Hanna Brinkmann
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Malerische Blickpunkte – ein Ratespiel<br />
Rudolf Schlichter<br />
Kornbühl bei Salmendingen, 1933<br />
Kornbühl bei Salmendingen, Öl auf Leinwand, 56,6 x 79 cm<br />
Rudolf Schlichter (1890–1955) war in den 1920er Jahren in<br />
Karlsruhe und Berlin einer der wichtigsten Vertreter der<br />
Neuen Sachlichkeit. In seinen schonungslos wirklichkeitsgetreuen<br />
gesellschaftskritischen Darstellungen des Großstadtlebens<br />
stand der Mensch im Mittelpunkt seiner Kunst.<br />
Gegen Ende der 1920er Jahre vollzieht er eine innere Wandlung<br />
und verlässt den bisher eingeschlagenen Weg. 1932<br />
übersiedelt er zusammen mit seiner Frau aus der Großstadt<br />
Berlin nach Rottenburg a.N. Das Gemälde »Der Kornbühl<br />
bei Salmendingen« aus dem Jahr 1933 gehört zu einer<br />
ganzen Gruppe von Alb-Landschaften, die zu Anfang<br />
der 1930er Jahre in einer eigentümlich altmeisterlichen Malweise<br />
entstehen. In der Frankfurter Zeitung publiziert<br />
Schlichter 1942 einen Artikel »Juratäler«, in dem er auch in<br />
Worten formuliert, was ihn an der Alblandschaft so fesselt,<br />
die ihm zu einer Quelle seelischer Regeneration wird: »Seit<br />
ich es zum ersten Male sah, hatte dieses Gebirge mein<br />
Denken und Sinnen beschäftigt, meine Phantasie in exotische<br />
Fernen entführt. Wie oft hatte mein Herz Trost gesucht<br />
im Anblick der schimmernden Konturen, die in melodiöser<br />
Schwingung sich rings unter der großen Himmelskuppel<br />
ins Unendliche zu verlieren schienen.«<br />
(Frankfurter Zeitung, 86. Jg., Nr. 192, 16.4.1942, aus: Rudolf<br />
Schlichter, Juratäler, in: Verteidigung des Panoptikums. Autobiographische,<br />
zeit- und kunstkritische Schriften sowie<br />
Briefe 1930–1955. Hrsg. von Dirk Heißerer, Essay von Günter<br />
Metken, Berlin 1995, 79–92, hier S. 79, 89, 90 und 79).<br />
Schlichter beginnt sein Bild vor den eigenen Füßen, am<br />
Rand eines Feldes, wo er fast emblematisch zwei Silberdisteln<br />
auf einem Grasstreifen aufleuchten lässt. Er kann sich<br />
der Farben- und Strukturvielfalt in den Feldern, deren graphische<br />
Wirkung damals wie heute besticht, nicht entziehen.<br />
In seinem Essay »Juratäler« beschreibt er selbst »das<br />
tanzende Gewirke der Felder« und spricht von den Fußpfa-<br />
18<br />
den und Feldwegen, die die bewegte<br />
Fläche nach allen Richtungen<br />
durchschnitten: »reizvoll, wie zarte<br />
Ornamente schmückten sie den Leib<br />
der Erde mit ihren Bändern, fügten<br />
sich kosend jeder Krümmung, jeder<br />
Hebung und Senkung des Bodens.«<br />
Symbolhaft in die Symmetrieachse<br />
des Bildes gesetzt und bekrönt von<br />
der weißen Kapelle und den drei<br />
Kreuzen, erhebt sich der Kapellenberg<br />
im Gemälde mächtig vor dem<br />
Himmel. Neben dem distanzierenden<br />
Blick der Romantik wird Schlichter<br />
die japanische Kunst zum wichtigsten<br />
gestalterischen Ideal: »Ich<br />
hatte mir in den Kopf gesetzt, die<br />
Klarheit, Einfachheit und Präzision<br />
der Japaner zu erreichen. Hierin war<br />
Hokusai, dessen Biographie ich bei<br />
mir führte, der geeignetste Lehrmeister.«<br />
(zitiert nach Andreas Kühne in:<br />
Götz Adriani (Hg.), Rudolf Schlichter.<br />
Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen,<br />
München 1997, S. 297)<br />
Erhaben wie der Fuji auf vielen japanischen<br />
Holzschnitten, markiert der<br />
Kornbühl bei Schlichter fast eine Art<br />
Jenseits, zu dem kein sichtbarer Weg hinaufführt. Sein »heiliger«<br />
Berg ist jedoch eine Art Jenseits im Diesseits. Er sucht<br />
die Felder menschlicher Arbeit mit dem Kapellenberg farblich<br />
zusammenzuschließen, führt Linien nach oben in Richtung<br />
Kapelle.<br />
Schlichters literarische Beschreibung seiner inneren Erlebnisse<br />
beim Sehen des Kornbühl bestätigt die religiöse Dimension<br />
seines Gemäldes, zumal er sich 1927 wieder neu<br />
dem Katholizismus zugewandt hatte. Allerdings bewahrt er<br />
sich in seiner Malerei die Kühle der neusachlichen Sichtweise,<br />
setzt genaue Naturbeobachtung ganz bewusst gegen<br />
expressionistische Landschaftsauffassungen. Seine Liebe<br />
gilt den geologischen Oberflächen, der »Haut« der Landschaft.<br />
»Entzückt ruht das Auge auf der klar gegliederten<br />
Vielgestalt dieses schönen Erdenleibes«, schreibt er in seinem<br />
Artikel. Es ist das Verdienst der Romantiker, gerade<br />
die Kluft zwischen dem modernen Menschen und der Natur<br />
aufzudecken, Natur als Ort der Sehnsucht nach dem<br />
verlorenen Paradies zu formulieren. In der Kühle der graphischen<br />
Grundhaltung erweist sich Schlichter als moderner<br />
Romantiker, dem die Schwäbische Alb zum Ort der Sehnsucht<br />
nach dem eigenen Ursprung geworden ist: »Mir war,<br />
als ob eine lange gesuchte Heimat aus unendlicher Ferne<br />
mich rief, zurückzukehren in ihren Schoß, dem ich einst<br />
entsprossen.« Dr. Veronika Mertens<br />
Unsere Frage: Welchen Standort wählte der Künstler für sein Bild?<br />
Schicken Sie uns Fotos von einem möglichen Standpunkt des Malers.<br />
Dokumentieren Sie Ihren Weg dorthin (Parkplatz, Wanderweg, besondere<br />
Merkmale etc.). Legen Sie Ihrer Einsendung eine Kopie Ihrer<br />
Wanderkarte mit dem eingezeichneten Blickpunkt bei. Und wer Lust<br />
hat, kann auch die GPS-Koordinaten angeben. Bitte senden Sie Ihre<br />
Lösung an: Blätter des Schwäbischen Albvereins, Waldburgstr. 48,<br />
70563 Stuttgart. Einsendeschluss nach Ende der Wandersaison, 30.<br />
November 2007.<br />
Galerie Albstadt, Städtische Kunstsammlung