatheter in die zerstörte<br />
Herzmuskelregion eingeleitet wurden<br />
und damit die Herzmuskelfunktion erhalten<br />
werden konnte. Revaskularisation<br />
und funktionelle Wiederherstellung<br />
von Infarktmyokard werden auch von<br />
Kocher et al. beschrieben (12, 13).<br />
Die Aufsehen erregenden Berichte<br />
folgten in den letzten Monaten. In der<br />
J<strong>an</strong>uarausgabe 2002 des „New Engl<strong>an</strong>d<br />
Journal of Medicine“ (26) wurde über<br />
acht männliche Patienten nach Herztr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
mit einem weiblichen<br />
Spenderherzen berichtet, bei denen<br />
aufgrund unterschiedlicher Todesursachen<br />
zwischen vier bis 552 Tage nach<br />
der Herztr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation eine Autopsie<br />
erfolgt war. Dabei zeigten sich auch<br />
hier Y-Chromosomen-positive Herzmuskelzellen<br />
in den weiblichen Spenderherzen.<br />
Dies k<strong>an</strong>n nur durch mit<br />
dem Blut in die Org<strong>an</strong>e her<strong>an</strong>gebrachten<br />
Stammzellen erklärt werden. Diese<br />
Ergebnisse führten zu einem „Editorial“<br />
(6) in der gleichen Ausgabe des<br />
New Engl<strong>an</strong>d of Medicine mit den Statements:<br />
„Methoden, Knochenmarkstammzellen<br />
systemisch <strong>an</strong>zuwenden,<br />
werden bereits in der klinischen Praxis<br />
168<br />
erprobt.Therapieziele, die bisher in das<br />
Reich der Träume gehörten, sind jetzt<br />
realistische Ziele, die schon bald verwirklicht<br />
werden.“<br />
Wie bris<strong>an</strong>t die Thematik ist, zeigt,<br />
dass zwei Monate später in der Ausgabe<br />
vom 17. März 2002 des New Engl<strong>an</strong>d<br />
Journal über das Generieren von Hepatozyten<br />
und epithelialen Zellen<br />
durch periphere Blutstammzellen berichtet<br />
wird (14). Dies führte zu einem<br />
Editorial in der gleichen Ausgabe unter<br />
dem Thema „C<strong>an</strong> hum<strong>an</strong> hematopoietic<br />
stem cells become skin, Gut, or<br />
Liver Cells“ (1). Experimentelle Ergebnisse<br />
zur Regeneration von Leberzellen<br />
aus Knochenmarkstammzellen<br />
liegen weiterhin vor (2, 9, 17, 23, 30).<br />
Auch das Generieren von Muskelzellen<br />
(8, 11, 18), Nierenzellen (10, 24),<br />
Alveolarepithel der Lungen (15) und<br />
Purkinje-Neuronen (25) aus Knochenmarkstammzellen<br />
ist mitgeteilt. Erfolgreiche<br />
Therapieversuche bei Morbus<br />
Parkinson durch Injektionen dopaminproduzierender<br />
Nervenstammzellen<br />
wurde aus der Gruppe A. Björklund<br />
(5) berichtet. Dabei wurden aus fetalem<br />
menschlichen Zwischenhirn gewonnene<br />
Stammzellen, die aus abortierten<br />
Feten zubereitet wurden, stereotaktisch<br />
injiziert. Die Erwartung ist berechtigt,<br />
dass auch hier die adulte Stammzelle<br />
des potenziellen Empfängers Möglichkeiten<br />
eröffnet.<br />
Weiterhin liegen Berichte über das<br />
Generieren von Knorpel- und Knochenzellen<br />
aus Blutstammzellen und<br />
darüber vor, dass in Fettzellgemischen,<br />
die bei kosmetischen Absaugverfahren<br />
von Bauchdeckenfett gewonnen wurden,<br />
Stammzellen generiert werden<br />
konnten, die Knochen-, Knorpel- und<br />
Muskelgewebe differenzierten.<br />
Die Untersuchung der Arbeitsgruppe<br />
von Catherine Verfaillie (31) beweist<br />
in exakter Versuchs<strong>an</strong>ordnung, dass aus<br />
isolierten Knochenmarkstammzellen<br />
Gewebe aller drei Grundgewebeschichten<br />
(Endo-, Meso- und Ektoderm) des<br />
Körpers gezüchtet werden können, und<br />
erhärtet so den Beweis der Multipotenz<br />
der adulten Stammzelle. Die adulte<br />
Stammzelle ist somit offensichtlich multipotent<br />
(16, 19). Dabei ist die Gesamtheit<br />
ihrer Möglichkeiten zur Differenzierung<br />
noch nicht <strong>an</strong>nähernd komplett<br />
erforscht.<br />
Möglichkeiten der Therapie<br />
❃ Org<strong>an</strong>ersatz und Knochenmarkersatz:<br />
Die Ersatztherapie mit Stammzellen<br />
findet in der Hämato-Onkologie seit<br />
Jahrzehnten statt. Bevor es möglich<br />
war, die Stammzellen aus dem peripheren<br />
Blut zu isolieren, wurde das Knochenmark<br />
durch multiple Punktionen<br />
eines Spenders in Narkose gewonnen.<br />
Seit der Stammzellgewinnung aus der<br />
Nabelschnur und dem peripheren Blut<br />
ist die Knochenmarktr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
prozentual deutlich rückläufig.<br />
❃ Org<strong>an</strong>ersatztherapie durch Stammzelltherapie:<br />
Die neuesten Daten zeigen, dass<br />
offensichtlich die hämatopoetische<br />
Stammzelle in der Lage ist, sich unter<br />
dem Einfluss von Org<strong>an</strong>gewebe oder<br />
bisher unbek<strong>an</strong>nter Faktoren in Herzmuskelzellen,<br />
Leberzellen, Epithelialzellen<br />
und neuronalen Zellen zu differenzieren.<br />
Ob dies dazu führt, dass<br />
Stammzellsuspensionen einem erkr<strong>an</strong>kten<br />
Org<strong>an</strong> direkt injiziert werden<br />
und dort immer sesshaft und in die org<strong>an</strong>spezifischen<br />
Zellen umgew<strong>an</strong>delt<br />
werden (homing), oder ob sie gegebenenfalls<br />
vorprogrammiert werden müssen,<br />
ist zurzeit noch offen.<br />
Noch im Versuchsstadium befindet<br />
sich der Einsatz von Nabelschnurstammzellen<br />
zur Senkung der Rate <strong>an</strong><br />
Hirnschädigung, insbesondere bei extrem<br />
früh geborenen Kindern (4).<br />
❃ Org<strong>an</strong>ersatz durch Tissue-Engineering:<br />
Eine weitere Möglichkeit bietet<br />
die Stammzelle in Form von Züchtung<br />
reimpl<strong>an</strong>tierbarer Körperzellen. Dazu<br />
gehören (bereits intensiv beforscht)<br />
die Generation von Hautzellen, zur<br />
Deckung von Hautdefekten, zum Beispiel<br />
nach Verbrennungen, aber auch<br />
für die Zukunft das Generieren von<br />
<strong>an</strong>deren Zellsystemen, beispielsweise<br />
Knorpelzellen für die Beh<strong>an</strong>dlung der<br />
Arthrose, und viele <strong>an</strong>dere Einsatzgebiete.<br />
Die bisher diskutierten Möglichkeiten<br />
des Org<strong>an</strong>ersatzes benutzen<br />
Stammzellen vom gleichen Spender. Sie<br />
sind also autolog. Die im Folgenden bei
D O K U M E N T A T I O N<br />
der Tumortherapie zu besprechenden<br />
Stammzellen stammen von fremden<br />
Spendern, sie sind also allogen.<br />
❃ Tumortherapie mit Stammzellen:<br />
In der Tumortherapie wird ausgenutzt,<br />
dass allogen infundierte Fremdspender-Stammzellen<br />
als unerwünschte<br />
Wirkung zwar die Körperzellen des<br />
Empfängers (Spender gegen Wirt<br />
gleich Graft-versus-host-Reaktion) <strong>an</strong>greifen,<br />
aber auch als erwünschte Wirkung<br />
die Tumorzellen des Empfängers<br />
vernichten (Graft-versus-Tumor gleich<br />
Spende gegen Tumoreffekt). Es ist zu<br />
erwarten, dass mittels allogener Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
auch bei gewissen soliden<br />
Tumoren die Beseitigung einer minimalen<br />
residualen Erkr<strong>an</strong>kung möglich<br />
werden k<strong>an</strong>n.<br />
❃ Gewinnung von Nabelschnur- und<br />
adulten Stammzellen:<br />
Nabelschnurblutentnahme: Das Nabelschnurblut<br />
k<strong>an</strong>n nach der Geburt<br />
ohne jegliche Beeinträchtigung des<br />
Neugeborenen und der Mutter gesammelt<br />
und konserviert werden. Nach<br />
Abnabelung des Neugeborenen k<strong>an</strong>n<br />
die Nabelschnur unter sterilen Bedingungen<br />
punktiert und das in der Nabelschnur<br />
und Plazenta enthaltene Blut gesammelt<br />
werden. Es ist wichtig, dass das<br />
entnommene Nabelschnurblut innerhalb<br />
von 24 Stunden präpariert und in<br />
flüssigem Stickstoff kryokonserviert<br />
wird, entweder zur späteren allogenen<br />
Anwendung (ungerichtete Spende)<br />
oder zur familiär allogenen/autologen<br />
Anwendung (gerichtete Spende). Die<br />
Fähigkeit der Stammzellen, sich zu vermehren,<br />
nimmt ab, je länger das Blut<br />
unpräpariert bleibt.<br />
Die meisten der mit Stammzellen beh<strong>an</strong>delbaren<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen erfordern<br />
zw<strong>an</strong>gsläufig eine Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation von<br />
körpereigenem Gewebe, das zum Zeitpunkt<br />
der Erkr<strong>an</strong>kung oft nicht zur Verfügung<br />
steht. Die individuelle Einlagerung<br />
von Nabelschnurblut umgeht dieses<br />
Problem durch lebensl<strong>an</strong>ge Konservierung<br />
von körpereigenen Stammzellen<br />
nach der Geburt. Diese Stammzel-<br />
Eine L<strong>an</strong>gversion des Textes sowie Literatur<strong>an</strong>gaben finden<br />
Sie auf den Internetseiten des Deutschen Ärzteblattes<br />
unter www.aerzteblatt.de/plus4102<br />
len können dem Spender jederzeit auf<br />
Abruf zur Verfügung stehen (biologische<br />
Lebensversicherung).<br />
Das Problem der m<strong>an</strong>chmal zu geringen<br />
Zahl <strong>an</strong> Stammzellen im Nabelschnurblut,welche<br />
d<strong>an</strong>n für die Therapie<br />
zahlenmäßig nicht ausreichen, scheint<br />
durch die seit kurzem mögliche In-vitro-<br />
Exp<strong>an</strong>sion (Vermehrung im Labor)<br />
gelöst zu werden (7, 20). In den meisten<br />
Fällen stellt sich außerhalb der Onkologie<br />
die Frage autolog oder allogen nicht,<br />
sondern die Art der Anwendung ist, wie<br />
zum Beispiel das kommende Tissue-<br />
Engineering, zw<strong>an</strong>gsläufig in autologer<br />
Anwendung körpereigener Stammzellen<br />
günstiger. Die Einlagerung der<br />
Stammzellen k<strong>an</strong>n lebensrettend sein,<br />
umso mehr, als sie auch Beh<strong>an</strong>dlungsch<strong>an</strong>cen<br />
für Erkr<strong>an</strong>kungen darstellt,<br />
die üblicherweise erst in der zweiten<br />
Lebenshälfte auftreten.<br />
Gewinnung von hämatopoetischen<br />
Stammzellen bei<br />
Erwachsenen<br />
Grundsätzlich könnte <strong>an</strong> die Anwendung<br />
von Stammzellen aller Org<strong>an</strong>e<br />
für die oben erwähnten Therapiemöglichkeiten<br />
menschlicher Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
gedacht werden. Für die praktische<br />
Anwendung bietet sich jedoch die offenbar<br />
multipotente hämatopoetische<br />
Stammzelle (die CD-34-Zelle) deshalb<br />
<strong>an</strong>, weil sie vergleichsweise einfach zu<br />
gewinnen beziehungsweise in ausreichender<br />
Zahl <strong>an</strong>zureichern ist.<br />
Die hämatopoetische Stammzelle ist<br />
durch das Oberflächen<strong>an</strong>tigen CD-34<br />
charakterisiert und mittels monoklonaler<br />
Antikörper qu<strong>an</strong>titativ zu bestimmen.<br />
Mittels Stimulationsfaktoren<br />
(zum Beispiel GCSF) bei Normalpersonen<br />
oder in der Regenerationsphase<br />
nach Zytostatikatherapie (bei gleichzeitiger<br />
Anwendung von Stimulationsfaktoren)<br />
können die CD-34-Zellen im<br />
peripheren Blut auf das Hundert- bis<br />
Tausendfache gesteigert werden. In<br />
dieser Phase gelingt es d<strong>an</strong>n leicht,<br />
durch Differenzialzentrifugation aus<br />
dem peripheren Blut den CD-34-<br />
Stammzell<strong>an</strong>teil auf die für eine Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
benötigte Zellzahl von über<br />
2 Mio./kg Körpergewicht <strong>an</strong>zureichern.<br />
D<strong>an</strong>ach können sie eingefroren und am<br />
Tag der Reinfusion aufgetaut und infundiert<br />
werden. Sie können aber auch<br />
unmittelbar nach Gewinnung in konzentrierter<br />
Zahl, zum Beispiel nach Infarkt<br />
und Zuständen nach Zellunterg<strong>an</strong>g,<br />
in <strong>an</strong>deren Org<strong>an</strong>en reinfundiert<br />
werden. Im Rahmen eines Tissue-Engineerings<br />
können sie in Zellkulturen<br />
zu <strong>an</strong>deren Org<strong>an</strong>zellen weiterentwickelt<br />
werden.<br />
Zusammenfassung<br />
Die dargestellten Untersuchungen in der<br />
Stammzellforschung mit Nabelschnurstammzellen<br />
und adulten Stammzellen<br />
weisen auf eine Multipotenz dieser<br />
Stammzellen hin. Die autolog <strong>an</strong>wendbare<br />
adulte Stammzelle und die Nabelschnurstammzelle<br />
wären als Zellersatz<br />
vieler Org<strong>an</strong>e körpereigen und damit<br />
ohne Gefahr von Abstoßungsreaktionen<br />
und von geringer Gefahr einer Tumorentstehung.<br />
Die neuesten Daten lassen<br />
deshalb die Annahme zu, dass in naher<br />
Zukunft die adulte Stammzelle und<br />
die Nabelschnurstammzelle den Zellersatz<br />
aller ausfallenden Org<strong>an</strong>e gewährleisten<br />
k<strong>an</strong>n. Damit würde die Arbeit<br />
mit embryonalen Stammzellen, welche<br />
ethisch bedenklich ist, in vielen experimentellen<br />
und therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten<br />
ersetzt werden. Für<br />
die therapeutische Anwendung wäre<br />
d<strong>an</strong>n denkbar, dass<br />
a) das kostbare Nabelschnurblut nicht<br />
verworfen, sondern für verschiedenste<br />
Anwendungsbereiche kryokonserviert<br />
wird und<br />
b) die Erwachsenenstammzellen,wie<br />
jetzt schon in der Hämato-Onkologie,<br />
in großer Zahl für die einzelnen Anwendungsgebiete<br />
gewonnen oder aber<br />
bereits in einem Alter, in dem Vorinfektionen<br />
und Zellalterung mit Verlust<br />
von Entwicklungspotenz seltener sind,<br />
eingefroren (kryokonserviert) werden,<br />
zum Beispiel im Alter von 18 Jahren.<br />
Anschriften der Verfasser:<br />
Dr. med. Georg Döhmen<br />
IVF-Zentrum Mönchengladbach<br />
Von-Groote-Straße 175, 41066 Mönchengladbach<br />
E-Mail: info@kindwunsch.de<br />
Prof. Dr. med. H<strong>an</strong>s Edgar Reis<br />
Chefarzt der Medizinischen Klinik I<br />
Kliniken Maria Hilf GmbH, St. Fr<strong>an</strong>ziskus<br />
Viersener Straße 450, 41063 Mönchengladbach<br />
169
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 43, 25. Oktober 2002<br />
„1000Fragen“-Projekt<br />
Diskussion zur Bioethik<br />
Eine breite Öffentlichkeit soll sich mit Entwicklungen<br />
der modernen Medizin beschäftigen.<br />
Tausend Fragen statt vorschneller Antworten“ – mit diesem Ziel hat<br />
die Aktion Mensch am 10. Oktober das „1000Fragen“-Projekt gestartet.<br />
Denn bevor verbindliche Antworten gegeben würden, müssten<br />
erst die richtigen Fragen gestellt werden. Gesucht und gesammelt<br />
werden Fragen, die sich auch vor dem Hintergrund persönlicher<br />
Erfahrungen mit den Ch<strong>an</strong>cen und Risiken von Biotechnologie<br />
und den Entwicklungen in der modernen Medizin ausein<strong>an</strong>der setzen.<br />
Unter www.1000fragen. de findet m<strong>an</strong> umfassende Informationen<br />
und die Möglichkeit, seine eigene Frage zu stellen. Ab März<br />
kommenden Jahres werden die gesammelten Fragen auf Plakaten, in<br />
Anzeigen und Kino-Spots veröffentlicht und <strong>an</strong> die Ver<strong>an</strong>twortlichen<br />
in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft übergeben. Infrage und<br />
zur Diskussion gestellt werden Themen wie Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik,<br />
Gentests, Klonen, die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> Nichteinwilligungfähigen<br />
sowie Sterbehilfe.<br />
Heft 45, 8. November 2002<br />
<strong>Dokumentation</strong><br />
Stellungnahme zur <strong>PID</strong><br />
Ergänzende Äußerung des Wissenschaftlichen Beirats<br />
im Internet<br />
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer (BÄK) hält <strong>an</strong> seiner Position<br />
fest, „wonach die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>) im Einzelfall bei Verdacht auf die<br />
Entstehung einer schwerwiegenden genetischen Erkr<strong>an</strong>kung in engen Grenzen und<br />
unter Einhaltung strikter Verfahrensregeln aus medizinischen, ethischen und rechtlichen<br />
Gesichtspunkten vertretbar ist“. Die kontroverse Diskussion habe gezeigt, dass<br />
eine rechtliche Klärung der Zulässigkeit der <strong>PID</strong> durch den Gesetzgeber notwendig sei,<br />
heißt es weiter in einer „Ergänzenden Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats<br />
zum Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“. Der 105.<br />
Deutsche Ärztetag 2002 in Rostock hatte allerdings eine Entschließung verabschiedet,<br />
die auf ein gesetzliches Verbot der <strong>PID</strong> zielt (siehe DÄ, Heft 24/2002). Der Vorst<strong>an</strong>d<br />
der BÄK hat sich bisher keine abschließende Meinung zur <strong>PID</strong> gebildet. Er sprach sich<br />
auf seiner Sitzung am 18. Oktober jedoch dafür aus, im Interesse der allseitigen<br />
Diskussion die „Ergänzende Stellungnahme“ in die umfassende <strong>Dokumentation</strong><br />
des Deutschen Ärzteblattes „<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>“ zu integrieren, die<br />
im Internet abrufbar ist unter www. aerzteblatt.de/pid.<br />
Heft 46, 15. November 2002<br />
EKD-Erklärung „Was ist der Mensch“<br />
Das Wesen in der<br />
Petrischale ernst nehmen<br />
Die Synode der Ev<strong>an</strong>gelischen Kirche Deutschl<strong>an</strong>ds<br />
legt eine Erklärung vor. Umstritten bleibt nach wie vor<br />
die Frage des <strong>Embryonen</strong>schutzes.<br />
Sollte es Gottes Wille sein, dass<br />
70 Prozent der Zellen nicht geboren<br />
werden“ fragte der Berliner Theologieprofessor<br />
Richard Schröder provozierend<br />
die 120 Delegierten, die<br />
auf der Synode der Ev<strong>an</strong>gelischen Kirche<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d (EKD) im Ostseebad<br />
Timmendorfer Str<strong>an</strong>d das diesjährige<br />
Schwerpunktthema „Was ist der<br />
Mensch“ beh<strong>an</strong>delten. „Und werden<br />
wir irgendw<strong>an</strong>n kaum nachweisbare<br />
Zellen beerdigen“ Solche absurden<br />
Fragen möchte er sich auch in Zukunft<br />
nicht stellen. Schröder sprach sich vor<br />
dem höchsten „gesetzgebenden“ Gremium<br />
der EKD, das 26,6 Millionen ev<strong>an</strong>gelische<br />
Christen in Deutschl<strong>an</strong>d vertritt,<br />
für einen gestuften <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
aus. Zwar gehe jeder Mensch aus einer<br />
befruchteten Eizelle hervor,fügte er hinzu,<br />
aber nicht aus jeder befruchteten Eizelle<br />
werde ein Mensch.Dagegen warnte<br />
Wolfg<strong>an</strong>g Huber, Bischof in Berlin-<br />
Br<strong>an</strong>denburg und Mitglied im Nationalen<br />
Ethikrat, in der Diskussion über den<br />
vorbereiteten Entwurf davor, aus dem<br />
Abgehen natürlich gezeugter Zellen auf<br />
bioethische Grundsätze zu schließen,<br />
und forderte, „gerade die Beziehung zu<br />
dem Wesen, das wir in der Petrischale<br />
herstellen, sehr ernst zu nehmen“.<br />
Ethischer Fundamentaldissens, der<br />
die Grundlagen des gesellschaftlichen<br />
Zusammenlebens berührt, oder Ausdruck<br />
des Pluralismus, wie er innerhalb<br />
der Kirche akzeptiert werden k<strong>an</strong>n<br />
Die Protest<strong>an</strong>ten sind sich in der Beurteilung<br />
des schwelenden Konfliktes<br />
selbst nicht einig. Im Eing<strong>an</strong>gsreferat<br />
hatte sich Wilfried Härle,Theologieprofessor<br />
in Heidelberg und als Experte <strong>an</strong><br />
der „Kundgebung“ gen<strong>an</strong>nten Stellungnahme<br />
beteiligt, eindeutig für den<br />
Schutz des beginnenden Lebens von<br />
der Befruchtung <strong>an</strong> ausgesprochen und<br />
damit die Diskussion <strong>an</strong>gestoßen. „In<br />
diesem Prozess der Entwicklung als<br />
Mensch gibt es keine Zäsur, <strong>an</strong> der aus<br />
einem bloßen Zellhaufen erst ein<br />
Mensch würde“, betonte Härle.<br />
Aber auf bioethische Fragen wollten<br />
die Synodalen ihr Schwerpunktthema<br />
nicht reduzieren.Anregen ließen sich die<br />
Kirchenparlamentarier für ihre Diskussion<br />
von der Meinungsforscherin Renate<br />
Köcher. Die Leiterin des Instituts für<br />
Demoskopie Allensbach brachte eine<br />
nüchterne Analyse heutiger Einstellungen,<br />
Wünsche und Ängste. Der Mensch<br />
denke in individuellen Kosten-Nutzen-<br />
Kategorien, nicht so sehr in ethischen<br />
Dimensionen, konstatierte sie. Eine tiefer<br />
gehende Ausein<strong>an</strong>dersetzung mit<br />
ethischen oder religiösen Themen fände<br />
nicht statt, und wenn, d<strong>an</strong>n nur in eng<br />
begrenzten Zirkeln. Vielmehr meinten<br />
die Bürger, dass der medizinische Fortschritt<br />
in den nächsten Jahren bahnbrechende<br />
Erfolge zeitigen werde. „Wenn<br />
ein gravierender Nutzen zu erwarten ist,<br />
zum Beispiel Erfolge bei der Bekämp-<br />
170
D O K U M E N T A T I O N<br />
fung schwerer Kr<strong>an</strong>kheiten, d<strong>an</strong>n wiegt<br />
das für die meisten schwerer als <strong>an</strong>dere<br />
Bedenken“, sagte die Meinungsforscherin.<br />
So plädierten laut Köcher knapp<br />
zwei Drittel dafür, die <strong>Forschung</strong> zu forcieren,<br />
bei der Eingriffe in die Erb<strong>an</strong>lagen<br />
zur Bekämpfung von Erbkr<strong>an</strong>kheiten<br />
vorgenommen werden.<br />
In der d<strong>an</strong>n folgenden Debatte zeigte<br />
sich, wie schwer fassbar das Thema ist.<br />
Letztlich verabschiedeten die Synodalen<br />
mit großer Mehrheit ein Papier, das philosophisch<br />
und theologisch fundiert besonders<br />
auf den Schutz der Menschenwürde<br />
abhebt. Ob in der <strong>Forschung</strong>, im<br />
Zusammenleben, bei der Pflege, bei Behinderten<br />
oder im Wirtschaftsleben, die<br />
EKD sieht derzeit in vielen Lebensbereichen<br />
die Würde des Menschen gefährdet.<br />
Zwar bejaht die Erklärung ausdrücklich<br />
medizinische <strong>Forschung</strong>, die<br />
der Minderung oder Vermeidung von<br />
unnötigem Leiden, der Suche nach<br />
neuen Heilungsmöglichkeiten und der<br />
Verbesserung der menschlichen Lebensqualität<br />
dienen könnten, lehnt<br />
aber alle Methoden der <strong>Forschung</strong><br />
oder Therapie ab, „durch die Menschen<br />
bloß als Mittel für die Heilungsch<strong>an</strong>cen<br />
<strong>an</strong>derer gebraucht werden“. Verändernde<br />
Eingriffe in das Erbgut des<br />
Menschen dürfe es nicht geben.<br />
Menschen mit Behinderung müssten<br />
auch in Zukunft einen <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nten Platz<br />
in der Gesellschaft haben, fordern die<br />
Synodalen. Anlass zu großer Besorgnis<br />
