Buchtipps für den Herbst - Kleine Zeitung
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LESENSART<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011, SEITE 1<br />
CORBIS<br />
Liesland<br />
BUCHBEILAGE<br />
Anlässlich der Frankfurter<br />
Buchmesse, die am<br />
12. Oktober ihre Pforten<br />
öffnet, wird die Lebensart<br />
wieder zur Lesensart.<br />
Das diesjährige Gastland ist<br />
Liesland, pardon: Island.<br />
Z U M H E R A U S N E H M E N
2|LESENSART<br />
EDITORIAL<br />
Vom Abenteuer,<br />
das zum Glück<br />
nie ein Ende hat<br />
Es gibt ja das wunderbare<br />
Sprichwort vom Zwerg, der<br />
auf <strong>den</strong> Schultern eines Riesen<br />
sitzt und weiter sieht als der<br />
Riese selbst. Diese Metapher ist<br />
wandlungsfähig und elastisch.<br />
Wer sich, mit Neugier und natürlich<br />
auch großer Leselust,<br />
alle Jahre wieder der eigentlich<br />
unbewältigbarenAufgabestellt,<br />
in einer Literaturbeilage all jene<br />
Buch-Neuerscheinungen zu<br />
präsentieren, <strong>den</strong>en wir möglichst<br />
viele Leser wünschen, der<br />
schlüpft zwangsläufig ebenfalls<br />
in die Rolle eines Zwerges. Nur<br />
die Bleibe ist eine andere.<br />
Diesfalls sitzen wir also auf<br />
der Spitze eines gigantischen<br />
Bücherberges, im redlichen Bemühen,<br />
da oben halbwegs <strong>den</strong><br />
Überblick zu wahren und diesen<br />
auch zu vermitteln. Es ist,<br />
wie das Lesen selbst, immer<br />
wieder ein Abenteuer, das zum<br />
Glück nie ein Ende hat.<br />
Die hier präsentierte Auswahl<br />
an Büchern ist also höchst<br />
subjektiv, aber sie orientiert<br />
sich, wie stets, auch an der<br />
Frankfurter Buchmesse, die<br />
heuer am 12. Oktober eröffnet<br />
wird. Als Gastland ist diesmal<br />
Island präsent; es ist die bisher<br />
kleinste Literaturnation, aber<br />
reich an großartigen Entdeckungsmöglichkeiten.<br />
Also<br />
lässt sich die Frage, welche drei<br />
Bücher man <strong>den</strong>n auf die Insel<br />
mitnehmen würde, umkehren.<br />
Wie viele Bücher vom Inselreich<br />
Island sind es wert, mit<br />
nach Hause genommen zu wer<strong>den</strong>?<br />
Es sind, wie allein schon<br />
nebenstehende Empfehlungen<br />
belegen, sehr, sehr viele.<br />
Das Lesen guter Bücher sei<br />
wie eine Unterhaltung mit <strong>den</strong><br />
besten Menschen vergangener<br />
Jahre, heißt es. In diesem Sinne<br />
wünschen wir Ihnen viele schöne<br />
Begegnungen und beste Unterhaltung.<br />
WERNER KRAUSE/<br />
BERND MELICHAR<br />
Ewiges Feuer, ewiges<br />
Eis und ewige Leselust:<br />
Island ist heuer GastlandaufderFrankfurter<br />
Buchmesse. Ein Blick<br />
dorthin, wo Geschichten<br />
Lebensmittel sind.<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
DieschönsteInsel<br />
zumAlleinsein<br />
MICHAEL TSCHIDA<br />
Jeder Isländer ist ein Skalde,<br />
heißt es. Ein Geschichtenerzähler.<br />
Der erste, der mir eine<br />
Geschichte druckte, war Páll.<br />
Der seehundbärtige Buschauffeur<br />
auf Heimaey, der größten<br />
der Westmänner-Inseln südwestlich<br />
vor Island, stoppte seinen alten<br />
Mercedes O 328 auf der Auffahrt<br />
zum Vulkan Eldfell und rief:<br />
„Now I’ll call our trolls for you!“<br />
Tatsächlich stiegen hinter einem<br />
Lavakegel plötzlich Rauchschwa<strong>den</strong><br />
auf. Die Geister, die<br />
Páll rief, wur<strong>den</strong> in ihrem Wutschnauben<br />
noch bestärkt durch<br />
Rückwärtsgang, Vorwärtsgang,<br />
Rückwärtsgang, Vorwärtsgang.<br />
Dann hieß er uns aussteigen und<br />
erzählte bei teuflischem Schwefelgeruch<br />
die wahre Geschichte:<br />
Zehn Zentimeter unter der Erdkruste<br />
hat es 100 Grad. Eldfell ist<br />
ein riesiger Aschehaufen, <strong>den</strong><br />
Páll durch <strong>den</strong> Fahrtwind des<br />
Busses aus Jux zum mystischen<br />
Dampfen anregte. 1973 schoss<br />
Magma kilometerweit in <strong>den</strong><br />
Nordhimmel und die Lava leckte<br />
auf ganz Heimaey 360 Häuser<br />
weg. Ewiges Feuer im ewigen Eis.<br />
Wenn in Island jeder ein Skalde<br />
ist, dann ist es auch kein Wunder,<br />
dass der Inselstaat die höchste<br />
Dichte an Nobelpreisträgern hat.<br />
Es ist zwar nur einer, aber es gibt<br />
ja auch nur 318.000 Einwohner:<br />
Halldór Laxness (1902 – 1998),<br />
der mit „Die Islandglocke“ einen<br />
Schlüsselroman seiner Heimat<br />
schrieb, erhielt 1955 in Stockholm<br />
<strong>den</strong> höchsten Lorbeer.<br />
„Island zwingt Sie, mit sich allein<br />
sein zu können“, sagte Laxness<br />
einmal. Und es gibt kaum<br />
eine schönere Insel <strong>für</strong> Einsame<br />
als das 103.000 Quadratkilometer<br />
große „Eisland“ im Nordatlantik.<br />
Aber was tun im Alleinsein? Gut,<br />
man kann sich mit einer Bouteille<br />
mit dem vielversprechen<strong>den</strong> Eti-<br />
kett „svarta daudi“ trösten, mit<br />
dem „Schwarzen Tod“. Dann fällt<br />
vielleicht auch das Zählen von<br />
Trollen, Hexen und Elfen leichter.<br />
Man kann aber auch lesen.<br />
Und das tun die Isländer: im<br />
Schnitt acht Bücher pro Jahr und<br />
Nase, das ist Weltspitze.<br />
Der Grund da<strong>für</strong> liegt wohl tatsächlich<br />
in der großen Erzähltradition.<br />
Anno 930 war es, als Hei<strong>den</strong><br />
und Christen in Thingvellir<br />
übereinkamen, dass Köpfe zum<br />
Denken da sind und nicht zum<br />
Einschlagen. Auf dem ältesten<br />
Parlamentsplatz Europas wur<strong>den</strong><br />
in der Folge nicht nur jährlich<br />
Volksversammlungen abgehalten,<br />
er wurde auch zum Umschlagplatz<br />
der berühmten Islandsagas.<br />
Rinderhäute<br />
Die Oral History von unbezwingbaren<br />
Hel<strong>den</strong> und glorreichen<br />
Familien wurde ab dem 12. Jahrhundert<br />
verschriftlicht – auf Rinderhäuten.<br />
Freilich ging Islands<br />
Literatur bald auf keine Kuhhaut<br />
mehr, ist heute längst nicht mehr<br />
alles nur sagenhaft, märchenhaft.<br />
Die buchbegeisterte Nation<br />
pflegt und schätzt zwar ihre Tra
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
dition, aber wie in der Wirtschaft<br />
und Technologie auch <strong>den</strong> Fortschritt.<br />
Das wird sie nun als Gastland<br />
mit 200 Titeln bei der Frankfurter<br />
Buchmesse beweisen.<br />
Büchernarren<br />
„Lauter Büchernarren!“, titelte<br />
kürzlich die Neue Zürcher bewundernd:<br />
Der Autorenverband<br />
zählt 400 Mitglieder, 40 Verlage<br />
liefern 1500 Neuerscheinungen<br />
pro Jahr und sen<strong>den</strong> zu Weihnachten<br />
an alle Haushalte einen<br />
Gesamtkatalog zum Bestellen,<br />
was die Leselust noch einmal fördert.<br />
Nicht einmal der Kollaps<br />
des Finanzsystems 2008 verdarb<br />
<strong>den</strong> Leseratten <strong>den</strong> Appetit, im<br />
Gegenteil: „Es wird in Island seit<br />
damals noch mehr gelesen“, bestätigt<br />
Halldór Gudmundsson,<br />
verantwortlich <strong>für</strong> <strong>den</strong> Auftritt<br />
seines Landes in Frankfurt.<br />
Man kann also sagen: In Island<br />
zählen Bücher und Geschichten<br />
zu <strong>den</strong> Grundnahrungsmitteln.<br />
Oder wie Autor Hallgrímur Helgason<br />
es auf <strong>den</strong> Punkt bringt:<br />
„Wenn bei uns über jeman<strong>den</strong><br />
nichts geschrieben wird, dann<br />
hat er praktisch umsonst gelebt“.<br />
MagischeReisen. In Island, aber<br />
auch in Kanada, Bolivien,<br />
China, Norwegen, Indien<br />
und Holland inszenierte die<br />
niederländische Fotografin<br />
Traumbilder mit Menschen,<br />
Tieren und Dingen. Manchmal<br />
mit allen zugleich. WT<br />
Scarlett Hooft Graafland.<br />
Soft Horizons. Kehrer. 35 Euro.<br />
TV-T IPP & LESUNG<br />
EinGroßmeister<br />
derSkurrilität<br />
Hallgrímur<br />
Helgason<br />
gebührt der<br />
Nobelpreis <strong>für</strong><br />
die köstlichsten<br />
Buchtitel:<br />
„Vom zweifelhaftenVergnügen,<br />
tot zu sein“ (ein skurriles<br />
Spiel mit Dichtung und<br />
Wahrheit), „Zehn Tipps, das<br />
Mor<strong>den</strong> zu been<strong>den</strong> und mit<br />
dem Abwasch zu beginnen“<br />
(ein abgedrehter Krimi) und<br />
neu „Eine Frau bei 1000°“ (ein<br />
Parforceritt durch das 20. Jahrhundert,<br />
alle Klett-Cotta). Der<br />
52-Jährige aus Reykjavik, auch<br />
Comiczeichner und bil<strong>den</strong>der<br />
Künstler, wird von Regisseur<br />
Günter Schilhan und Kameramann<br />
Erhard Seidl heute um<br />
19.30 Uhr auf 3sat porträtiert<br />
und liest am 19. Oktober im<br />
Grazer Literaturhaus, wo der<br />
Film ebenfalls zu sehen ist. KK<br />
DASGASTLAND |3<br />
ÜberHel<strong>den</strong>,Flaneure<br />
unddieeiskalteKrise<br />
Dortbei<strong>den</strong>Tapfersten<br />
Von Schlangenzungen und Krähennasen: Die<br />
Isländersagas, die zwischen 930 und 1050<br />
spielen, gelten als Riesenschatz der Weltliteratur,<br />
der leider durch <strong>den</strong> Nazi-Missbrauch<br />
braune Patina anlegte. Der Fischer-Verlag hat<br />
ihn nun mit zwölf Übersetzern frisch gehoben.<br />
Großtat <strong>für</strong> ein poetisches Erbe. TSC<br />
Isländersagas. Vier Bände. Fischer. 100,80 Euro.<br />
Leben,Liebe,Lebertran<br />
Der Duft der weiten Welt, der Gestank der<br />
Heringe und dazwischen die „himmlische<br />
Hulda“. Thórdarson (1888 – 1974), Pionier der<br />
isländischen Moderne, war ein so närrischer<br />
wie geistreicher Flaneur und erzählt hier von<br />
seinem Liebesleben und Lebenlieben. TSC<br />
Thórbergur Thórdarson. Islands Adel.<br />
Fischer. 22,95 Euro.<br />
ZwischenHimmelundMeer<br />
Warum liest ein junger Bursche unter knorrigen<br />
Menschen Shakespeares „Othello“? Und<br />
was macht er mit dem Postboten draußen in<br />
der Hölle aus Nebel und Eis? Der 50-jährige<br />
Autor zaubert mit unglaublicher Sprachmagie<br />
ein Abenteuer mit dunklem Horizont. TSC<br />
Jón Kalman Stefánsson. Der Schmerz der Engel.<br />
Piper. 20,60 Euro.<br />
SchuldundSchul<strong>den</strong><br />
Job futsch. Geld futsch. Sicherheit futsch: Der<br />
33-jährige Autor hat es als Angestellter der<br />
Landsbankinn Islands selbst durchlitten, <strong>den</strong><br />
Kopf aber nicht in <strong>den</strong> Schnee gesteckt. Sein<br />
gebeuteltes Alter Ego Markús schreibt Tagebuch<br />
und bietet der Krise mit Melancholie<br />
und Ironie die Stirn. Aber: Ende = Anfang? TSC<br />
Gudmundur Óskarsson. Bankster. FVA. 22,90 Euro.<br />
UndesistBlutgeld<br />
Islands Krimikönig und erfolgreichster Autor<br />
kommt an der Wirtschaftskrise natürlich<br />
auch nicht vorbei: Dort tun sich <strong>für</strong> einen<br />
Banker im wahrsten Sinn des Wortes Abgründe<br />
auf. Da tauchen mörderische Geldeintreiber<br />
auf und unter. Geld spielt also keine Rolle?<br />
Kommissar Óli beweist das Gegenteil. TSC<br />
Arnaldur Indridason. Abgründe. Bastei. 19,90 Euro.
