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Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin

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TRADITION - JENSEITS DES ARCHIVS<br />

Speichern und Übertragen<br />

Gegen diskursive Verunklärungen des Medien- und Kulturbegriffs<br />

hilft programmatisch der Begriff der Kulturtechniken. Damit<br />

einher geht ein Exorzismus von „Kultur“ als Wertbegriff, bis<br />

hin zum re-entry von Kultur als Bewußtsein für<br />

Kulturtechniken. Der Akzent liegt von daher auf Materialitäten<br />

der Kultur, und in der Umformulierung des Begriffs der<br />

„Tradition“ durch den der Übertragung. Die Überführung der<br />

Archiv-Ästhetik in den medienarchäologischen Blick akzentuiert<br />

das Non-Narrative und das Non-Diskursive. Dabei geht es nicht<br />

nur um eine Geschichte der Medien, sondern um die Medien der<br />

Geschichte: den Mechanismen von Tradition als Übertragung und<br />

um die medienarchäologische Ästhetik des "kalten Blicks“. Am<br />

Ende aber waltet doch wieder die Macht der Archive als Gesetz<br />

des Gedächtnisses.<br />

Übertragen und Speichern sind zentrale Kategorien der<br />

Mediengeschichte; mediale Kulturtechniken wiederum sind<br />

zentral für Tradition und kollektives Gedächtnis. Aber was nun<br />

sind Kulturtechniken Dissoziieren wir zunächst die Begriffe<br />

von Kultur und Technik: von der Kulturtechnik des Ackerbaus zu<br />

Apparaten; von Kultur zu Technik im wörtlichen Sinne, jenseits<br />

von Kulturtechniken. "Ackerbau ist jetzt motorisierte<br />

Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation<br />

von Leichen und Gaskammern" (Martin Heidegger 1949). 1<br />

Kulturtechnisches versus historisch-narratives Gedächtnis<br />

Was deskriptive Beschreibung und narrativen Modus voneinander<br />

trennt, ist die wissensarchäologische Diskretion im<br />

Unterscheid zur rhetorischen Integration der Daten. Diese modi<br />

ergänzen sich nicht, sondern schließen sich aus:<br />

Entweder soll Geschichte erzählt, d. h. im Verlauf dargestellt werden; dann bezieht sich jedes Detail, jede<br />

Information, deren Sinnimplikation sprachlich nicht manifestiert wird, auf die Qualifikation und wirkt dadurch<br />

mit am vertieften Verständnis des Geschehens, wie umgekehrt ein Informationsbedürfnis, das in einem solchen<br />

Zusammenhang auf rein deskriptive Daten zielt, nur als sekundäres Interesse am eigentlichen Geschehen zu<br />

verstehen ist. Oder aber die Darstellung von Geschehen ist nicht das Ziel. 2<br />

Der medienarchäologische Blick steht weniger auf Seiten der<br />

Erzählungen, sondern der Naturwissenschaften - nicht<br />

hermeneutisch, sondern beschreibend. Zwar ereignen sich Medien<br />

in der Zeit, sind damit aber noch nicht auf Teilmengen einer<br />

universalen Geschichte reduziert. Vielmehr geben sie diesen<br />

1<br />

Dazu R. Safranski, Ein Meiser aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, 475<br />

2<br />

Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs, in: Reinhart Koselleck / ders.<br />

(Hg.), Geschichte. Ereignis und Erzählung, München (Fink) 1990, 340; dazu Kiener 1999: 110<br />