gibt ihnen, dass eine aufgrund von vorgeburtlicher<br />
Diagnostik festgestellte Behinderung<br />
inzwischen fast selbstverständlich<br />
zum Grund für einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
werde. Die Erklärung spricht<br />
sich dezidiert gegen Schritte in Richtung<br />
auf eugenische Selektion – etwa aufgrund<br />
einer Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik – aus.<br />
Ein klares Nein zu niederländischen<br />
Verhältnissen bringt das Papier in Sachen<br />
Sterbehilfe. Hospizbewegung und<br />
Palliativmedizin sollten unterstützt und<br />
gefördert werden. „Dazu gehört auch<br />
die ärztliche Weisheit, die erkennt,<br />
w<strong>an</strong>n es geboten ist, im Einvernehmen<br />
mit Patienten und Angehörigen auf<br />
medizinisch noch mögliche Maßnahmen<br />
zur Lebensverlängerung zu verzichten“,<br />
so die Erklärung. Die strittige<br />
Frage, w<strong>an</strong>n das Menschsein und damit<br />
die Schutzwürdigkeit beginnt, lässt der<br />
Text offen.<br />
Dorthe Kieckbusch<br />
Heft 51–52, 23. Dezember 2002<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik als Option<br />
Differenzierte Meinung<br />
der Behinderten-Vertreter<br />
Der Nationale Ethikrat fragte nach gesellschaftlichen Folgen.<br />
Mukoviszidose-Patienten stellt m<strong>an</strong><br />
sich <strong>an</strong>ders vor als Steph<strong>an</strong><br />
Kruip. Der 37-jährige Diplom-<br />
Physiker, Vater dreier Kinder, sitzt im<br />
lichten Saal des „dbb forum berlin“, wo<br />
am 13. Dezember der Nationale Ethikrat<br />
tagt. Dort erläutert Kruip, Vorst<strong>an</strong>dsmitglied<br />
von Mukoviscidose e.V.,<br />
mit <strong>an</strong>deren Vertretern von Behindertenorg<strong>an</strong>isationen<br />
seine Position zum<br />
Thema „Genetische Diagnostik vor<br />
und während der Schw<strong>an</strong>gerschaft“.<br />
Mukoviszidose werde häufig als Paradebeispiel<br />
für eine Kr<strong>an</strong>kheit <strong>an</strong>geführt,<br />
die m<strong>an</strong> mithilfe der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) verhindern könne,<br />
sagt Kruip. Er sei in seinem Selbstwertgefühl<br />
nicht gekränkt, weil es eine<br />
solche Methode gebe und m<strong>an</strong>che Paare<br />
sich ihre Anwendung wünschten. Er<br />
sorge sich jedoch, dass die medizinische<br />
Versorgung für chronisch Kr<strong>an</strong>ke mit<br />
genetischen Defekten schlechter werde,<br />
wenn m<strong>an</strong> die <strong>PID</strong> in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
erlaube. Denn d<strong>an</strong>n ließe sich leichter<br />
sagen: „Das muss doch heute nicht<br />
mehr sein.“<br />
Kruip weist gleichzeitig darauf hin,<br />
dass dies in mehrerer Hinsicht eine unzulässige<br />
Schlussfolgerung sei. Jährlich<br />
würden rund 200 Kinder in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
geboren, die <strong>an</strong> Mukoviszidose leiden,<br />
ohne dass die Eltern eine Ahnung<br />
von dieser Ver<strong>an</strong>lagung gehabt hätten.<br />
Wer eine <strong>PID</strong> erwäge, habe in der Regel<br />
bereits ein Mukoviszidose-Kind. Trotz<br />
der Belastungen empfänden die Eltern<br />
ihr Leben und das ihres Kindes als lebenswert.<br />
Falls m<strong>an</strong> Mukoviszidose als<br />
zulässige Indikation für eine <strong>PID</strong> auf eine<br />
entsprechende Liste setzen würde,<br />
würde dies „einen Sturm der Entrüstung<br />
auslösen“, betont Kruip. Seine<br />
Org<strong>an</strong>isation lehnt das Verfahren<br />
gleichwohl nicht völlig ab. Im Verein gebe<br />
es Paare mit Kinderwunsch, die die<br />
<strong>PID</strong> einer „Schw<strong>an</strong>gerschaft auf Probe“<br />
vorziehen würden: „Diese wollen<br />
wir ernst nehmen.“<br />
Ernst ist die Atmosphäre während<br />
der mehrstündigen Anhörung des<br />
Ethikrates. Neben Kruip schildern sieben<br />
weitere Sachverständige <strong>an</strong>schaulich,<br />
wie unterschiedlich Behinderte<br />
diagnostische Möglichkeiten wahrnehmen<br />
und bewerten, die ihr Leben mit<br />
großer Wahrscheinlichkeit verhindert<br />
hätten, und wie Familien und Berater<br />
damit umgehen. „Das muss doch<br />
nicht sein“, sei nicht nur die Meinung<br />
von Lieschen Müller, gibt die Ärztin<br />
Je<strong>an</strong>ne Nicklas-Faust zu bedenken. Sie<br />
engagiert sich in der Bundesvereinigung<br />
Lebenshilfe für Menschen mit<br />
geistiger Behinderung e.V.<br />
Dammbruch schon durch <strong>PND</strong><br />
Nicklas-Faust weist darauf hin, dass bereits<br />
die Pränataldiagnostik (<strong>PND</strong>) den<br />
Umg<strong>an</strong>g mit Behinderung verändert habe.<br />
Menschen mit einem Down-Syndrom<br />
zum Beispiel nähmen sehr wohl<br />
wahr, dass bei Ungeborenen vor allem<br />
nach dieser Behinderung gesucht werde.<br />
Ähnlich sieht es Günter Graum<strong>an</strong>n<br />
von der <strong>PID</strong>-Betroffenen-Initiative:<br />
„Die <strong>PND</strong> ist jetzt schon ein flexibles<br />
Selektionsinstrument.“ Insofern sei <strong>PID</strong><br />
„kein so großer Neuerungsschritt“. Das<br />
ist umstritten. Zwar herrscht bei den<br />
Sachverständigen Einigkeit, dass wohl<br />
zunächst nur wenig Paare ein so belastendes<br />
Verfahren auf sich nehmen würden.<br />
„Der normative Druck auf Frauen<br />
wird steigen“,glaubt aber Nicklas-Faust.<br />
Sie vermutet, dass Staat und Gesellschaft<br />
sich immer weniger solidarisch<br />
mit Eltern behinderter Kinder verhalten<br />
würden, deren Existenz zu verhindern<br />
gewesen wäre. Sabine Rieser<br />
171
3., erweiterte Auflage<br />
der <strong>Dokumentation</strong><br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong><br />
Aufsätze<br />
Berichte<br />
Diskussionsbeiträge<br />
Kommentare<br />
im Deutschen Ärzteblatt<br />
Beiträge aus 2003<br />
www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung
V O R W O R T<br />
Dossier zur <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
<strong>Embryonen</strong><br />
Das Deutsche Ärzteblatt gibt eine erweiterte <strong>Dokumentation</strong><br />
heraus, die im Internet abgerufen werden k<strong>an</strong>n.<br />
Ein Ende der Diskussion<br />
über Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
und <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
ist nicht in Sicht.<br />
Als das Deutsche Ärzteblatt im Jahr 2002 seine<br />
erweiterte <strong>Dokumentation</strong> zu embryonaler<br />
Stammzellforschung, pränataler Diagnostik<br />
(<strong>PND</strong>) und Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) vorlegte, war die Diskussion über diese<br />
Themen in vollem G<strong>an</strong>ge. Ein Ende ist nach wie<br />
vor nicht in Sicht. Ausgelöst wurde der öffentliche<br />
Diskurs durch den vom Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
vorgelegten „Diskussionsentwurf<br />
zu einer Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
im März 2000.<br />
Von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> hat sich das Deutsche Ärzteblatt<br />
<strong>an</strong> der Debatte beteiligt und die unterschiedlichsten<br />
Stimmen zu Wort kommen lassen. In einem<br />
Sonderdruck aus dem Jahr 2001 wurden diese<br />
Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Unmerklich verlagerte<br />
sich der Schwerpunkt d<strong>an</strong>n von der Diskussion<br />
über die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zur <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> und mit <strong>Embryonen</strong> und zur Gewinnung<br />
von Stammzellen. Die<br />
Meinungsbildung in der Ärzteschaft<br />
spiegelt sich in der<br />
Berichterstattung und Kommentierung<br />
des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider,wie die ein<br />
Jahr später publizierte Materialsammlung beweist.Auch<br />
dieser Sonderdruck war – ebenso wie<br />
die erste Auflage – schnell vergriffen.<br />
Inzwischen sind im Deutschen Ärzteblatt zahlreiche<br />
weitere Beiträge zu der Thematik erschienen.<br />
Darin wird deutlich, dass nach wie vor großer<br />
Diskussionsbedarf besteht. So berichtete das DÄ<br />
beispielsweise über die Beschlusslage zur internationalen<br />
Klonkonvention. Bisher gibt es noch keine<br />
Einigung.Im November 2003 gingen die Vertreter<br />
der UN-Mitgliedstaaten ergebnislos ausein<strong>an</strong>der,<br />
sie verschoben die Verh<strong>an</strong>dlungen um weitere<br />
zwei Jahre. Es geht immer noch um die Frage, ob<br />
nur das reproduktive Klonen oder auch das therapeutische<br />
Klonen weltweit geächtet werden<br />
soll. Inzwischen ist es einem Team der südkore<strong>an</strong>ischen<br />
Nationaluniversität Seoul gelungen,<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> zu klonen. Als „Durchbruch<br />
in der Medizin“ haben die Forscher ihr Experiment<br />
bezeichnet. Auf seiner Basis wollen sie<br />
Ersatzgewebe „therapeutisch klonen“, um Kr<strong>an</strong>ke<br />
zu heilen. Für Kritiker ist dieser Menschenversuch<br />
Anlass, noch vehementer ein internationales Klonverbot<br />
zu fordern. Doch die Haltung Deutschl<strong>an</strong>ds<br />
ist uneinheitlich. Während sich der Bundestag für<br />
ein absolutes Klonverbot ausgesprochen hatte,<br />
unterstützte die Regierung dies nicht. Während<br />
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn<br />
betonte, dass das therapeutische Klonen in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verboten sei und<br />
es auch bleibe, sprach sich<br />
Bundesjustizministerin Brigitte<br />
Zypries vor kurzem für<br />
eine Lockerung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes<br />
aus. Dies<br />
stieß auf teilweise scharfe Kritik<br />
aus der Ärzteschaft, bei Kirchen, aber auch Politikern.Ausführlich<br />
berichtet wurde im Deutschen<br />
Ärzteblatt auch über die Pläne der EU-Kommission,<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
mit Milliardensummen fin<strong>an</strong>ziell zu fördern.<br />
Im Bereich der pränatalen Diagnostik besteht<br />
ebenfalls weiterhin Klärungsbedarf. So werden<br />
zunehmend Forderungen erhoben, die Abtreibungsregelung<br />
zu ändern, da durch den Wegfall<br />
der embryopathischen Indikation Spätabtreibungen<br />
bis zur Geburt möglich geworden sind.<br />
Die Beiträge der DÄ-Redakteurinnen und<br />
-Redakteure zu diesen Themen sowie Aufsätze<br />
und Kommentare von Ärzten, Wissenschaftlern<br />
und Theologen mit teilweise konträren Ansichten<br />
sind in dieser erweiterten <strong>Dokumentation</strong> veröffentlicht.<br />
Sie ist inzwischen so umf<strong>an</strong>greich geworden,<br />
dass eine Publikation als Sonderdruck<br />
den Rahmen sprengen würde, sodass sich die Redaktion<br />
entschlossen hat, sie online zu veröffentlichen.<br />
Zusätzlich können unter <strong>an</strong>derem<br />
auch der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie<br />
zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik, wichtige Gesetze,<br />
wie das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz und das<br />
Stammzellgesetz, Positionspapiere und Stellungnahmen<br />
sowie die Entschließungen der Deutschen<br />
Ärztetage zu dieser Thematik abgerufen<br />
werden.<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Die Meinungsbildung in der<br />
Ärzteschaft spiegelt sich in<br />
der Berichterstattung und<br />
Kommentierung des Deutschen<br />
Ärzteblattes wider.<br />
174
D O K U M E N T A T I O N<br />
Vorwort zur 1. Auflage<br />
Beiträge zum Diskurs<br />
Als der Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
den „Diskussionsentwurf zu einer<br />
Richtlinie zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik“<br />
vorlegte, rief er zugleich zu einem<br />
öffentlichen Diskurs auf. Der läuft seit<br />
nunmehr rund eineinhalb Jahren und<br />
hat einen kaum noch fassbaren Niederschlag<br />
in der Presse gefunden. Inzwischen<br />
bringen auch Funk und Fernsehen<br />
fast täglich Diskussionen nicht mehr<br />
nur zur Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>), sondern auch zur <strong>Embryonen</strong>forschung.<br />
Das Deutsche Ärzteblatt hat sich<br />
von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> <strong>an</strong> dem Diskurs beteiligt<br />
und die unterschiedlichsten Stimmen<br />
zu Wort kommen lassen. In diesem<br />
Sonderdruck sind diese Beiträge, beginnend<br />
mit dem Diskussionsentwurf,<br />
zusammengefasst. Die Redaktion hat<br />
sich sehr um Vollständigkeit bemüht,<br />
gleichwohl k<strong>an</strong>n nicht ausgeschlossen<br />
werden, dass vielleicht ein Leserbrief<br />
oder eine kleinere Notiz fehlen. Die<br />
Diskussion ist im Übrigen keineswegs<br />
abgeschlossen. Weitere Beiträge für<br />
spätere Hefte des Deutschen Ärzteblattes<br />
sind in Satz – Stoff genug für eine<br />
allfällige erweiterte Auflage des Sonderdrucks.<br />
Der <strong>Dokumentation</strong> der im Deutschen<br />
Ärzteblatt erschienenen Beiträge<br />
sind vor<strong>an</strong>gestellt ein Interview mit dem<br />
Präsidenten der Bundesärztekammer<br />
und des Deutschen Ärztetages, geführt<br />
im Vorfeld des in diesen Tagen beginnenden<br />
104. Deutschen Ärztetages, sowie<br />
der Bericht über die einschlägige<br />
Diskussion beim vor<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>genen 103.<br />
Deutschen Ärztetag.<br />
Im Grunde genommen müsste eine<br />
vollständige <strong>Dokumentation</strong> über die<br />
Auffassungen der Ärzteschaft in der mit<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik zusammenhängenden<br />
Thematik weitaus früher beginnen,<br />
zumindest mit dem 88. Deutschen<br />
Ärztetag, der 1985 in Lübeck-Travemünde<br />
seine Haltung zur In-vitro-Fertilisation<br />
(IVF) formulierte. Bereits damals<br />
wurden die daraus entstehenden<br />
Probleme der <strong>Embryonen</strong>forschung klar<br />
erk<strong>an</strong>nt, der Umg<strong>an</strong>g mit den so gen<strong>an</strong>nten<br />
überzähligen <strong>Embryonen</strong> diskutiert.<br />
Der Ärztetag sprach sich schließlich<br />
mit großer Mehrheit zugunsten von IVF<br />
aus. Zur <strong>Embryonen</strong>forschung stellte er<br />
fest: „Experimente mit <strong>Embryonen</strong> sind<br />
grundsätzlich abzulehnen, soweit sie<br />
nicht der Verbesserung der Methode<br />
oder dem Wohle des Kindes dienen.“<br />
Diese Formulierung war ein wenig strenger<br />
als die Vorst<strong>an</strong>dsvorlage, entsprach<br />
aber noch einer zugleich vorgelegten<br />
Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates<br />
der Bundesärztekammer zur IVF (veröffentlicht<br />
in Heft 22/1985), die der Ärztetag<br />
pauschal „begrüßte“. In einer weiteren<br />
Richtlinie äußerte sich der Wissenschaftliche<br />
Beirat später, ohne Zutun des<br />
Ärztetages, zur <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> frühen<br />
menschlichen <strong>Embryonen</strong> (veröffentlicht<br />
in Heft 50/1985). D<strong>an</strong>ach dürfen<br />
menschliche <strong>Embryonen</strong> „grundsätzlich“<br />
nicht mit dem Ziel der Verwendung<br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken erzeugt werden.<br />
Mit der Formel „grundsätzlich“ wurden<br />
erhebliche Sp<strong>an</strong>nungen innerhalb des<br />
Beirates zu dieser Frage überdeckt. Die<br />
Richtlinien sprechen sich hingegen eindeutig<br />
für Untersuchungen, die der<br />
Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
des jeweiligen Embryos und gleichzeitig<br />
dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn<br />
dienen,aus,sofern Nutzen und Risiken<br />
mitein<strong>an</strong>der sorgfältig abgewogen<br />
werden.<br />
Der 91. Deutsche Ärztetag beschloss<br />
1988 in Fr<strong>an</strong>kfurt eine Änderung der<br />
(Muster-)Berufsordnung. Die Delegierten<br />
entschieden sich für einen Mittelweg:<br />
Die Erzeugung von <strong>Embryonen</strong> für<br />
<strong>Forschung</strong>szwecke wurde untersagt und<br />
dem ein weiterer Satz hinzugefügt:<br />
„Grundsätzlich verboten ist auch die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> menschlichen <strong>Embryonen</strong>.“<br />
Bei Einhaltung strikter Kriterien<br />
wurden allerdings <strong>Forschung</strong>en für<br />
zulässig gehalten,sofern sie der Deklaration<br />
von Helsinki entsprechen.<br />
Machen wir einen Sprung zum 100.<br />
Deutschen Ärztetag 1997 in Eisenach.<br />
Die damals neu strukturierte, bis heute<br />
geltende (Muster-)Berufsordnung verbietet<br />
gleichfalls die Erzeugung von menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> zu <strong>Forschung</strong>szwecken.Verboten<br />
sind ferner diagnostische<br />
Maßnahmen <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>, „es sei<br />
denn, es h<strong>an</strong>delt sich um Maßnahmen<br />
zum Ausschluss schwerwiegender geschlechtsgebundener<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen im<br />
Sinne § 3 <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz“.<br />
Und das gehört der Vollständigkeit<br />
halber dazu: Seit 1991 gilt das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
mit seinen strengen<br />
Regeln – strengeren als sie 1985 von der<br />
ärztlichen Selbstverwaltung und ihren<br />
wissenschaftlichen Beratern formuliert<br />
worden waren.<br />
Norbert Jachertz<br />
Impressum<br />
<strong>Dokumentation</strong> „<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>“<br />
Chefredakteur:<br />
Chefs vom Dienst:<br />
Redaktion:<br />
Technische Redaktion:<br />
Schlussredaktion:<br />
Verlag:<br />
Norbert Jachertz, Köln<br />
(ver<strong>an</strong>twortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der<br />
gesetzlichen Bestimmungen)<br />
Gisela Klinkhammer, Herbert Moll<br />
Norbert Jachertz, Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet)<br />
Jörg Kremers, Michael Peters<br />
Helmut Werner<br />
Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln<br />
175
I N H A L T<br />
<strong>Dokumentation</strong> in chronologischer Reihenfolge<br />
Vorwort zur 3. Auflage:<br />
<strong>PID</strong>, <strong>PND</strong>, <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174<br />
Vorwort zur 1. Auflage:<br />
Beiträge zum Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175<br />
Beiträge aus dem Jahr 2003<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik:<br />
Konflikte programmiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />
Samir Rabbata<br />
Nationaler Ethikrat zur <strong>PID</strong>: Pragmatismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />
Samir Rabbata<br />
Ethikkommissionen: Verwirrende Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Menschenwürde: „Dasein um seiner selbst willen“ . . . . . . . . . . . . 181<br />
Prof. (em.) Dr. iur. Dr. phil. Ernst-Wolfg<strong>an</strong>g Böckenförde<br />
Europäisches Parlament:<br />
Strenge St<strong>an</strong>dards für die Gewebespende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185<br />
Klaus Koch<br />
1. Ökumenischer Kirchentag:<br />
„Den Sterbenden ein Segen sein“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186<br />
Dr. med. D<strong>an</strong>iel Rühmkorf<br />
Pränatale Diagnostik:<br />
Engere Grenzen für Spätabtreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Stammzellforschung:<br />
„Verletzung der Menschenwürde“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Rechtsgutachten: <strong>Forschung</strong> mit Stammzellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191<br />
Stammzellforschung: Nicht mit EU-Geldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz: Anstößig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191<br />
Gisela Klinkhammer<br />
Nationales Genomforschungsnetz:<br />
Als „einzigartig“ evaluiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192<br />
Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlm<strong>an</strong>n<br />
Der Umg<strong>an</strong>g mit vorgeburtlichem Leben:<br />
Regeln und Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193<br />
Gisela Klinkhammer<br />
EU-<strong>Forschung</strong>spolitik: Ethische Nagelprobe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195<br />
Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlm<strong>an</strong>n<br />
176
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 1-2, 6. J<strong>an</strong>uar 2003<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
Konflikte programmiert<br />
Die Ärzteschaft spricht sich gegen Gen-Checks <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong><br />
aus. Im Bundestag sind die Mehrheitsverhältnisse indes unklar.<br />
Knapp ein Jahr nach der heftig geführten<br />
Debatte über die Einfuhr<br />
embryonaler Stammzellen und der<br />
Entscheidung des Gesetzgebers, einen<br />
solchen Import unter Auflagen zu erlauben,<br />
zeichnet sich ein weiteres bioethisches<br />
Konfliktfeld ab. Noch in dieser Legislaturperiode<br />
dürfte der Bundestag<br />
über die Zulässigkeit von Gentests <strong>an</strong><br />
<strong>Embryonen</strong>, der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>), entscheiden.<br />
Wie bei der Stammzellfrage scheint<br />
auch im Streit um die <strong>PID</strong> eine Diskussion<br />
quer durch alle gesellschaftlichen<br />
Gruppen programmiert. Längst rüsten<br />
sich Politiker, Ethik-Experten und Ärzte<br />
für die Ausein<strong>an</strong>dersetzung um das<br />
hochbris<strong>an</strong>te Thema. So laufen im Bundestag<br />
die Pl<strong>an</strong>ungen für die Neuauflage<br />
einer entsprechenden Enquete-<br />
Kommission auf Hochtouren. Schon<br />
Ende J<strong>an</strong>uar will sich der Nationale<br />
Ethikrat zu Wort melden. Beobachter<br />
glauben,dass sich das Gremium für eine<br />
begrenzte Zulassung der umstrittenen<br />
Diagnostik aussprechen wird.<br />
Eindeutig positioniert hat sich dagegen<br />
der 105. Deutsche Ärztetag im Mai<br />
verg<strong>an</strong>genen Jahres in Rostock. Er kam<br />
zu dem Ergebnis, dass die <strong>PID</strong> ethisch<br />
nicht vertretbar und medizinisch höchst<br />
fragwürdig sei.Vor Journalisten in Berlin<br />
bekräftigte jetzt der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-<br />
Dietrich Hoppe, die restriktive Haltung<br />
der Ärzteschaft:„Wir plädieren nach wie<br />