4|LESENSART<br />
DasErzählenist<br />
einwilderStrom<br />
<strong>Kleine</strong>Story,aberganzgroß<br />
Mit „Her<strong>den</strong>tiere“ bewies Josh Weil, dass er<br />
eine edle Gabe <strong>für</strong> tragikomische, berührende<br />
Prosa-Miniaturen hat. In seiner jüngsten<br />
Story stiehlt ein aufs Abstellgleis geschobener<br />
Farm-Arbeiter einen Uralt-Traktor, um<br />
ihn seiner Tochter zu schenken. Simpel<br />
gestrickt? Gut Leseding braucht Weil. WK<br />
Josh Weil. Das neue Tal. Dumont. 19 Euro.<br />
EchtwildwarderWesten<br />
Mit „God’s Pocket“ und „Paris Trout“ hat<br />
Dexter zwei herausragende, stahlharte Romane<br />
vorgelegt, jetzt wagt er sich auf historisches<br />
Terrain und schildert <strong>den</strong> Wil<strong>den</strong> Westen<br />
so, wie er wirklich war: schmutzig, hart,<br />
tödlich. Eine stilsichere Tour de Force durch<br />
ein Stück amerikanische Geschichte. BM<br />
Peter Dexter. Deadwood. Liebeskind. 22,30 Euro.<br />
GefährlicheSümpfe<br />
Wenn Adams über politische Verfilzungen<br />
schreibt, ist sie in ihrem Metier, war sie doch<br />
lange Zeit vielfach ausgezeichnete Journalistin<br />
bei der „Washington Post“. In ihrem Roman<br />
geht es ebenfalls um Polit-Sümpfe, deren<br />
Trockenlegung mitunter lebensgefährlich ist.<br />
Rasant, spannend, kenntnisreich. BM<br />
Lorraine Adams. Crash. Arche. 20,20 Euro.<br />
DasEndeistderAnfang<br />
Der erste Roman des Amerikaners – und gleich<br />
(völlig zu Recht) mit dem Pulitzerpreis auszeichnet.<br />
In karger, unprätentiöser Sprache<br />
erzählt Harding die Geschichte von George<br />
Washington Crosby, der an seinen letzten<br />
Lebenstagen seine Kindheit in Neuengland<br />
Revue passieren lässt. Berührend schön! BM<br />
Paul Harding. Tinkers. Luchterhand. 20,20 Euro.<br />
BritischesAugenzwinkern<br />
Das Cover passt gut: Mit diesen vier Kurzgeschichten<br />
trifft Nick Hornby, einst als Pop-<br />
Literat postuliert, mitten ins Schwarze bzw.<br />
Rote. Der Brite geht wie gewohnt mit einem<br />
lässigen Augenzwinkern mit <strong>den</strong> Schrulligkeiten<br />
seiner Figuren um. Merke: Das Leben ist<br />
unberechenbar wie das englische Wetter. BM<br />
Nick Hornby. Small Country. Kiepenheuer&Witch. 17,20 Euro.<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
DerAbstand<br />
zumAnstand<br />
Mit typisch britischer<br />
Eleganz geht Nicholas<br />
Shakespeare in seinem<br />
neuen Roman „Die<br />
Erbschaft“ der Frage<br />
nach, was mehr zählt:<br />
Geld oder Gewissen?<br />
BERND MELICHAR<br />
Stellen Sie sich vor, Sie gelangen<br />
durch einen unglaublichen<br />
Zufall in <strong>den</strong><br />
Besitz von rund 20 Millionen<br />
Euro. Rechtlich gesehen steht Ihnen<br />
das Geld zu, ein moralisches<br />
Anrecht haben Sie darauf allerdings<br />
nicht. Was tun Sie? Haben<br />
Sie <strong>den</strong> Anstand, die Hintergründe<br />
dieser dubiosen Erbschaft aufzuklären?<br />
Oder halten Sie <strong>den</strong><br />
Anstand auf möglichst großen<br />
Abstand und führen mit <strong>den</strong> Millionen<br />
ein schönes, vermeintlich<br />
sorgenfreies Leben?<br />
Genau dieser Frage geht der<br />
große Stilist und gnädige Moralist<br />
Nicholas Shakespeare in seinem<br />
neuen Roman nach. Andy<br />
Larkham, ein kleiner Verlagsangestellter<br />
in London, der recht<br />
patschert durchs Leben driftet,<br />
landet bei der falschen Beerdigung<br />
und gelangt durch einen<br />
schlichten Eintrag ins Kondolenzbuch<br />
zu einem ungeheuren<br />
Vermögen. Nach anfänglicher<br />
Euphorie beginnt Larkhams Gewissen<br />
lästige Fragen zu stellen.<br />
Woher stammt dieses Geld, was<br />
klebt daran? Aber vor allem:<br />
Wer war der<br />
Mensch, dem ich es verdanke?<br />
Nicholas Shakespeare,<br />
bekannt gewor<strong>den</strong><br />
durch <strong>den</strong> Roman<br />
„Der Obrist und die<br />
Tänzerin“ (verfilmt<br />
mit John Malkovich)<br />
und seine schwerge-<br />
ZUR PERSON<br />
Nicholas Shakespeare, geboren<br />
1957 in England, verbrachte als<br />
Diplomatensohn viele Jahre in<br />
Asien und Lateinamerika. Journalist<br />
u. a. bei der „Times“, bevor<br />
er Literat wurde. Bekannt wurde<br />
Shakespeare auch durch seine<br />
Biografie über Bruce Chatwin.<br />
wichtige Biografie über Bruce<br />
Chatwin, ist ein begnadeter Stilist,<br />
der mit der feinen Klinge große<br />
Operationen am offenen Herzen<br />
der Menschen durchführt. In<br />
typisch angelsächsischer Tradition<br />
verbindet er das klassische<br />
Story-Telling mit einem sozialhistorischen<br />
Überbau. Ein unaufgeregter<br />
Geschichten-Maurer,<br />
der mit großer Präzision Ziegelstein<br />
auf Ziegelstein legt; der<br />
aber genau weiß, dass auch das<br />
solideste Gebäude einsturzgefährdet<br />
ist, wenn das Fundament<br />
auf schwachem Material ruht.<br />
Der Abstand zum Anstand, <strong>den</strong><br />
Andy Larkham anfangs einhält,<br />
schwindet zusehends, und in einem<br />
raffinierten, doppelbödigen<br />
Vexierspiel beginnen sich die<br />
bei<strong>den</strong> Biografien – jene des Erblassers<br />
und jene des Erben – zu<br />
vermischen. Die Suche nach der<br />
Quelle seines Reichtums führt<br />
Andy Larkham bis in die Abgründe<br />
des Völkermordes an <strong>den</strong> Armeniern<br />
zu Beginn des vorigen<br />
Jahrhunderts, und die abenteuerliche<br />
Reise endet schließlich<br />
dort, wo alle Irrfahrten en<strong>den</strong>: bei<br />
sich selbst.<br />
Die Moral der Geschichte?<br />
Geld allein<br />
macht weder glücklich<br />
noch unglücklich. Es<br />
spiegelt aber gut <strong>den</strong> Anstand<br />
eines Menschen<br />
wieder. Oder <strong>den</strong> Abstand<br />
davon.<br />
Nicholas Shakespeare.<br />
Die Erbschaft. rowohlt. 20,20 Euro.