1


Geschichten den Takt vor, selbst außerhalb der Geschichte<br />

stehend. In diesem Sinne versucht Vilém Flusser,<br />

phänomenologisch, d. h. möglichst voraussetzungslos auf Medien<br />

als Phänomene zu schauen 3 ; Edmund Husserls spricht von der<br />

"phänomenologische Epoché, die darauf abzielt,<br />

Selbstverständlichkeiten außer Kraft zu setzen". 4 So wird auch<br />

Schrift als Signifikantenbild, nicht semantisch lesbar. Kaum<br />

aber ist die Archäologie als Provokation der historischen<br />

Imagination etabliert, indem sie der Versuchung Widerstand<br />

leistet, „eine fragmentarische Existenz in eine erfüllte<br />

umzudeuten“ 5 , wird sie dem historischen Diskurs unterworfen -<br />

das double-bind des 19. Jahrhunderts, wie sie in Eduard<br />

Gerhards Begriff der Archäologie als monumentale Philologie<br />

zum Ausdruck kommt:<br />

Die Geschichte, d. h. die geschriebene, übereinstimmende und unparteiische Ueberlieferung der Vorzeit, ist ein<br />

unentbehrlicher Leitfaden, den die Archäologie nie verlassen darf, um auf eigene Faust Entdeckungen zu suchen,<br />

gleich dem abenteuerlichen Schatzgräber, der, statt nach den Regeln der Geologie mit Schacht und Stollen den<br />

Erzadern zu folgen, viel mehr auf die schnellbereichernde Wünschelruthe vertraut. <br />

Denn ohne Kopplung an Erzählung ist eine archäologische<br />

Datenlage Unordnung, und ein Widerstreit auf der Ebene von<br />

Artefakten kann nur unter Zuhilfenahme von historischen<br />

Urkunden entschieden werden, also in Unterwerfung der<br />

Materialitäten an den historischen Diskurs .<br />

Information aber entsteht erst im Treffen auf das Unerwartete;<br />

„eben das Fatale hat die größte Überlieferungs-Chance“ (die<br />

Chance der Archäologie und der Archivare), und gegen zufällige<br />

Auslese schützt gerade die wenig systematische Ordnung. Dabei<br />

treten „gewissermaßen historische und antiquarische Überlieferung auseinander“. 6<br />

Geschichte ist das, was sich uns von ihr in Schichten und<br />

Lagen (strata) überliefert hat. Die Arbeit der<br />

Wissensarchäologen verlegt sich zunehmend auf Ausgrabungen in<br />

musealen Archiven:<br />

Die Gesamtzahl der in Pfahlheim zwischen 1883 und 1905 geborgenen Gräber ist nur ungenau zu ermitteln.<br />

Hinreichende Angaben über die Lage der Gräbern zueinander und zur Lage der Funde in den Gräbern finden<br />

sich nur in den Bereichen, die sich auf die Ausgrabungen des Germanischen Nationalmuseums beziehen. Aber<br />

auch hier muß davon ausgegangen werden, daß die Grabinventare nur unvollständig geborgen wurden. Ein<br />

Gräberfeldplan ist aus den überlieferten Unterlagen nicht zu rekonstruieren und selbst die Lokalisierung des<br />

Friedhofes im Gelände hat eine scharfsinnige Analyse der spärlichen Literaturangaben zur Voraussetzung.<br />

<br />

Fundzusammenhänge lassen sich, als stochastische Streuung<br />

betrachtet, als Graphen anschreiben und damit - jenseits der<br />

3<br />

Siehe Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt/M. (Fischer) xxx<br />

4<br />

So paraphrasiert von Bernhard Waldenfels, Grenzen der Normalisierung, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1998, 226<br />

5<br />

Wolf-Hartmut Friedrich, Philologen als Teleologen, in: ders., Dauer im Wechsel, Göttingen 1977, 22-35; hier<br />