vor für ein Verbot der <strong>PID</strong>.“<br />
Nach Einschätzung Hoppes ist das<br />
Missbrauchspotenzial der <strong>PID</strong> zu groß.<br />
Eine Begrenzung auf wenige Fälle erscheine<br />
kaum möglich und könne nicht<br />
gar<strong>an</strong>tiert werden. Erfahrungen aus dem<br />
Ausl<strong>an</strong>d zeigten, dass der Kreis derjenigen,<br />
die <strong>PID</strong> in Anspruch nehmen dürfen,<br />
beständig ausgeweitet werde. Der<br />
Ärztepräsident befürchtet außerdem,<br />
dass die bewusste Tötung genetisch belasteter<br />
<strong>Embryonen</strong> und damit auch potenziell<br />
behinderten Lebens zu einer verminderten<br />
Akzept<strong>an</strong>z von Behinderten<br />
in der Gesellschaft führen könnte.<br />
Schließlich bestehe der Zweck des embryonalen<br />
Gen-Checks darin, aus einer<br />
bestimmten Anzahl befruchteter Eizellen<br />
einen vermeintlich gesunden Embryo<br />
auszuwählen und <strong>an</strong>dere weniger gut<br />
ausgestattete abzutöten. Hoppe: „Damit<br />
wird menschliches Leben zur Disposition<br />
gestellt, weil es bestimmte, jedoch individuelle<br />
Kriterien nicht erfüllt.“<br />
Ob der Bundestag der vom Ärztetag<br />
formulierten <strong>PID</strong>-kritischen Haltung<br />
folgt, ist fraglich. Seit der Entscheidung<br />
für den begrenzten Import von embryonalen<br />
Stammzellen habe sich der Trend<br />
zu einer „pragmatischen“ Haltung gegenüber<br />
medizin-ethischen Fragen unter<br />
den Parlamentariern verfestigt, berichten<br />
Insider. Dass die mithilfe der<br />
<strong>PID</strong> aussortierten <strong>Embryonen</strong> zumindest<br />
theoretisch auch als „Rohstoff“ für<br />
die Stammzellforschung bereitstünden,<br />
könnte zudem die <strong>PID</strong>-Entscheidung<br />
von Befürworten der Stammzellforschung<br />
erleichtern. Bezeichnend findet<br />
Hubert Hüppe,Ethik-Experte der CDU-<br />
Bundestagsfraktion, dass ausgerechnet<br />
Heft 5, 31. J<strong>an</strong>uar 2003<br />
Nationaler Ethikrat zur <strong>PID</strong><br />
Pragmatismus<br />
Mit einem entschiedenen „Sowohlals-auch“<br />
äußerte sich der Nationale<br />
Ethikrat am Donnerstag verg<strong>an</strong>gener<br />
Woche zu dem umstrittenen Gencheck<br />
<strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong>,der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>). Wie bei der Stammzellfrage<br />
konnten sich die Ethik-Experten<br />
auch bei der <strong>PID</strong> auf keine gemeinsame<br />
Stellungnahme einigen und gaben zwei<br />
gegensätzliche Empfehlungen ab.<br />
<strong>Forschung</strong>sministerin Edelgard Bulmahn<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
offen gegenüberstehe. Die <strong>PID</strong> öffne die<br />
Tür zur Stammzellforschung. Dies könne<br />
m<strong>an</strong> nicht mehr von der H<strong>an</strong>d weisen.<br />
Von der CDU-Fraktion erwartet Hüppe<br />
eine klare Haltung. Jeder Parlamentarier<br />
müsse sich darüber bewusst sein, für was<br />
das „C“ im Namen seiner Partei stehe,<br />
sagte Hüppe.<br />
Ob die Arbeit der letzten Enquete-<br />
Kommission „Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin“, die sich mehrheitlich<br />
gegen die <strong>PID</strong> ausgesprochen hatte,auch<br />
in dieser Legislaturperiode weitergeführt<br />
wird, war l<strong>an</strong>ge unklar. Jetzt gaben Abgeordnete<br />
von CDU und SPD auf Nachfrage<br />
bek<strong>an</strong>nt, dass eine neue Ethik-Enquete<br />
noch im J<strong>an</strong>uar be<strong>an</strong>tragt werden<br />
soll. Der SPD-Gesundheitsexperte Dr.<br />
med. Wolfg<strong>an</strong>g Wodarg geht davon aus,<br />
dass m<strong>an</strong> einige Themen der letzten Enquete<br />
ein weiteres Mal diskutieren müsse.<br />
Neben der Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin<br />
gehörten auch die Stammzellforschung,<br />
die Lebendspende sowie die N<strong>an</strong>otechnologie<br />
auf die Agenda der Enquete.<br />
Wodarg wies darauf hin, dass eine<br />
neue Bundestagskommission als parlamentarisches<br />
Gegengewicht zu dem<br />
von Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard Schröder<br />
eingesetzten Nationalen Ethikrat von<br />
großer Wichtigkeit sei. Der SPD-Politiker<br />
sieht aber keine Konkurrenzsituation<br />
zwischen Ethikrat und Parlament.<br />
Vielmehr ließen sich Synergieeffekte<br />
nutzen, wenn beide Institutionen bei<br />
der Vielzahl der zu beh<strong>an</strong>delnden Themen<br />
zusammenwirkten. Samir Rabbata<br />
Eine deutliche Mehrheit von 15<br />
Ratsmitgliedern sprach sich für die<br />
Zulassung des embryonalen Genchecks<br />
aus. Sieben stimmten dagegen.<br />
Die Befürworter weisen in ihrem<br />
Votum darauf hin, dass die <strong>PID</strong> zwar<br />
ermöglicht, jedoch auf wenige Ausnahmefälle<br />
begrenzt werden müsse.<br />
Demnach dürfe die Methode nur<br />
Paaren offen stehen, die ein hohes<br />
177
D O K U M E N T A T I O N<br />
Risiko tragen, ein Kind mit einer<br />
schweren und nicht therapierbaren<br />
genetisch bedingten Erkr<strong>an</strong>kung zu<br />
bekommen.<br />
Dagegen wies Ethikratsmitglied<br />
H<strong>an</strong>s-Jochen Vogel bei der Erläuterung<br />
des Minderheitsvotums darauf<br />
hin, dass die „Verwerfung von<br />
<strong>Embryonen</strong>“ mit der im Grundgesetz<br />
festgeschriebenen Un<strong>an</strong>tastbarkeit der<br />
Menschenwürde nicht vereinbar sei.<br />
Das <strong>PID</strong>-freundliche Mehrheitsvotum<br />
des Ethikrates kommt nicht unerwartet.<br />
Bereits in der Debatte um den<br />
Import embryonaler Stammzellen wurde<br />
deutlich, dass die Gewichte in dem<br />
von K<strong>an</strong>zler Gerhard Schröder einberufenen<br />
Beratungsorg<strong>an</strong> ungleich verteilt<br />
sind. Im Zweifel setzt sich ein eher<br />
„pragmatischer“ Ansatz durch. Die von<br />
Vogel geforderte Hinwendung zu einer<br />
„präventiven Ver<strong>an</strong>twortungsethik“<br />
scheint in dem Schröder-Gremium<br />
nicht mehrheitsfähig.<br />
Die medienwirksam in der Berlin-<br />
Br<strong>an</strong>denburgischen Akademie der<br />
Wissenschaften präsentierte Ratsempfehlung<br />
wird ohne Zweifel die bevorstehende<br />
gesellschaftliche und politische<br />
<strong>PID</strong>-Debatte beeinflussen. Dennoch:<br />
Entscheidungen werden (trotz<br />
der in der Politik üblich gewordenen<br />
Beraterrunden) noch immer im Bundestag<br />
getroffen. Dort wird sich zeigen,<br />
ob die Abgeordneten eher der Empfehlung<br />
des Nationalen Ethikrates<br />
folgen oder sich dem Votum der parlamentarischen<br />
Enquete-Kommission<br />
„Recht und Ethik der modernen Medizin“<br />
<strong>an</strong>schließen. Diese hatte sich<br />
gegen eine Zulassung der <strong>PID</strong> ausgesprochen.<br />
Samir Rabbata<br />
Heft 6, 7. Februar 2003<br />
Ethikkommissionen<br />
Verwirrende Vielfalt<br />
Es gibt Ethikkommissionen und Ethikräte mit unterschiedlichen<br />
Zielsetzungen. Vor allem die Gremien auf nationaler<br />
Ebene tragen auch zur politischen Meinungsbildung bei.<br />
Kaum jem<strong>an</strong>d hat noch wirklich den<br />
Durchblick, wenn von der Entscheidung<br />
einer Ethikkommission<br />
die Rede ist. Zahlreiche Ethikräte,<br />
-kommissionen und -beiräte entscheiden<br />
und beraten auf lokaler und nationaler<br />
Ebene. Auf lokaler Ebene gibt es<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d die auf Initiative von<br />
medizinischen Fakultäten, Ärztekammern<br />
und Kliniken eingerichteten<br />
Ethikkommissionen. Vorbilder für diese<br />
Gremien waren die Institutional Review<br />
Boards in den USA, deren Gründung<br />
auf die Deklaration von Helsinki<br />
des Weltärztebundes aus dem Jahr 1965<br />
zurückging (Textkasten). Neben diesen<br />
Ethikkommissionen haben sich <strong>an</strong> vielen<br />
Kliniken Ethikkomitees oder -konsile<br />
gebildet, die nicht forschungsbezogene,<br />
sondern therapiebezogene Entscheidungen<br />
treffen. Von politischer<br />
Bris<strong>an</strong>z sind die lokalen Ethikkommissionen<br />
ebenso wie die <strong>an</strong> Kliniken eingerichteten<br />
Ethikkonsile in der Regel<br />
nicht. Aufsehen erregt haben dagegen<br />
in letzter Zeit Gremien, die auf nationaler<br />
Ebene einberufen wurden und<br />
die zum Teil mitein<strong>an</strong>der konkurrieren.<br />
Deutlich wurde dies beispielsweise bei<br />
der Debatte um die embryonale<br />
Stammzellforschung und die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>).<br />
Zur Erinnerung: Für einen strengen<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz trat die damalige<br />
Bundesgesundheitsministerin Andrea<br />
Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) ein.<br />
Mit einem viel beachteten Kongress im<br />
Jahr 2000 in Berlin versuchte sie, die<br />
Debatte <strong>an</strong>zustoßen. Vor Ärzten, Vertretern<br />
von Behindertenverbänden und<br />
Kirchen, Juristen und Wissenschaftlern<br />
kündigte sie ein Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizingesetz<br />
<strong>an</strong>, das das damals zehn Jahre<br />
alte <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz ablösen<br />
sollte. Fischer wollte mit diesem Gesetz<br />
die <strong>PID</strong> und das therapeutische Klonen<br />
unmissverständlich verbieten.<br />
Sie erhoffte sich entsprechende Beratung<br />
durch den Ethikbeirat beim Bundesministerium<br />
für Gesundheit, der im<br />
Jahr 1996 von ihrem Amtsvorgänger<br />
Horst Seehofer (CSU) eingerichtet<br />
worden war. Nach Fischers Rücktritt<br />
und dem Wechsel <strong>an</strong> der Ministeriumsspitze<br />
wurde der Beirat d<strong>an</strong>n bald kaltgestellt.<br />
Auch aus dem gepl<strong>an</strong>ten Gesetz<br />
wurde nichts. Die neue Bundesgesundheitsministerin<br />
Ulla Schmidt verfolgte<br />
nämlich eine <strong>an</strong>dere Linie in<br />
medizinethischen Fragen. Sie gilt als eine<br />
vorsichtige Befürworterin der neuen<br />
gentechnischen Methoden. Die veränderte<br />
Richtung im Gesundheitsministerium<br />
hatte schließlich auch personelle<br />
Konsequenzen. Die für Gentechnik<br />
zuständige Abteilungsleiterin Ulrike<br />
Riedel, eine scharfe Gegnerin der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(DÄ, Heft 10/<br />
2000), musste gehen.<br />
Dennoch vertrat auch die Bundesregierung<br />
durchaus keine geschlossene<br />
Linie in der Gendebatte. So sprach sich<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Gerhard Schröder<br />
dafür aus, „moralische Scheuklappen“<br />
abzulegen. Bundesbildungsministerin<br />
Edelgard Bulmahn befürwortete ebenfalls<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> überzähligen<br />
<strong>Embryonen</strong>, wohingegen die damalige<br />
Bundesjustizministerin Herta Däubler-<br />
Gmelin sie entschieden ablehnte. Im<br />
Parlament hatten sich partei- und<br />
fraktionsübergreifende Alli<strong>an</strong>zen gebildet,<br />
die drei Anträge zur embryonalen<br />
Stammzellforschung einbrachten. Diese<br />
reichten von einem kategorischen<br />
Verbot über die schließlich beschlossene<br />
Stichtagsregelung bis zu einer weitreichenden<br />
Freigabe der Stammzellforschung.<br />
Die verschiedenen Ethikkommissionen<br />
vermittelten ebenfalls kein einheitliches<br />
Bild: Am 15. Mai 2000 nahm unter<br />
<strong>an</strong>derem auf Initiative von Behindertenverbänden<br />
und der beiden<br />
großen christlichen Kirchen in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d die Enquete-Kommission<br />
des Deutschen Bundestages „Recht und<br />
Ethik der modernen Medizin“ ihre Arbeit<br />
auf.Der Einsetzungs<strong>an</strong>trag,auf den<br />
178
D O K U M E N T A T I O N<br />
Textkasten<br />
Ethikkommissionen<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
Nachdem die Deutsche <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
1970 die Zuwendung von <strong>Forschung</strong>smitteln von<br />
der Beurteilung durch eine Ethikkommission abhängig<br />
gemacht hatte und die ersten privaten Ethikkommissionen<br />
in Kliniken und im Bereich der pharmazeutischen<br />
Industrie gegründet worden waren,<br />
rief der Medizinische Fakultätentag 1977 zur Einrichtung<br />
von Ethikkommissionen <strong>an</strong> den Fakultäten<br />
auf. Zwei Jahre später empfahl der Vorst<strong>an</strong>d der<br />
Bundesärztekammer den L<strong>an</strong>desärztekammern die<br />
Gründung eigener Ethhikkommissionen. In den folgenden<br />
Jahren wurden bundesweit unabhängige<br />
Ethikkommissionen bei den L<strong>an</strong>desärztekammern<br />
und Medizinischen Fakultäten eingerichtet. Die öffentlich-rechtlichen<br />
Ethikkommissionen mit ihren<br />
ehrenamtlich tätigen Sachverständigen sind interprofessionell<br />
zusammengesetzte Inst<strong>an</strong>zen der Prüfung<br />
und Selbstkontrolle bei medizinischer <strong>Forschung</strong><br />
am Menschen. Sie h<strong>an</strong>deln im Interesse und<br />
zum Schutz der Prob<strong>an</strong>den und Patienten und sollen<br />
sie vor rechtlich und ethisch bedenklichen <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />
bewahren. D<strong>an</strong>eben bezwecken<br />
sie auch den Schutz der <strong>Forschung</strong>sinstitution und<br />
des forschenden Arztes vor fehlerhaftem Verhalten<br />
und Regress<strong>an</strong>sprüchen. Wissenschaftliche Arbeiten<br />
werden in der Regel nur d<strong>an</strong>n fin<strong>an</strong>ziert und in<br />
wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert, wenn<br />
sich SPD, CDU/CSU, Grüne und Freie<br />
Demokraten nach l<strong>an</strong>gen Diskussionen<br />
einigen konnten, stellte einen „erheblichen<br />
gesellschaftlichen und parlamentarischen<br />
Diskussionsbedarf zu Fragen<br />
der Entwicklung und Anwendung der<br />
Biotechnologie und der modernen Medizin“<br />
fest. Als Aufgaben der Enquete-<br />
Kommission wurden die „Vertiefung<br />
des öffentlichen Diskurses“ ebenso wie<br />
die „Vorbereitung politischer Entscheidungen“<br />
und „Empfehlungen für die<br />
ethische Bewertung, für Möglichkeiten<br />
des gesellschaftlichen Umg<strong>an</strong>gs sowie<br />
für gesetzgeberisches und administratives<br />
H<strong>an</strong>deln in Bezug auf medizinische<br />
Zukunftsfragen“ gen<strong>an</strong>nt. In der Enquete<br />
arbeiteten jeweils 13 Abgeordnete<br />
und Sachverständige zusammen.<br />
In ihrem im Jahr 2002 vorgelegten Abschlussbericht<br />
lehnte die Enquete-Kommission<br />
mit großer Mehrheit die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ab. Nur drei Mitglieder,<br />
die Vorsitzende Margot von<br />
Renesse (SPD), der FDP-Politiker Edzard<br />
Schmidt-Jortzig und der ev<strong>an</strong>gelische<br />
Theologe Klaus T<strong>an</strong>ner, hatten sich<br />
für eine begrenzte Zulassung der <strong>PID</strong><br />
ausgesprochen. Die Mehrheit der Kommission<br />
forderte in ihrem Abschlussbericht<br />
der Kommission den Bundestag auf,<br />
das Verbot der <strong>PID</strong> in einem neuen Gesetz<br />
zu bekräftigen und zu präzisieren.Im<br />
Vordergrund stehe der Schutz des Embryos<br />
und eine Ablehnung jeglicher Selektion.<br />
Es gebe keinen Anspruch auf ein<br />
gesundes Kind, weshalb der Staat bewährte<br />
Schutzprinzipien für den Embryo<br />
nicht abschaffen dürfe. Zudem sei eine<br />
Beschränkung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
auf bestimmte Kr<strong>an</strong>kheiten<br />
kaum möglich. Die Enquete-Kommission<br />
war außerdem zu dem Ergebnis gekommen,<br />
dass eine embryonenverbrauchende<br />
Gewinnung von Stammzellen<br />
nicht ver<strong>an</strong>twortbar sei. Mehrheitlich<br />
sprach sie sich gegen einen Import solcher<br />
Zellen aus.Eine Minderheit plädierte<br />
dafür, den Import unter bestimmten<br />
Voraussetzungen zu tolerieren.<br />
Bundesk<strong>an</strong>zler Schröder gefielen die<br />
Stellungnahmen der Enquete-Kommission<br />
offenbar nicht. Denn er setzte im<br />
Jahr 2001 über einen Kabinettsbeschluss<br />
einen Nationalen Ethikrat ein,<br />
der bei der Berlin-Br<strong>an</strong>denburgischen<br />
Akademie der Wissenschaften <strong>an</strong>gesiedelt<br />
ist. Insgesamt gehören dem Nationalen<br />
Ethikrat 25 Persönlichkeiten aus<br />
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft<br />
<strong>an</strong>. Die Ärzteschaft als gesellschaftliche<br />
Gruppe ist im Nationalen Ethikrat<br />
nicht vertreten – es wurden allerdings<br />
einige medizinische Experten ben<strong>an</strong>nt.<br />
Aufgabe der Ratsmitglieder sei es, so<br />
die Bundesregierung in einer Antwort<br />
auf eine kleine Anfrage der CDU/CSU-<br />
Fraktion: „Der Deutsche Ethtikrat soll<br />
den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen<br />
Diskurs zu Fragen der Lebenswissenschaften<br />
vernetzen und Bürgerinnen<br />
und Bürger zum Dialog einladen.“<br />
Der Bundesk<strong>an</strong>zler bezeichnete<br />
den Ethikrat als Gremium, das im nationalen<br />
wie internationalen Maßstab<br />
wichtige Beiträge leisten werde.<br />
Kritik <strong>an</strong> personeller Besetzung<br />
Mitglieder der Enquete-Kommission<br />
kritisierten die Gründung des neuen<br />
Gremiums. Deren damaliger stellvertretender<br />
Vorsitzender Hubert Hüppe<br />
(CDU) befürchtete, dass „des K<strong>an</strong>zlers<br />
ein Votum der Ethikkommission vorliegt. Ethikkommissionen<br />
<strong>an</strong> den medizinischen Fakultäten beurteilen<br />
vorwiegend Projekte der Grundlagenforschung<br />
am Menschen, die nahezu ausschließlich <strong>an</strong> Hochschulen<br />
vorgenommen werden. Dagegen beschäftigen<br />
sich die Ethikkommissionen der Ärztekammern<br />
mit Projekten außeruniversitärer <strong>Forschung</strong>, vorwiegend<br />
Arzneimittelstudien, bei denen gemäß<br />
§ 40 Arzneimittelgesetz das Votum einer Ethikkommission<br />
vorgeschrieben ist. Nach der (Muster-)Berufsordnung<br />
der deutschen Ärzte und den hochschulrechtlichen<br />
Bestimmungen der medizinischen<br />
Fachbereiche sind Ärzte verpflichtet, sich bei klinischer<br />
<strong>Forschung</strong> am Menschen oder bei epidemiologischen<br />
<strong>Forschung</strong>en mit personenbezogenen Daten<br />
von einer von der bei der Ärztekammer oder bei<br />
der medizinischen Fakultät gebildeten Ethikkommission<br />
beraten zu lassen. Die Beratungspflicht<br />
f<strong>an</strong>d auch Eing<strong>an</strong>g in bundesgesetzliche Regelungen.<br />
Das Arzneimittelgesetz enthält seit 1995 die<br />
Bestimmung, dass vor der klinischen Prüfung eines<br />
Medikaments die zustimmende Bewertung einer<br />
nach L<strong>an</strong>desrecht gebildeten Ethikkommission eingeholt<br />
werden muss. Zur Harmonisierung der Verfahren,<br />
Kriterien und St<strong>an</strong>dards der einzelnen Ethikkommissionen<br />
wurde der Arbeitskreis Medizinischer<br />
Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik<br />
Deutschl<strong>an</strong>d gegründet. Die dort beschlossenen<br />
einheitlichen Verfahrensgrundsätze sind von den<br />
einzelnen Kommissionen weitgehend übernommen<br />
worden.<br />
Kli<br />
neuer Ethikrat nun offenbar in Konkurrenz<br />
zu der seit einem Jahr arbeitenden<br />
Enquete-Kommission treten soll, deren<br />
Richtung ihm nicht in sein bioethisches<br />
Konzept passt. Es ist geradezu bizarr,<br />
wenn der Satzungsentwurf dem Parlament<br />
das Recht einräumt, mit Bitten<br />
um Stellungnahmen beim Ethikrat vorstellig<br />
zu werden. Denn das Parlament<br />
hat bereits mit seiner Enquete-Kommission<br />
sein Beratungsgremium, in dem<br />
externe Sachverständige mitarbeiten.“<br />
Auf Kritik stieß auch die personelle<br />
Besetzung des Ethikrats, unter <strong>an</strong>derem<br />
mit Prof. Dr. rer. nat. Ernst-Ludwig<br />
Winnacker, dem Präsidenten der Deutschen<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft (DFG).<br />
Die DFG hatte eine Stellungnahme<br />
verabschiedet, die eine Abkehr von der<br />
bisherigen strikten Ablehnung der <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
bedeutet.Winnackers<br />
Berufung gab deshalb Hüppe Anlass zu<br />
Befürchtungen: „Bundesforschungsministerin<br />
Edelgard Bulmahn will zur <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> menschlichen Stammzellen<br />
das Votum des Ethikrats – ausgerechnet<br />
eines Gremiums, dem der DFG-Präsi-<br />
179
D O K U M E N T A T I O N<br />
dent <strong>an</strong>gehört. Soll wirklich der DFG-<br />
Präsident darüber entscheiden, ob die<br />
Position der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />
in ethischer Hinsicht einw<strong>an</strong>dfrei<br />
ist“<br />
Und tatsächlich befürwortete erwartungsgemäß<br />
die Mehrheit des Nationalen<br />
Ethikrats eine zeitlich befristete und<br />
mit Auflagen versehene Genehmigung<br />
des Imports, einige Mitglieder erachteten<br />
darüber hinaus eine Gewinnung von<br />
Stammzellen aus überzähligen <strong>Embryonen</strong><br />
in Deutschl<strong>an</strong>d für ethisch vertretbar.<br />
Eine deutliche Minderheit des Gremiums<br />
sprach sich für ein Moratorium<br />
und nur eine kleine Minderheit für ein<br />
generelles Verbot der Stammzellforschung<br />
aus. In einer im J<strong>an</strong>uar vorgelegten<br />
Stellungnahme sprach sich erwartungsgemäß<br />
eine deutliche Mehrheit<br />
von 15 Ratsmitgliedern für die Zulassung<br />
der <strong>PID</strong> in bestimmten Ausnahmefällen<br />
aus. Ein Minderheitsvotum wies<br />
darauf hin, dass die „Verwerfung von<br />
<strong>Embryonen</strong>“ mit dem Grundgesetz<br />
nicht vereinbar sei.<br />
Die Tätigkeit der Enquete-Kommission<br />
endete mit Ablauf der Legislaturperiode.<br />
Eine Neueinsetzung forderte<br />
unter <strong>an</strong>derem die stellvertretende<br />
Vorsitzende der CDU/ CSU-Fraktion,<br />
Maria Böhmer. In vielen Bereichen der<br />
Bio- und Gentechnologie,aber auch der<br />
Medizin gebe es noch offene Fragen,die<br />
durch den Gesetzgeber geregelt werden<br />
müssten, sagte sie. „Der Ort der Beratung<br />
und Entscheidung von Fragen derart<br />
zentraler Bedeutung für das Menschenbild<br />
und die Wahrung der Schöpfung<br />
muss der Bundestag sein.“ Der<br />
SPD-Gesundheitsexperte Dr. med.<br />
Wolfg<strong>an</strong>g Wodarg geht davon aus, dass<br />