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
DIE ANGELSACHSEN |5<br />
Auto-Paradies. Seit 25<br />
Jahren baut Michael<br />
Paul Smith an seiner<br />
„idealen amerikanischen<br />
Stadt“. Elgin<br />
Park ist ihr Name, sie<br />
besteht aus Modellen<br />
und hat Kultstatus.<br />
Nicht nur bei<br />
Liebhabern klassischer<br />
Ami-Schlitten.<br />
visitelginpark.com,<br />
die Website des Projekts,istbestbesucht,<br />
die Fotos dieses<br />
Buchs vermittelt <strong>den</strong><br />
nostalgischen Zauber<br />
im Detail. WT<br />
Michael Paul Smith.<br />
Elgin Park.<br />
Prestel. 25,70 Euro.<br />
Die Begehung<br />
eines düsteren<br />
Textmassivs<br />
E r ist der große Außenseiter<br />
der US-Literatur, der gerne<br />
zu Experimenten neigt, oder,<br />
wie in diesem Fall, ein gigantisches,<br />
dämonisches Textmassiv<br />
auftürmt. Fast 30 Jahre lang arbeitete<br />
William H. Gass an seinem<br />
Hauptwerk „Der Tunnel“.<br />
In <strong>den</strong> Staaten erschien der Roman<br />
über einen Historiker, der<br />
sich intensiv mit der NS-Zeit<br />
beschäftigt, ehe er <strong>den</strong> Faschisten<br />
in sich selbst entdeckt, 1995.<br />
Er wurde mit mehreren Auszeichnungen<br />
bedacht, geriet<br />
aber, völlig unberechtigt, auch<br />
unter heftigen<br />
Kritiker-<br />
Beschuss.<br />
Vor allem,<br />
weil absolute<br />
Oberflächen-<br />
Leser <strong>den</strong><br />
Sohn deutscherEinwanderer<br />
weit ins<br />
rechte Eck<br />
drängen wollten.<br />
Völliger Schwachsinn. William<br />
H. Gass erlaubte sich nur,<br />
seinen Landsleuten drastisch<br />
vor Augen zu führen, dass die<br />
braune Gesinnung keineswegs<br />
nur ein germanisches Gräuel<br />
gewesen ist, sondern sich latenter<br />
Präsenz in <strong>den</strong> USA erfreut.<br />
Bei Gass wird der Protagonist<br />
Mitglied der „Partei der Enttäuschten“,<br />
die beklemmende<br />
Ähnlichkeiten mit der obskuren,<br />
höchst umtriebigen „Tea<br />
Party“ aufweist. Gass wollte,<br />
dass sein 1100-Seiten-Opus in<br />
losen Blättern erscheint, verpackt<br />
in einen festen Karton,<br />
versehen mit Kaffeespuren,<br />
Fettflecken und Eselsohren.<br />
Dieser Wunsch wurde ihm<br />
nicht erfüllt, was bleibt, ist der<br />
dringende Wunsch, sich auf dieses<br />
große Leseabenteuer einzulassen.<br />
WERNER KRAUSE<br />
William H. Gass. Der Tunnel. Rowohlt.<br />
38 Euro.
6|LESENSART<br />
Denkmal <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />
rebellischen<br />
Weltreisen<strong>den</strong><br />
In seinem<br />
Roman „Der<br />
Traum des<br />
Kelten“ erzählt<br />
Mario<br />
Vargas Llosa<br />
die abenteuerliche Geschichte<br />
des Weltreisen<strong>den</strong> Roger Casement,<br />
der die Grausamkeiten<br />
der Kolonialmächte anprangerte.<br />
Später stand er an der Spitze<br />
der irischen Freiheitskämpfer,<br />
er wurde von <strong>den</strong> Engländern<br />
verfolgt und nach Fluchten quer<br />
durch Europa verhaftet und gehängt.<br />
Eine Geschichte über<br />
<strong>den</strong> kollektiven Gedächtnisschwund<br />
und die Rolle Europas<br />
als „Wiege des Bösen“.<br />
Mario Vargas Llosa. Der Traum des<br />
Kelten. Suhrkamp. 26 Euro.<br />
„Lesen<br />
istein<br />
Geschenk“<br />
Literaturnobelpreisträger Mario<br />
Vargas Llosa im Interview: über<br />
Preise, Bücher - und Österreich.<br />
ZUR PERSON<br />
Mario Vargas Llosa, geb.<br />
1936 in Arequipa, Peru.<br />
Erstes Aufsehen erregte er<br />
mit seinem Roman „Die<br />
Stadt und die Hunde“<br />
(1963). In der 80er-Jahren<br />
wandte sich Llosa der Poli-<br />
tik zu. Auseinandersetzung<br />
u. a. mit Gabriel Garcia<br />
Marquez, dessen Überbewertung<br />
des sozialistischen<br />
Modells Llosa kritisiert.<br />
2010 Verleihung des<br />
Literaturnobelpreises.<br />
Herr Llosa, haben sich seit<br />
der Nobelpreisvergabe im<br />
Dezember des Vorjahres<br />
große Veränderungen in Ihrem Leben<br />
ergeben?<br />
MARIO VARGAS LLOSA: Der Nobelpreis<br />
ist eine große Anerkennung<br />
meiner Arbeit und auch wichtig,<br />
um meine Bücher in der Welt<br />
weiterhin bekannt zu machen.<br />
Aber es geschah auch eine Revolution<br />
in meinem Leben.<br />
Inwiefern?<br />
LLOSA: Ich habe in <strong>den</strong> vergangenen<br />
Monaten auch andere Preise<br />
erhalten, war und bin einem<br />
überaus großen medialen Druck,<br />
Fernsehen, Radio, <strong>Zeitung</strong>en etc.,<br />
vermehrt ausgesetzt. Bis zum<br />
Nobelpreis konnte ich meine private<br />
Zeit, meine Zeit zum Schreiben<br />
auch verteidigen, aber in <strong>den</strong><br />
letzten Monaten gelingt dies<br />
kaum noch.<br />
Was schreibt ein peruanischer<br />
Nobelpreisträger in das Poesiealbum<br />
eines Kindes?<br />
LLOSA: Ich würde die Kinder auffordern<br />
zu lesen, um <strong>für</strong> sich eine<br />
neue Welt zu entdecken. Die<br />
Welt der Literatur, um verschie<strong>den</strong>e<br />
Fantasiewelten kennenzu-<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
lernen. Für mich war es das kostbarste<br />
Geschenk, lesen zu lernen.<br />
Wenn Sie mit Freun<strong>den</strong> zusammensitzen,<br />
über welches Ihrer Bücher<br />
sollte man auf vertrauter<br />
Freundschaftsebene re<strong>den</strong>?<br />
LLOSA: Diese Frage ist schwer zu<br />
beantworten, mir ist, als müsste<br />
ich eines meiner Kinder zum<br />
Lieblingskind wählen. Wenn ich<br />
mich letztlich aber doch zu entschei<strong>den</strong><br />
hätte, würde ich die Bücher,<br />
die mir am meisten Arbeit<br />
bereitet haben, nennen. Das war<br />
„Der Krieg am Ende der Welt“<br />
oder „Das Fest des Ziegenbocks“.<br />
Es war <strong>für</strong> mich jedes Mal ein<br />
Abenteuer und auch eine obsessive<br />
Arbeit und eine besondere<br />
Erfahrung.<br />
Welches Buch einer/s deutschsprachigen<br />
Autorin/s wür<strong>den</strong> Sie<br />
einem jungen südamerikanischen<br />
Menschen empfehlen, um die europäische<br />
Seele im Ansatz etwas<br />
verstehen zu können?<br />
LLOSA: Ich würde Thomas Mann<br />
wählen, weil er am besten die europäische<br />
Kultur wiedergegeben<br />
hat, und natürlich Franz Kafka als<br />
Erneuerer der modernen Literatur.<br />
Stefan Zweig wurde leider
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
lange Zeit vergessen. Ich möchte<br />
auch das Werk „Die offene Gesellschaft<br />
und ihre Feinde“ von<br />
Sir Karl Popper nennen. Dieses<br />
Buch hat mein Denken beeinflusst,<br />
die Art und Weise, wie ich<br />
danach die Politik und die Geschichte<br />
wahrgenommen habe,<br />
hat sich durch dieses Buch verändert.<br />
Zu Ihrem neuesten Buch „Der<br />
Traum des Kelten“: Wir waren vor<br />
zwei Jahren gemeinsam in der<br />
Steiermark rund um Großklein,<br />
an einem einst von Kelten besiedelten<br />
Landstrich. War diese Reise<br />
auch eine Inspirationsquelle zu<br />
dem Buch?<br />
LLOSA: Zu dieser Zeit habe ich<br />
schon ein Jahr an dem Buch gearbeitet.<br />
Die Hauptinspiration war<br />
die Biografie von Joseph Conrad<br />
und dessen Begegnung mit Roger<br />
Casement. Er wurde zur Hauptfigur<br />
in meinem Buch. Casement<br />
hatte, wie Conrad, ein sehr bewegtes<br />
Leben, er hatte die Welt<br />
bereist und hatte viele furchtbare<br />
Verbrechen dokumentiert und<br />
publiziert. Er nahm dann ein sehr<br />
„skurriles“ Ende; er war in Irland<br />
bei der nationalistischen Bewe-<br />
KompakteKörper.Mario<br />
Vargas Llosa ist einer<br />
der Autoren, die in<br />
dieser erhellen<strong>den</strong><br />
Monografie über die<br />
unverkennbaren<br />
Kunstwerke von<br />
Fernando Botero<br />
schreiben. Die Bilder<br />
und Skulpturen des<br />
Kolumbianers sind<br />
ab 11. Oktober im<br />
Bank Austria<br />
Kunstforum Wien<br />
zu sehen. WT<br />
Evelyn Benesch, Ingried<br />
Brugger (Hrsg.).<br />
Fernando Botero.<br />
Hatje Cantz. 39,80 Euro.<br />
gung und wurde von <strong>den</strong> Engländern<br />
als Verräter bezeichnet und<br />
gehängt. Diese Persönlichkeit<br />
war sehr faszinierend, ein richtiger<br />
Abenteurer dieser Zeit und<br />
daher die richtige Hauptperson<br />
<strong>für</strong> ein Buch.<br />
Was erfüllt ein südamerikanisches<br />
Herz bei seinen europäischen<br />
Reisen mit Freude? Was ist<br />
es, was Sie immer wieder nach Österreich,<br />
speziell nach Salzburg,<br />
kommen lässt?<br />
LLOSA: Die Musik lässt mich immer<br />
wieder zurückkehren, und<br />
Salzburg ist wie ein Schatz. Man<br />
wähnt sich hier wie in einem<br />
Märchen. Hier kann ich auch immer<br />
wieder arbeiten. Wenn ich in<br />
Salzburg bin, arbeite ich tagsüber<br />
und am Abend gehe ich ins Konzert.<br />
Also ich kann hier Arbeit<br />
und Lei<strong>den</strong>schaft sehr gut kombinieren.<br />
Ich fühle mich hier wie im<br />
Paradies: immer wieder wunderbare<br />
Opern und großartige Konzerte<br />
und immer wieder neue<br />
Freunde. Ich komme bereits seit<br />
22 Jahren hierher, und es ist immer<br />
wieder eine neue wundersame<br />
Erfahrung.<br />
INTERVIEW: FRITZ KRENN<br />
DASINTERVIEW|7<br />
Tristesse,Hoffnung<br />
undFeinmechanik<br />
SchwedischesRoadmovie<br />
Kann ein Hundertjähriger, der aus dem Heim<br />
flüchtet, über Nacht zum Serienkiller mutieren?<br />
Jonas Jonasson verfasst in seinem Debüt<br />
ein irrwitziges Roadmovie über einen sonderbaren<br />
Kauz, der in seiner Vergangenheit<br />
Weltgeschichte mitgeschrieben hat. CP<br />
Jonas Jonasson. Der Hundertjährige, der aus dem<br />
Fenster stieg und verschwand. carl’s books. 15,20 Euro.<br />
EntwicklungsromanmitWitz<br />
Der 18-jährige Francis erfährt, dass er ein<br />
Retortenkind ist und sein Vater irgendein genialer<br />
Wissenschaftler. Ist er seine Fahrkarte<br />
aus dem tristen Leben in einer Wohnwagensiedlung?<br />
Der junge Deutsche Benedict Wells<br />
erzählt mit viel Witz und Formulierkunst<br />
einen dichten Entwicklungsroman. MF<br />
Benedict Wells. Fast genial. Diogenes. 19.90 Euro.<br />
Auf<strong>den</strong>SpurendesMörders<br />
Das Unterwegssein ist das Ziel auch im neuen<br />
Roman des deutschen Anatoliers: Der Arzt<br />
Rentz sucht zwischen Duisburg, Warschau<br />
und Großglockner nach Orientierung und<br />
nimmt durch die Haftentlassung des Mörders<br />
seiner Frau eine neue Abzweigung. Tristesse<br />
und Hoffnung im Ruhrpott-Dialekt. MAN<br />
Feridun Zaimoglu. Ruß. Kiepenheuer. 19,20 Euro.<br />
FallstrickedesLebens<br />
Die kanadische Großmeisterin der Short<br />
Stories, Daueranwärterin auf <strong>den</strong> Nobelpreis,<br />
kennt die Fallstricke des Alltags. So präzise<br />
wie nüchtern dringt die 80-Jährige in zehn<br />
Erzählungen zu <strong>den</strong> großen Verletzungen<br />
und schweren Verlusten, aber auch zu <strong>den</strong><br />
kleinen Schönheiten des Lebens durch. MAN<br />
Alice Munro. Zu viel Glück. Fischer. 20,20 Euro.<br />
DerText-Feinmechaniker<br />
Was passiert, wenn Sätze wie im Kinderspiel<br />
„Stille Post“ in sechs Sprachen weitersouffliert<br />
wer<strong>den</strong>? Was geschieht, wenn eine Reise<br />
nach Istanbul zum Labyrinth wird? Der 73jährige<br />
Baseler erweist sich einmal mehr als<br />
philosophischer Feinmechaniker mit großer<br />
Liebe zu seinem Material, dem Text. MAN<br />
Urs Widmer. Stille Post. Diogenes. 20,20 Euro.