zitiert nach Esch 1985: 557<br />

6<br />

Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in:<br />

Historische Zeitschrift 240 (1985), 529-570 (541, 549 u. 551)<br />

2


Grenzen linguistischer Deskription - rechnen. 7 Das Studium von<br />

Relationen und ihre Kartographierung (v)ersetzt den<br />

monumentalen Blick auf das einzelne Objekt - eine Dissonanz<br />

von diskretem Datum und Kontext in der Korrelation von<br />

Kenntnis über die genaue Lage und Bewertung von Grabfunden „in<br />

Zusammenhang mit der historisch-archäologischen Situation“ von<br />

Pfahlheim im 7. Jahrhundert . Strategie und<br />

Begriff der Lage verschränken die archäologische, archivische<br />

und militärischen Wahrnehmung gegebener Daten. 8 Einschlägige<br />

Akten lagern in Archiven, so wie archäologische Objekte im<br />

Boden, die alle für viele Jahre geheim bleiben werden; in<br />

dieser Lage bleiben nur Hypothesen und das heißt Erzählungen. 9<br />

Aber machbar scheint es, an den Blaupausen archäologischer<br />

Fundlagen selber Figuren des Unbekannten namens Historie<br />

abzulesen. Von deren Körpern „gibt es immer nur das, was<br />

Medien speichern und weitergeben können“ (ob nun Erdreich oder<br />

museale Speicher). Dabei zählen nicht die semantischen<br />

Inhalte, sondern einzig die Konstellationen der Artefakte, das<br />

Schema ihrer. Archäologische Artefakte werden zur Funktion<br />

einer historischen Dokumentation erst als Übersetzung in eine<br />

Datenbank; der Akt des Eintrags darin transformiert den Status<br />

des Artefakts: "From in situ and unknown, to removed and<br />

researched, before it has any impact on knowledge, the<br />

evidence has largely lost its original integrity. Its meaning<br />

rests only in the information attached to it in the form of<br />

associated records." 10<br />

Vilém Flusser definiert das kulturelle Gedächtnis als Funktion<br />

der Medien seiner Überlieferung. Seine Kommunikationstheorie,<br />

die von Stefan Bollmann und Edith Flusser aus diversen<br />

Vorlesungsskripten destilliert wurde, harrt noch einer<br />

Ergänzung: "Neues wäre von einer Transkription der an<br />

der Universität Bochum im Sommersemester 1991 gehaltenen<br />

Vorlesungen zu erwarten, die auf 35 Tonbandkassetten in<br />

allerdings häufig nur unzureichender Qualität mitgeschnitten<br />

wurden." 11 Daß sich hier - wie bei jeder Übertragung -<br />

tatsächliche Rauschen eingeschlichen hat, demonstrierte der<br />

Medienkünstler Anthony Moore in Bochum, aus Anlaß des<br />

10jährigen Bestehens des Instituts für Film- und<br />

Fernsehwissenschaft der dortigen Universität, im Dezember 1999<br />

als Audio-Performance von Flusser´s noise, worin das auf<br />

Tonband gespeicherte Kratzen der Kreide, also die Bewegung des<br />

Schreibens von Flusser während seiner Bochumer Vorlesungen an<br />

die Tafel des Hörsaals zur Botschaft wurde.<br />

7<br />

Siehe etwa Abb. 1 des Faltblatts im Anhang zu: Ur- und Frühgeschichte als Historische Wissenschaft.<br />

Festschrift zum 60. Geburtstag von Ernst Wahle, hg. v. Horst Kirchner, Heidelberg (Winter) 1950:<br />

„Gesamtfrequenzkurve (G) und ihre Zerlegung in die Anteile Römisches (R) und Nichtrömisches (NR)“.<br />

8<br />

Siehe W. E., Unges(ch)ehene Museen: Bomben, Verschwinden, in: Martin Stingelin / Wolfgang Scherer (Hg.),<br />

HardWar / SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis 1945, München (Fink) 1991, 197-218<br />

9<br />

Vgl. Friedrich Kittler, Gramophon - Film - Typewriter, <strong>Berlin</strong> (Brinkmann & Bose) 1987, 3f<br />

10<br />

David Crowther, Archaeology, Material Culture and Museums, in: Susan M. Pearce (Hg.), Museum Studies in<br />