m<strong>an</strong> einige Themen der letzten Enquete<br />
noch weiter diskutieren müsse. Dazu<br />
gehört nach wie vor die Fortpfl<strong>an</strong>zungsmedizin.<br />
Wodarg wies darauf hin, dass<br />
eine neue Bundestagskommission ein<br />
Gegengewicht zum Nationalen Ethikrat<br />
bilden könnte. Nach Informationen<br />
des Ev<strong>an</strong>gelischen Pressedienstes wird<br />
der Bundestag in Kürze die Neueinsetzung<br />
beschließen.<br />
Doch nicht nur auf politischer, sondern<br />
auch auf ärztlicher Ebene wurde<br />
über die Fragen embryonale Stammzellforschung<br />
und <strong>PID</strong> intensiv diskutiert.<br />
Die bei der Bundesärztekammer<br />
<strong>an</strong>gesiedelte Zentrale Ethikkommissi-<br />
180<br />
on befürwortete fast zeitgleich mit dem<br />
Nationalen Ethikrat mehrheitlich den<br />
Import von embryonalen Stammzellen.<br />
Die gezielte Herstellung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken auf dem<br />
Weg der Befruchtung sei ethisch nicht<br />
vertretbar (DÄ, Heft 49/2001). Die<br />
Gründung der unabhängigen und<br />
multidisziplinär zusammengesetzten<br />
„Zentralen Kommission zur Wahrung<br />
ethischer Grundsätze in der Medizin<br />
und ihren Grenzgebieten“ (Zentrale<br />
Ethikkommission/ZEKO) war zur Beratung<br />
ethischer Grundsatzfragen vom<br />
Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer im<br />
Jahr 1994 beschlossen worden.<br />
Zu den wesentlichen Aufgaben der<br />
Zentralen Ethikkommission gehört besonders<br />
die Beurteilung von grundsätzlichen<br />
ethischen Fragen, die durch den<br />
Fortschritt und die technologische Entwicklung<br />
in der Medizin und ihren<br />
Grenzgebieten aufgeworfen werden.<br />
Das gilt auch für ethische Fragen, die<br />
für die Pflichten bei der ärztlichen Berufsausübung<br />
von grundsätzlicher Bedeutung<br />
sind. Schließlich k<strong>an</strong>n die ZE-<br />
KO auch auf Wunsch der Ethikkommission<br />
einer L<strong>an</strong>desärztekammer oder einer<br />
medizinischen Fakultät tätig werden<br />
und ergänzende Beurteilungen zu<br />
ethischen Grundsatzfragen erarbeiten.<br />
Dazu gehören zum Beispiel <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />
<strong>an</strong> Nichteinwilligungsfähigen.<br />
Die 16 Mitglieder der<br />
Zentralen Ethikkommission repräsentieren<br />
die wissenschaftlichen Fachgebiete<br />
Medizin, Naturwissenschaften,<br />
Philosophie, Sozialwissenschaften, Theologie<br />
und Rechtswissenschaften. Der<br />
Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
hält es dagegen für nicht vertretbar, den<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz zu lockern. Er forderte<br />
stattdessen dazu auf, zunächst einmal<br />
die <strong>Forschung</strong>smöglichkeiten <strong>an</strong><br />
adulten Stammzellen auszuschöpfen.<br />
Der Deutsche Ärztetag fasste 2001 einen<br />
Beschluss, in dem er der Herstellung,<br />
dem Import und der Verwendung<br />
von embryonalen Stammzellen<br />
eine klare Absage erteilte (DÄ, Heft<br />
22/2001).<br />
Die Frage der Stammzellforschung<br />
führte zu Differenzen zwischen dem<br />
Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer und<br />
deren Wissenschaftlichem Beirat (WB).<br />
Der damalige Vorsitzende des Wissenschaftlichen<br />
Beirats, Prof. Dr. med. Karl-<br />
Friedrich Sewing, hatte in einer Presseerklärung<br />
die Bundestagsentscheidung<br />
zum Import von embryonalen<br />
Stammzellen als richtig, ethisch ausgewogen<br />
und mutig bezeichnet. Es gab allerdings<br />
keine förmliche Beschlussfassung<br />
des WB, auf die sich Sewing berufen<br />
konnte, und auch keine Vorlage<br />
des Beirats <strong>an</strong> den Vorst<strong>an</strong>d der<br />
Bundesärztekammer (DÄ, Heft<br />
7/2002). Dies hatte schließlich Konsequenzen.<br />
Der Vorst<strong>an</strong>d der Bundesärztekammer<br />
entzog Sewing das Vertrauen.<br />
Dieser ist inzwischen zurückgetreten<br />
und hat seine Mitgliedschaft im<br />
Wissenschaftlichen Beirat niedergelegt.<br />
Vor einem Jahr entschied der Gesetzgeber,<br />
einen Import embryonaler<br />
Stammzellen unter bestimmten Auflagen<br />
zu erlauben. Über die Zulassung<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik wird<br />
der Bundestag voraussichtlich in dieser<br />
Legislaturperiode entscheiden. Hoppe<br />
bekräftigte die restriktive Haltung der<br />
Ärzteschaft: „Wir plädieren nach wie<br />
vor für ein Verbot der <strong>PID</strong>.“ Die Argumente<br />
entsprechen denen des Abschlussberichts<br />
der Enquete-Kommission.<br />
Das Missbrauchspotenzial der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik sei zu groß,<br />
und eine Begrenzung auf wenige Fälle<br />
könne nicht gar<strong>an</strong>tiert werden. Doch ob<br />
der Bundestag dieser Auffassung folgen<br />
wird, ist fraglich. Gisela Klinkhammer
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 19, 9. Mai 2003<br />
Menschenwürde<br />
„Dasein um seiner selbst willen“<br />
Die Anerkennung der Würde des Menschen, wie sie das Grundgesetz<br />
ausspricht, ist auch auf die ersten Anfänge des Lebens zu erstrecken.<br />
Die Fortschritte, die Biomedizin<br />
und Biotechnologie innerhalb einer<br />
Generation gemacht haben,<br />
nehmen sich atemberaubend aus. Einige<br />
Beispiele: Befruchtung und frühe<br />
Keimentwicklung beim Menschen können<br />
heute extrakorporal stattfinden,<br />
gentechnologische Eingriffe können <strong>an</strong><br />
den Zellkernen eines Embryos vorgenommen<br />
werden. Es ist nicht mehr Utopie,<br />
sondern reale Möglichkeit, im Blick<br />
auf die Nachkommenschaft Selektion<br />
zu betreiben, die auf erwünschte Merkmale<br />
abstellt.Auch die Keimbahntherapie<br />
und das so gen<strong>an</strong>nte therapeutische<br />
Klonen sind nicht mehr ausgeschlossen.<br />
Diese nahezu unbegrenzten Möglichkeiten,<br />
die sich mit den Erkenntnissen<br />
der Biomedizin, der Bio- und Gentechnologie<br />
eröffnen, verdeutlichen die<br />
Frage nach Haltepunkten und Orientierungen<br />
im Hinblick auf die Art und<br />
Weise und die Grenzen, wie Menschen<br />
mitein<strong>an</strong>der umgehen und das Zusammenleben<br />
gestalten wollen. Dies gilt<br />
umso mehr, als sich die neuen Möglichkeiten<br />
keineswegs nur mit ökonomischen<br />
Verwertungsinteressen, sondern<br />
ebenso mit großen Erwartungen für<br />
den medizinischen Fortschritt verbinden.<br />
Wo lassen sich solche Haltepunkte<br />
und Orientierungen finden<br />
Das Grundgesetz proklamiert das<br />
Grundrecht auf Leben und die Un<strong>an</strong>tastbarkeit<br />
der Menschenwürde. Dass<br />
diese Gar<strong>an</strong>tien als rechtlich verbindliche<br />
Gar<strong>an</strong>tien vorh<strong>an</strong>den sind, ist kein<br />
Zufall. Es waren die Erfahrungen aus<br />
der NS-Zeit, die dazu führten, dass gerade<br />
die Unverletzlichkeit und das Achtungsgebot<br />
der Menschenwürde sowie<br />
das Grundrecht auf Leben in das<br />
Grundgesetz aufgenommen wurden.<br />
Die Anerkennung und Achtung der<br />
Würde des Menschen wurde bewusst<br />
<strong>an</strong> den Anf<strong>an</strong>g des Grundgesetzes gestellt.<br />
Sie sollte das (normative) Fundament<br />
der neu zu errichtenden staatlichen<br />
Ordnung verdeutlichen, damit<br />
sich das, was während der NS-Herrschaft<br />
<strong>an</strong> Erniedrigung der Menschen,<br />
<strong>an</strong> Verletzung ihres Rechts, ihrer Freiheit,<br />
ihrer Würde geschehen war, nicht<br />
mehr wiederholen könne. Und m<strong>an</strong> ließ<br />
es nicht dabei, die Un<strong>an</strong>tastbarkeit der<br />
Würde des Menschen nur zu proklamieren,<br />
vielmehr fügte m<strong>an</strong> dieser Proklamation<br />
den Satz <strong>an</strong>: „Sie zu achten<br />
und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen<br />
Gewalt.“ Damit wurden die Anerkennung<br />
und Achtung der Menschenwürde<br />
als verbindliches normatives<br />
Prinzip für alles staatliche H<strong>an</strong>deln und<br />
auch für das Zusammenleben in der<br />
Gesellschaft festgelegt. Das bedeutet,<br />
dass die Anerkennung und Achtung jedes<br />
Menschen als Subjekt, als Träger<br />
grundlegender Rechte und der Freiheit<br />
zu ver<strong>an</strong>twortlichem H<strong>an</strong>deln, vorgegeben<br />
ist und nicht zur Disposition steht.<br />
Somit steht ein Halte- und Orientierungspunkt<br />
bereit, der nicht nur ein<br />
ethisch-moralisches Angebot ist,das m<strong>an</strong><br />
<strong>an</strong>nehmen k<strong>an</strong>n, vielmehr als Teil der<br />
Verfassung ein verbindliches normatives<br />
Prinzip darstellt. Es fragt sich, wie weit<br />
dieser Halte- und Orientierungspunkt im<br />
Hinblick auf die gegenwärtige Debatte<br />
um Biomedizin und Biotechnologie einschließlich<br />
der Gentechnologie trägt.<br />
Der rechtliche Status<br />
des Embryos<br />
➊ Entscheidend ist zunächst die Frage,<br />
ob diese Gar<strong>an</strong>tie und die darin beschlossene<br />
Anerkennung und Achtung<br />
als selbstständiges Subjekt nur geborene<br />
Menschen oder auch den Embryo<br />
umfasst. Das betrifft den rechtlichen<br />
Status des Embryos. Ist auch er und,<br />
wenn ja, von w<strong>an</strong>n ab Träger der Menschenwürde,<br />
deren Achtungs<strong>an</strong>spruch<br />
und des aus der Menschenwürde<br />
fließenden Rechts auf Leben Diese<br />
Frage ist aus dem Wortlaut des Artikels<br />
1 des Grundgesetzes nicht unmittelbar<br />
zu be<strong>an</strong>tworten. Es ist eine Frage der<br />
Interpretation dieses Textes in Richtung<br />
auf seine Tragweite, und diese Interpretation<br />
ist in der gegenwärtigen<br />
Diskussion durchaus umstritten.<br />
Vorwiegend, wenngleich nicht allein<br />
von Naturwissenschaftlern wird der<br />
Einw<strong>an</strong>d erhoben, wieso ein Acht- oder<br />
Sechzehnzeller bereits Träger von Menschenwürde<br />
sein könne. Solche Zuschreibungen<br />
seien <strong>an</strong>gesichts des biologischen<br />
Befundes doch unrealistisch,<br />
nahezu absurd. Deshalb wird von nicht<br />
wenigen ein späterer Zeitpunkt ins Auge<br />
gefasst und zu begründen versucht:<br />
etwa die Nidation, die Ausbildung des<br />
Gehirns, die Geburt, die aktuelle Vernunftfähigkeit.<br />
K<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auf diese<br />
Weise vorgehen<br />
a) Wichtig ist zunächst die Methode,<br />
die dieser Argumentation zugrunde gelegt<br />
wird. Es werden aus bestimmten<br />
naturwissenschaftlichen Befunden normative<br />
Qualitäten und Folgerungen<br />
abgeleitet. Mit welchem Recht Von<br />
feststellbaren naturwissenschaftlichen<br />
Gegebenheiten (Sein) auf normative<br />
Qualitäten und Postulate (Sollen) zu<br />
schließen gilt in der Regel als „naturalistischer<br />
Fehlschluss“, und eine solche<br />
Argumentation wird in <strong>an</strong>deren Zusammenhängen<br />
heftig kritisiert.<br />
Maßstäbe für das Verhalten der<br />
Menschen zuein<strong>an</strong>der, Gebote und Verbote<br />
für ihr H<strong>an</strong>deln lassen sich nicht<br />
als Resultate naturwissenschaftlicher<br />
Erkenntnis herleiten und begründen,<br />
sie überschreiten die Fragestellung und<br />
den Horizont solcher Erkenntnis. Sie zu<br />
formulieren und zu begründen ist eine<br />
Aufgabe von Philosophie, Ethik und –<br />
nicht zuletzt – des Rechts. Zwar sind<br />
auch naturwissenschaftliche Zusammenhänge<br />
zu berücksichtigen, sie sind<br />
im Hinblick auf bestimmte normative<br />
Gebote notwendige Anknüpfungs-<br />
181
D O K U M E N T A T I O N<br />
punkte. Aber sie sind nicht Quelle oder<br />
Geltungsgrund solcher Gebote. Diese<br />
ergeben sich erst und allein aus eigenständiger<br />
philosophischer, ethischer<br />
und rechtlicher Argumentation, ihrer<br />
Tragfähigkeit und Überzeugungskraft.<br />
Es hilft auch nicht weiter, Positionen<br />
zum ontologischen und moralischen<br />
Status des Embryos und deren Begründung<br />
jeweils mit naturwissenschaftlichen<br />
Befunden in Relation zu setzen<br />
und d<strong>an</strong>n zu fragen, wieweit diese Positionen<br />
auch naturwissenschaftlich tragfähig<br />
sind.Das vermeidet zwar die naturalistischen<br />
Fehlschlüsse. Aber es bedeutet<br />
<strong>an</strong>derseits, dass die philosophisch/ethisch/rechtliche<br />
Argumentation<br />
zum Status des Embryos letztlich mit<br />
der naturwissenschaftlichen auf die<br />
gleiche Ebene gestellt wird, obwohl die<br />
Erkenntnismöglichkeiten g<strong>an</strong>z unterschiedliche<br />
sind.<br />
b) Ebenso droht der Diskussion eher<br />
eine Gefahr als ein Nutzen durch die<br />
Her<strong>an</strong>ziehung des Personbegriffs. Der<br />
Personbegriff hat zwar eine ehrwürdige<br />
philosophische Tradition; in ihr sollte er<br />
die Eigenart des Menschen als individuelle<br />
Subst<strong>an</strong>z der rationalen Natur zum<br />
Ausdruck bringen, die ebenso der Natur-<br />
und Sinnenwelt wie der intelligiblen<br />
Welt zugehört. Die heutige Verwendung<br />
des Personbegriffs hat sich davon jedoch<br />
gelöst. Sie hat jetzt die Funktion,<br />
eine Differenzierung zwischen menschlichem<br />
und personalem Leben einzuführen<br />
und Personalität, Person-Sein als<br />
einen engeren Begriff gegenüber dem<br />
Menschsein zu fassen. Nicht jedes<br />
menschliche Leben, sondern erst ein<br />
durch bestimmte Eigenschaften und<br />
Qualitäten gekennzeichnetes soll ein<br />
personales Leben sein und sein Träger<br />
mithin eine Person.Wor<strong>an</strong> aber die Personalität<br />
gebunden sein soll, wird unterschiedlich<br />
bestimmt.Teils wird sie <strong>an</strong> die<br />
Wechselbeziehung mit dem mütterlichen<br />
Org<strong>an</strong>ismus nach der Nidation,<br />
teils <strong>an</strong> die Lebensfähigkeit außerhalb<br />
des Mutterleibs, teils weitergehend <strong>an</strong><br />
Ich-Bewusstsein oder die Fähigkeit zum<br />
selbstbestimmten H<strong>an</strong>deln geknüpft.<br />
Indem d<strong>an</strong>n die Würde des Menschen in<br />
einer – so definierten – Personalität begründet<br />
gesehen wird, folgt, dass nicht<br />
jedem menschlichen Lebewesen, sondern<br />
erst personalem menschlichen Leben<br />
Menschenwürde zukommt. Der<br />
182<br />
Personbegriff dient so der Eingrenzung<br />
des Schutzbereichs des Achtungsgebots<br />
der Menschenwürde.<br />
Die Würde des Menschen<br />
von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong><br />
➋ Solche Differenzierungsversuche<br />
können jedoch nicht entscheidend sein.<br />
Wenn es um die Reichweite der Menschenwürde<br />
und ihres Schutzes geht,<br />
wie die Verfassung ihn vorgibt, muss der<br />
Ausg<strong>an</strong>gspunkt das sein, was Art. 1 Abs.<br />
1 des Grundgesetzes sagt: „Die Würde<br />
des Menschen ist un<strong>an</strong>tastbar. Sie zu<br />
achten und zu schützen ist Verpflichtung<br />
aller staatlichen Gewalt.“ Dort<br />
wird nicht von der Würde der Person<br />
gesprochen, die zu achten und zu schützen<br />
sei, sondern von der Würde des<br />
Menschen. Sie kommt dem Menschen<br />
unabhängig von bestimmten Eigenschaften,<br />
Merkmalen oder aktuellen<br />
Fähigkeiten zu; allein auf das Menschsein<br />
kommt es <strong>an</strong>. Die zuerk<strong>an</strong>nte Würde<br />
gilt sowohl für jeden einzelnen Menschen<br />
als auch für den Menschen allgemein,<br />
die Formulierung „Würde des<br />
Menschen“ deckt beides ab, auch den<br />
Bezug auf die Menschen als Gattung.<br />
Worin diese Würde mit dem ihr zugeordneten<br />
Achtungsgebot inhaltlich besteht,<br />
mag streitig sein, soweit es um<br />
Konkretisierungen und Differenzierungen<br />
geht.Aber was den Kerngehalt dieses<br />
Satzes betrifft, worin seine normative<br />
Essenz liegt,ist weniger streitig,als es<br />
erscheinen mag. Ungeachtet verschiedener<br />
Ansätze, den Inhalt der Menschenwürde<br />
zu bestimmen, zeigte sich<br />
schon im Parlamentarischen Rat und<br />
auch später ein gemeinsam <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nter<br />
Kernbest<strong>an</strong>d. Er lässt sich mit der von<br />
K<strong>an</strong>t entlehnten Formel „Zweck <strong>an</strong> sich<br />
selbst“ oder der vom Bundesverfassungsgericht<br />
gegebenen Interpretation:<br />
„Dasein um seiner selbst willen“ umschreiben.<br />
Darin sind die Stellung und<br />
Anerkennung als eigenes Subjekt, die<br />
Freiheit zur eigenen Entfaltung, der<br />
Ausschluss von Instrumentalisierung<br />
nach Art einer Sache, über die einfach<br />
verfügt werden k<strong>an</strong>n, eingeschlossen.<br />
Dass Würde in diesem Sinn jedem<br />
einzelnen Menschen zukommt, ist in<br />
der Tat unbestritten. Die dar<strong>an</strong> notwendig<br />
<strong>an</strong>schließende und kontrovers diskutierte<br />
Frage ist, wieweit sich diese<br />
Anerkennung menschlicher Würde in<br />
den Lebensprozess jedes Menschen<br />
hinein erstrecken muss, damit sie auch<br />
wahr bleibt. Genügt es, wenn die Anerkennung<br />
und Achtung der Würde erst<br />
<strong>an</strong> einer bestimmten Stelle im Lebensprozess<br />
des Menschen einsetzt, dieser<br />
Lebensprozess davor aber verfügbar<br />
bleibt, oder muss diese Anerkennung<br />
und Achtung vom Ursprung <strong>an</strong>, dem ersten<br />
Beginn dieses menschlichen Lebens,<br />
bestehen Nur das Letztere k<strong>an</strong>n der<br />
Fall sein, wenn das Dasein um seiner<br />
selbst willen oder der Zweck <strong>an</strong> sich<br />
selbst wahr bleiben und nicht eine inhaltsleere<br />
Deklamation werden soll.<br />
Wenn die Achtung der Würde für jeden<br />
Menschen als solchen gilt, muss sie<br />
ihm von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> zuerk<strong>an</strong>nt werden,<br />
nicht erst nach einem Intervall, das er –<br />
gegen Verzweckung und Beliebigkeit<br />
nicht abgeschirmt – erst einmal glücklich<br />
überst<strong>an</strong>den haben muss. Der Beginn<br />
eigenen Lebens des sich ausbildenden<br />
und entwickelnden Menschen liegt<br />
nun aber in der Befruchtung, nicht erst<br />
später. Durch sie bildet sich ein gegenüber<br />
Samenzelle und Eizelle, die auch<br />
Formen menschlichen Lebens sind,<br />
neues und eigenständiges menschliches<br />
Lebewesen. Es ist durch die Zusammenfügung<br />
eines so und nicht <strong>an</strong>ders<br />
bestimmten Chromosomensatzes unverwechselbar<br />
individuell gekennzeichnet.<br />
Dies ist – naturwissenschaftlich unbestritten<br />
– das biologische Fundament<br />
des einzelnen Menschen. Die spätere<br />
geistige und psychische Entwicklung ist<br />
darin schon mit <strong>an</strong>gelegt. Nachdem der<br />
individuelle Chromosomensatz fixiert<br />
ist, gibt es keinen Einschnitt in die Qualität<br />
dessen, was sich entwickelt. Das<br />
genetische Programm der Entwicklung<br />
ist fertig vorh<strong>an</strong>den, bedarf keiner Vervollständigung<br />
mehr, es entfaltet sich<br />
im Zuge des Lebensprozesses von innen<br />
her, nach Maßgabe eigener Org<strong>an</strong>isation.<br />
Dies alles k<strong>an</strong>n zwar nicht ohne<br />
Hilfe von außen geschehen wie die Zuführung<br />
von Nahrung, den Kontakt und<br />
Austausch mit dem mütterlichen Org<strong>an</strong>ismus.<br />
Aber dies sind nicht mehr als<br />
notwendige Bedingungen für die Möglichkeit<br />
der eigenen Entwicklung aus<br />
sich heraus und nicht etwa diese selbst;<br />
sie bestehen nicht nur vor, sondern zum<br />
Teil auch nach der Geburt l<strong>an</strong>ge Zeit
D O K U M E N T A T I O N<br />
fort. Dass die Natur auf den so sich vollziehenden<br />
Lebensprozess einwirken,<br />
ihn auch abrupt beenden k<strong>an</strong>n, ist eine<br />
Tatsache, sie hebt aber seinen Beginn<br />
mit der Befruchtung nicht auf.<br />
Ob dem menschlichen Embryo der<br />
Schutz der Menschenwürde und damit<br />
auch das Recht auf Leben zukommt, ist<br />
also nicht von einer Art ontologischem<br />
Fundamentalismus abhängig, auch<br />
nicht davon, ob schon ein Acht- oder<br />
Sechzehnzeller empirisch als Person<br />
qualifiziert werden k<strong>an</strong>n. Entscheidend<br />
ist vielmehr, dass die Anerkennung der<br />
Würde des Menschen, wie das Grundgesetz<br />
sie ausspricht, nach ihrem normativen<br />
Gehalt auch auf die ersten Anfänge<br />
des Lebens eines jeden Menschen<br />
zu erstrecken ist.<br />
Das Lebensrecht eines<br />
Embryos<br />
➌ Was folgt nun aus dieser Reichweite<br />
des normativen Prinzips der Menschenwürde<br />
für die Probleme, die in der aktuellen<br />
bioethischen Debatte <strong>an</strong>stehen<br />
a) Es ist offensichtlich, dass die<br />
(künstliche) Herstellung von <strong>Embryonen</strong><br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken, um durch<br />
deren Verbrauch (das heißt Tötung)<br />
Stammzellen zu gewinnen, <strong>an</strong> denen geforscht<br />
werden k<strong>an</strong>n, eine gravierende<br />
Verletzung des Menschenwürdeschutzes<br />
darstellt. Hier wird der Embryo instrumentalisiert:<br />
Er wird nur hergestellt,<br />
um ihn <strong>an</strong>schließend für die Gewinnung<br />
von Stammzellen zu verbrauchen,<br />
kein Jota von einem Dasein um<br />
seiner selbst willen ist noch wahrnehmbar.<br />
Solche verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
muss, sol<strong>an</strong>ge die Menschenwürdegar<strong>an</strong>tie<br />
des Grundgesetzes<br />
gilt, verboten bleiben, auch wenn <strong>an</strong>dere<br />
Staaten das <strong>an</strong>ders sehen.<br />
Eine <strong>an</strong>dere Frage ist, wie es sich mit<br />
der Herstellung von Stammzellen verhält,<br />
wenn die <strong>Embryonen</strong> nicht zu diesem<br />
Zweck hergestellt wurden, vielmehr<br />
aus <strong>an</strong>deren Gründen, zum Beispiel<br />
dem Versuch einer Herbeiführung<br />
einer Schw<strong>an</strong>gerschaft (In-vitro-Fertilisation),<br />
entst<strong>an</strong>den sind, für diesen<br />
Zweck aber nicht mehr verwendet werden<br />
(können). Das sind die so gen<strong>an</strong>nten<br />
überzähligen <strong>Embryonen</strong>.Auch hier<br />
setzt die Gewinnung der Stammzellen<br />
den Verbrauch,das heißt die Tötung von<br />
<strong>Embryonen</strong>, voraus. Darf das sein<br />