8|LESENSART<br />
DadieSchreib-Axt,dort<br />
dasfeineSeziermesser<br />
WERNER KRAUSE<br />
Drei-Generationen-Romane stehen hoch<br />
im Kurs. Zwei furiose, konträre Werke<br />
liefern Eugen Ruge und Josef Bierbichler.<br />
Natürlich ist es verpönt,<br />
von Literaturmo<strong>den</strong> zu<br />
re<strong>den</strong>. Also nennen wir<br />
es einen klaren Trend des Bücherherbstes:Drei-Generationen-Romane<br />
stehen hoch im<br />
Kurs. Teils recht oberflächlichen<br />
Werken stehen literarische<br />
Glanzleistungen gegenüber, die<br />
nicht bloß die Vergangenheit<br />
platt beschwören (wie etwa Oskar<br />
Roehler es in „Herkunft“ tut),<br />
sondern plastisch und auch drastisch<br />
aus erlebter Geschichte mit<br />
dichterischer Freiheit, Bravour<br />
und zuweilen auch Frechheit große<br />
zeitgeschichtliche Lese-Abenteuer<br />
entstehen lassen. Dazu<br />
zwei herausragende Belege.<br />
Dem sensiblen bayrischen Wüterich<br />
Josef Bierbichler sind nicht<br />
nur <strong>den</strong>kwürdige Theater-Auftritte<br />
und herrlich schräge Filme<br />
zu verdanken, er ließ seine ebenfalls<br />
nicht zu unterschätzende<br />
Schreibpranke niederfahren und<br />
debütierte als Roman-Autor.<br />
Auch hier entzieht er sich allen<br />
Konventionen und bürstet herkömmliche<br />
literarische Handund<br />
Feinarbeit gegen <strong>den</strong> Strich.<br />
Sein 400-Seiten-Epos „Mittelreich“<br />
über eine anfangs aufblühende,<br />
dann aber völlig vor die<br />
Hunde gehende Seewirtschaft<br />
bietet zahlreiche Querbezüge zur<br />
BierbichlerischenJugendzeit,<br />
aber es ist<br />
vor allem eine<br />
gna<strong>den</strong>lose<br />
Abrechnung<br />
mit dem grassieren<strong>den</strong>Voralpen-Stumpfsinn,<br />
mit der<br />
NS-Zeit, der Bi-<br />
gotterie und der Kunstfeindlichkeit<br />
in einer hermetischen<br />
Scheinidylle. Es brodelt und<br />
zischt, und Bierbichler sorgt da<strong>für</strong>,<br />
dass von allen Töpfen die Deckel<br />
fliegen. Ein Anti-Heimatroman<br />
in oft archaischer Sprache,<br />
ein Holzfällen mit der Schreib-<br />
Axt, rabenschwarz und doch<br />
enorm erhellend. Ein großes Lesevergnügen,<br />
tückisch und heimtückisch<br />
zugleich.<br />
Weitaus feiner und subtiler<br />
spinnt Eugen Ruge seine Erzählfä<strong>den</strong>.<br />
Nicht von ungefähr trägt<br />
sein Roman „In Zeiten des abnehmen<strong>den</strong><br />
Lichts“, der auch als Favorit<br />
<strong>für</strong> <strong>den</strong> Deutschen Buchpreis<br />
gehandelt wird, das Etikett<br />
„DDR-Bud<strong>den</strong>brooks“. Das mag<br />
doch eine Nummer zu groß sein.<br />
Aber Ruge, Sohn des bedeutsamen<br />
Historikers Wolfgang Ruge,<br />
hat lange an seinem Roman-Debüt<br />
gefeilt. Und so dient die abenteuerliche<br />
Geschichte seiner Familie,<br />
die in <strong>den</strong> Nachkriegsjahren<br />
beginnt, nur als Basis <strong>für</strong> ein<br />
Gesellschafts- und Polit-Panorama,<br />
das bis ins Jahr 2001 reicht.<br />
Ruge bewegt sich stilistisch auf<br />
zahlreichen Ebenen, der Erzählton<br />
ist knapp, präzise und reich<br />
an Lakonie, die Episo<strong>den</strong> erscheinen<br />
sprunghaft, sind aber raffiniert<br />
verzahnt. Es ist eine Chronik<br />
des Zerfalls, die Enttarnung<br />
von Lebenslügen, mit markanten<br />
Figuren.<br />
Josef<br />
Bierbichler.<br />
Mittelreich.<br />
Suhrkamp.<br />
24 Euro.<br />
Eugen Ruge.<br />
In Zeiten des abnehmen<strong>den</strong><br />
Lichts.<br />
Rowohlt. 20,80 Euro.<br />
Menschenbilder. Mehr als fünfzig<br />
Jahre lang fotografierte<br />
Man Ray Menschen. Ende<br />
der 1920er-Jahre entstand<br />
dieses Porträt der Fotografin<br />
Lee Miller. Nur ein Bild aus<br />
der großartigen Kollektion<br />
dieses Bandes. WT<br />
Man Ray. Portraits 1921 – 1976.<br />
Schirmer/Mosel. 59,70 Euro.<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
VomKriegan<br />
allenFronten<br />
Marlene Streeruwitz<br />
erklärt in „Die<br />
Schmerzmacherin“<br />
nicht zuletzt der blin<strong>den</strong><br />
und tauben<br />
Gesellschaft ganz<br />
rigoros <strong>den</strong> Krieg.<br />
GÜNTER HÖFLER<br />
Wenn Marlene Streeruwitz<br />
Frauenleben erzählt,<br />
entsteht kein<br />
Wohlfühltext. Sondern mit großem<br />
Kunstaufwand eine Literatur,<br />
die im besten und bereichern<strong>den</strong><br />
Sinn beunruhigt. Seit<br />
ihrem Prosadebüt „Verführungen“<br />
entwirft die als Dramatikerin<br />
berühmt gewor<strong>den</strong>e Autorin<br />
anhand von weiblichen Einzelschicksalen<br />
höchst intensive Befindlichkeitspanoramen<br />
unserer<br />
Zeit. Die auf eindrückliche Weise<br />
die ganze Bedrohlichkeit der Gegenwart<br />
einfangen, wie auch ihr<br />
jüngster Roman „Die Schmerzmacherin“,<br />
der es auf die Shortlist<br />
der sechs besten<br />
Werke <strong>für</strong> <strong>den</strong> Deutschen<br />
Buchpreis geschafft<br />
hat.<br />
Schon der Titel und<br />
die ersten Zeilen verheißen<br />
nichts Idyllisches:<br />
Klirrende Kälte<br />
und Raubvögel erwarten<br />
Amy Schreiber bei<br />
ihrer Ankunft in der<br />
Ausbildungsstätte einer<br />
internationalen, auch in Afghanistan<br />
tätigen Sicherheitsfirma.<br />
„Es hatte interessant geklungen,<br />
eine Agentin zu wer<strong>den</strong>“ –<br />
freilich eher aus Mangel an anderen<br />
Lebensvorstellungen und beruflichen<br />
Chancen bzw. Ambitionen<br />
der 24-Jährigen. „Aber die<br />
Baracken von britischen Soldaten<br />
zu sichern. Das war nicht ihr<br />
Traumjob. “ Alsbald gerät Amy in<br />
DIE GENERATIONEN |9<br />
ZUR PERSON<br />
Marlene Streeruwitz, geb. am<br />
28. 6. in Ba<strong>den</strong> bei Wien.<br />
Feierte erste Erfolge als Dramatikerin<br />
(„New York. New York“),<br />
1996 erschien ihr erster Roman<br />
(„Verführungen“), dem viel<br />
beachtete Werke wie „Partygirl“<br />
und „Jessica, 30“ folgten.<br />
immer undurchschaubarere Situationen,<br />
in abgründige Verhörund<br />
Stressszenarien, in <strong>den</strong>en die<br />
Vorstellungen von Freund und<br />
Feind, Realität und Simulation<br />
kippen. Und in <strong>den</strong>en Amy zum<br />
prädestinierten Opfer wird, dem<br />
einer Vergewaltigung, die sie,<br />
weil sie betäubt wurde, erst aus<br />
<strong>den</strong> Folgen erschließen kann,<br />
nämlich einer in allen schmerzlichen<br />
und schockieren<strong>den</strong> Details<br />
geschilderten Fehlgeburt.<br />
In diesem Roman hat Marlene<br />
Streeruwitz ihr Thema auf so bisher<br />
noch nicht gelesene Weise<br />
verdichtet, nämlich Kriegsarten.<br />
Damit ist nicht nur Krieg im militärischen<br />
Verständnis gemeint,<br />
sondern es geht ihr um Machtund<br />
Gewaltverhältnisse, wie sie<br />
unserer Gesellschaft innewohnen,<br />
deren Zusammenspiel<br />
und persönliche<br />
Auswirkungen<br />
in ihren Texten eindringlich<br />
spürbar gemacht<br />
wer<strong>den</strong>: ökonomischer<br />
Krieg, Geschlechter-<br />
und Familienkrieg<br />
oder besonders<br />
unser wahnwitziger Sicherheitskrieg.<br />
Und nicht zuletzt<br />
kommen die Kämpfe im Inneren<br />
zur Sprache, die psychischen und<br />
körperlichen, gegen die Versagensängste,<br />
gegen die Ziellosigkeit<br />
– „Sie lebte gar nicht. Sie tat<br />
nur so“ – oder gegen <strong>den</strong> Krebs<br />
wie im Fall der Pflegemutter, deren<br />
Agonie Amy miterlebt.<br />
Marlene Streeruwitz. Die Schmerzmacherin.<br />
S. Fischer. 21 Euro.<br />
Bei Altmanns:<br />
Wo die Liebe<br />
Hausverbot hat<br />
Der Buchtitel hält, was er<br />
androht: „Das Scheißleben<br />
meines Vaters, das Scheißleben<br />
meiner Mutter und meine eigene<br />
Scheißjugend“. Der mehrfach<br />
preisgekrönte Reiseschriftsteller<br />
Andreas Altmann<br />
sprach bisher sehr ungern über<br />
Herkunft, Kindheit und Jugend.<br />
Nach Lektüre dieses autobiografischen<br />
Buches weiß man, warum.<br />
„Er tauchte als Vierzigjähriger,<br />
genau in der Mitte seines<br />
Lebens, als Zombie aus dem<br />
Krieg wieder auf,“ schreibt Altmann<br />
über seinen Vater, „und<br />
führte die<br />
nächste Hälfte<br />
seines Lebens<br />
wieder<br />
Krieg. Aber<br />
diesmal diente<br />
nicht der ferne<br />
Ural als Kampfzone,<br />
sondern<br />
die Familie“.<br />
Die Mutter<br />
war dem Furor des bigotten<br />
Wüterichs und Radaukatholiken<br />
nicht gewachsen, der Sohn<br />
drückt sich in alle erreichbaren<br />
Ecken.BeiAltmannshatdieLiebe<br />
Hausverbot. Der Heimatort, das<br />
bayerische Altötting, gilt manchen<br />
als Gna<strong>den</strong>ort. Für <strong>den</strong><br />
jungen Feuerkopf Altmann war<br />
es eine Hölle.<br />
Der Kisch-Preisträger ist<br />
sprachlich auf einem Höhepunkt,<br />
selbst die schaurigsten<br />
Momente schildert er mit großer<br />
Poesie. Demütigung und<br />
Selbstironieschließeneinander<br />
nicht aus. Tief berührend ist<br />
auch das Nachwort, in welchem<br />
der Autor die mühevolle Auferstehung<br />
aus dem Hades seiner<br />
Jugend beschreibt. Fazit: Ein<br />
Buch, das einen Seite <strong>für</strong> Seite<br />
atemlos macht. FRIDO HÜTTER<br />
Andreas Altmann. Das Scheißleben<br />
meines Vaters, das Scheißleben meiner<br />
MutterundmeineeigeneScheißjugend.<br />
Piper. 19.90 Euro.