Material Culture, London 1988, 35­46 (42)<br />

11<br />

"Editorisches Nachwort" Stefan Bollmann, in: Flusser 1998: 353-355 (355)<br />

3


Speichertechniken<br />

"Technische Speicher brauchen einen Inhalt" (Friedrich<br />

Kittler) 12 ; ist das die Funktion von Kulturgeschichte Unter<br />

Speicherung soll hier nicht das emphatische, archivobibliothekarisch-museale<br />

Gedächtnis der Kultur verstanden<br />

werden - jene Institutionen der Remanenz, derer eine<br />

Gesellschaft (Foucaults "Heterotopien" zufolge) bedarf, um<br />

sich ihrer selbst zu vergewissern -, sondern auch die<br />

Mechanismen der Verzögerung, der Mikrospeicher, der minimalen<br />

Zeitökonomie von time axis manipulation. In diesem<br />

medienarchäologisch präzisen Sinne nennt Siegfried Zielinski<br />

das Medium Video ein "Sachsystem" und eine<br />

"Kulturtechnik" 13 . Mit der Fernbedienung etwa beginnt für das<br />

Fernsehen "kulturtechnisch zu greifen, was die<br />

Hardwarehersteller als `Features´ bezeichnen, die Ausstattung<br />

der Geräte mit besonderen Bedienungsfunktionen, die in ihren<br />

Gebrauchswerten über die reine Aufzeichnung und Wiedergabe<br />

hinausgehen" . "Im engen Zusammenspiel<br />

von Arbeit und Restzeit ist der Videorecorder als eine<br />

Kulturtechnik interpretierbar, die Defizite zu kompensieren<br />

hilft, welche der industrialisierte und technisierte Alltag<br />

selbst mit hervorgebracht hat" . Die Inbetriebnahme<br />

der Quadruplex-Anlagen von Ampex als Time-Shift-Machine für<br />

die nordamerikanischen TV-Networks "war in diesem Sinne nur<br />

der Ursprung einer modifizierten Kulturtechnik der<br />

Fernsehvermittlung und -wahrnehmung. Sie ermöglichte es, den<br />

streng strukturierten, praktisch die gesamte Zeiteinheit des<br />

Tages durchlaufenden, Fluß von audiovisuellen Botschaften so<br />

zu organisieren, daß er landesweit mit dem ebenso streng und<br />

umfassend stukturierten Alltagsprozeß der Zuschauer<br />

synchronisiert werden konnte" - als Koordination der<br />

verschiedenen Zeitzonen in den USA. 14 Kulturtechnik - ein<br />

begriffsgeschichtlich von Marshall McLuhan inaugurierter<br />

Begriff. Ihm zufolge erleben wir nach dem Erwerb der Sprache,<br />

des Kalküls und der Schrift heute den Übergang zu einer<br />

"vierten Kulturtechnik", der digitalisierten Welt. 15<br />

Womit wir bei einer der ältesten Kulturtechniken der<br />

Kommunikation sind: der Rhetorik. "In rhetoric, more than in<br />

anything else, the continuity of the old European tradition<br />

was embodied" (C. S. Lewis). 16 Denn Rhetorik stellte eine<br />

12<br />

In seinem Vortrag: Die Universität als hybride Institution, Kolloquium: Literaturforschung und<br />

Wissenschaftsgeschichte, <strong>Berlin</strong>, Oktober 2000<br />

13<br />

Siegfried Zielinski, Audiovisuelle Zeitmaschine. Thesen zur Kulturtechnik des Videorecorders, in: ders. (Hg.),<br />

Video: Apparat/Medium, Kunst, Kultur, Frankfurt/M. et al. (Lang) 1992, 91-114<br />

14<br />

Siegfried Zielinski, Zur Geschichte des Videorecorders, <strong>Berlin</strong> (Wissenschaftsverlag Spiess) 1986, 318<br />

15<br />

Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe . Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1,<br />