Da diese <strong>Embryonen</strong> um eine<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft herbeizuführen geschaffen<br />
wurden, ist hier nicht primär<br />
die Achtung der Menschenwürde entscheidend,<br />
sondern das von der Menschenwürde<br />
getragene Lebensrecht des<br />
Embryos, das dem Schutz seiner biologisch-physischen<br />
Existenz dient. Nun<br />
ist das Lebensrecht des Menschen, das<br />
in der Menschenwürde seinen Grund<br />
hat, nicht absolut und un<strong>an</strong>tastbar<br />
wie die Achtung der Menschenwürde<br />
selbst. In dieses Recht k<strong>an</strong>n unter bestimmten<br />
Umständen eingegriffen werden,<br />
wie Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes<br />
festlegt. Entsprechendes gilt auch<br />
für das Lebensrecht eines Embryos.<br />
Solche Eingriffe setzen aber, um gerechtfertigt<br />
zu sein, außergewöhnliche<br />
Konfliktlagen voraus (beispielsweise<br />
Notwehr). Da es bei solchen Eingriffen<br />
nicht nur um gewisse Einschränkungen,<br />
sondern zumeist um Leben und<br />
Tod geht, können sie überdies nur in<br />
Betracht kommen, wenn es überhaupt<br />
keine <strong>an</strong>deren Mittel zur Lösung des<br />
Konflikts gibt.<br />
Es spricht nichts dafür, dass im Blick<br />
auf das Interesse <strong>an</strong> der Stammzellforschung<br />
diese strengen Voraussetzungen<br />
gegenwärtig erfüllt sind. Das Interesse<br />
der Forscher ist legitim, auch vom<br />
Grundrecht der <strong>Forschung</strong>sfreiheit gestützt.<br />
Aber wie es nicht die Tötung eines<br />
Menschen rechtfertigen k<strong>an</strong>n, k<strong>an</strong>n<br />
es auch nicht den Verbrauch beziehungsweise<br />
die Tötung eines Embryos,<br />
der ein Mensch in nuce ist, legitimieren.<br />
Ebenso wenig k<strong>an</strong>n das Recht auf Gesundheit<br />
dazu dienen. Es geht ja bei<br />
dem <strong>Forschung</strong>sinteresse gar nicht um<br />
das gegenwärtige Leben oder die aktuelle<br />
Gesundheit einzelner oder mehrerer<br />
Menschen, sondern um durchaus<br />
ungesicherte Erwartungen, dass sich<br />
aus der Stammzellforschung vielleicht<br />
einmal Heilmittel für bisl<strong>an</strong>g nicht heilbare<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten gewinnen lassen. Es<br />
ist ungewiss und unter Wissenschaftlern<br />
umstritten, ob die erwarteten Ergebnisse<br />
auch mit der <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten<br />
oder Stammzellen aus Nabelschnurblut<br />
erzielt werden können. Die Gewinnung<br />
von Stammzellen durch Tötung von<br />
(überzähligen) <strong>Embryonen</strong> ist deshalb<br />
nicht zu rechtfertigen.<br />
b) Das so gewonnene Ergebnis gibt<br />
auch eine Grundlage für die Beurteilung<br />
des viel diskutierten Stammzellenimports.<br />
Es geht dabei um den Import<br />
von Stammzellen, die <strong>an</strong>dernorts – nach<br />
dortigem Recht (vielleicht) legal – mit<br />
der Tötung von <strong>Embryonen</strong>, dazu hergestellten<br />
oder überzähligen, gewonnen<br />
worden sind. Bei der Gewinnung dieser<br />
Stammzellen h<strong>an</strong>delt es sich um eine in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d verbotene Tat; ihr Import<br />
umgeht das bestehende, ethisch und<br />
rechtlich aus der Achtung der Menschenwürde<br />
und dem Tötungsverbot<br />
begründete Verbot und hebelt es aus.<br />
Dar<strong>an</strong> können auch aufrichtig gemeinte<br />
strikte Einschränkungen nichts ändern.<br />
Der Hehler ist nicht besser als der Stehler.<br />
Auch dürfen die Auswirkungen dieses<br />
Einbruchs nicht übersehen werden:<br />
Wenn <strong>an</strong>derswo durch <strong>Embryonen</strong>verbrauch<br />
gewonnene Stammzellen hier<br />
verwendbar sind, warum können diese<br />
Stammzellen nicht auch bei uns hergestellt<br />
werden Das ist kostengünstiger,<br />
effektiver und vermeidet Unglaubwürdigkeit.<br />
Solche Konsequenz ist unabweisbar,<br />
der Import wird nach seiner eigenen<br />
Logik der erste Schritt auch zur<br />
Herstellung vor Ort. Der Ausweg, den<br />
der Deutsche Bundestag beschritten<br />
hat, ist nicht frei von Widerspruch.<br />
c) Kaum weniger aktuell und bris<strong>an</strong>t<br />
ist die Frage nach der Zulässigkeit der<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>). Sie<br />
ist durch das <strong>Embryonen</strong>schutzgesetz<br />
derzeit verboten. <strong>PID</strong> ist eine diagnostische<br />
Maßnahme, „bei der einem in vitro<br />
gezeugten Embryo nach den ersten<br />
Zellteilungen eine oder mehrere Zellen<br />
entnommen werden, um diese auf genetische<br />
Defekte oder Anlagen hin zu untersuchen“.<br />
Sie wird derzeit dazu eingesetzt,<br />
diejenigen <strong>Embryonen</strong>, bei denen<br />
sich eine genetisch bedingte schwere<br />
Kr<strong>an</strong>kheit oder die Anlage dazu nachweisen<br />
lässt, zu selektieren und nicht<br />
mehr auf die Frau zu übertragen. Das<br />
Ziel der <strong>PID</strong> ist also eine Aussonderung<br />
von defekten <strong>Embryonen</strong>.<br />
Es k<strong>an</strong>n wenig Zweifel dar<strong>an</strong> geben,<br />
dass die <strong>PID</strong> ein Selektionsinstrument<br />
ist und ihre Anwendung gegen die Achtung<br />
der Menschenwürde beim Embryo<br />
verstößt. Die <strong>PID</strong> wird nicht in G<strong>an</strong>g<br />
gesetzt, um den Wunsch nach einem<br />
Kind zu erfüllen. Dazu genügt die Invitro-Fertilisation.<br />
Sie wird vielmehr in<br />
183
D O K U M E N T A T I O N<br />
G<strong>an</strong>g gesetzt, um den Wunsch nach einem<br />
genetisch gesunden Kind zu erfüllen.<br />
Der in vitro hergestellte Embryo<br />
wird nicht als solcher, als „Zweck <strong>an</strong><br />
sich selbst“ <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt und gewollt, sondern<br />
abhängig von bestimmten Eigenschaften<br />
und Merkmalen, die er hat<br />
oder nicht hat. Nur unter dieser Voraussetzung<br />
wird ihm die Ch<strong>an</strong>ce zum Weiterleben<br />
eingeräumt. Deutlicher k<strong>an</strong>n<br />
nicht zum Ausdruck kommen, dass er<br />
keinen Anteil <strong>an</strong> menschlicher Würde<br />
hat,sondern nur einen <strong>an</strong> bestimmte Eigenschaften<br />
gebundenen Wert.<br />
Steht aber einem Verbot der <strong>PID</strong><br />
nicht die Menschenwürde und das<br />
Selbstbestimmungsrecht der Eltern und<br />
insbesondere der Frau entgegen Das<br />
ist nicht der Fall. Denn weder werden<br />
die Eltern oder die Frau durch ein Verbot<br />
der <strong>PID</strong> zum Objekt gemacht und<br />
instrumentalisiert noch in ihrem Recht<br />
auf Selbstbestimmung verletzt. Ihre<br />
Entscheidung, ob und w<strong>an</strong>n sie einen<br />
Kindeswunsch und wie sie ihn erfüllen<br />
wollen, ist frei und selbstbestimmt. Sie<br />
werden nur dar<strong>an</strong> festhalten, wenn sie<br />
ein Kind wollen, es als solches zu wollen<br />
und nicht nur als ein Kind mit bestimmten<br />
Eigenschaften. Der Verzicht auf<br />
<strong>PID</strong> ist auch zumutbar. Wenn Menschen<br />
es als unzumutbar empfinden,<br />
dass sie erbkr<strong>an</strong>ke oder behinderte<br />
Kinder bekommen, steht es ihnen frei,<br />
auf Elternschaft zu verzichten.<br />
M<strong>an</strong> darf nicht übersehen, welches<br />
breite Tor geöffnet wird, wenn die <strong>PID</strong>,<br />
wie schon in einigen Ländern geschehen,<br />
zugelassen wird. Die möglichen<br />
Anwendungsgebiete sind vielfältig.<br />
Zwar wird die <strong>PID</strong> derzeit von ihren<br />
Befürwortern nur für Fälle bestimmter<br />
schwerer Erbkr<strong>an</strong>kheiten gefordert, sofern<br />
ein hohes genetisches Risiko vorliegt.<br />
Schon dies bedeutet jedoch eine<br />
schwere Diskriminierung der entsprechend<br />
behinderten oder mit einer Erbkr<strong>an</strong>kheit<br />
belasteten Menschen. Sie<br />
sind diejenigen, die eigentlich nicht da<br />
sein sollten, deren Leben als nicht lebenswert<br />
erscheint und die eine Frau,<br />
die ver<strong>an</strong>twortlich h<strong>an</strong>delt, nicht gebären<br />
sollte. Diese Diskriminierung<br />
verstärkt sich noch, wenn die betreffenden<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten in einem Katalog ben<strong>an</strong>nt<br />
werden.Warum soll d<strong>an</strong>n ein solcher<br />
Katalog nicht erweitert werden<br />
Warum sollte <strong>PID</strong> nur zur Abwehr<br />
schwerer genetisch bedingter Kr<strong>an</strong>kheiten<br />
und nicht auch für eine positive<br />
Eugenik <strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dt werden<br />
d) Für die Beurteilung des so gen<strong>an</strong>nten<br />
therapeutischen Klonens ist<br />
zwischen der therapeutischen Verwendung<br />
embryonaler Stammzellen und<br />
adulter Zellkerne zu unterscheiden.<br />
Die Verwendung embryonaler Stammzellen<br />
und adulter Zellkerne unterscheidet<br />
sich im Blick auf das Prinzip<br />
Menschenwürde und das Tötungsverbot<br />
nicht von der verbrauchenden <strong>Embryonen</strong>forschung.<br />
Eigens dazu hergestellte<br />
oder <strong>an</strong>derweitig entst<strong>an</strong>dene<br />
<strong>Embryonen</strong> werden als Mittel für <strong>an</strong>dere<br />
externe Zwecke verbraucht und dabei<br />
getötet. Die Achtung der Menschenwürde<br />
und das Tötungsverbot stehen<br />
dem eindeutig entgegen.<br />
Bei der Verwendung adulter Zellkerne<br />
stellt der Ge- und Verbrauch dieser<br />
Zellen keine Tötungsh<strong>an</strong>dlung dar. Die<br />
adulten Zellen, die einem lebenden, in<br />
der Regel erwachsenen Menschen entnommen<br />
werden, sind keine <strong>Embryonen</strong>,<br />
nicht eigene menschliche Lebewesen,<br />
sondern nur Zellen. Sie können als<br />
solche zu Heilungszwecken verbraucht<br />
werden. Das Eigenartige und Herausfordernde<br />
ist die Art der Verwendung.<br />
Der Zellkern wird in eine vorher entkernte<br />
Eizelle eingepfl<strong>an</strong>zt und auf diese<br />
Weise ein neues Lebewesen ohne<br />
Verschmelzung von Samen- und Eizelle<br />
künstlich hergestellt, was bei voller Entwicklung,<br />
würde sie nicht abgebrochen,<br />
mit dem Menschen, dem die Zelle entnommen<br />
wurde, genetisch identisch wäre.<br />
Das ist mit der Achtung der Menschenwürde<br />
nach meiner Auffassung<br />
schwerlich vereinbar.<br />
❚ Zitierweise dieses Beitrags:<br />
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 1246–1249 [Heft 19]<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. (em.) Dr. iur. Dr. phil.<br />
Ernst-Wolfg<strong>an</strong>g Böckenförde<br />
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg<br />
Türkheimstraße 1, 79280 Au/Breisgau<br />
Heft 23, 6. Juni 2003<br />
Menschenwürde<br />
Zu dem Beitrag „Dasein um seiner selbst willen“<br />
von Prof. Dr. jur. Dr. phil. Ernst-Wolfg<strong>an</strong>g Böckenförde<br />
in Heft 19/2003:<br />
Analogie: milit<strong>an</strong>te Tierschützer<br />
Eine wesentliche Aussage von Böckenförde<br />
ist, dass die Gewinnung von<br />
Stammzellen durch Tötung von (überzähligen)<br />
<strong>Embryonen</strong> nicht zu rechtfertigen<br />
sei, auch d<strong>an</strong>n nicht, wenn aus der<br />
Stammzellforschung vielleicht einmal<br />
Heilmittel für bisl<strong>an</strong>g nicht heilbare<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten resultieren würden, was<br />
aber durchaus ungewiss ist. Das betrifft<br />
natürlich auch den Import von Stammzellen.Aus<br />
abstrakt ethischer Sicht können<br />
wahrscheinlich die meisten einer<br />
solchen Formulierung zustimmen. Ein<br />
Problem entsteht d<strong>an</strong>n, wenn die abstrakte<br />
Ethik ihres Mythos entkleidet<br />
wird. Sollte es doch eines Tages – wider<br />
Erwarten – möglich sein, auf dieser Basis<br />
entwickelte wirksame Medikamente<br />
<strong>an</strong>zubieten, was d<strong>an</strong>n Da durch die<br />
Exegese des Grundgesetzes verhindert<br />
wurde, diese Medikamente in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
zu entwickeln, wird es <strong>an</strong>dere europäische<br />
und/oder US-amerik<strong>an</strong>ische<br />
Anbieter geben.Verschließen wir uns<br />
d<strong>an</strong>n dem pharmakologischen Fortschritt<br />
– was nur konsequent wäre<br />
Oder sind wir Pharisäer und importieren<br />
die innovativen Medikamente, die<br />
<strong>an</strong>dere gegen unseren Willen, aber für<br />
uns entwickelt haben<br />
Eine <strong>an</strong>aloge Situation haben uns vor<br />
Jahren schon die milit<strong>an</strong>ten Tierschützer<br />
beschert. Nachdem erhebliche Teile<br />
184
D O K U M E N T A T I O N<br />
der tierexperimentellen Pharmakologie<br />
ins Ausl<strong>an</strong>d vertrieben wurden,<br />
haben sich dieselben Leute ohne Bedenken<br />
der Arzneimittel bedient, die<br />
daraufhin im Ausl<strong>an</strong>d entwickelt wurden.<br />
Entscheidend war, dass deutsche<br />
Hunde, Katzen, Ratten, Mäuse usw.<br />
geschont wurden. Der Gießener<br />
Pharmakologe Ernst Haberm<strong>an</strong>n<br />
hatte diese autistisch-undisziplinierte<br />
Rechtfertigungsethik unter Bezug auf<br />
das viktori<strong>an</strong>ische Engl<strong>an</strong>d als „viktori<strong>an</strong>ische<br />
Moral“ bezeichnet.Wenn<br />
ich Böckenförde nicht völlig falsch<br />
verstehe, besteht die Gefahr, dass<br />
deutsche <strong>Embryonen</strong> zwar per<br />
Grundgesetz geschützt werden, <strong>Embryonen</strong><br />
aus <strong>an</strong>deren Gegenden (Bulgarien,<br />
Rumänien,Thail<strong>an</strong>d usw.)<br />
aber zu <strong>Forschung</strong>szwecken vielleicht<br />
legal zur Verfügung stehen. Das ist<br />
nicht fair.<br />
Prof. Dr. Fr<strong>an</strong>k P. Meyer, Magdeburger Straße<br />
29, 39167 Groß Rodensleben<br />
Heft 23, 6. Juni 2003<br />
Europäisches Parlament<br />
Strenge St<strong>an</strong>dards für die<br />
Gewebespende<br />
Das EU-Parlament ist formal der Ansicht, dass die Mitgliedsstaaten<br />
selbst über Regeln der <strong>Forschung</strong> mit <strong>Embryonen</strong> und<br />
embryonalen Stammzellen entscheiden sollen.<br />
Die Entscheidung fiel haarscharf.<br />
Mit Stimmengleichheit hat das Europäische<br />
Parlament im April einen<br />
Antrag abgelehnt, der m<strong>an</strong>chem<br />
Wissenschaftler in Europa schwer im<br />
Magen gelegen hätte – wenn er denn<br />
Realität geworden wäre. Ziel der Initiative<br />
war es, in den EU-Mitgliedsstaaten<br />
das Forschen mit so gen<strong>an</strong>nten überzähligen<br />
<strong>Embryonen</strong>, die zum Zweck<br />
der künstlichen Befruchtung hergestellt<br />
wurden, zu verbieten. 232 Abgeordnete<br />
des Straßburger Parlaments stimmten<br />
für das Verbot, 232 dagegen – und Stimmengleichheit<br />
bedeutet Ablehnung: Damit<br />
ist das EU-Parlament formal der Ansicht,<br />
dass die Mitgliedsstaaten selbst<br />
über ein Verbot oder über Regeln der<br />
<strong>Forschung</strong> mit <strong>Embryonen</strong> und embryonalen<br />
Stammzellen entscheiden sollen.<br />
Richtlinie ist auf dem Weg<br />
durch die Inst<strong>an</strong>zen<br />
Die denkbar knappe Ablehnung des<br />
<strong>Forschung</strong>sverbots <strong>an</strong> <strong>Embryonen</strong> ist<br />
ein Indiz dafür, dass zentrale Entscheidungen<br />
auch für die deutsche Stammzellforschung<br />
längst in Straßburg und<br />
Brüssel fallen. Welchen Einfluss die<br />
EU-Institutionen haben wird in den<br />
nächsten Monaten gerade <strong>an</strong> einer EUweiten<br />
Richtlinie für die Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />
von Zellen und Gewebe deutlich<br />
werden, in deren Rahmen auch über<br />
den Klon-Antrag abgestimmt wurde.<br />
Auf den ersten Blick scheint sich die<br />
Richtlinie vor allem Haut-, Augenhornhaut-,<br />
Knochen- und Herzklappen-Spenden<br />
zu beschränken, die heute in Europa<br />
bereits Alltag sind. Doch die EU-Parlamentarier<br />
wollen dafür sorgen, dass die<br />
Richtlinie auch Fragen der Stammzellforschung<br />
eindeutig regelt. „Ich rechne<br />
mit harten Diskussionen“, sagt der Europaabgeordnete<br />
Dr. Peter Liese (CDU).<br />
Diese Richtlinie, die die Spende,Verarbeitung<br />
und Verwendung einer Reihe<br />
von Geweben regeln soll, ist derzeit auf<br />
dem Weg durch die Inst<strong>an</strong>zen. Einen ersten<br />
Entwurf hatte im Juni letzten Jahres<br />
die Brüsseler Kommission vorgelegt.<br />
Doch bei der Regelung hat das Europa-Parlament<br />
ein Mitspracherecht.<br />
„Und das wollen wir nutzen“, sagt Liese,<br />
der als so gen<strong>an</strong>nter Berichterstatter<br />
die Federführung bei der Formulierung<br />
des Berichts des Parlaments hatte.<br />
Die Idee der Kommission, diese<br />
Spenden EU-einheitlich zu regeln, gehe<br />
grundsätzlich in die richtige Richtung,<br />
bescheinigten die Parlamentarier der<br />
Kommission im April - und beschlossen<br />
d<strong>an</strong>n in erster Lesung knapp 80 Änderungen,<br />
die deutlich strengere St<strong>an</strong>dards<br />
für Qualität und Sicherheit von<br />
Zellen und Geweben fordern. So hat<br />
das Parlament den Vorschlag der Kommission<br />
in einer Reihe von Punkten wesentlich<br />
verschärft:<br />
❃ Spender sollen ausdrücklich<br />
schriftlich oder in vom Gesetzgeber genau<br />
zu definierenden Ausnahmefällen<br />
mündlich vor Zeugen einwilligen. Die<br />
Einwilligung muss – bis zur Verwendung<br />
des Gewebes beziehungsweise der<br />
Zellen – jederzeit zurückgezogen werden<br />
können, ohne dass dem Spender<br />
dadurch Nachteile entstehen.<br />
❃ Die Entnahme von Zellen und Geweben<br />
von verstorbenen Personen ist<br />
nach dem Willen des Parlaments nicht<br />
möglich, wenn diese zu Lebzeiten ausdrücklich<br />
widersprochen haben. Wenn<br />
jem<strong>an</strong>d keine Erklärung abgegeben hat,<br />
185
D O K U M E N T A T I O N<br />
können Zellen und Gewebe nur entnommen<br />
werden, wenn die Angehörigen<br />
ausdrücklich zugestimmt haben.<br />
❃ Zellen und Gewebe dürfen nicht<br />
von Personen entnommen werden, die<br />
keine rechtskräftige Einwilligung geben<br />
können.<br />
Die EU-Abgeordneten nutzten aber<br />
auch die Gelegenheit, klare Grenzen<br />
bei der Verwendung embryonaler<br />
Stammzellen und zur Frage des Klonens<br />
von menschlichen <strong>Embryonen</strong> zu<br />
ziehen. Klonen will die Mehrheit der<br />
Parlamentarier EU-weit verbieten; ausdrücklich<br />
wird zudem ausgeschlossen,<br />
dass „geklonte menschliche Embryos<br />
und menschliche/tierische Hybridembryos<br />
und von ihnen abgeleitete Gewebe<br />
und Zellen als Quellen für Tr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tationsmaterial“<br />
genutzt werden.<br />
Heftiger Widerst<strong>an</strong>d wird<br />
aus Großbrit<strong>an</strong>nien erwartet<br />
Die Frage ist, inwieweit das Parlament<br />
seine Vorstellungen durchsetzen k<strong>an</strong>n.<br />
Die endgültige Richtlinie muss Liese<br />
jetzt mit den Gesundheitsministern der<br />
15 EU-Mitgliedsländer aush<strong>an</strong>deln. Der<br />
heftigste Widerst<strong>an</strong>d gegen den Parlamentsentwurf<br />
wird dabei wohl aus Großbrit<strong>an</strong>nien<br />
kommen. Dort ist das so gen<strong>an</strong>nte<br />
therapeutische Klonen menschlicher<br />
<strong>Embryonen</strong> erlaubt, diese <strong>Embryonen</strong><br />
dürfen allerdings nicht in die Gebärmutter<br />
einer Frau impl<strong>an</strong>tiert werden.<br />
Streit wird es auch um die Frage geben,<br />
ob die Richtlinie auch für Gewebespenden<br />
gelten soll, die ausschließlich<br />
für Laborforschung verwendet werden<br />
sollen. Während die EU-Kommission<br />
solche Spenden ausdrücklich von der<br />
Richtlinie ausnehmen wollte, hat das<br />
Parlament die <strong>Forschung</strong> ausdrücklich<br />
eingeschlossen. „Wir wollen hohe St<strong>an</strong>dards<br />
für den Schutz der Spender festschreiben“,<br />
sagt Liese: Und da sei es<br />
unerheblich, für welchen Zweck ein<br />
Spender Zellen oder Gewebe spende,<br />
schließlich sei beispielsweise die Gesundheitsbelastung<br />
durch die Entnahme<br />
dieselbe. Allerdings sollten in der<br />
<strong>Forschung</strong> d<strong>an</strong>n weniger strenge Regeln<br />
für die Aufbereitung und Lagerung<br />
von Zellen und Geweben gelten, die<br />
nicht auf <strong>an</strong>dere Menschen übertragen<br />
werden.<br />
Klaus Koch<br />
Heft 24, 13. Juni 2003<br />
1. Ökumenischer Kirchentag<br />
„Den Sterbenden ein<br />
Segen sein“<br />
Interkultureller Umg<strong>an</strong>g mit Leiden und Tod<br />
Ökumenischer Kirchentag in Berlin<br />
Auf dem 1. Ökumenischen Kirchentag in Berlin diskutierten<br />
Wissenschaftler und Kirchentagsgäste die<br />
Familienpolitik und die Reproduktionsmedizin. Der<br />
Tübinger Sozialethiker Prof. Dr. Dietmar Mieth sieht<br />
in der Kinderlosigkeit ein soziales Problem. Dabei<br />
stünde der Kinderlosigkeit jeder dritten Frau ein Kinderwunsch<br />
bei 80 Prozent aller Frauen gegenüber.<br />
Die heutigen Anforderungen von Flexibilität und<br />
Mobilität der Arbeitnehmer laufen dem Familienwunsch<br />
zuwider. Die durch fehlende Unterstützung<br />
hervorgerufene Kinderlosigkeit könne auch die Reproduktionsmedizin<br />
nicht beheben. Bevor m<strong>an</strong> zu<br />
technischen Lösungen greife, sollten die sozialen Ursachen<br />
des Geburtenrückg<strong>an</strong>gs untersucht werden.<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr.<br />
med. Jörg-Dietrich Hoppe, erläuterte den Kirchentagsteilnehmern,<br />
dass Schw<strong>an</strong>gerschaften mit zunehmendem<br />
Alter risikoreicher würden.Aus medizinischen<br />
Erwägungen sei es darum sinnvoll, so Hoppe,<br />
eine frühe Familiengründung zu fördern. Der<br />
Kölner Gesundheitsökonom Prof. Dr. med. Dr. Karl<br />
W. Lauterbach unterstrich die Bedeutung der Familienpolitik<br />
auf die sozialen Sicherungssysteme. Eine<br />
kinderlose Gesellschaft drohe zu vergreisen und<br />
könne das soziale Sicherungssystem sprengen. Erste<br />
Vorzeichen seien bereits deutlich geworden.<br />
Einhellig lehnten die Wissenschaftler die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
ab. Diese diene alleine der<br />
Was interessiert mich der Tod“<br />
fragte der Philosoph Epikur.<br />
„Wo der Tod ist, da bin ich<br />
nicht, und wo ich bin, da ist der Tod<br />