10 |LESENSART<br />
Das Wölfische<br />
im<br />
Menschen<br />
Sein monumentaler 1100-Seiter<br />
„2666“, vor zwei Jahren<br />
posthum veröffentlicht, hat Roberto<br />
Bolaño weltweit kultische<br />
Verehrung eingebracht, ähnlich<br />
wie einst Borges oder Cortázar<br />
(natürlich kein Zufall). Dass von<br />
Verlagsseite nun ein in seinem<br />
Nachlass entdecktes Frühwerk<br />
nachgereicht wird, das Bolaño<br />
selbst offenbar nie veröffentlichen<br />
wollte, nährt <strong>den</strong> Verdacht,<br />
dass sich hier jemand<br />
was vom Ruhm des 2003 verstorbenen<br />
Autors verspricht.<br />
Erleichterung: „Das Dritte<br />
Reich“, 1989 fertiggestellt, 2010<br />
in Spanien erstaufgelegt und<br />
nun von Christian Hansen hervorragend<br />
übersetzt, erweist<br />
sich als mitreißender Erstling,<br />
der etliche von<br />
Bolaños zentralen<br />
Themen<br />
anreißt: <strong>den</strong><br />
Symbolreichtum,Darlegungen<br />
des<br />
Wölfischen<br />
im Menschen,<br />
die<br />
vielfältigen<br />
Erscheinungsformen des<br />
Faschismus, die löslichen Grenzen<br />
zwischen Fiktion und Realität,<br />
Lust an düsterer Satire, das<br />
Spiel mit dem Fantastischen.<br />
Das titelgebende „Dritte<br />
Reich“ ist übrigens ein Brettspiel<br />
über <strong>den</strong> Zweiten Weltkrieg.<br />
Die Hauptfigur Udo Berger<br />
ist darin „Landesmeister“,<br />
im Spanienurlaub trägt er gegen<br />
einen Mann namens „Der Verbrannte“<br />
historische Schlachten<br />
zwischen Nazis und Alliierten<br />
neu aus. An seinen Tagebucheintragungen<br />
lässt sich<br />
verfolgen, wie das Spiel vom<br />
Brett auf das Geschehen im<br />
Urlaubsort übergreift. Faszinierend<br />
gruselig. UB<br />
Roberto Bolaño. Das Dritte Reich.<br />
Hanser. 22,60 Euro.<br />
Spione,<br />
Mörder,<br />
Fälscher<br />
Umberto Eco wagt sich in seinem<br />
neuen Roman in die verworrene<br />
Welt der Verschwörungstheorien.<br />
ZUR PERSON<br />
Umberto Eco, geboren<br />
1932 in Alessandria, Italien;<br />
Studium Philosophie<br />
und Literaturgeschichte<br />
in Turin; ab 1971 Professor<br />
<strong>für</strong> Semiotik in Bologna.<br />
1980 Debütroman „Der<br />
Name der Rose“ (1982 auf<br />
Deutsch); 1986 mit Sean<br />
Connery verfilmt.<br />
1988 „Das Foucaultsche<br />
Pendel“.<br />
2000 „Baudolino“.<br />
www.umberto-eco.de AP<br />
WALTER TITZ<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
Simone Simonini hasst bis<br />
auf gutes Essen eigentlich<br />
alles. Vor allem hasst der<br />
italienische Spion, Fälscher, Hostienhändler,<br />
Mörder und Offizier<br />
die Ju<strong>den</strong>. Simone Simonini ist<br />
der „Held“ des neuen Romans<br />
von Umberto Eco. „Der Friedhof<br />
in Prag“ ist wiederum ein lustvolles<br />
Spiel mit Genres und Zitaten.<br />
Ein spannender Schauerroman,<br />
dessen Meister im Buch freimütig<br />
genannt wer<strong>den</strong>, allen voran<br />
Alexandre Dumas (vor allem dessen<br />
„Joseph Balsamo“) und Eugène<br />
Sue („Die Geheimnisse von<br />
Paris“, „Der Ewige Jude“). Autoren,<br />
deren Fantasie auch Simonini<br />
schätzt, deren Einfällen er bei<br />
eigenen Kreationen nicht nachstehen<br />
möchte.<br />
Zentrale Schöpfung des Protagonisten,<br />
„mein Meisterwerk“,<br />
sind die berüchtigten „Protokolle<br />
der Weisen von Zion“. Jenes<br />
längst als Fälschung enttarnte<br />
„Dokument“, welches auf dem<br />
Nachtkästchen derer, die an eine<br />
jüdische Weltverschwörung<br />
glauben, nach wie vor nicht fehlt.
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
Simonini ist eine Erfindung<br />
Ecos. Die anderen schaurigen Figuren,<br />
die dieser Erfindung nicht<br />
nachstehen in Hass und Paranoia,<br />
sind historisch gesichert. Augustin<br />
Barruel etwa, der französische<br />
Jesuit, der in einem vierbändigen<br />
Werk die Französische Revolution<br />
als Werk von Freimaurern,<br />
Illuminaten und anderem<br />
gottlosen Gesindel „entlarvte“.<br />
Oder Alphonse Toussenel, obwohl<br />
Sozialist, so doch überzeugt<br />
von <strong>den</strong> Weltherrschaftsplänen<br />
des „jüdischen Finanzfeudalismus“.<br />
Oder ein gewisser Osman-<br />
Bey, der, obwohl jüdischer Herkunft,<br />
mit „Die Eroberung der<br />
Welt durch die Ju<strong>den</strong>“ im 19. Jahrhundert<br />
einen Bestseller fabrizierte.<br />
Oder Édouard Drumont,<br />
der mit der Tageszeitung<br />
„La Libre Parole“ („Das<br />
freie Wort“) schon 1892<br />
die Vorlage <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />
„Stürmer“ gründete. Sie<br />
und andere treiben in<br />
Ecos so schundig wie<br />
raffiniert angelegter Fabel<br />
ihr Unwesen. „Jedem<br />
sein eigenes Komplott“<br />
liest man einmal<br />
Von A bis Z. Palette, Panik,<br />
pappig, Pärchen,<br />
Party, Pater, Pech –<br />
das sind die Wörter,<br />
aus <strong>den</strong>en Jochen<br />
Schmidt „Geschichten<br />
aus dem Wörterbuch“<br />
schrieb. Von<br />
Line Hoven in adäquate<br />
Bilder umgesetzt.<br />
Ein Werk,<br />
verbal und optisch<br />
aus dem Geist des<br />
großen Edward<br />
Gorey. Der schlechteste<br />
Pate nicht. WT<br />
Jochen Schmidt, Line<br />
Hoven. Du<strong>den</strong>brooks. Jacoby<br />
& Stuart. 20,40 Euro<br />
in Burkhart Kroebers kongenialer<br />
Übersetzung. Ein Motto, unter<br />
dem die merkwürdigsten Fä<strong>den</strong><br />
gesponnen wer<strong>den</strong>, stets unter<br />
der Behauptung, es gelte, Gefahren<br />
abzuwehren.<br />
„Der Friedhof in Prag“ führt<br />
vor, dass die Verschwörung gegen<br />
die vermutete Verschwörung<br />
europaweit vernetzt war. Und<br />
dass noch an der Wende zum 20.<br />
Jahrhundert, zumindest in Ecos<br />
Gruselstory, „Die Endlösung“ (so<br />
ein Kapiteltitel) niemand <strong>den</strong><br />
Deutschen zutraut. In Italien<br />
wurde das Buch zwiespältig aufgenommen.<br />
Während die einen<br />
<strong>den</strong> aufklärerischen Impetus lobten,<br />
sahen andere be<strong>den</strong>kliche<br />
Klischees bestätigt. „L’Osservatore<br />
Romano“ protestierte gegen<br />
die Verunglimpfung<br />
von Katholiken, „Pagine<br />
Ebraiche“, das Magazin<br />
der italienischen Israeliten,<br />
warf dem Autor<br />
weitere Verwirrungen<br />
vor. Wie hieß es<br />
doch: „Jedem sein eigenes<br />
Komplott.“<br />
Umberto Eco. Der Friedhof<br />
in Prag. Hanser. 26,30 Euro.<br />
DIE FANTASTISCHEN |11<br />
VomFrostund<strong>den</strong><br />
WonnenderPoesie<br />
FeineReflexionen<br />
Mehrmals porträtierte Peter Schermuly (1927<br />
– 2007) <strong>den</strong> Autor. Die entstan<strong>den</strong>en Bilder<br />
sind Anlass <strong>für</strong> feine Reflexionen über Kunst<br />
allgemein, Malerei speziell. Immer wieder<br />
gelingt es dem Büchner-Preisträger, mit so<br />
präziser wie sinnlicher Sprache überraschende<br />
Perspektiven zu eröffnen. WT<br />
Martin Mosebach. Das Rot des Apfels. Klempen. 24 Euro.<br />
RasanterKlassiker<br />
Die Geschichte des Schweizers Johann August<br />
Suter, der Bankrott und Familie zurückließ<br />
und „Kaiser von Kalifornien“ wurde. Als<br />
1848 auf seinem Grund Gold gefun<strong>den</strong> wird,<br />
ist das ironischerweise sein Ende. Der 1925<br />
zuerst erschienene Text hat nichts an Tempo,<br />
Faszination, Aktualität eingebüßt. WT<br />
Blaise Cendrars. Gold. Nagel & Kimche. 19,40 Euro.<br />
ÜbunginAusgelassenheit<br />
Einen cooleren Typen als Tony Pagoda gibt es<br />
fast nicht: legt sich mit der Mafia an, singt <strong>für</strong><br />
Frank Sinatra und neigt auch ansonsten zu unglaublichen<br />
Sachen. Filmregisseur Paolo Sorrentino<br />
(„Il Divo“) gönnt sich einen ausgelassenen<br />
Roman, der gut 40 Jahre umfasst. UB<br />
Paolo Sorrentino. Ragazzi, was habe ich verpasst?<br />
Aufbau Verlag. 20,60 Euro.<br />
Manmussesdeftigmögen<br />
Gabriel, jung und lebensmüde, haut aus der<br />
Entzugsklinik ab nach Tokio und Berlin, auf<br />
der Suche nach dem Ende (oder doch nicht).<br />
DBC Pierre („Jesus von Texas“) teilt Literatur<br />
aus wie Tatzenhiebe, dazu gibt’s Rezepte wie<br />
Hirn vom Löwenäffchen mit Schimmelkäseravioli“.<br />
Delikat, wenn man’s deftiger mag. UB<br />
DBC Pierre. Das Buch Gabriel. Eichborn. 20,60 Euro.<br />
LassetalleHoffnungschmelzen<br />
Ein Gletscherforscher schlägt sich grimmig<br />
als Begleiter von dumpfen Touristen durch<br />
die dahinschmelzende Antarktis, ehe er letzte,<br />
radikale Konsequenzen zieht. Ilija Trojanows<br />
„Eis Tau“ ist ein fragiles, aber auch zorniges<br />
Klagelied, der sterben<strong>den</strong> Natur zugedacht.<br />
Traurig, wahr, ausweglos. WK<br />
Ilija Trojanow. Eis Tau. Hanser. 19,50 Euro.