Stuttgart / Weimar (Metzler) 2000, Vorwort der Herausgeber, IX<br />

16<br />

Zitiert nach: Roberto Gonzalez Echevarría, Myth and Archive, Cambridge / New York u. a. 1990, 46<br />

4


Kodierungsmaschine dar. Im Sinne von Boris Groys´ These über<br />

den submedialen Raum (Unter Verdacht) gilt auch für die<br />

technisch-apparative dissimulatio artis der Satz von Hans<br />

Blumenberg: "Auch die Verleugnung der Rhetorik ist dabei noch<br />

rhetorisch." 17 Mit ihrem System von Defigurationen, also<br />

Um(be)setzungen betrifft die Rhetorik nämlich die<br />

Temporalstruktur von Handlungen, nämlich - ganz im Sinne<br />

technischer delays - Beschleunigung und Verzögerung.<br />

Blumenbergs eher anthropologischer Annäherung an die Rhetorik<br />

beschreibt tatsächlich einen maschinellen Sachverhalt:<br />

"Geschichte" besteht nicht nur aus Ereignissen und ihrer (wie auch immer gedeuteten) Verknüpfung, sondern<br />

auch aus dem, was man den zeitlichen "Aggregatzustand" nennen könnte. Das vielschichtige Phänomen der<br />

Technisierung läßt sich reduzieren auf die Intention des Zeitgewinns. Rhetorik hingegen ist hinsichtlich der<br />

Temporalstruktur von Handlungen ein Inbegriff der Verzögerung. Umständlichkeit, prozeduralen Phantasie,<br />

Ritualisierung implizieren den Zweifel daran, daß die kürzeste Verbindung zweiter Punkte auch der humane Weg<br />

zwischen ihnen sei.


Kulturelle Speicher sind immer technisch geformt, auch wenn sie nicht aus Apparaten bestehen, sondern in<br />

rhetorischen Merkfiguren oder, als lebendige Archive, in Erzählungen. Immer geht es dabei um die bestmögliche<br />

Stabilisierung von Traditionen. Umgekehrt kann der dafür entscheidende Speicher insoweit Kultur genannt<br />

werden, als Kultur der einzige Bereich ist, in dem individuell erworbene Leistungen mittels medialer<br />

Vergegenständlichung an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. 21<br />

Der Nobelpreisträger für Chemie, Wilhelm Ostwald, geht in<br />

seinem Brücke-Text soweit, die Begründung ästhetischmathematischer<br />

Entscheidungen als Grundlage aller<br />

Kommunikation, allen Vekehrs und menschlicher Existenz<br />

insgesamt hinzustellen . Doch gerade "über<br />

jene Dinge, die in den Augen der Menschen, die sie treiben,<br />

selbstverständlich sind, pflegt eine Tradition zu fehlen“ 22 .<br />

Das Ende der Kulturtechniken ist der Anfang der Kybernetik -<br />

operativ geschlossene, selbstbezügliche Systeme.<br />

In einer alten Zeitschrift in der Herzogin Anna Amalia­Bibliothek, die auf den Namen "Der Kulturtechniker"<br />

hörte, fand ich die meiner Meinung nach treffenste Umschreibung im Untertitel der Zeitschrift. Diese nennt sich<br />

"Zeitschrift für (...) Auseinandersetzungswesen und Innere Kolonisation". Dem kann man eigentlich nichts mehr<br />