nicht!“ Eine genial einfache Lösung.<br />
Aber diese Auffassung hat nur so l<strong>an</strong>ge<br />
Best<strong>an</strong>d, wie m<strong>an</strong> sich als Gesunder von<br />
gesunden Menschen umgeben sieht.<br />
Während des 1. Ökumenischen Kirchentages<br />
in Berlin trafen sich in der<br />
Kreuzberger Emmaus-Kirche Menschen,<br />
die <strong>an</strong>dere Erfahrungen als der<br />
Philosoph gesammelt haben.Angehörige,<br />
Kr<strong>an</strong>kenhausseelsorger, Pflegekräfte<br />
und Ärzte tauschten hier unter dem<br />
Motto „den Sterbenden ein Segen sein“<br />
ihre Erfahrungen und Positionen aus.<br />
In die Emmaus-Kirche kamen Kirchentagsbesucher,<br />
die <strong>an</strong>dere Menschen leidend<br />
und sterbend erlebt haben. Der<br />
Tod ist ein zentrales Thema aller Religionen.<br />
Und bei aller Vielfalt will jede<br />
Kinderwunsch oder Kind nach Wunsch<br />
Ethiker, Ärzte und Juristen fordern bessere Möglichkeiten, um<br />
Kindererziehung, Ausbildung und Beruf mitein<strong>an</strong>der zu vereinbaren.<br />
Einhellige Ablehnung der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik.<br />
Selektion von <strong>Embryonen</strong> und müsse daher auch<br />
weiter verboten bleiben. Aber auch bei der Pränataldiagnostik<br />
(<strong>PND</strong>) müsse m<strong>an</strong> sich fragen, welche<br />
Konsequenz diese Untersuchung für das betroffene<br />
Paar und für das gesellschaftliche Ansehen<br />
von Menschen mit einer <strong>an</strong>geborenen Behinderung<br />
haben werde. Die Lehrstuhlinhaberin für<br />
Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung, Prof.<br />
Dr. Ute Sacksofsky, aus Fr<strong>an</strong>kfurt/Main, plädierte<br />
wie auch ihre Diskussionspartner auf dem Podium<br />
dafür, die Pränataldiagnostik auf den Prüfst<strong>an</strong>d<br />
zu stellen. Hoppe w<strong>an</strong>dte ein, dass die <strong>PND</strong> dazu<br />
dienen könne, beispielsweise Herzfehler zu erkennen<br />
und noch während der Schw<strong>an</strong>gerschaft im<br />
Mutterleib zu operieren. Insofern hätte der Fetus<br />
einen direkten Nutzen von dieser Untersuchung.<br />
Aber bisher arbeiteten nach Hoppes Auffassung<br />
die Mediziner in einer „völlig inkonsistenten<br />
Rechtslage“.<br />
Die Kirchentagsver<strong>an</strong>staltung war ein deutliches<br />
Zeichen dafür, dass ein erheblicher Diskussionsbedarf<br />
besteht. Das Vorst<strong>an</strong>dsmitglied der<br />
Bundesärztekammer Rudolf Henke und Dr. Julika<br />
Mayer, Wissenschaftlerin am Institut für Medizinm<strong>an</strong>agement<br />
und Gesundheitswissenschaften der<br />
Universität Bayreuth, hatten als „Anwälte des<br />
Publikums“ über 80 Fragen <strong>an</strong> die Wissenschaftler<br />
zu bündeln.<br />
DR<br />
186
D O K U M E N T A T I O N<br />
Glaubensrichtung auf ihre Weise „den<br />
Sterbenden ein Segen sein“. Gemeindepastor<br />
und Initiator Jörg Machel hatte<br />
den Tod in den Mittelpunkt gerückt, um<br />
Suizid, Sterbehilfe, Sterben in Würde<br />
und Trauerarbeit zu thematisieren. „Mit<br />
<strong>an</strong>deren Augen“ wurden hebräische Bibel,<br />
Neues Testament und Buddhas<br />
Lehren interpretiert. In Film-Workshops,<br />
Meditationen, Lesungen, Musikver<strong>an</strong>staltungen,<br />
Vorträgen und Podiumsdiskussionen<br />
näherte sich das Publikum<br />
dem schweren Thema.<br />
Der Leiter der Palliativstation im<br />
Gemeinschaftskr<strong>an</strong>kenhaus Havelhöhe<br />
in Berlin, Priv.-Doz. Dr. med. H.<br />
Christoph Müller-Busch, zeigte die<br />
Kehrseite der erfolgreichen Medizin.<br />
„Die Fortschritte der modernen Medizin<br />
erlauben es, Sterbeprozesse qualvoll<br />
in die Länge zu ziehen . . . Menschenwürdiges<br />
Sterben bedeutet aber,<br />
für einen erträglichen Sterbeprozess<br />
Sorge zu tragen.“ Aus den Erfahrungen<br />
der staatlichen Euth<strong>an</strong>asie im<br />
Dritten Reich heraus tue die Ärzteschaft<br />
gut dar<strong>an</strong>, die aktive Sterbehilfe<br />
abzulehnen. Müller-Busch warnte die<br />
Befürworter der aktiven Sterbehilfe<br />
Heft 24, 13. Juni 2003<br />
Interview<br />
davor, dass schnell aus dem geforderten<br />
Recht eine Pflicht werden könne.<br />
Andererseits, so beklagte Müller-<br />
Busch, sei „Übertherapie,Aktionismus<br />
oder nur symbolhaftes H<strong>an</strong>deln“ ein<br />
weit verbreitetes Phänomen unter<br />
Ärzten. Viel zu oft werde aus falschem<br />
Augenmaß heraus gegen den Willen<br />
des Patienten agiert. Im Zweifelsfall<br />
werde alles Machbare get<strong>an</strong>. Eine Patientenverfügung<br />
könne <strong>an</strong> dieser Stelle<br />
beiden Seiten helfen, dem Willen des<br />
Patienten nachzukommen.<br />
„Wir brauchen ein besseres Verständnis<br />
für die Bedürfnisse der<br />
Schwerstleidenden und Sterbenden.<br />
Jeder Arzt sollte in der Lage sein, seinen<br />
Patienten bis zu seinem Ableben<br />
würdig und kompetent zu begleiten“,<br />
forderte die Ex-Bundesjustizministerin<br />
Herta Däubler-Gmelin. In ihrer<br />
Funktion als Schirmherrin der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
Hospiz sprach<br />
sie sich dafür aus, aktive Sterbehilfe<br />
weiterhin zu untersagen. Parallel dazu<br />
müssten aber die Hospizbewegung und<br />
die Palliativmedizin stärkere Unterstützung<br />
finden. Das erneute Votum<br />
des Ärztetages für den Ausbau der Palliativmedizin<br />
und gegen die aktive<br />
Sterbehilfe stärke der Hospizbewegung<br />
den Rücken.Viele Menschen, die<br />
sich für Sterbehilfe aussprächen, wollten<br />
in Wirklichkeit eine Sterbebegleitung,<br />
mit der ihnen unerträgliches<br />
Leiden vor dem Tod erspart bliebe.<br />
Der ärztliche Heilberuf diene dem Leben.<br />
Ein Arzt h<strong>an</strong>dele nach dem hippokratischen<br />
Grundsatz: Non nocere<br />
(nicht schaden). Deshalb dürfe dieser<br />
Berufsst<strong>an</strong>d der Helfenden und Heilenden<br />
nicht den Freibrief zur Tötung<br />
erhalten.<br />
Fehl- oder Todgeburten und der<br />
plötzliche Kindstod sind unerträgliche<br />
Schicksalsschläge für die betroffenen<br />
Eltern. Frauen und Paare fühlen sich<br />
mit ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen<br />
oft allein gelassen.Auf dem Kirchentag<br />
wurde klar, dass viele Todgeburten<br />
unter unwürdigen Bedingungen<br />
das Licht der Welt erblicken und<br />
beerdigt werden. Das von den Eltern<br />
noch nicht realisierte Unglück begegnet<br />
professionellem Umg<strong>an</strong>g mit Toten.<br />
Eine Zusammenarbeit von Hebamme,<br />
Arzt und Kr<strong>an</strong>kenhausseelsorge<br />
k<strong>an</strong>n die persönlichen Leiden lin-<br />
DÄ: Herr Präsident, die Medizin<br />
schafft Möglichkeiten zur Diagnose<br />
und Therapie, die auch hier auf dem<br />
1. Ökumenischen Kirchentag in der<br />
Diskussion um die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
(<strong>PID</strong>) diskutiert werden.<br />
Diese Möglichkeiten verursachen d<strong>an</strong>n<br />
gesellschaftliche Probleme. Wer trägt<br />
dafür die Ver<strong>an</strong>twortung<br />
Hoppe: Diese Möglichkeiten sind<br />
ja die Antworten auf Probleme, die aus<br />
der Bevölkerung <strong>an</strong> die Medizin her<strong>an</strong>getragen<br />
werden. Die Medizin findet<br />
d<strong>an</strong>n Lösungen, die natürlich ihrerseits<br />
wieder Probleme produzieren. Das ist<br />
ein Hin und Her seit vielen, vielen Jahren,<br />
in der letzten Zeit immer intensiver.<br />
Wir tragen alle gemeinsam die<br />
Ver<strong>an</strong>twortung.<br />
DÄ: Ist es also notwendig, dass ein<br />
Diskurs stattfindet zwischen den Fachleuten,<br />
also den Politikern und den Medizinern,<br />
um sich darüber zu einigen,<br />
was überhaupt geleistet werden soll<br />
Hoppe: Ja, aber natürlich sollte die<br />
Gesellschaft mit einbezogen werden,<br />
weil sich dort ja die Meinung bildet,<br />
was m<strong>an</strong> will und was m<strong>an</strong> nicht will.<br />
Interview mit<br />
dem Präsidenten<br />
der<br />
Bundesärztekammer,<br />
Prof.<br />
Dr. Jörg-Dietrich<br />
Hoppe,<br />
Ökumenischer<br />
Kirchentag,<br />
29. Mai,<br />
in Berlin<br />
Das ist keine rein politische Entscheidung,<br />
zum Beispiel ob wir <strong>PID</strong> zulassen<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d, ja oder nein, das ist eine<br />
gesellschaftliche Entscheidung, die<br />
alle zusammen treffen müssen.<br />
Foto: Bernhard Eifrig<br />
DÄ: Ich komme noch einmal zurück<br />
auf die Stimmungen. Es besteht ein Dilemma<br />
des individuellen Wünschens<br />
und des gesellschaftlichen Konsenses.<br />
Dieses Dilemma ist Teil der ärztlichen<br />
Beratungstätigkeit. Wie f<strong>an</strong>gen Ärzte<br />
das auf<br />
Hoppe: Wir Ärzte versuchen, die Patientinnen<br />
und Patienten optimal aufzuklären.Alle<br />
Zusammenhänge müssen<br />
wir bezeichnen und beschreiben. D<strong>an</strong>n<br />
suchen wir mit dem Betroffenen partnerschaftlich<br />
nach einer für das jeweilige<br />
Individuum geeigneten Lösung.<br />
DÄ: Dabei ist oftmals schwierig, dass<br />
das, was gesellschaftlich als nützlich<br />
oder als gut <strong>an</strong>gesehen wird, vom Individuum<br />
nicht akzeptiert wird. Schafft<br />
das nicht Frustrationen für den Arzt<br />
Hoppe: Das k<strong>an</strong>n passieren, auch<br />
umgekehrt k<strong>an</strong>n es so sein, dass Ärzte<br />
gerne etwas <strong>an</strong>wenden würden, was<br />
nicht erlaubt ist. Und deshalb können<br />
sie m<strong>an</strong>chen Menschen nicht so helfen,<br />
wie sie das gerne tun würden.<br />
Aber damit muss m<strong>an</strong> sich eben abfinden,<br />
wir sind ja nicht alleine auf der<br />
Welt. Wir leben in einer großen Gemeinschaft<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d von nahezu<br />
80 Millionen Menschen, und da hat<br />
m<strong>an</strong> sich d<strong>an</strong>n auch nach der Mehrheitsmeinung<br />
zu richten.<br />
DÄ: Eine Frage noch zur Fin<strong>an</strong>zierbarkeit<br />
unseres Gesundheitssystems.<br />
Im Moment ist ja in der Diskussion,<br />
dass m<strong>an</strong> unter <strong>an</strong>derem die Reproduktionstechniken<br />
über Steuer fin<strong>an</strong>zieren<br />
möchte. Sie hatten auf dieser<br />
Ver<strong>an</strong>staltung auch <strong>an</strong>gesprochen,<br />
dass es in der Familienpolitik um eine<br />
Querschnittsaufgabe verschiedener<br />
gesellschaftlicher Bereiche geht. Halten<br />
Sie es für richtig, dass die Familienleistungen<br />
zum guten Teil aus dem Leistungskatalog<br />
der Kassen gestrichen<br />
werden und steuerfin<strong>an</strong>ziert werden<br />
Hoppe: Ja, ich halte das für richtig,<br />
denn es h<strong>an</strong>delt sich hierbei um eine<br />
Angelegenheit, die die gesamte Gesellschaft<br />
betrifft. Wenn sich unsere<br />
Bevölkerung fortpfl<strong>an</strong>zen soll, d<strong>an</strong>n ist<br />
das eine Angelegenheit, die nichts mit<br />
Kr<strong>an</strong>kheit, sondern mit Familien- oder<br />
Fortpfl<strong>an</strong>zungspolitik zu tun hat. Aber<br />
es ist sicher nicht gut und richtig, wenn<br />
m<strong>an</strong> aus den Löhnen der Beitragszahler<br />
diese Dinge bezahlen lässt. Ich<br />
bin der Meinung, dass für diese gesamtgesellschaftlichen<br />
Aufgaben die<br />
Steuer die richtige Quelle ist, um das<br />
zu fin<strong>an</strong>zieren. Ich möchte aber nicht,<br />
dass die Menschen mit diesen Problemen<br />
alleine gelassen werden, also<br />
dass das privatisiert wird, sondern es<br />
soll schon die Allgemeinheit dafür aufkommen,<br />
wenn wir Wert darauf legen,<br />
dass das Volk sozusagen bestehen<br />
bleibt, indem es sich fortpfl<strong>an</strong>zt. ✮<br />
187
D O K U M E N T A T I O N<br />
dern. Allerdings beklagte die Hebamme<br />
Jutta Bartholomé von der Initiative<br />
Regenbogen – glücklose Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />
e.V., dass immer noch in vielen<br />
Häusern die Chefärzte alleine entschieden,<br />
wie mit Totgeburten umgeg<strong>an</strong>gen<br />
werden solle.<br />
Überfüllt war die Emmaus-Kirche<br />
beim Auftritt des Paderborner Theologen<br />
Eugen Drewerm<strong>an</strong>n. In seiner Interpretation<br />
des Grimmschen Märchens<br />
„Gevatter Tod“ nahm sich Drewerm<strong>an</strong>n<br />
der Rolle des Arztes <strong>an</strong>, dessen Pate Gevatter<br />
Tod war. Sein Streben nach<br />
Reichtum, Schönheit und Macht lässt<br />
ihn seine Absprache mit dem Tod vergessen.<br />
Als er ein zweites Mal Gevatter<br />
Tod austrickst, macht dieser mit dem<br />
Arzt kurzen Prozess. Für Drewerm<strong>an</strong>n<br />
dokumentiert sich darin die Eitelkeit<br />
des Arztes. Er sei mächtig, weil er die<br />
Konstellation des Todes begreift, aber<br />
Heft 28-29, 14. Juli 2003<br />
Pränatale Diagnostik<br />
Engere Grenzen für<br />
Spätabtreibungen<br />
die Macht der Verzögerung des Todes<br />
bedeute gleichzeitig eine Begrenzung<br />
und Kränkung seiner Heilkunst.<br />
Wolfg<strong>an</strong>g Amadeus Mozart hat im<br />
Requiem musikalisch den Tod thematisiert.<br />
G<strong>an</strong>z im Sinne des interkulturellen<br />
Ansatzes wurde das Requiem<br />
– fl<strong>an</strong>kiert von jüdischen, <strong>an</strong>atolischen<br />
und buddhistischen Gesängen – in der<br />
Emmaus-Kirche aufgeführt. Beeindruckend<br />
<strong>an</strong> der Themenarbeit war die<br />
Ernsthaftigkeit, mit der die Kirchentagsbesucher<br />
eigene Erlebnisse berichteten,<br />
ein<strong>an</strong>der zuhörten und nach<br />
gemeinsamen Lösungen suchten. So<br />
konnten die Teilnehmer vor allem<br />
irdische Lebenshilfe während des<br />
Kirchentages in der Emmaus-<br />
Gemeinde erfahren. Gemeindepastor<br />
Jörg Machel zollte dem Publikum<br />
Respekt und erklärte es zu „Fachleuten<br />
des Leids“. Dr. med. D<strong>an</strong>iel Rühmkorf<br />
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe<br />
hält eine Reform des § 218 für dringend erforderlich.<br />
Die Neuregelung des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
im Jahr 1995 sollte<br />
unter <strong>an</strong>derem auch verhindern,<br />
dass Kinder aufgrund einer Behinderung<br />
oder Kr<strong>an</strong>kheit abgetrieben werden.<br />
Deshalb wurde die so gen<strong>an</strong>nte embryopathische<br />
Indikation abgeschafft. Doch<br />
die gut gemeinte Absicht hat ihr Ziel verfehlt.<br />
Zwar fiel die embryopathische Indikation<br />
weg, die medizinische Indikation<br />
wurde jedoch insofern erweitert, als<br />
die Schw<strong>an</strong>gere ohne zeitliche Befristung<br />
und ohne Beratung abtreiben<br />
k<strong>an</strong>n, wenn sie eine schwere psychische<br />
Beeinträchtigung wegen der zu erwartenden<br />
Behinderung des Kindes geltend<br />
machen k<strong>an</strong>n.Die Deutsche Gesellschaft<br />
für Gynäkologie und Geburtshilfe<br />
(DGGG) will diese Schwäche der Abtreibungsregelung<br />
beheben und forderte<br />
deshalb auf einer Tagung in Berlin am 24.<br />
Juni eine begrenzte Reform des § 218.<br />
Zweifel <strong>an</strong> Statistiken<br />
Die Zahl der Spätabtreibungen erscheint<br />
zunächst eher gering. Im Jahr<br />
2002 wurden nach Angaben des Statistischen<br />
Bundesamtes 130 387 Abbrüche<br />
erfasst. 188 Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche<br />
wurden nach der 23. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche<br />
gemeldet. „Diese Statistiken begegnen<br />
aber erheblichen Zweifeln“,<br />
heißt es in einem von den Gynäkologen<br />
vorgelegten Positionspapier. „Berichte<br />
Das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie<br />
und Geburtshilfe k<strong>an</strong>n abgerufen werden unter<br />
www.aerzteblatt.de/plus2803<br />
aus der Praxis zeigen, dass in mehreren<br />
Kliniken Spätabbrüche erfolgen, die<br />
d<strong>an</strong>n teilweise als Totgeburten und nicht<br />
als Abbrüche registriert werden.“<br />
Die Bundesärztekammer (BÄK) hatte<br />
bereits im Jahr 1998 (DÄ, Heft<br />
47/1998) auf diesen Missst<strong>an</strong>d reagiert<br />
und begrüßte jetzt diese Initiative. „Das<br />
Papier stellt quasi eine Weiterentwicklung<br />
der ,Erklärung zum Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
nach Pränataldiagnostik‘<br />
dar“, sagte die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer,<br />
Dr. med. Ursula Auerswald.<br />
In ihrem Positionspapier fordert<br />
die DGGG, den Zeitpunkt der Lebensfähigkeit<br />
eines Ungeborenen nach etwa<br />
20 bis 22 Wochen nach Empfängnis als<br />
Grenze für einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
<strong>an</strong>zunehmen. Ausnahmen sollten<br />
nur im Fall „schwerster unbeh<strong>an</strong>delbarer<br />
Kr<strong>an</strong>kheiten und Entwicklungsstörungen<br />
des Ungeborenen <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt werden“.<br />
Darüber müsse aber eine interdisziplinäre<br />
Kommission aus Frauenärzten,<br />
Kinderärzten, Hum<strong>an</strong>genetikern und<br />
Psychiatern beziehungsweise Psychotherapeuten<br />
beraten und entscheiden.<br />
Wenn ein Abbruch aufgrund der medizinischen<br />
Indikation in Erwägung gezogen<br />
werde, sollte zusätzlich zu dem<br />
ärztlichen Gespräch eine unabhängige<br />
psychosoziale Beratung <strong>an</strong>geboten<br />
werden. Auf deren Bedeutung wies<br />
Prof. Dr. med. Heribert Kentenich, Berlin,<br />
eindringlich hin. „Viele Schw<strong>an</strong>gere<br />
reagieren bei Befunden, die auf schwerwiegende<br />
Störungen des Ungeborenen<br />
hindeuten, in dem Sinne, dass sie akut<br />
und sofort den Abbruch wünschen, um<br />
diese Schw<strong>an</strong>gerschaft ,ungeschehen‘<br />
zu machen. Ärztliche und zusätzliche<br />
psychosoziale Beratung sind aber <strong>an</strong><br />
diesem Punkt gefordert, um hektische<br />
Entscheidungen zu vermeiden.“ Die<br />
Gynäkologen halten eine Bedenkzeit<br />
von drei Tagen für sinnvoll.<br />
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft<br />
für Gynäkologie und Geburtshilfe,<br />
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, und<br />
Dr. Auerswald sprechen sich für die<br />
Wiedereinführung der embryopathischen<br />
Indikation aus. „Das Subsumieren<br />
der embryopathischen Indikation in<br />
die medizinische Indikation hat fehlgebildeten<br />
Feten nicht mehr Lebensschutz<br />
gebracht“, resümiert Auerswald.<br />
Durch die Einführung der embryopathischen<br />
Indikation könnte zum Bei-<br />
188
D O K U M E N T A T I O N<br />
spiel eine statistische Erfassung der<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche wegen fetaler<br />
Erkr<strong>an</strong>kungen und Entwicklungsstörungen<br />
ermöglicht werden.<br />
Die Frauenärzte plädieren außerdem<br />
für eine Verbesserung der pränatalen<br />
Diagnostik. Diese Forderung wurde<br />
durch die Ausführungen des niederländischen<br />
Gynäkologen Prof. Dr. Juriy W.<br />
Wladimiroff, Erasmus Universität Rotterdam,<br />
gestützt. „In den Niederl<strong>an</strong>den<br />
entsteht die Problematik der späten<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche in erster Linie<br />
dadurch, dass es immer noch kein<br />
verbindliches Ultraschallscreening für<br />
alle Schw<strong>an</strong>geren gibt. So fallen rund 60<br />
Prozent der schwerwiegenden Fehlbildungen<br />
erst jenseits der 24. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche<br />
auf, wenn die vom Gesetz<br />
her vorgeschriebene Zeit für einen legalen<br />
Abbruch verstrichen ist.“<br />
Grobe Fahrlässigkeit<br />
Die den Ärzten drohende Haftung für<br />
den Unterhalt eines vorgeschädigt geborenen<br />
Kindes könnte dazu führen,<br />
im Zweifelsfall einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
zu empfehlen. Die<br />
DGGG fordert deshalb dazu auf zu<br />
prüfen, „inwieweit die Haftung des<br />
Arztes für Kindesunterhalt wegen<br />
Nichterkennens einer Behinderung des<br />
erwarteten Kindes auf die Fälle grober<br />
Fahrlässigkeit zu beschränken ist“.<br />
Die Gynäkologen erhoffen sich von<br />
ihren Vorschlägen nicht zuletzt „eine<br />
neue, <strong>an</strong>dere Sicht behinderten Lebens<br />
und seiner Qualität“. Ob die Politik allerdings<br />
das Paket des § 218 erneut aufschnüren<br />
wird, bezweifelte der ehemalige<br />
Bundesjustizminister Prof. Dr. jur.<br />
Edzard Schmidt-Jortzig. Die CDU/<br />
CSU-Bundestagsfraktion legte indes am<br />
1. Juli einen Gesetzes<strong>an</strong>trag vor, in dem<br />
sich viele Forderungen der Gynäkologen<br />
wiederfinden,wie die Einführung einer<br />
psychosozialen Beratung „nach einer<br />
pränatalen Diagnostik mit pathologischem<br />
Befund“. Gisela Klinkhammer<br />
Heft 40, 3. Oktober 2003<br />
Abtreibung<br />
Zu dem Beitrag „Pränatale Diagnostik: Engere<br />
Grenzen für Spätabtreibungen“ von Gisela<br />
Klinkhammer in Heft 28–29/2003:<br />
Hilfreiche Vorschläge<br />
. . . Die existierende Regelung ist auch<br />
aus der Sicht psychiatrischer Begutachtung<br />
unbefriedigend. Viele schwerwiegende<br />
fetale Fehlbildungen können<br />
erst nach der 12. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche<br />
erk<strong>an</strong>nt werden. Häufig führt eine<br />
derartige Diagnose bei der werdenden<br />
Mutter zum dringenden Wunsch, die<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaft zu beenden. Bei körperlicher<br />
Gesundheit der Frau wird<br />
d<strong>an</strong>n nicht selten die Feststellung einer<br />
Gefahr für ihren seelischen Gesundheitszust<strong>an</strong>d<br />
als letztes Argument für<br />
einen straffreien Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
betrachtet. Die d<strong>an</strong>n vielfach um<br />
Begutachtung gebetenen Psychiater<br />
sehen sich zumeist einem erheblichen<br />
äußeren Druck ausgesetzt, diese Feststellung<br />
zu treffen.<br />
Die Anforderung <strong>an</strong> die Qualität der<br />
Begutachtung hält das Gesetz zwar<br />
eher niedrig, da die Stellungnahme „eines<br />
Arztes“ (nicht Facharztes) auch<br />
zu Fragen der psychischen Gesundheit<br />
ausreicht. Doch werden von Gynäkologen<br />
gerne Psychiater um Begutachtung<br />
gebeten, die d<strong>an</strong>n Teil einer konflikthaften<br />
Dramaturgie werden: Die<br />
