Buchtipps für den Herbst - Kleine Zeitung
Buchtipps für den Herbst - Kleine Zeitung
Buchtipps für den Herbst - Kleine Zeitung
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
4|LESENSART<br />
DasErzählenist<br />
einwilderStrom<br />
<strong>Kleine</strong>Story,aberganzgroß<br />
Mit „Her<strong>den</strong>tiere“ bewies Josh Weil, dass er<br />
eine edle Gabe <strong>für</strong> tragikomische, berührende<br />
Prosa-Miniaturen hat. In seiner jüngsten<br />
Story stiehlt ein aufs Abstellgleis geschobener<br />
Farm-Arbeiter einen Uralt-Traktor, um<br />
ihn seiner Tochter zu schenken. Simpel<br />
gestrickt? Gut Leseding braucht Weil. WK<br />
Josh Weil. Das neue Tal. Dumont. 19 Euro.<br />
EchtwildwarderWesten<br />
Mit „God’s Pocket“ und „Paris Trout“ hat<br />
Dexter zwei herausragende, stahlharte Romane<br />
vorgelegt, jetzt wagt er sich auf historisches<br />
Terrain und schildert <strong>den</strong> Wil<strong>den</strong> Westen<br />
so, wie er wirklich war: schmutzig, hart,<br />
tödlich. Eine stilsichere Tour de Force durch<br />
ein Stück amerikanische Geschichte. BM<br />
Peter Dexter. Deadwood. Liebeskind. 22,30 Euro.<br />
GefährlicheSümpfe<br />
Wenn Adams über politische Verfilzungen<br />
schreibt, ist sie in ihrem Metier, war sie doch<br />
lange Zeit vielfach ausgezeichnete Journalistin<br />
bei der „Washington Post“. In ihrem Roman<br />
geht es ebenfalls um Polit-Sümpfe, deren<br />
Trockenlegung mitunter lebensgefährlich ist.<br />
Rasant, spannend, kenntnisreich. BM<br />
Lorraine Adams. Crash. Arche. 20,20 Euro.<br />
DasEndeistderAnfang<br />
Der erste Roman des Amerikaners – und gleich<br />
(völlig zu Recht) mit dem Pulitzerpreis auszeichnet.<br />
In karger, unprätentiöser Sprache<br />
erzählt Harding die Geschichte von George<br />
Washington Crosby, der an seinen letzten<br />
Lebenstagen seine Kindheit in Neuengland<br />
Revue passieren lässt. Berührend schön! BM<br />
Paul Harding. Tinkers. Luchterhand. 20,20 Euro.<br />
BritischesAugenzwinkern<br />
Das Cover passt gut: Mit diesen vier Kurzgeschichten<br />
trifft Nick Hornby, einst als Pop-<br />
Literat postuliert, mitten ins Schwarze bzw.<br />
Rote. Der Brite geht wie gewohnt mit einem<br />
lässigen Augenzwinkern mit <strong>den</strong> Schrulligkeiten<br />
seiner Figuren um. Merke: Das Leben ist<br />
unberechenbar wie das englische Wetter. BM<br />
Nick Hornby. Small Country. Kiepenheuer&Witch. 17,20 Euro.<br />
KLEINE ZEITUNG<br />
SONNTAG, 2. OKTOBER 2011<br />
DerAbstand<br />
zumAnstand<br />
Mit typisch britischer<br />
Eleganz geht Nicholas<br />
Shakespeare in seinem<br />
neuen Roman „Die<br />
Erbschaft“ der Frage<br />
nach, was mehr zählt:<br />
Geld oder Gewissen?<br />
BERND MELICHAR<br />
Stellen Sie sich vor, Sie gelangen<br />
durch einen unglaublichen<br />
Zufall in <strong>den</strong><br />
Besitz von rund 20 Millionen<br />
Euro. Rechtlich gesehen steht Ihnen<br />
das Geld zu, ein moralisches<br />
Anrecht haben Sie darauf allerdings<br />
nicht. Was tun Sie? Haben<br />
Sie <strong>den</strong> Anstand, die Hintergründe<br />
dieser dubiosen Erbschaft aufzuklären?<br />
Oder halten Sie <strong>den</strong><br />
Anstand auf möglichst großen<br />
Abstand und führen mit <strong>den</strong> Millionen<br />
ein schönes, vermeintlich<br />
sorgenfreies Leben?<br />
Genau dieser Frage geht der<br />
große Stilist und gnädige Moralist<br />
Nicholas Shakespeare in seinem<br />
neuen Roman nach. Andy<br />
Larkham, ein kleiner Verlagsangestellter<br />
in London, der recht<br />
patschert durchs Leben driftet,<br />
landet bei der falschen Beerdigung<br />
und gelangt durch einen<br />
schlichten Eintrag ins Kondolenzbuch<br />
zu einem ungeheuren<br />
Vermögen. Nach anfänglicher<br />
Euphorie beginnt Larkhams Gewissen<br />
lästige Fragen zu stellen.<br />
Woher stammt dieses Geld, was<br />
klebt daran? Aber vor allem:<br />
Wer war der<br />
Mensch, dem ich es verdanke?<br />
Nicholas Shakespeare,<br />
bekannt gewor<strong>den</strong><br />
durch <strong>den</strong> Roman<br />
„Der Obrist und die<br />
Tänzerin“ (verfilmt<br />
mit John Malkovich)<br />
und seine schwerge-<br />
ZUR PERSON<br />
Nicholas Shakespeare, geboren<br />
1957 in England, verbrachte als<br />
Diplomatensohn viele Jahre in<br />
Asien und Lateinamerika. Journalist<br />
u. a. bei der „Times“, bevor<br />
er Literat wurde. Bekannt wurde<br />
Shakespeare auch durch seine<br />
Biografie über Bruce Chatwin.<br />
wichtige Biografie über Bruce<br />
Chatwin, ist ein begnadeter Stilist,<br />
der mit der feinen Klinge große<br />
Operationen am offenen Herzen<br />
der Menschen durchführt. In<br />
typisch angelsächsischer Tradition<br />
verbindet er das klassische<br />
Story-Telling mit einem sozialhistorischen<br />
Überbau. Ein unaufgeregter<br />
Geschichten-Maurer,<br />
der mit großer Präzision Ziegelstein<br />
auf Ziegelstein legt; der<br />
aber genau weiß, dass auch das<br />
solideste Gebäude einsturzgefährdet<br />
ist, wenn das Fundament<br />
auf schwachem Material ruht.<br />
Der Abstand zum Anstand, <strong>den</strong><br />
Andy Larkham anfangs einhält,<br />
schwindet zusehends, und in einem<br />
raffinierten, doppelbödigen<br />
Vexierspiel beginnen sich die<br />
bei<strong>den</strong> Biografien – jene des Erblassers<br />
und jene des Erben – zu<br />
vermischen. Die Suche nach der<br />
Quelle seines Reichtums führt<br />
Andy Larkham bis in die Abgründe<br />
des Völkermordes an <strong>den</strong> Armeniern<br />
zu Beginn des vorigen<br />
Jahrhunderts, und die abenteuerliche<br />
Reise endet schließlich<br />
dort, wo alle Irrfahrten en<strong>den</strong>: bei<br />
sich selbst.<br />
Die Moral der Geschichte?<br />
Geld allein<br />
macht weder glücklich<br />
noch unglücklich. Es<br />
spiegelt aber gut <strong>den</strong> Anstand<br />
eines Menschen<br />
wieder. Oder <strong>den</strong> Abstand<br />
davon.<br />
Nicholas Shakespeare.<br />
Die Erbschaft. rowohlt. 20,20 Euro.