hinzufügen. <br />

Zwei deutsche Übersetzungen eines russischen Artikels von E.<br />

Kolman über die neue Wissenschaft der Kybernetik unterscheiden<br />

sich besonders durch eine Formulierung am Ende des Beitrags.<br />

In der 1955er, von niemand anderem als Georg Klaus<br />

autorisierten Übersetzung D. Wittichs für die Zeitschrift<br />

Forum spürte Michael Eckardt die Prognose auf: " betreten<br />

wir das Zeitalter einer riesigen kulturell-technischen<br />

Umwälzung" . In der Zeitschrift<br />

Sowjetwissenschaft wird aus<br />

Kolmans Aufsatz "Was ist Kybernetik" in der Übersetzung von<br />

H. Frohse am Ende das " Zeitalter einer ungeheueren<br />

kulturtechnischen Revolution, das Zeitalter sich selbst<br />

regulierenden Maschinen, die berufen sind, einen Teil unserer<br />

Geistesarbeit zu übernehmen. So wie auf dem Gebiet der<br />

Energetik stehen wir auch hier erst auf seiner Schwelle"<br />

.<br />

Die Begriffe von Kybernetik und Kulturtechnik<br />

zusammenzubringen ist Aufgabe von wohlverstandener<br />

Medienarchäologie - falls das Sinn macht. Ein Zusammenhang<br />

zwischen Agrar- und Steuerungswissenschaften besteht im<br />

archäologischen Sinne, von den Bewässerungsdrainagen der<br />

orientalischen Antike angefangen, wo auch schon Schleusen sich<br />

öffnen und schließen.<br />

21<br />

Hans Ulrich Reck, Bildende Künste. Eine Mediengeschichte, in: Manfred Faßler / Wulf R. Halbach (Hg.),<br />