Schw<strong>an</strong>gere muss, will sie ihren in akuter<br />
emotionaler Stresssituation formulierten<br />
Willen durchsetzen, den Arzt<br />
von der Gefahr schwerwiegender Beeinträchtigung<br />
ihres seelischen Gesundheitszust<strong>an</strong>des<br />
überzeugen. Dieser<br />
Zw<strong>an</strong>g erzeugt eine eigentümliche<br />
Steigerung der ohnehin bestehenden<br />
psychischen Notlage, und sie wird vom<br />
Gesetz gewissermaßen verl<strong>an</strong>gt, um<br />
exkulpieren zu können. Die Begutachtung<br />
ist in dieser Situation keine neutrale<br />
Beurteilung des Gesundheitszust<strong>an</strong>des<br />
der Schw<strong>an</strong>geren, sondern<br />
gleichzeitig eine H<strong>an</strong>dlung erhoffter<br />
(Ab-)Hilfe oder ihrer Versagung.<br />
Hält der begutachtende Arzt die kritische<br />
Situation einer Schw<strong>an</strong>geren nach<br />
Mitteilung der wahrscheinlichen Schädigung<br />
des Fetus für belastend, nicht<br />
automatisch aber für eine schwerwiegende<br />
Beeinträchtigung der psychischen<br />
Gesundheit, gerät er in ein Dilemma:<br />
Kommt er der Schw<strong>an</strong>geren<br />
entgegen, ohne sein Urteil hinreichend<br />
auf die Feststellung psychopathologischer<br />
Befunde stützen zu können, bedroht<br />
ihn § 218b Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe<br />
bis zu zwei Jahren wegen<br />
unrichtiger Feststellung. Verneint er<br />
hingegen die Gefahr einer schwerwiegenden<br />
(psychischen) Gesundheitsschädigung<br />
der Frau bei Fortbestehen<br />
der Schw<strong>an</strong>gerschaft, erzeugt er ein<br />
hohes Maß <strong>an</strong> Enttäuschung durch<br />
sein Hilfe-Versagen und hat diese Enttäuschung,<br />
Wut und gegebenenfalls<br />
Verzweiflung der (ohnehin hochgradig<br />
belasteten) Schw<strong>an</strong>geren – meist auch<br />
ihres Partners – zu ertragen und mit zu<br />
ver<strong>an</strong>tworten, auch wenn ihr die Möglichkeit<br />
bleibt, einen weiteren Arzt zu<br />
konsultieren.<br />
Obgleich sie gesetzlich <strong>an</strong>nulliert worden<br />
sind, spielen nach unserer Erfahrung<br />
faktisch doch embryopathische<br />
Aspekte in der Begutachtungspraxis<br />
eine erhebliche Rolle. Die Ausführungen<br />
im Positionspapier der DGGG<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik,<br />
speziell die Vorschläge<br />
im Absatz „Zum späten Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch“<br />
(II) tragen diesem Befund<br />
Rechnung; sie scheinen hilfreich<br />
und ausgewogen, insofern erstens die<br />
medizinische (mütterliche) Indikation<br />
erhalten bliebe, aber durch eine embryopathische<br />
ergänzt würde und zweitens<br />
eine fallbezogen interdisziplinäre<br />
Kommission (statt „eines Arztes“) die<br />
entsprechenden Voraussetzungen<br />
straffreier Abtreibung prüfte. Letzteres<br />
hätte neben differenzierter Urteilsfindung<br />
und Ver<strong>an</strong>twortungsteilung auch<br />
eine Entsp<strong>an</strong>nung der in der aktuellen<br />
gesetzlichen Situation grundsätzlich<br />
problematischen Arzt-Patient-Beziehung<br />
zur Folge.<br />
Dr. med. Thomas Reuster, Dr. med. habil. Tom<br />
Bschor,<br />
Psychiatrische Universitätsklinik, Fetscherstraße 74,<br />
01307 Dresden<br />
189
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 30, 25. Juli 2003<br />
Stammzellforschung<br />
„Verletzung der<br />
Menschenwürde“<br />
Der EU-Beschluss über das <strong>Forschung</strong>sförderungsprogramm<br />
stößt in Deutschl<strong>an</strong>d auf scharfe Kritik.<br />
Die EU-Kommission will die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
unter bestimmten Bedingungen<br />
mit einer Milliardensumme fördern. Das<br />
geht aus einer Vorlage des <strong>Forschung</strong>skommissars<br />
der EU, Philippe Busquin,<br />
hervor, die die Brüsseler Behörde am<br />
9. Juli verabschiedete. D<strong>an</strong>ach soll die<br />
<strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
erlaubt sein, wenn diese bereits vor dem<br />
27. Juni 2002 existierten. Zusätzliche Zellen<br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken dürften nicht<br />
erzeugt werden, sagte Busquin.<br />
Außerdem sollten nur <strong>Forschung</strong>sarbeiten<br />
gefördert werden, für die es keine<br />
alternativen Methoden gebe, ergänzte<br />
der EU-Kommissar. Es dürften lediglich<br />
embryonale Stammzellen verwendet<br />
werden, die nicht von Eltern genutzt<br />
werden könnten. Zudem müssten diese<br />
der Verwendung der <strong>Embryonen</strong> zustimmen.<br />
Der Stichtag ist nach Aussage<br />
Busquins das Datum, <strong>an</strong> dem die Europäische<br />
Union das sechste <strong>Forschung</strong>srahmenprogramm<br />
beschlossen hat. Darin<br />
ist für die Biotechnologie bis zum Jahr<br />
2006 ein Etat von mehr als zwei Milliarden<br />
Euro vorgesehen. Bis Jahresende<br />
gilt in der EU ein Moratorium für die<br />
Förderung embryonaler Stammzellforschung.<br />
Der Kommissionsvorlage muss<br />
noch – nach einer Anhörung des Europäischen<br />
Parlaments – der Ministerrat<br />
zustimmen.<br />
In Deutschl<strong>an</strong>d stößt die EU-<strong>Forschung</strong>spl<strong>an</strong>ung<br />
auf scharfe Kritik. „Die<br />
Mittel der Europäischen Union dürfen<br />
nicht für eine <strong>Forschung</strong> ausgegeben werden,<br />
die die Menschenwürde verletzt“,<br />
sagte Dr.med.Otmar Kloiber,stellvertretender<br />
Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer,<br />
in Berlin. Kloiber hält es<br />
für sk<strong>an</strong>dalös, Mittel des EU-<strong>Forschung</strong>sprogramms<br />
für verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
einzusetzen. „Hier werden<br />
die ethischen Bedenken gegen eine <strong>Forschung</strong>,<br />
die menschliches Leben verbraucht,<br />
völlig<br />
ignoriert. Eine derartige Missachtung unserer<br />
Wertvorstellungen und unserer Verfassung<br />
durch die EU-Kommission ist inakzeptabel.<br />
So k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> ein gemeinsames<br />
Europa nicht aufbauen.“ Kloiber<br />
hält die EU-<strong>Forschung</strong>spl<strong>an</strong>ung auch aus<br />
medizinischer Sicht nicht für sinnvoll:<br />
„Betrachtet m<strong>an</strong> die Fakten,so muss m<strong>an</strong><br />
feststellen,dass es bereits heute viele Therapien<br />
mit adulten Stammzellen gibt. Damit<br />
k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> Menschen helfen, dafür<br />
sollten auch <strong>Forschung</strong>smittel ausgegeben<br />
werden.“ Die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> adulten<br />
Stammzellen sei ethisch unproblematisch<br />
und medizinisch viel sinnvoller. Kloiber<br />
gab zu bedenken, dass in äußerst fragwürdiger<br />
Weise mit den Gefühlen und<br />
Hoffnungen schwer kr<strong>an</strong>ker Menschen<br />
gespielt werde, da mit der embryonalen<br />
Stammzellforschung zu leichtfertig unrealistische<br />
Heilsversprechen verbunden<br />
würden.<br />
Der Staatssekretär im Bundesforschungsministerium,<br />
Wolf Michael Catenhusen,<br />
kündigte <strong>an</strong>, dass die Bundesregierung<br />
nach wie vor eine Lösung auf<br />
der Grundlage der deutschen Regelung<br />
<strong>an</strong>strebe. „Wir hoffen, unsere Partner in<br />
der EU von unserer Auffassung überzeugen<br />
zu können und eine Lösung zu<br />
finden, welche die ethischen Grundüberzeugungen<br />
aller Mitgliedstaaten respektiert.“<br />
Nach Aussage Catenhusens<br />
will die Bundesregierung weiterhin auf<br />
Grundlage des Bundestagsbeschlusses<br />
vom 30. J<strong>an</strong>uar 2002 zu embryonalen<br />
Stammzellen verh<strong>an</strong>deln, wonach die Fin<strong>an</strong>zierung<br />
der <strong>Forschung</strong>sarbeiten aus<br />
Mitteln der EU auf bestehende Stammzelllinien<br />
beschränkt werden soll. „Die<br />
Bundesregierung will alles dafür tun, um<br />
bis Ende des Jahres einen Kompromiss<br />
im EU-Ministerrat zu erreichen“, sagte<br />
Catenhusen. Auch der Europaabgeordnete<br />
Dr. med. Peter Liese (CDU) hält<br />
den Beschluss für nicht hinnehmbar. Die<br />
von der EU-Kommission vorgesehene<br />
Stichtagsregelung bezeichnete Liese als<br />
eine „Täuschung“. Sie sei kein Zugeständnis<br />
<strong>an</strong> die Kritiker der <strong>Forschung</strong><br />
mit embryonalen Stammzellen: „M<strong>an</strong><br />
k<strong>an</strong>n die Position der Europäischen<br />
Kommission damit vergleichen,dass m<strong>an</strong><br />
entscheidet, Menschen, die vor einem<br />
bestimmten Stichtag geboren wurden,<br />
zum Zwecke der Gewinnung von Org<strong>an</strong>en<br />
zu töten, Menschen, die nach diesem<br />
Stichtag geboren wurden, jedoch nicht.“<br />
Die deutsche Regelung sehe dagegen<br />
vor,dass m<strong>an</strong> die Zellen,die aus menschlichen<br />
<strong>Embryonen</strong> gewonnen wurden,<br />
unter bestimmten, sehr strengen Auflagen<br />
benutzen könne,aber nicht <strong>Embryonen</strong><br />
selbst zu <strong>Forschung</strong>szwecken zerstören<br />
dürfe.<br />
Die CDU-Abgeordnete Katharina<br />
Reiche sprach dagegen von einem guten<br />
Tag für die <strong>Forschung</strong> in Europa. Es<br />
müsse akzeptiert werden, dass unterschiedliche<br />
rechtliche, ethisch-moralische<br />
und religiöse Auffassungen zu<br />
Stammzellen und überzähligen <strong>Embryonen</strong><br />
existieren. Gisela Klinkhammer<br />
190
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 38, 19. September 2003<br />
Rechtsgutachten<br />
<strong>Forschung</strong> mit<br />
Stammzellen<br />
Stammzellforschung im Ausl<strong>an</strong>d<br />
prinzipiell erlaubt<br />
Heft 45, 7. November 2003<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz<br />
Anstößig<br />
Die Rede einer Bundesministerin<br />
allein reicht wohl nicht aus, um<br />
eine allgemeine Trendwende einzuleiten.<br />
Zumindest hat die Ansprache<br />
von Bundesjustizministerin Brigitte<br />
Zypries am 30. Oktober in der Berliner<br />
Humboldt-Universität (sicher in<br />
Übereinstimmung mit Bundesk<strong>an</strong>zler<br />
Gerhard Schröder) zahlreiche zustimmende,<br />
vor allem aber besorgte Reaktionen<br />
hervorgerufen. Zypries will<br />
nämlich dem im Reagenzglas gezeugten<br />
Embryo nicht mehr vom Zeitpunkt<br />
der Verschmelzung von Ei- und<br />
Samenzelle <strong>an</strong> Menschenwürde zusprechen.<br />
Damit wendet sie sich gegen<br />
die bisherigen Beschlüsse des Bundestags<br />
zur Stammzellforschung. Der<br />
Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,<br />
erklärte zu Zypries’ Auffassung:<br />
„Menschlichem Leben den Grundrechtsschutz<br />
auf Menschenwürde abzusprechen,<br />
heißt menschliches Leben<br />
in die willkürliche Verfügbarkeit Dritter<br />
zu stellen.“<br />
Die Ministerin ist zwar der Ansicht,<br />
dass der Embryo auch im Reagenzglas<br />
„kein beliebiger Zellhaufen ist, über<br />
den Eltern, Mediziner und Forscher<br />
nach Gutdünken verfügen könnten“.<br />
<strong>Forschung</strong>sarbeiten mit menschlichen<br />
embryonalen Stammzellen im Ausl<strong>an</strong>d<br />
sind nicht strafbar, „wenn vor Ort<br />
im Ausl<strong>an</strong>d ohne Bezug auf das Inl<strong>an</strong>d<br />
gearbeitet wird“. Das geht aus zwei<br />
Rechtsgutachten hervor, die die Deutsche<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft in Auftrag<br />
gab. Die Gutachten weisen auf das<br />
in Deutschl<strong>an</strong>d geltende Territorialprinzip<br />
hin. Eine Sonderregelung gilt<br />
für Wissenschaftler, die den Status<br />
eines Amtsträgers innehaben. Sie<br />
machten sich strafbar, wenn sie<br />
„während eines dienstlichen Aufenthaltes“<br />
<strong>an</strong> einem nach deutschem<br />
Recht nicht zulässigen <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />
mitwirken. Strafbar sei auch die<br />
Beteiligung <strong>an</strong> <strong>Forschung</strong>sprojekten<br />
im Ausl<strong>an</strong>d, wenn dadurch nicht<br />
genehmigte Vorhaben im Inl<strong>an</strong>d unterstützt<br />
werden oder eine nicht genehmigte<br />
Einfuhr embryonaler Stammzellen<br />
ermöglicht wird.<br />
Kli<br />
Sol<strong>an</strong>ge sich der Embryo in vitro befinde,<br />
fehle ihm aber die wesentliche<br />
Voraussetzung dafür, sich „aus sich<br />
heraus zum Menschen“ oder „als“<br />
Mensch zu entwickeln. Die lediglich<br />
abstrakte Möglichkeit, sich in diesem<br />
Sinne weiterzuentwickeln, reicht Zypries<br />
für die Zuerkennung der Menschenwürde<br />
nicht aus. Damit steht sie<br />
jedoch im Widerspruch zum geltenden<br />
<strong>Embryonen</strong>schutzgesetz sowie <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nten<br />
theologischen und naturwissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen. Zypries<br />
löst auch verfassungsrechtliche<br />
Bedenken aus. Der frühere Bundesverfassungsrichter<br />
Prof. Dr. iur. Dr.<br />
phil. Ernst-Wolfg<strong>an</strong>g Böckenförde<br />
vertritt jedenfalls die Ansicht, dass die<br />
Anerkennung der Würde des Menschen,<br />
wie das Grundgesetz sie ausspricht,<br />
„nach ihrem normativen Gehalt<br />
auch auf die ersten Anfänge des<br />
Lebens eines jeden Menschen zu erstrecken<br />
ist“ (DÄ, Heft 19/2003).<br />
Zypries selbst relativierte ihren eigenen<br />
Vorstoß zugleich, indem sie sich<br />
für eine restriktive Stammzellpolitik<br />
ausspricht und gegen die Zulassung<br />
der Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik eintritt.<br />
Dies begründet sie nicht mit dem<br />
<strong>Embryonen</strong>schutz, sondern damit,<br />
Heft 44, 31. Oktober 2003<br />
Stammzellforschung<br />
Nicht mit<br />
EU-Geldern<br />
Bundestag lehnt<br />
<strong>Forschung</strong>sförderung ab.<br />
Erneut hat sich der Bundestag gegen<br />
die Förderung verbrauchender <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
mit Mitteln der Europäischen<br />
Union (EU) ausgesprochen.<br />
Mit großer Mehrheit nahm er einen<br />
entsprechenden Gruppen<strong>an</strong>trag<br />
von Abgeordneten der SPD, der Grünen<br />
und der CDU/CSU <strong>an</strong>. Bereits im<br />
J<strong>an</strong>uar 2002 hatte sich der Bundestag<br />
gegen eine EU-weite <strong>Forschung</strong>sförderung<br />
ausgesprochen. Sie widerspreche<br />
der deutschen Rechtslage.<br />
Mit dem neuen Antrag wolle m<strong>an</strong> <strong>an</strong>dere<br />
Länder nicht beschränken,erklärte<br />
Rene Röspel, Gentechnikexperte der<br />
SPD, bei der Bundestagsaussprache:<br />
„Wir wollen lediglich, dass mit deutschen<br />
und europäischen Mitteln nicht<br />
gefördert wird, was wir in einer l<strong>an</strong>gen<br />
Debatte in Deutschl<strong>an</strong>d verboten haben.“<br />
Der Bundestag fordert die EU-<br />
Kommission deshalb auf,von ihren Plänen<br />
zur Förderung embryonaler<br />
Stammzellforschung innerhalb des<br />
6. EU-<strong>Forschung</strong>srahmenprogramms<br />
Abst<strong>an</strong>d zu nehmen.<br />
Das im Juli 2002 von Europäischem<br />
Rat und Parlament verabschiedete Programm<br />
sieht eine fin<strong>an</strong>zielle Unterstützung<br />
der verbrauchenden <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
vor. Dabei soll der Einsatz<br />
„überzähliger <strong>Embryonen</strong>“ erlaubt<br />
sein, die vor dem 27. Juni 2002 durch<br />
künstliche Befruchtung entst<strong>an</strong>den<br />
sind. Derzeit setzt ein Moratorium die<br />
umstrittene Förderung bis zum Jahresende<br />
aus. Es war auf Drängen von<br />
Deutschl<strong>an</strong>d, Italien, Irl<strong>an</strong>d, Österreich<br />
und Portugal eingerichtet worden.<br />
Österreich will das Moratorium verlängern.<br />
ER<br />
dass Behinderte sich diskriminiert<br />
fühlen könnten, wenn menschliches<br />
Leben als „aussonderungswürdig“ erklärt<br />
werden k<strong>an</strong>n. Gisela Klinkhammer<br />
191
D O K U M E N T A T I O N<br />
Heft 46, 14. November 2003<br />
Nationales Genomforschungsnetz<br />
Als „einzigartig“ evaluiert<br />
Das Bundesforschungsministerium räumt der<br />
Genomforschung für weitere drei Jahre Priorität ein.<br />
Mit dem Erklimmen des höchsten<br />
Gipfels des Himalaya verglich<br />
ein amerik<strong>an</strong>ischer Forscher die<br />
Entschlüsselung des menschlichen Genoms<br />
vor zwei Jahren. Auf dem erwartungsgemäß<br />
l<strong>an</strong>gen und mühsamen<br />
Weg bis zum endgültigen Verständnis<br />
des Genoms gel<strong>an</strong>g es Deutschl<strong>an</strong>d inzwischen,<br />
sich zu profilieren – und dass,<br />
obwohl es 1995 mit dem Deutschen Hum<strong>an</strong>genomprojekt<br />
erst relativ spät in<br />
die internationale Genomforschung<br />
eingestiegen ist. „Mit dem Nationalen<br />
Genomforschungsnetz (NGFN) hat es<br />
Deutschl<strong>an</strong>d geschafft, einen der weltweit<br />
vorderen Plätze zurückzuerobern“,<br />
erklärte Bundesforschungsministerin<br />
Edelgard Bulmahn (SPD) am 31. Oktober<br />
in Berlin. Innerhalb des Netzes<br />
versuchen Forscher verschiedener Fachrichtungen,<br />
die Funktionen einzelner<br />
Gene aufzuklären und dieses Wissen<br />
zügig in Therapien umzusetzen.<br />
Trotz einer „ schwierigen Haushaltslage“<br />
will die Ministerin die Förderung<br />
des Nationalen Genomforschungsnetzes<br />
durch das Bundesforschungsministerium<br />
(BMBF) um weitere drei Jahre<br />
verlängern. 135 Millionen<br />
Euro will Bulmahn<br />
für das kr<strong>an</strong>kheitsorientierte<br />
Programm zur Verfügung<br />
stellen; den Aufbau<br />
des NGFN hatte sie<br />
seit 2001 mit insgesamt<br />
180 Millionen Euro<br />
gefördert. Ausschlaggebend<br />
für den Start der<br />
zweiten Förderphase war<br />
das Votum einer international<br />
besetzten Expertenrunde.<br />
Als „einzigartig“<br />
bewertete sie die<br />
Vernetzung von Grundlagenforschung<br />
und klinisch<br />
orientierter Anwendung.<br />
192<br />
<strong>Forschung</strong>sministerium will<br />
Stammzellforschung fördern<br />
Erstmals will Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) embryonale<br />
Stammzellforschung fin<strong>an</strong>ziell fördern lassen. Ein entsprechendes Projekt<br />
sei kürzlich positiv evaluiert worden, sagte sie <strong>an</strong>lässlich der fortgesetzten<br />
Förderung des Nationalen Genomforschungsnetzes vor Journalisten in<br />
Berlin. Bulmahn, deren offene Haltung gegenüber der embryonalen Stammzellforschung<br />
bek<strong>an</strong>nt ist, begrüßte gleichzeitig die Äußerungen ihrer Amtskollegin<br />
Brigitte Zypries (SPD). Die Bundesjustizministerin hatte zuvor in einer<br />
Rede den <strong>Embryonen</strong>schutz infrage gestellt. Aktuell bestehe jedoch kein<br />
H<strong>an</strong>dlungsbedarf zur Änderung des <strong>Embryonen</strong>schutzgesetzes, sagte Bulmahn.<br />
Würde allerdings die therapeutische Anwendung der embryonalen<br />
Stammzellforschung möglich,müsse eine Entscheidung erneut getroffen werden.<br />
Fünf Forschergruppen arbeiten derzeit in Deutschl<strong>an</strong>d <strong>an</strong> embryonalen<br />
Stammzelllinien; zwei weitere Anträge liegen bereits zur Genehmigung vor.<br />
In der Tat ist der interdisziplinäre Ansatz<br />
eine Stärke des Genomforschungsnetzes.<br />
Mediziner, Biologen und Informatiker<br />
aus Kliniken, Universitäten,<br />
Großforschungszentren und Unternehmen<br />
arbeiten <strong>an</strong> mehr als 18 St<strong>an</strong>dorten<br />
und in 300 Teilprojekten innerhalb der<br />
kr<strong>an</strong>kheitsorientierten Genomnetze zusammen<br />
(Schwerpunkte: Nervensystem,<br />
Umwelt, Herz-Kreislauf, Krebs<br />
sowie Infektion und Entzündung).<br />
Als die Wissenschaft vor zwei Jahren<br />
die 3,2 Milliarden Bausteine der 46<br />
menschlichen Chromosomen identifizierte,<br />
konnte der Org<strong>an</strong>ismus „Mensch“<br />
zwar auf der molekularen Ebene verst<strong>an</strong>den<br />
werden. Seine Steuerung durch<br />
die 30 000 bis 40 000 Gene ist jedoch<br />
sehr kompliziert. Erkr<strong>an</strong>kungen resultieren<br />
aus Veränderungen auf mehreren<br />
Genen, aus Umweltfaktoren und<br />
aus individuellen Lebensgewohnheiten.<br />
Ziel des NGFN ist es deshalb, die Funktionen<br />
der einzelnen Gene aufzuklären<br />
und ihr Zusammenspiel zu durchschauen.<br />
Auf Erfolge k<strong>an</strong>n das Nationale Genomforschungsnetz<br />
dabei bereits verweisen.<br />
Am „Gene Mapping Center“<br />
des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare<br />
Medizin in Berlin-Buch konnten<br />
inzwischen mehr als 50 monogene Erkr<strong>an</strong>kungen<br />
kartiert werden. Erst kürzlich<br />
gel<strong>an</strong>g es den Wissenschaftlern<br />
dort, einen Zusammenh<strong>an</strong>g zwischen<br />
einem wichtigen Gen des Phosphatstoffwechsels<br />
und der Arteriosklerose<br />
zu belegen. In Schleswig-Holstein entdeckten<br />
Forscher bereits 2001 das erste<br />
Kr<strong>an</strong>kheitsgen für Morbus Crohn und<br />
damit erstmals ein Kr<strong>an</strong>kheitsgen bei<br />
einer entzündlichen, komplexen Erkr<strong>an</strong>kung.<br />
Sie erk<strong>an</strong>nten, dass eine Mutation<br />
des NOD2-Gens Bakterien in die<br />
Darm-Epithelzellen eindringen lässt,<br />
die eine chronische Entzündung hervorrufen.<br />
Von der Grundlagenforschung<br />
zur klinischen Umsetzung<br />
Ferner sind zwei Projekte zur Erforschung<br />
der Epilepsie bereits so weit<br />
fortgeschritten, dass sie Möglichkeiten<br />
für die Entwicklung neuer Medikamente<br />
aufzeigen. Ein Team des Universitätsklinikums<br />
Bonn f<strong>an</strong>d mehrere<br />
potenzielle Gene, die die Erregbarkeit<br />
der Nervenzellen regulieren und mit<br />
den Mech<strong>an</strong>ismen zusammenhängen,<br />
die im Hippokampus Schläfenlappen-<br />
Epilepsien auslösen. Ein weiteres Beispiel:<br />
Eine Bonner Arbeitsgruppe <strong>an</strong>alysierte<br />
das Erbgut von Familien, in<br />
denen Formen der idiopathischen Epilepsie<br />
gehäuft vorkommen. Ihnen gel<strong>an</strong>g<br />
es, mehrere Mutationen<br />
eines Gens nachzuweisen,<br />
die den Chlorid-Haushalt<br />
der Nervenzellen<br />
stören und<br />
dadurch Anfälle auslösen.<br />
80 Patent<strong>an</strong>meldungen<br />
und 17 Patente sind<br />
bisher aus dem Nationalen<br />
Genomforschungsnetz<br />