12 |LESENSART<br />
Esistschwer,Guteszutun<br />
Walter Mosley, Schöpfer von Willen Easy<br />
Rawlins und Paris Minton, wagt sich in neue<br />
Gefilde: Leonid McGill ist ein schwarzer Privatdetektiv<br />
mit zweifelhafter Vergangenheit,<br />
aber guten Absichten. Dann weckt seine Suche<br />
nach vier Männern Monster auf – und die<br />
Familie macht auch noch Scherereien. MF<br />
Walter Mosley. Manhattan Karma. Suhrkamp. 10,20 Euro.<br />
HeutigerMonteChristo<br />
Natürlich muss man an <strong>den</strong> „Graf von Monte<br />
Christo“ <strong>den</strong>ken. Aber Jeffrey Archer erzählt<br />
in seinem Justizthriller die Geschichte des<br />
unschuldig verurteilten Danny so detailliert<br />
in der Psychologie, aber auch in juristischen<br />
Details, dass man trotz einiger Unglaubwürdigkeiten<br />
einfach dranbleiben muss. MF<br />
Jeffrey Archer. Das letzte Plädoyer. Scherz, 19,20 Euro.<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
EinPlädoyer<strong>für</strong><br />
spannendeStun<strong>den</strong> Dort,woGott<br />
Urlaubmacht<br />
DreiPerspektiven<br />
Unheimliche Szenen einer Ehe: Die Niederländerin<br />
Lieneke Dijkzeul erzählt aus der Perspektive<br />
des Ermittlers, des Täters und eines<br />
potenziellen Opfers eine Geschichte von<br />
Kontrolle und Kontrollverlust, von Gier, Unsicherheit<br />
und Angst. Eine Entdeckung. MF<br />
Lieneke Dijkzeul. Vor dem Regen<br />
kommt der Tod. dtv. 15,20 Euro.<br />
MisterMarloweunsererTage<br />
Mit „Gone Baby Gone“ lieferte Dennis Lehane<br />
auch die Vorlage <strong>für</strong> einen fintenreichen<br />
Leinwandthriller, nun spinnt er die Geschichte<br />
um die einstige Kindesentführung weiter.<br />
Sein Privatdetektiv Patrick Kenzie, lakonisch,<br />
zynisch, abgebrüht, erweist sich dabei echt<br />
als Mr. Marlowe unserer Tage. Genial. WK<br />
Dennis Lehane. Moonlight Mile. Ullstein. 10,60 Euro.<br />
GarnichtzumWiehern<br />
Die Autorin kommt zwar aus der (West-)Steiermark,<br />
erinnert in ihrem feinen, unaufgeregten<br />
Stil aber an die britische Krimi-Schule.<br />
Und, sehr wohltuend: Ihr Inspektor Kammerlander<br />
ist nicht so kaputt, wie das „Krimi-Bullen“<br />
üblicherweise sind. Die spannende, raffinierte<br />
Story spielt im Gestüt Piber. BM<br />
Isabella Trummer. Der Schrei des Lipizzaners. mol<strong>den</strong>. 20,20 Euro.<br />
Die Seiten seiner<br />
Krimis duften nach<br />
Foie gras und Trüffel:<br />
Martin Walkers Reihe<br />
rund um <strong>den</strong> Dorfpolizisten<br />
Bruno macht<br />
Lust auf das Pèrigord.<br />
MARIANNE FISCHER<br />
Wie das Leben so spielt:<br />
Da wartet man gerade<br />
auf ein Interview mit<br />
Präsi<strong>den</strong>t Bill Clinton, da ruft die<br />
Ehefrau an und sagt: „Egal, was<br />
du tust, lass alles liegen und steig<br />
ins Flugzeug nach Paris. Ich habe<br />
unser Traumhaus gefun<strong>den</strong>.“<br />
Martin Walker hat das Interview<br />
dann doch noch gemacht, bevor<br />
er Richtung Frankreich aufgebrochen<br />
ist – um dort im Périgord<br />
sein ganz persönliches Stückchen<br />
vom Paradies zu fin<strong>den</strong>.<br />
Und das hat der Schotte, der<br />
unter anderem Korrespon<strong>den</strong>t<br />
des britischen „Guardian“ in <strong>den</strong><br />
USA war und mittlerweile in Washington<br />
eine Denkfabrik <strong>für</strong><br />
Topmanager leitet, kurzerhand in<br />
Literatur verwandelt: Im April<br />
2009 ist der erste Krimi rund um<br />
<strong>den</strong> sympathischen Ortspolizisten<br />
Bruno Courrèges erschienen.<br />
Ein Mann, der im kleinen St. Denis<br />
die Tennis-Jugend ebenso betreut<br />
wie die Nachwuchs-Rugby-<br />
Mannschaft, der das Feuerwerk<br />
zum Nationalfeiertag organisiert<br />
und <strong>den</strong> Weihnachtsmann spielt.<br />
Und der kochen kann,<br />
dass einem beim Lesen<br />
das Wasser im Mund zusammenläuft.<br />
Ach ja,<br />
Morde klärt er auch auf.<br />
So idyllisch das<br />
Drumherum ist, so realbrutal<br />
sind die Geschichten,<br />
die oft tief in<br />
die französische Vergangenheit<br />
führen:<br />
ZUR PERSON<br />
Martin Walker, geb. 1947 in<br />
Schottland, Historiker, politischer<br />
Journalist und Autor. Leitet<br />
das „Global Business Policy-<br />
Council“, eine Denkfabrik <strong>für</strong><br />
Topmanager in Washington.<br />
Zahlreiche Sachbücher.<br />
Seit 2009 „Bruno“-Romane.<br />
Teil 1 („Bruno, Chef de police“)<br />
etwa thematisiert <strong>den</strong> Algerien-<br />
Konflikt, im dritten und bislang<br />
letzten Bruno-Roman („Schwarze<br />
Diamanten“) spielt die französische<br />
Kolonialpolitik in Vietnam<br />
eine Rolle. Dazu gibt es Gentechnologie,<br />
Ökoterrorismus und andere<br />
Grauslichkeiten. Viel sympathischer<br />
ist da schon der organisierte<br />
Widerstand gegen Brüssel<br />
mit einem Polizisten, der<br />
höchstpersönlich hilft, <strong>den</strong> selbst<br />
gemachten Käse vor <strong>den</strong> Inspektoren<br />
aus Brüssel zu verstecken.<br />
Für Bruno gibt es übrigens ein<br />
reales Vorbild: Martin Walkers<br />
Tennispartner, ebenfalls Dorfpolizist<br />
und „der Klebstoff der<br />
Stadt“, so Walker, der zwischen<br />
Washington und dem Pèrigord<br />
pendelt. Auch der Bürgermeister<br />
und der benachbarte Baron fan<strong>den</strong><br />
Eingang in die Bücher, zwischen<br />
deren Seiten es nach Trüffeln,<br />
Foie gras und frisch gekelterten<br />
Wein duftet. Der Region,<br />
die wie so viele ländliche Gegen<strong>den</strong><br />
mit Abwanderung zu kämpfen<br />
hat, haben die Bücher je<strong>den</strong>falls<br />
nicht geschadet: Touristen<br />
aus halb Europa bitten Dorfpolizisten,<br />
die Bücher zu<br />
signieren, die auch alle<br />
brav mit „Bruno“ unterschreiben.<br />
Und Reisejournalisten<br />
machen<br />
Reportagen über das Pèrigord,<br />
in dem – so sagt<br />
man – Gott Urlaub<br />
macht.<br />
Wer Martin Walker<br />
liest, glaubt das sofort.
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
Nachsteller. Nein, nicht Brus!<br />
G.R.A.M. Der Zyklus „Wiener<br />
Blut“ ist einer von vielen,<br />
in <strong>den</strong>en das österreichische<br />
Kunstkollektiv seit 1998 Bilder(n)<br />
aus Kunst und Politik<br />
nachstellt. Nun erstmals im<br />
Buch versammelt. WT<br />
G.R.A.M. Reenactments.<br />
Ediciones Polígrafa. 38,40 Euro.<br />
DIE MÖRDERISCHEN |13<br />
DasindPolizisten<br />
und Verbrecher<br />
richtig dreckig<br />
S chon die Jungpolizisten erfahren:<br />
Auf der Polizeiwache<br />
in der Pariser Vorstadt Panteuil<br />
ist es dreckig, weil „wir einen<br />
dreckigen Job machen, wir<br />
fühlen uns dadurch wie zu Hause.“<br />
Wie dreckig der Job wirklich<br />
ist, erfahren die Jungspunde<br />
noch am ersten Arbeitstag.<br />
Die neue Kollegin wird gleich<br />
einmal sexuell missbraucht, der<br />
Jungpolizist lernt sofort, dass<br />
man zugunsten einer geschönten<br />
Statistik so manches Opfer<br />
einfach wieder nach Hause<br />
schickt. Und gleich der erste<br />
Außeneinsatz<br />
geht aufgrund<br />
von<br />
Missverständnissen,Unerfahrenheit<br />
und einer<br />
or<strong>den</strong>tlichen<br />
Portion Rassismus<br />
in die<br />
Hose. Über all<br />
dem drohnt Commissaire<br />
Le Muir, die mit einer<br />
„Säuberung mit Hochdruck“<br />
die Verbrechensrate senken<br />
will, natürlich als Antrieb <strong>für</strong><br />
die eigene Karriere. Ihre Erfüllungsgehilfen<br />
gehen da<strong>für</strong><br />
buchstäblich über Leichen. Was<br />
eine aufmerksame interne Ermittlerin<br />
auf <strong>den</strong> Plan ruft.<br />
Dominique Manotti erzählt<br />
unbarmherzig von Rassismus<br />
und Gewalt, von Übergriffen<br />
und vom täglichen Wahnsinn<br />
auf der Straße. Sie zeigt die<br />
dunkle Seite der Kriminellen<br />
ebenso wie die der Polizisten –<br />
viel Unterschied ist da nicht zu<br />
erkennen: Da greifen die Rädchen<br />
der Macht ineinander,<br />
eine Hand wäscht die andere –<br />
so macht man Karriere. Das<br />
düstere Porträt einer unbarmherzigen<br />
Zeit, geradlinig erzählt.<br />
MARIANNE FISCHER<br />
Dominique Manotti. Einschlägig<br />
bekannt. Argument-Verlag. 12,90 Euro.