Geschichte der Medien, München (Fink) 1998, 141­186 (141)<br />

22<br />

x y, zitiert nach: Hans H. Bockwitz, „Rhetorische Typographie“, in: , 288-<br />

(288)<br />

6


Der Begriff der Kulturtechniken ist selbst im Grunde schon<br />

tautologisch: colere meint schon den Eingriff des Pfluges, des<br />

Stichels, der Schrift. Furche und Spur aber sind auch<br />

mathematische Feldvermessungstechniken als Ursprung der<br />

Geometrie - Kultur im Sinne von Agrartechniken. An dieser<br />

Stelle kommen die antiken römischen Agrimensoren 23 ins<br />

medienarchäologische Spiel. "Kulturtechnik" als Begriff ist<br />

der Versuch, den Begriff der Kultur nicht zu allgemein (also<br />

bloß diskursiv), aber auch nicht rein technisch (reduziert auf<br />

Apparate) zu fassen, sondern genau die Schnittstelle zwischen<br />

Instrumenten und Gedanken aufzuspüren.<br />

Technologische Medien heben Kulturtechniken auf eine Mikro-<br />

Ebene. Statt Furchen im Ackerbau nun Schrift (boustrophedon),<br />

Kupferstichrille und "groove" (Schallplatte). Schrift,<br />

erinnern wir uns, hat den irreduzibel physikalischen Aspekt<br />

der materiellen Einschreibung, des Eindrucks, der Verletzung<br />

des Trägermaterials, buchstäblich invasiv. Die altgriechische<br />

Praxis des boustrophedon, also des Schreibens von links nach<br />

rechts und weiter von rechts nach links, erinnert wortwörtlich<br />

an das Furchen des Ackers mit dem Ochsenflug<br />

(„Ochsenwendung“). Das Wort Kultur selbst kommt in diesem<br />

Sinne aus die agrikulturellen Bereich: der technischen<br />

Bearbeitung des (Acker-)Bodens (von daher ist auch der Begriff<br />

der „Kulturtechniken“ etwas tautologisch. Kultur ist die Form,<br />

die dem Medium Natur negentropisch aufgeprägt wird, also<br />

buchstäblich Charaktere.<br />

In Martin Heideggers Begriff ist Technik vor allem eine Weise<br />

des Entbergens von etwas - ein herausforderndes,<br />

hervorbringendes, ein bestellendes Entbergen, das als<br />

kybernetische, als (be)rechnende Bestellung eine Esklation<br />

gegenüber bisherigen Kulturtechniken darstellt 24 , deren Begriff<br />

(als terminus technicus) auf die Bestellung des Ackers, die<br />

Agrikultur selbst, zurückgeht.<br />

Mediale Kulturtechniken sind zentral für Tradition und<br />

kollektives Gedächtnis. Damit ist auch einer Auffassung die<br />

Absage erteilt, die Traditionsbewußtsein als Kompensation die<br />

Erfahrung technischer Diskontinuitäten sieht 25 - analog zu<br />

Hermann Lübbes und Odo Marquarts Vorstellung der Erzählung als<br />

Kompensation einer traditionslosen Moderne. Aber was nun sind<br />

Kulturtechniken Gilt es die Begriffe von Kultur und<br />

Techniken, am Beispiel des Computers, vielmehr zu vielmehr<br />

dissoziieren<br />

23<br />

Helmut Minow, Vermessungsprobleme in den Schriften der römischen Agrimensoren, in: Mensuration,<br />

Photogrammétrie, Génie rural 1/2003, 14-19<br />

24<br />

Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen (Neske) 1962, 16<br />

25<br />

So Volkwin Marg, Architekturdarstellung heute. Entwürfe für die Wirklichkeit nach deren Bilde, im Rahmen<br />

des Kunstforums in der Grundkredit-Bank, <strong>Berlin</strong>, 21. Juli 2002<br />

7


"Zeitungen und Zeitschriften sind Kulturwerke." 26 Der<br />

Kommunikationstheoretiker Otto Groth definiert beide als<br />

"Kulturwerkzeuge" . Der Begriff Kulturtechnik<br />

erlaubt es, auf die Reduktion von Medien auf Technologik<br />

allein zu verzichten, ohne die Hardware-Gebundenheit<br />

aufzugeben. Denn „la transmission d´un contenu de sens l<br />

´incorpore en fait à son véhicule, lequel le soumet à sa loi“<br />

.<br />

Kulturtechniken sind Anthropotechniken:<br />

Das Wort "Kultur" lässt sich nicht mehr so locker wie bei C. P. Snow verwenden, der von einem gebildeten<br />

Menschen sowohl die Kenntnis des Hamlet als auch des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik forderte.<br />

Mittlerweile hat dieses Wort eine sehr enge anthropologische Bedeutung angenommen, die von denjenigen<br />

erforscht wird, die sich wie ich als "Technik­ und Wissensanthropologen" verstehen. Unter "Kultur" ist heute die<br />

Entscheidung zu verstehen, mit welchen Kosmologien wir leben: mit welchem Gehirn, mit welchen Genen, mit<br />

welcher Vergangenheit, welcher Natur, Chemie, Evolution, Soziologie et cetera. 27<br />

Aus welcher Frontstellung bezieht der Begriff der<br />

Kulturtechniken seinen strategischen Wert Denkbar wäre die<br />

Opposition zu den sogenannten cultural studies, die ja gerade<br />

nicht mit den deutschen Kulturwissenschaften zu verwechseln<br />

und schon gar nicht deren anglo-amerikanische Übersetzung<br />

sind. Diese Akzentverschiebung kristallisiert sich im Begriff<br />

der techné selbst. Als ein Schüler von Harold Adams Innis,<br />

nämlich Marshall McLuhan, am Vorwort für die Neuauflage des<br />

Meisterwerks seines Lehrers, des erwähnten Buches Empire and<br />

Communications arbeitet, schreibt er an Claude Bissel, den<br />

damaligen Präsidenten der Universität von Toronto in Kanada,<br />

daß er dabei "die größte Endeckung" seines Lebens gemacht habe<br />

- nämlich das Verbrechen Platons:<br />

2.500 Jahre lang haben die Philosophen der westlichen Welt jede Technologie in der Behandlung von Materie­<br />

Form­Problemen ausgeklammert. Er konnte noch nicht sehen, daß unsere Philosophie<br />

systematisch die techne aus ihren Mediationen ausschließt. Einzig natürliche und lebendige Formen werden als<br />