hervorgeg<strong>an</strong>gen.<br />
Die Verbindung zwischen<br />
akademischer<br />
<strong>Forschung</strong> und industrieller<br />
Verwertung schafft<br />
dabei die Fraunhofer<br />
Patentstelle für die<br />
Deutsche <strong>Forschung</strong>,
D O K U M E N T A T I O N<br />
München. Sie bewertet die <strong>Forschung</strong>sergebnisse<br />
aus dem NGFN nach patentrechtlichen<br />
und wirtschaftlichen Gesichtspunkten.<br />
Aufschwung soll das<br />
NGFN nämlich auch der Biotechnologie-Br<strong>an</strong>che<br />
bringen. „Durch das Nationale<br />
Genomforschungsnetz ist in<br />
kurzer Zeit eine derartige Fülle von<br />
<strong>Forschung</strong>sergebnissen entst<strong>an</strong>den,<br />
dass eine Reihe von Firmengründungen<br />
zu erwarten sind“, prognostizierte Bulmahn.<br />
Der Überg<strong>an</strong>g von der Grundlagenforschung<br />
zur technischen beziehungsweise<br />
zur klinischen Umsetzung<br />
soll deshalb künftig verstärkt gefördert<br />
werden. „Klasse statt Masse ist dabei<br />
unser Prinzip“, erklärte Dr. Timm Jessen<br />
von der Evotec Biosystems AG, zugleich<br />
Mitglied im Lenkungsgremium<br />
des NGFN.<br />
94 Produktideen von<br />
Wissenschaftlern und Industrie<br />
Die enge Verzahnung von <strong>Forschung</strong><br />
und Industrie innerhalb des NGFN gilt<br />
auch international als ein weiterer Pluspunkt<br />
des Projekts. Berührungsängste<br />
zwischen Forschern und Unternehmen<br />
würden nach und nach verschwinden,<br />
berichtet Jessen. Mittlerweile werde<br />
„auf gleicher Augenhöhe“ diskutiert.<br />
Auf die fin<strong>an</strong>zielle Unterstützung der<br />
Industrie ist die Genomforschung unbestritten<br />
<strong>an</strong>gewiesen – trotz der BMBF-<br />
Fördermittel. „Die pharmazeutische Industrie<br />
investiert Millionenbeträge in<br />
die klinische Erprobung“, sagt Dr. Andreas<br />
Barner von Boehringer Ingelheim.<br />
Der zweite Vorsitzende des NGFN-<br />
Lenkungsgremiums verweist dabei<br />
auf 94 Produktideen, die Wissenschaftler<br />
und Industrie derzeit gemeinsam<br />
verfolgen. Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlm<strong>an</strong>n<br />
Heft 47, 21. November 2003<br />
Der Umg<strong>an</strong>g mit vorgeburtlichem Leben<br />
Regeln und Ausnahmen<br />
Die relev<strong>an</strong>ten Glaubensinhalte der Weltreligionen<br />
wurden auf der Jahrestagung des Nationalen Ethikrates<br />
gegenübergestellt.<br />
M<strong>an</strong> wunderte sich zunächst vielleicht,<br />
warum der Nationale<br />
Ethikrat sich auf seiner diesjährigen<br />
Jahrestagung Ende Oktober in<br />
Berlin ausgerechnet mit dem eher ausgefallenen<br />
Thema „Der Umg<strong>an</strong>g mit<br />
vorgeburtlichem Leben in <strong>an</strong>deren Kulturen“<br />
beschäftigte. Der Vorsitzende<br />
des Gremiums, Prof. Dr. jur. Spiros Simitis,<br />
erläuterte denn auch gleich zu<br />
Beginn, weshalb ausgerechnet die Beschäftigung<br />
mit Weltreligionen Hilfestellung<br />
bei der Suche nach nationalen<br />
Lösungen auf drängende medizinethische<br />
Fragestellungen liefern k<strong>an</strong>n.Er ist<br />
der Auffassung, dass m<strong>an</strong> nur d<strong>an</strong>n eine<br />
gemeinsame Lösung finden könne,<br />
wenn m<strong>an</strong> die unterschiedlichen Auffassungen<br />
kennt. Auch in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
müssten die Vorstellungen eingebracht<br />
werden, „die durch Migration in unser<br />
L<strong>an</strong>d gekommen sind“.<br />
Doch dass es in den Weltreligionen<br />
keine einfachen und eindeutigen Antworten<br />
gibt, verdeutlichten bereits die<br />
Vorträge zum Islam. So betonte Prof.<br />
Dr.Sadek Beloucif,Mitglied des fr<strong>an</strong>zösischen<br />
Nationalen Ethikrates, dass im<br />
Islam der heilige Charakter des Lebens<br />
respektiert werden müsse. Der Fötus<br />
gelte als schützenswert vom Beginn seiner<br />
Beseelung <strong>an</strong>, das sei für die meisten<br />
Rechtsgelehrten vom 40. Tag <strong>an</strong>.<br />
Für <strong>an</strong>dere allerdings beginne das Leben<br />
bereits mit der Zeugung. Abtreibungen<br />
eines beseelten Embryos seien<br />
deshalb verboten. Künstliche Befruchtung<br />
sei d<strong>an</strong>n erlaubt, wenn dafür nicht<br />
die Samen- oder Eizellen fremder<br />
Spender verwendet werden. Das therapeutische<br />
Klonen sei im Gegensatz zum<br />
reproduktiven Klonen unter bestimmten<br />
Voraussetzungen erlaubt. Zwar<br />
müsse auch die Würde so gen<strong>an</strong>nter<br />
überzähliger <strong>Embryonen</strong> respektiert<br />
werden. Doch können Beloucif zufolge<br />
überzählige <strong>Embryonen</strong> dennoch für<br />
die <strong>Forschung</strong> akzeptiert werden, da sie<br />
<strong>an</strong>sonsten der Zerstörung <strong>an</strong>heim fallen<br />
würden.<br />
Zwischen Ideologie einerseits und<br />
der Realität <strong>an</strong>dererseits gibt es allerdings<br />
starke Unterschiede, die Dr. Carla<br />
Makhlouf Obermeyer von der Weltgesundheitsorg<strong>an</strong>isation<br />
erläuterte. Viele<br />
islamische Staaten hätten aus der Kolonialzeit<br />
restriktive Regelungen des<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs „geerbt“. In<br />
28 islamischen Ländern, in denen die<br />
Sharia gelte, sei Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
verboten. Nur in Bahrain, der<br />
Türkei und Tunesien seien die Abtreibungsgesetze<br />
liberaler gestaltet. Doch<br />
auch in den Ländern mit restriktiver<br />
Regelung gebe es „viel Spielraum“. So<br />
sei in Ägypten der Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
verboten. Die Polizei greife in der<br />
Regel jedoch nur d<strong>an</strong>n ein, wenn es zu<br />
Todesfällen komme. In B<strong>an</strong>gladesch<br />
werde ein Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
einfach als Regulierung der Monatsblutung<br />
bezeichnet. Auch in islamischen<br />
Ländern „schießen die In-vitro-Fertilisationszentren<br />
wie Pilze aus dem Boden“.<br />
Sie dienten der „stillen Rettung<br />
vieler Ehen“, seien jedoch nur einer<br />
wohlhabenden Schicht zugänglich und<br />
würden vorwiegend bei der Unfruchtbarkeit<br />
des M<strong>an</strong>nes in Anspruch genommen.<br />
Im Judentum, so Prof. Dr. Avraham<br />
Steinberg, Jerusalem, beginne das Leben<br />
des Fötus erst mit der Nidation, sodass<br />
zwischen Präembryo und Embryo<br />
unterschieden werden müsse. Menschliche<br />
Würde käme allerdings auch dem<br />
Präembryo zu. Sogar der Samen sei<br />
schützenswert, weshalb Samenspenden<br />
und Masturbation verboten seien. Die<br />
Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik (<strong>PID</strong>) sei<br />
zulässig, da sie lediglich eine Vernichtung<br />
defekter Präembryonen bedeute.<br />
Auch embryonale Stammzellforschung<br />
sei erlaubt. Auf die Frage, warum denn<br />
Masturbation zum Schutz von Samen<br />
unzulässig, dagegen <strong>PID</strong> und embryo-<br />
193
D O K U M E N T A T I O N<br />
194<br />
nale Stammzellforschung erlaubt seien,<br />
<strong>an</strong>twortete Steinberg: „Diese Techniken<br />
sind nur deshalb erlaubt, weil die<br />
Vorteile die Nachteile überwiegen.“<br />
Schließlich könnten durch die Stammzellforschung<br />
möglicherweise Menschenleben<br />
gerettet werden. Und die<br />
Gefahr, ein Kind mit schweren Missbildungen<br />
zur Welt zur Welt zu bringen,<br />
habe mehr Gewicht als die noch relativ<br />
geringen Rechte des Präembryos.<br />
Abtreibungen seien, so Steinberg, im<br />
Judentum in der Regel nur in den ersten<br />
40 Schw<strong>an</strong>gerschaftstagen zulässig.<br />
Prof. Shimon Glick, Beer Sheva, berichtete<br />
über die Praxis in Israel. Unter<br />
britischem M<strong>an</strong>dat, also bis 1948, seien<br />
Abtreibungen verboten gewesen; sowohl<br />
die Frau als auch der Arzt hätten<br />
mit strengen Strafen rechnen müssen.<br />
Nach der Entstehung des Staates Israel<br />
sei dieses Gesetz bis auf eine Lockerung<br />
im Jahr 1966 weiter in Kraft geblieben.<br />
1977 sei das Abtreibungsrecht<br />
neu geregelt worden. D<strong>an</strong>ach seien<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche unter bestimmten<br />
Voraussetzungen erlaubt<br />
worden. Unter dieser Gesetzgebung<br />
kam es zu 15 000 bis 20 000 legalen Abtreibungen<br />
jährlich, wobei die größte<br />
Zahl unter die so gen<strong>an</strong>nte soziale Indikation<br />
fiel. Als im Jahr 1979 die Regierung<br />
wechselte, fiel den religiösen<br />
Parteien eine größere Bedeutung zu,<br />
was zur Streichung der sozialen Indikation<br />
geführt habe. Dies habe sich jedoch<br />
als Pyrrhus-Sieg erwiesen. Denn<br />
auch nach dem Wegfall der sozialen Indikation<br />
sei die Zahl der legalen Abtreibungen<br />
nicht gesunken. Die Ursache:<br />
Die sozialen Indikationen seien<br />
einfach als medizinische Indikationen<br />
erklärt worden.<br />
Es gebe kein L<strong>an</strong>d auf der Welt, in<br />
dem so viele Gentests und pränatale<br />
Diagnostik wie in Israel vorgenommen<br />
würden. Drei Prozent aller in Israel geborenen<br />
Kinder seien durch In-vitro-<br />
Fertilisation entst<strong>an</strong>den. Für die <strong>Forschung</strong><br />
<strong>an</strong> embryonalen Stammzellen<br />
wurden im Jahr 2001 Leitlinien eines<br />
Beratenden Bioethischen Komitees der<br />
Israelischen Wissenschaftsakademie<br />
vorbereitet. Diese Leitlinien versuchten<br />
die Bal<strong>an</strong>ce zwischen dem Lebensschutz<br />
des menschlichen Embryos und<br />
dem „enormen lebensrettenden Potenzial<br />
der Stammzellforschung“ zu wahren.<br />
Die Erzeugung von embryonalen<br />
Stammzellen für <strong>Forschung</strong>szwecke ist<br />
daher verboten, die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong><br />
„überzähligen“ <strong>Embryonen</strong> jedoch erlaubt.<br />
Die Präimpl<strong>an</strong>tationsdiagnostik<br />
sei eine in Israel gängige Praxis.<br />
Der große Unterschied der asiatischen<br />
zu den monotheistischen Religionen<br />
besteht vor allem in dem Glauben<br />
<strong>an</strong> Wiedergeburt und Reinkarnation,<br />
wie Dr. Damien Keown berichtete. Und<br />
dieser Glaube präge auch die Einstellung<br />
zum Embryo. Geburt und Tod seien<br />
wie Drehtüren, durch die jedes Individuum<br />
immer und immer wieder hindurchgehe.<br />
Eines der Grundprinzipien<br />
der buddhistischen Ethik sei die Gewaltfreiheit,<br />
und dazu gehöre auch der<br />
Respekt vor dem Leben, der sich nicht<br />
nur auf menschliches Leben, sondern<br />
auch auf Tiere und sogar Pfl<strong>an</strong>zen beziehe.<br />
Der Buddhismus lehre, dass die<br />
verschiedenen Formen von Leben ein<br />
Kontinuum bilden, das heißt, die Lebensform<br />
k<strong>an</strong>n entweder ein Tier, ein<br />
Mensch oder sogar ein Gott sein. In Anbetracht<br />
der Tatsache, dass der Mensch<br />
wiedergeboren werden könne, sei das<br />
Töten von Menschen in jedem Zust<strong>an</strong>d<br />
seines Lebens, geboren oder ungeboren,<br />
moralisch verwerflich.<br />
In den traditionelleren buddhistischen<br />
Ländern wie Thail<strong>an</strong>d und Sri<br />
L<strong>an</strong>ka sei Abtreibung außer in einigen<br />
begründeten Ausnahmen verboten. Illegale<br />
Abtreibungen seien jedoch <strong>an</strong><br />
der Tagesordnung. Jährlich würden in<br />
Thail<strong>an</strong>d circa 300 000 Abtreibungen in<br />
einer der zahlreichen illegalen Abtreibungskliniken<br />
vorgenommen. In Jap<strong>an</strong>,<br />
wo Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbrüche legal<br />
sind, würden jährlich mehrere Millionen<br />
Abtreibungen vorgenommen.<br />
Im Hinduismus sei nach den ayurvedischen<br />
Texten der Fötus Mensch von<br />
der Empfängnis <strong>an</strong>, da er ab diesem<br />
Zeitpunkt Seele und Körper habe,<br />
einschließlich des Karmas, das seine Individualität<br />
begründe, erläuterte Prof.<br />
Katherine K.Young, Montreal. Der Fötus<br />
sei durch das ethische Prinzip des<br />
ahimsa, der Gewaltfreiheit, geschützt,<br />
und durch die Pflicht, den Fötus zu<br />
schützen, sei auch das Verbot des<br />
Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs begründet.<br />
Abtreibung gelte als aktive Tötung und<br />
als ebenso verwerflich wie Beischlaf<br />
mit der Frau des Gurus, Mord und das<br />
Essen von Rindfleisch. Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch<br />
werde mit schweren<br />
Strafen belegt, wie zum Beispiel mit<br />
dem Verlust der Kaste, was den Verlust<br />
des rituellen und sozialen Status bedeutet.<br />
Die einzige Ausnahme, bei der<br />
ein Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch straffrei<br />
ausgehe, sei auch im Hinduismus die<br />
Rettung des Lebens der Mutter.<br />
Dr. Jyotsna Gupta, Leiden, machte<br />
deutlich, dass es in der Realität häufig<br />
<strong>an</strong>ders aussieht. So sei in Indien im Jahr<br />
1971 die Abtreibungsregelung liberalisiert<br />
worden, um das ras<strong>an</strong>te Bevölkerungswachstum<br />
einzudämmen. Durch<br />
die Globalisierung hätten zunehmend<br />
auch die Möglichkeiten der westlichen<br />
Reproduktionsmedizin und pränatalen<br />
Diagnostik Einzug gehalten. Die<br />
Amniozentese sei jedoch keine Form<br />
der pränatalen Diagnostik, sondern eine<br />
Form der Geschlechtsbestimmung<br />
geworden. Töchter seien in der indischen<br />
Gesellschaft unerwünscht, weil<br />
die Familie für sie eine beträchtliche<br />
Mitgift bieten müsse. Zwar sei die Geschlechtsselektion<br />
im Jahr 1994 verboten<br />
worden, sie sei jedoch dennoch gängige<br />
Praxis. Zunehmend würden in Indien<br />
auch Möglichkeiten der extrakorporalen<br />
Fertilisation, wie Ei- und<br />
Samenspenden, aber auch Leihmutterschaft<br />
<strong>an</strong>geboten, was zu einem regelrechten<br />
„Fertilitätstourimus“ geführt<br />
habe. Im verg<strong>an</strong>genen Jahr habe die indische<br />
Regierung von einem Ausschuss<br />
zwei Richtlinienentwürfe erarbeiten<br />
lassen, wonach das therapeutische Klonen<br />
bei bis zu 14 Tagen alten <strong>Embryonen</strong><br />
erlaubt sei, allerdings nur mit Zustimmung<br />
der „Besitzer“ der <strong>Embryonen</strong>.<br />
Im Konfuzi<strong>an</strong>ismus sei es dem Menschen<br />
verboten, Gott zu spielen und in<br />
die Schöpfung einzugreifen, führte Dr.<br />
Julia Tao Lai Po-wah, Hongkong, aus.<br />
Die Natur sei ein moralischer Prozess,<br />
der Leben gibt und zu Leben führt. Die<br />
Mission des Menschen sei es, der Natur<br />
zu helfen. Menschen dürften und müssten<br />
die Natur zwar verändern, es sei jedoch<br />
nicht hinnehmbar, so weit in die<br />
Natur einzugreifen, dass Designerbabys<br />
entstehen. Der Mensch werde<br />
nämlich unvollkommen geboren, und<br />
er habe das Potenzial zur Perfektionierung,<br />
die er selbst erreichen müsse.<br />
M<strong>an</strong> sei verpflichtet zu h<strong>an</strong>deln, dürfe
D O K U M E N T A T I O N<br />
seine Grenzen aber nicht überschätzen.<br />
Doch trotz dieser religiösen Vorgaben<br />
wird die <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
in China konsequent weiter vor<strong>an</strong>getrieben.<br />
Deutlich wurde letztendlich, dass allen<br />
Religionen die Ehrfurcht vor dem<br />
Leben und das Wissen von der Unverfügbarkeit<br />
des Menschen gemeinsam<br />
sei, wie Prof. Dr. theol. Eberhard<br />
Schockenhoff, Freiburg, ausführte. Einigkeit<br />
gibt es jedoch nicht in der<br />
Heft 50, 12. Dezember 2003<br />
EU-<strong>Forschung</strong>spolitik<br />
Ethische Nagelprobe<br />
Eindrucksvoll dokumentierte die<br />
Europäische Union (EU) Anf<strong>an</strong>g<br />
Dezember, wie sich aus Ratlosigkeit<br />
und Uneinigkeit Tatsachen schaffen lassen.<br />
Fakt ist inzwischen: Die Europäische<br />
Kommission wird künftig <strong>Forschung</strong>sprojekte,<br />
für die embryonale<br />
Stammzellen benötigt werden, mit EU-<br />
Geldern innerhalb des 6. <strong>Forschung</strong>srahmenprogramms<br />
fördern. EU-<strong>Forschung</strong>skommissar<br />
Philippe Busquin<br />
kündigte bereits <strong>an</strong>, Anf<strong>an</strong>g kommenden<br />
Jahres entsprechende <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />
auszuschreiben. Zuvor waren<br />
am 3. Dezember die Beratungen der<br />
EU-<strong>Forschung</strong>sminister gescheitert.<br />
Dabei war ein Kompromiss in dieser<br />
umstrittenen Frage greifbar nahe gewesen.<br />
Der entsprechende portugiesische<br />
Vorschlag konnte sich jedoch in Brüssel<br />
letztlich nicht durchsetzen.<br />
Ende des Jahres läuft das derzeit<br />
bestehende Moratorium für die Förderung<br />
der embryonalen Stammzellforschung<br />
aus. Es war verhängt worden,<br />
um den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit<br />
zu geben, einen für alle ethisch vertretbaren<br />
Konsens zu finden. Denn die<br />
Nutzung von embryonalen Stammzellen<br />
ist in der EU nach wie vor heftig<br />
umstritten. Während Großbrit<strong>an</strong>nien,<br />
grundlegenden Frage, ab w<strong>an</strong>n Leben<br />
eigentlich beginnt. L<strong>an</strong>desbischof Prof.<br />
Dr. theol. Wolfg<strong>an</strong>g Huber, neu gewählter<br />
Ratsvorsitzender der Ev<strong>an</strong>gelischen<br />
Kirche in Deutschl<strong>an</strong>d, wies<br />
abschließend darauf hin, dass die Antworten<br />
der Religionen l<strong>an</strong>ge vor dem<br />
Beginn der Reproduktionsmedizin<br />
gefunden wurden. „Jetzt muss ihre Anwendbarkeit<br />
überprüft werden.“ – Das<br />
Christentum war übrigens nicht Gegenst<strong>an</strong>d<br />
der Tagung. Gisela Klinkhammer<br />
Ergebnislos mussten die EU-<strong>Forschung</strong>sminister ihre Beratungen<br />
zur Förderung der embryonalen Stammzellforschung abbrechen.<br />
Inzwischen läuft jedoch das Moratorium aus.<br />
Belgien, Fr<strong>an</strong>kreich, Schweden, Dänemark,<br />
Finnl<strong>an</strong>d und Griechenl<strong>an</strong>d als<br />
Befürworter gelten, setzen sich<br />
Deutschl<strong>an</strong>d, Italien, Irl<strong>an</strong>d, Portugal<br />
und Österreich für einen strengen <strong>Embryonen</strong>schutz<br />
ein.<br />
Spekuliert wird nun, welche Ch<strong>an</strong>cen<br />
auf Förderung die umstrittenen Projekte<br />
zur Stammzellforschung tatsächlich<br />
haben. In jedem Fall wird die Situation<br />
die europäische <strong>Forschung</strong>spolitik weiter<br />
belasten. „Ich warne die Europäische<br />
Kommission ausdrücklich davor,<br />
embryonale Stammzellforschung ohne<br />
vom <strong>Forschung</strong>sminister-Rat <strong>an</strong>genommene<br />
ethische Richtlinien zu fördern“,<br />
erklärt Dr. med. Peter Liese (CDU),<br />
Mitglied des Europäischen Parlaments.<br />
Die Gentechnikexpertin von Bündnis<br />
90/Die Grünen im Europaparlament,<br />
Hiltrud Breyer, schließt eine Klage vor<br />
dem Bundesverfassungsgericht nicht<br />
aus, falls die EU-Kommission ohne Ministerratsbeschluss<br />
mit einer Förderung<br />
beginnen sollte. Es gehe offensichtlich<br />
nur darum, die verbrauchende <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
in der EU salonfähig zu<br />
machen, sagte Breyer. Lediglich neun<br />
von 15 000 <strong>Forschung</strong>s<strong>an</strong>trägen bezögen<br />
sich auf embryonale Stammzellforschung.<br />
Der belgische EU-<strong>Forschung</strong>skommissar<br />
Philippe Busquin lässt indes<br />
keinen Zweifel dar<strong>an</strong>, dass er auch diese<br />
neun Vorhaben prinzipiell fördern will.<br />
Auf Vorbehalte der Kritiker wolle er<br />
jedoch Rücksicht nehmen, sagte er.<br />
Busquins überraschender Meinungswechsel<br />
war es auch, der zum Scheitern<br />
der Sondersitzung am 3. Dezember führte.<br />
Eigentlich wollte m<strong>an</strong> sich dabei nur<br />
auf einen Stichtag einigen. Der Kompromissvorschlag<br />
von Portugal hatte vorgesehen,<br />
dass nur embryonale Stammzelllinien<br />
für <strong>Forschung</strong>szwecke verwendet<br />
werden dürfen, die vor einem bestimmten<br />
Stichtag erzeugt worden sind. Busquin<br />
hatte dem zugestimmt. Doch kurz<br />
vor der entscheidenden Sondersitzung<br />
im EU-<strong>Forschung</strong>sministerrat stellte er<br />
den zuvor erzielten Kompromiss wieder<br />
infrage. Seine <strong>an</strong>fängliche Zustimmung<br />
sei ein „Missverständnis“ gewesen.<br />
Das Chaos in Sachen Stammzellforschung<br />
ist in der Europäischen Union<br />
nicht neu. Zunächst existierte eine Vorlage<br />
der EU-Kommission. D<strong>an</strong>ach sollte<br />
die <strong>Forschung</strong> <strong>an</strong> embryonalen Stammzellen,<br />
die vor dem 27. Juni 2002 erzeugt<br />
wurden, mit EU-Mitteln gefördert werden.Das<br />
Europäische Parlament ging am<br />
19. November noch über die umstrittenen<br />
Pläne hinaus und setzte sich für eine<br />
umfassende Förderung der <strong>Embryonen</strong>forschung<br />
ohne jeglichen Stichtag ein.<br />
Eine Sperrminorität von Deutschl<strong>an</strong>d,<br />
Italien, Luxemburg, Österreich und Portugal<br />
brachte diese Vorschläge jedoch am<br />
26. November überaschend zu Fall. Die<br />
EU-<strong>Forschung</strong>sminister einigten sich auf<br />
den portugiesischen Kompromiss.<br />
Sein Scheitern wird im Deutschen<br />
Bundestag parteiübergreifend kritisiert.<br />
Nur die FDP steht auf Busquins Seite.<br />
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und<br />
Union hatten dagegen den Vorschlag<br />
Portugals begrüßt, da er sehr dem deutschen<br />
Recht ähnelte. Hierzul<strong>an</strong>de dürfen<br />
nämlich nur embryonale Stammzelllinien<br />
für <strong>Forschung</strong>szwecke genutzt<br />
werden, die vor dem 1. J<strong>an</strong>uar 2002<br />
gewonnen wurden.Verstöße werden mit<br />
Gefängnisstrafe geahndet. Werden nun<br />
ab J<strong>an</strong>uar 2004 <strong>Forschung</strong>svorhaben zur<br />
embryonalen Stammzellforschung von<br />
der EU gefördert, wird auch Deutschl<strong>an</strong>d<br />
diese mitfin<strong>an</strong>zieren müssen, obwohl<br />
dies dem deutschen Recht widerspricht.<br />
Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlm<strong>an</strong>n<br />
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