14 |DIE HÖRBÜCHER<br />
Hörbücher: Wenn<br />
die Augen<br />
Ohren machen FOTOLIA<br />
LangsameLiebe<br />
Reifer Intellektueller<br />
trifft<br />
junge Frau in<br />
alpiner Umgebung.Langsam<br />
und subtil,<br />
vom Autor äußerst gemächlich<br />
gelesen, entsteht eine Beziehung.<br />
Dieser Roman ist das<br />
Gegenteil eines Thrillers.<br />
Hanns-Josef Ortheil. Liebesnähe.<br />
Hörverlag. 6CDs.<br />
MördersBeichte<br />
Dank einer<br />
Beichte könnte<br />
ein Priester<br />
einen Unschuldigen<br />
vor<br />
der Todesstrafe<br />
retten, weil sich ihm der wahre<br />
Täter nach Jahren anvertraut.<br />
Spannend und im Lichte der<br />
jüngsten Hinrichtung brandaktuell.<br />
Ein echter Grisham halt.<br />
John Grisham, Das Geständnis, RandomHouse<br />
Audio, 6 CDs<br />
MordmitTotenvogel<br />
Wirklich gelungenedeutsche<br />
Thriller<br />
sind so häufig<br />
wie Sandstürme<br />
in der Arktis.<br />
Hier tobt einer: Der Autor<br />
Max Bentow (45) war bisher an<br />
diversen Theatern als Dramaturg<br />
und Schauspieler tätig.<br />
„Der Federmann“ ist sein erster<br />
Roman. Und was <strong>für</strong> einer! Ein<br />
umherirrender Dompfaff kündigt<br />
<strong>den</strong> meist noch ahnungslosenOpfern(immerweiblichmit<br />
blondem Langhaar) ihr schauerliches<br />
Ende an. Sie alle wer<strong>den</strong><br />
mit leeren Augenhöhlen<br />
und ohne Kopfhaar aufgefun<strong>den</strong>.<br />
Slasher dieser Art kommen<br />
ja in vielen Romanen vor, Bentow<br />
aber baut seine Handlung<br />
so voltenreich, dass man fast an<br />
Thomas Harris’ „Schweigen der<br />
Lämmer“ erinnert wird. Axel<br />
Milberg liest kongenial.<br />
Max Bentow. Der Federmann.<br />
Hörverlag. 7CDs.<br />
Wirbittendich,<br />
erhöreuns<br />
IrischeSelbstfindung<br />
Ein echter Krimi<br />
wird es erst<br />
gegen Schluss:<br />
Marcy Taggart<br />
tritt jene Irlandreise<br />
an,<br />
dieeigentlichihrem20-jährigen<br />
Ehejubiläum gewidmet war.<br />
Doch ihr Mann hat sich einer<br />
anderen zugewandt, spätestens<br />
nach dem offenkundigen<br />
Selbstmord ihrer schwierigen<br />
Tochter Devon hatte die Beziehung<br />
zu bröseln begonnen.<br />
Marcy war nie wirklich vom<br />
Tod Devons überzeugt gewesen.<br />
Als sie sie in Dublin von der<br />
Ferne zu erkennen glaubt, beginnt<br />
eine ebenso verzweifelte<br />
wie abwechslungsreiche Suche,<br />
bei der Marcy neben ein paar attraktiven<br />
Männern am Ende vor<br />
allem sich selbst findet. Ziemlich<br />
gut geschrieben von Joy<br />
Fielding, wie immer genial gelesen<br />
von Hansi Jochmann.<br />
Joy Fielding. Herzstoß.<br />
Hörverlag. 6CDs.<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
Deutsche Thriller, finnischer<br />
Humor und eine bewegende<br />
Story <strong>für</strong> jedes Alter.<br />
Siobhan Dowd war eine britische<br />
Schriftstellerhoffnung, ehe sie<br />
ein früher Krebstod mit<br />
sich nahm. Patrick Ness,<br />
Literaturkritiker und<br />
Schriftstellerkollege,<br />
nahm die letzte Idee<br />
Dowds auf und thematisierte<br />
ihr Lei<strong>den</strong> und<br />
Sterben aus der Sicht ihres<br />
(imaginären) kleinen<br />
Sohnes. Dem helfen seine<br />
Intelligenz und vor allem<br />
ein sehr reales Monster dabei,<br />
das fehlende Happy End<br />
der Geschichte zu bewältigen.<br />
Ein wunderbares All-Age-Buch (ab<br />
etwa zwölf Jahren), von Maria Furtwängler<br />
großartig eingelesen.<br />
Patrick Ness/Siobhan Dowd. Sieben Minuten<br />
nach Mitternacht, Hörverlag, 4 CDs<br />
KöstlicheDetektivin<br />
Es muss nicht<br />
immer blutig<br />
sein: Die Lottogewinner<br />
Alvirah und<br />
Willy Meehan<br />
könnten sich zur Ruhe setzen.<br />
Stattdessen löst Alvirah, eine<br />
Inkarnation von Miss Marple,<br />
einen Fall nach dem anderen.<br />
Mary Higgins Clarke. Krimibox.<br />
Hörverlag. 4 CDs.<br />
EinEngelimPech<br />
Schutzengel<br />
Alo hat erst<br />
die Grundausbildung<br />
hinter<br />
sich. Da soll er<br />
einen reichen,<br />
aber gefährdeten Mann unter<br />
seine Fittiche nehmen. Und<br />
schon geht eine Menge schief.<br />
Witziges aus Finnland, gelesen<br />
von Jürgen von der Lippe.<br />
Arto Paasilinna. Schutzengel mit<br />
ohne Flügel. Lübbe Audio. 4 CDs.
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
FürVampirfans<br />
Möpsi, der<br />
Werwolf, ist zu<br />
seinem geliebten<br />
Opa Vlad,<br />
zurückgekehrt.<br />
Der zänkischen<br />
Frau<br />
Helsinger passen<br />
die Wurdelaks<br />
ohnehin nicht. Jetzt auch<br />
das noch. Verbittert sinnt sie auf<br />
Rache. Witzige Comics erzählen<br />
zwischen <strong>den</strong> Kapiteln die<br />
Handlung weiter! Ab 9 J.<br />
Christoph Mauz. Die Wurdelaks – Frau<br />
Helsingers Rache. G & G Verlag. 8,95 Euro.<br />
Zauberhaft&<br />
fantasievoll<br />
„Warum der Schnee weiß ist“ regt<br />
zum Nach<strong>den</strong>ken und Staunen an.<br />
Ja warum ist der Schnee <strong>den</strong>n<br />
eigentlich wirklich weiß?<br />
Hatte er vielleicht einmal<br />
eine andere Farbe? In dieser<br />
Geschichte schon. Denn irgendwann<br />
war der Schnee vollkommen<br />
farblos und durchsichtig.<br />
Und er sehnte sich danach, eine<br />
eigene Farbe zu haben.<br />
Also machte sich der Schnee<br />
auf die Suche und besuchte die<br />
Blumen, die roten Rosen, die<br />
gelben Sonnenblumen. Doch<br />
keine Blume wollte mit dem<br />
Schnee die Farbe teilen – außer<br />
DerandereAtlas<br />
Berge, Flüsse,<br />
Seen, Burgen<br />
und Schlösser:<br />
Was Österreich<br />
alles zu<br />
bieten hat,<br />
zeigt dieser<br />
neue Atlas,<br />
speziell <strong>für</strong><br />
Kinder. Aufgegliedert nach <strong>den</strong><br />
neun Bundesländern, und dazu<br />
gibt es jeweils eine große, übersichtliche<br />
Karte. Zum Vorlesen<br />
und Selberlesen. Ab 8 J.<br />
Susa Hämmerle. Der neue Österreich-<br />
Atlas <strong>für</strong> Kinder, G&G Verlag. 18 Euro.<br />
Geschwisterliebe<br />
Schon einmal<br />
gehört? Meine<br />
große Schwester<br />
ist blöd,<br />
mein kleiner<br />
Bruder auch.<br />
Und meine<br />
Eltern wollen<br />
mir einfach<br />
keinen Hund kaufen! Was man<br />
da alles durchmachen muss . . .<br />
Statt eines Hundes haben wir<br />
ein blödes neues Kind bekommen.<br />
Einfach herrlich! Ab 10 J.<br />
Elfriede Hammerl. Meine Schwester<br />
ist blöd. Ueberreuter. 15,95 Euro.<br />
das Schneeglöckchen. Aber wie<br />
würde die Welt im Winter aussehen,<br />
wenn der Schnee seine<br />
Farbe vom violetten Veilchen<br />
bekommen hätte? Nicht nur die<br />
Geschichte selbst regt Kinder<br />
an, über Farben und ihre Wirkung<br />
nachzu<strong>den</strong>ken. Es sind<br />
auch die Illustrationen von Silke<br />
Leffler, die <strong>den</strong> aufgeweckten<br />
Augen der Kinder eine wunderbare<br />
Welt zum Entdecken eröffnen.<br />
Ab 4J. P. PRASCSAICS<br />
Heinz Janisch. Warum der Schnee<br />
weiß ist. Betz. 12,95 Euro.<br />
Einfühlsam<br />
Finis Omi hat<br />
sich verändert.<br />
Früher<br />
hat sie über Finis<br />
Haar gelästert<br />
und mit<br />
ihr im Park die<br />
Enten gefüttert.<br />
Jetzt bewundert<br />
sie Finis Frisur und isst<br />
die harten Brotkrümel selbst.<br />
Ein einfühlsames Bilderbuch,<br />
das Kindern das Phänomen der<br />
Demenz näherbringt. Ab 5 J.<br />
Elisabeth Steinkellner. Die neue Omi.<br />
Jungbrunnen-Verlag. 13,90 Euro.<br />
DIE KINDERBÜCHER |15<br />
Diebischspannend<br />
Spätestens seit<br />
„Nachts im<br />
Museum“ wissen<br />
wir, dass<br />
es dort auch<br />
ganz schön unheimlich<br />
sein<br />
kann. Sarahs<br />
Vater arbeitet<br />
im Wiener Naturhistorischen<br />
Museum. Eines Tages bekommt<br />
Sarah geheimnisvolle Rätselaufgaben.<br />
Spannend bis zur<br />
letzten Zeile. Ab 10 J.<br />
Jonas Krüger. Drei <strong>für</strong>s Museum: Die<br />
Nacht der Rätsel. Ueberreuter. 12,95.<br />
Wissen&Comic<br />
Die Hexe<br />
Adelmut und<br />
ihr Besen Bo<br />
sind unzertrennlich.<br />
Eines Tages jedoch<br />
wird Bo<br />
krank – Besenschuppenkrätze.<br />
Wissen über Hexen wird<br />
nicht nur über eine Geschichte,<br />
sondern auch über Rätsel und<br />
ein Comic vermittelt. Ab 8 J.<br />
Andrea Dölling. Willst du es wissen?<br />
Ein Sach-Comic-Lesebuch über Hexen.<br />
G & G Verlag. 9,95 Euro.<br />
VonderTiefseeinsAll<br />
Angefangen<br />
bei Pytheas<br />
dem Griechen,<br />
der 340 vor<br />
Christus ohne<br />
Kompass zum<br />
Polarkreis<br />
segelte, bis zur<br />
Apollo-11-Mission,<br />
die 1969 auf dem Mond<br />
landete: Stewart Ross und Stephen<br />
Biesty machten sich auf<br />
die Spur der wagemutigsten<br />
Entdeckungsreisen<strong>den</strong> Ab 8 J.<br />
Stewart Ross/Stephen Biesty. Große<br />
Entdecker. Gerstenberg. 19,95 Euro.<br />
MagischerTausch<br />
Drachenkrieg<br />
in Athranor:<br />
Im Körper<br />
seines<br />
Ork-Freundes<br />
Rhomroor<br />
begegnet der<br />
junge Prinz<br />
Candric einer<br />
Horde uralter, riesenhafter<br />
Drachen, die ganz Athranor<br />
bedroht. Ein magisches<br />
Abenteuer <strong>für</strong> Drachenfans<br />
ab 10 Jahren.<br />
Alfred Bekker. Die Drachen-Attacke:<br />
Die wil<strong>den</strong> Orks. Ueberreuter. 9,95 Euro.
16 |LESENSART<br />
Der Staat,<br />
<strong>den</strong> keiner<br />
wollte<br />
Der 1. Weltkrieg und seine<br />
Folgen ist auch in Graz ein<br />
Thema. Rund um <strong>den</strong> Zeitgeschichtler<br />
Helmut Konrad wurde<br />
ein Nationales Forschungsnetzwerk<br />
zum Thema Erster<br />
Weltkrieg angestrebt. Das<br />
konnte zwar nicht verwirklicht<br />
wer<strong>den</strong>, <strong>den</strong>noch liegen Beiträge<br />
vor. Aus dem Jahr 2008<br />
stammt die Publikation „Das<br />
Wer<strong>den</strong> der Ersten Republik:<br />
Der Rest ist Österreich“, herausgegeben<br />
von Konrad und<br />
seinem Kollegen Wolfgang Maderthaner.<br />
Mehr als 30 Autoren<br />
widmen sich <strong>den</strong> Ereignissen<br />
des traumatischen Weltkrieges,<br />
<strong>den</strong> Problemen mit der Grenzziehung<br />
und der Anschlussbestrebungen.<br />
Wie sich dieses<br />
Restösterreich<br />
(nicht) behauptenkonnte,<br />
wird von<br />
verschie<strong>den</strong>stenBlickwinkelnbetrachtet.<br />
Das Zitat<br />
„der Rest ist<br />
Österreich“<br />
stammt übrigens<br />
von Georges Clemenceau,<br />
französischer Premierminister.<br />
Im selben Jahr erschien auch<br />
„Österreich, 90 Jahre Republik“,<br />
herausgegeben von Stefan Karner,<br />
Leiter des Ludwig-Boltzmann-Institutes<br />
<strong>für</strong> Kriegsfolgenforschung,<br />
und Lorenz Mikoletzky,<br />
Leiter des Österreichischen<br />
Staatsarchivs. Der<br />
Sammelband beschäftigt sich<br />
vor allem mit dem „Staat, <strong>den</strong><br />
keiner wollte.“<br />
NORBERT SWOBODA<br />
Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner.<br />
Das Wer<strong>den</strong> der Ersten Republik: Der Rest ist<br />
Österreich. Carl Gerold’s Sohn. 2 Bände.<br />
Stefan Karner und Lorenz<br />
Mikoletzky (Hg). Österreich.<br />
90 Jahre Republik. Studienverlag.<br />
DerKrieg<br />
vonganz<br />
unten<br />
Briefe aus dem Schützengraben:<br />
Peter Englunds berührendes Epos<br />
über <strong>den</strong> Ersten Weltkrieg.<br />
ZUR PERSON<br />
Peter Englund wurde 1957<br />
in Nordschwe<strong>den</strong> geboren.<br />
Er studierte Geschichte<br />
und Philosophie, war<br />
Kriegsreporter auf dem<br />
Balkan und im Irak. Dann<br />
lehrte er Geschichte an<br />
der Universität von Uppsala<br />
und Narratologie in<br />
Stockholm. Sein prämiertes<br />
Weltkriegsepos<br />
„Schönheit und Schrecken“<br />
wurde in mehr als<br />
zehn Sprachen übersetzt.<br />
ERNST SITTINGER<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
Bisher neun Tote. Sonst alles<br />
gut.“ Lakonisch und<br />
schicksalsergeben berichtet<br />
ein russischer Soldat im August<br />
1916 über die blutige Brussilow-Offensive<br />
in Galizien. Der<br />
22-jährige Offizier Andrej Lobanov-Rostovskij<br />
schreibt zur selben<br />
Zeit in sein Tagebuch: „Meine<br />
Soldaten sehen mich, ich muss<br />
also meine Angst verbergen.“<br />
Von Angst, Ungewissheit, Verwirrung,<br />
Schmerz und Verlust ist<br />
viel die Rede in Peter Englunds<br />
Buch „Schönheit und Schrecken“.<br />
Der schwedische Autor<br />
und Geschichteprofessor hat authentische<br />
Quellen von 19 Teilnehmern<br />
des Ersten Weltkriegs<br />
zusammengetragen – Tagebücher,<br />
Briefe, Aufzeichnungen.<br />
Aus diesem Stoff rekonstruiert er<br />
ein berührendes Geschichtsepos,<br />
das uns das Kriegsgeschehen in<br />
bisher nicht überlieferter Form<br />
nahebringt. Nicht Politik und<br />
Strategie stehen im Fokus, sondern<br />
einzelne Betroffene und<br />
ihre meist armselige Existenz in<br />
dieser Zeit.
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
Dass er furchtbar war, der<br />
Krieg, braucht nicht betont zu<br />
wer<strong>den</strong>. Doch Englund beschreibt<br />
auch <strong>den</strong> Jubel zu Beginn,<br />
als viele Soldaten zuversichtlich<br />
in das große Abschlachten<br />
zogen. Der 20 Jahre alte Artillerist<br />
Herbert Sulzbach notiert<br />
am 2. September 1914 in sein Tagebuch:<br />
„Wir gehören zu <strong>den</strong> ersten<br />
Freiwilligen, die schon an die<br />
Front kommen. ..Eine eigenartige<br />
Stimmung überkam mich, zusammengesetzt<br />
aus Glück, Erhebung,<br />
Stolz und dem Bewusstsein<br />
der Größe dieser Stunde.“<br />
Erst schrittweise macht sich<br />
Ernüchterung breit, als sich die<br />
Lazarette und Friedhöfe füllen.<br />
Mit Schaudern erfährt der Leser<br />
von <strong>den</strong> Zustän<strong>den</strong> in <strong>den</strong> Schützengräben,<br />
wo man <strong>den</strong><br />
Todeszeitpunkt von Leichen<br />
daran maß, wie<br />
weit der tote Körper<br />
schon von Ratten zerfressen<br />
war. Wo man Tabak<br />
rauchte, um nicht<br />
vor Hunger wahnsinnig<br />
zu wer<strong>den</strong>. Es geht<br />
nicht mehr um Ehre<br />
und Vaterland, son-<br />
Farbenlehre. In einem<br />
japanischen Hotel:<br />
Paul McCartney, John<br />
Lennon und George<br />
Harrison greifen zu<br />
<strong>den</strong> Farben – und beginnenselbstversunken<br />
zu malen. Der Fotograf<br />
Roger Whitaker<br />
hat die Beatles auf<br />
ihrer letzten Tournee<br />
1966 begleitet. Der<br />
üppigeBildbandzeigt<br />
die „Fab Four“ am<br />
Scheideweg ihrer<br />
Karriere. BM<br />
The Beatles: Eight Days A<br />
Week. Schwarzkopf&Schwarzkopf.<br />
50 Euro.<br />
dern um Granateneinschläge, abgeschossene<br />
Piloten, zum Scheitern<br />
verurteilte Kamera<strong>den</strong>bergungen.<br />
Der zuvor oft langweilige<br />
Kriegsalltag verwandelt sich<br />
gegen Ende des Buches in ein irrationales<br />
Kaleidoskop aus Operationssälen,Or<strong>den</strong>sverleihungen,<br />
Durchhaltebefehlen. Als in<br />
Ungarn 1918 die Zensur löchrig<br />
wird, steht in der <strong>Zeitung</strong>: „Das<br />
Blutvergießen <strong>für</strong> fremde Mächte<br />
in frem<strong>den</strong> Ländern muss ein<br />
Ende haben!“ Reaktion des Divisionskommandeurs:<br />
Er lässt die<br />
Post durchsuchen und <strong>Zeitung</strong>en<br />
konfiszieren.<br />
Von <strong>den</strong> 19 Protagonisten des<br />
Buches fallen zwei, zwei kommen<br />
in Gefangenschaft, zwei<br />
wer<strong>den</strong> als Hel<strong>den</strong> gefeiert, zwei<br />
en<strong>den</strong> als körperliche<br />
Wracks. Allen aber, so<br />
schreibt der Autor, hat<br />
der Krieg Entschei<strong>den</strong>des<br />
geraubt: ihre Jugend,<br />
ihre Illusionen,<br />
ihre Hoffnung und ihre<br />
Mitmenschlichkeit.<br />
Peter Englund. Schönheit und<br />
Schrecken. Rowohlt. 35,20 Euro.<br />
DIE SACHLICHEN |17<br />
DiegroßeWeltund<br />
jenevorderHaustür<br />
Männerkönnensprechen<br />
Zwei Männer um die vierzig – einer seit 17<br />
Jahren verheiratet, der andere Single – unterhalten<br />
sich via E-Mail über Grundfragen des<br />
Lebens. Themen wie Liebe, Sex, Eitelkeit,<br />
Einsamkeit, Untreue, Pornografie wer<strong>den</strong> offen<br />
abgehandelt und bissig kommentiert.<br />
Maxim Leo, Jochen-Martin Gutsch. Sprechende<br />
Männer. Blessing Verlag. Euro 18,50.<br />
DasalteundneueArabien<br />
Auf der einen Seite das alte Arabien, das in<br />
„Arabellionen“ um Freiheit und Wohlstand<br />
kämpft; auf der anderen Seite das neue Arabien<br />
der Golfstaaten, das seit Langem einen ganz anderen<br />
Weg geht. Der renommierte Islamwissenschafter<br />
liefert einmal mehr eine kritische,<br />
profunde Analyse zum Weltgeschehen ab. BM<br />
Rainer Hermann. Die Golfstaaten. dtv premium. 15,20 Euro.<br />
Bitteunbedingtlächeln!<br />
Wer vom Dalai Lama zum „Tratscherl“ eingela<strong>den</strong><br />
wird, kann keine Schlechte sein. Das<br />
Thema ist nicht neu (Stichwort „Don’t Worry,<br />
Be Happy“), aber die Psychologin belegt anhand<br />
von Untersuchungen und Studien, wie<br />
nachhaltig sich emotionaler Positivismus auf<br />
das Alltagsleben auswirkt. BM<br />
Barbara Fredrickson. Die Macht der guten Gefühle. campus. 23.20 Euro.<br />
DerAusstieginsguteLeben<br />
Nur ein Beispiel von vielen: Brauchen wir tatsächlich<br />
acht verschie<strong>den</strong>e Sorten Butter und<br />
fünf Anbieter von einfachem Ketchup? Peter<br />
Plöger hält ein hochinteressantes, hoch motiviertes<br />
Plädoyer <strong>für</strong> ein einfaches, gutes Leben.<br />
Und zeigt auf, dass immer mehr Menschen<br />
danach suchen. Und es auch fin<strong>den</strong>. BM<br />
Peter Plöger. Einfach ein gutes Leben. Hanser. 14,30 Euro.<br />
WeristGott–undwarum?<br />
Gott bzw. die Diskussion darüber, ob er existiert,<br />
ist beliebtes Thema zahlreicher Publikationen.<br />
Der irische Evolutionspsychologe<br />
Jesse Bering geht auf erfrischend freche<br />
Weise der Frage nach, ob es so etwas wie<br />
einen „Glaubensinstinkt“ der Menschen gibt.<br />
Fundierte Kost, spannend zu lesen. BM<br />
Jesse Bering. Die Erfindung Gottes. Piper. 20,20 Euro.