ganzheitlich­morphologische (holy­morphic) klassifiziert. 28<br />

Vielleicht hätte er Heidegger lesen sollen.<br />

Und in einem Kommentar zu Eric A. Havelocks Studie über die<br />

Genealogie des frühgriechischen Alphabets als Spaltung von<br />

Schrift- und Mündlichkeit, das im schönen historischbuchmedialen<br />

Doppelsinn Preface to Plato heißt, präzisiert<br />

McLuhan in einem Brief an den amerikanischen Psychologen Rollo<br />

May: "Von Plato bis heute hat es in der westlichen Welt keine<br />

nennenswerte Theorie des durch technologischen Wandel<br />

verursachten psychischen Wandels gegeben. Ausgenommen das Werk<br />

von Harold Innis (The Bias of Communication) und das seiner<br />

26<br />

Otto Groth, zitiert auf dem Buchumschlag zu: ders., Vermittelte Mitteilung. Ein journalistisches Modell der<br />

Massenkommunikation, hg. v. Wolfgang R. Langenbucher, München (R. Fischer) 1995, 11. Ausführlich ders., die<br />

unerkannte Kulturmacht, <strong>Berlin</strong> (de Gruyter) 1960-1972, 7 Bde<br />

27<br />

Bruno Latour, Schnee von gestern, in: Die Zeit Nr. 1 v. 28. Dezember 2000; 47<br />

28<br />

Letters of Mashall McLuhan, selected and edited by Matie Molinaro / Corinne McLuhan / William Toye,<br />

Toronto / Oxford / New York 1987, 439<br />

8


Schüler, Eric Havelock und McLuhan" . Womit Plato<br />

mitverantwortlich ist für die Ausblendung von Technik aus<br />

Seinsfragen.<br />

Kulturtechniken sind, in Anlehnung an die Kultursemiotik von<br />

Jurij Lotman, wesentlich (a) Speicher- und (b)<br />

Übertragungstechniken als medial-appartives (oder<br />

institutionelles) Subjekt und hermeneutisch-historisches<br />

Objekt von Kultur. Wie aber läßt sich tautologischen<br />

Formulierungen entgehen, etwa solcherart:<br />

Kultur ist selber das Gedächtnismedium, durch das sie sich überliefert. Insofern sie die Spur des noch<br />

ungesichert Neuen sichert, ist sie, wie der Knoten im Taschentuch, wie jeder Gebrauch eines Zeichensystems, in<br />

ihrem Erinnert­werden­wollen auch eine Schule des Vergessens. 29<br />

Demgegenüber steht der Versuch, die Medien der kulturellen<br />

Tradition präzise zu benennen. Womit wir bei einer notwendigen<br />

Umakzentuierung vom soft discourse der kulturellen<br />

Gedächtnisforschung zur Bestandaufnahme der non-diskursiven<br />

Präsenz von Vergangenheit als elektronisches Archiv angekommen<br />

sind. Und das erfordert Medienarchäologie. Welches Archiv aber<br />

hält nicht nur Akten, sondern die relevante Hardware zur<br />

Lesung historischer Dokumente vor, die nicht mehr als Akten,<br />

sondern als files vorliegen Hardware ist heute das technisch<br />

positivierte Äquivalent zu dem, was bislang die Institutionen<br />

als Garanten der Überlieferung eines Wissens waren. Denn es<br />

reicht nicht hin, Daten auf dauerhaften Trägern zu speichern;<br />

notwendig ist zudem das, was der Ägyptologe Jan Assmann das<br />

„Wunder der Lesbarkeit“ nennt. 30 Altägyptische Texte sind<br />

wieder dechiffrierbar, doch der Schlüssel, der Code zum<br />

Verständnis, zur Interpretation, zur Dekodierung dieser<br />

Symbole wurde nicht wie im Falle Griechenlands und Roms mehr<br />

oder weniger kontinuierlich mitüberliefert, in Form von<br />

Institutionen wie etwa die römische Kirche.<br />

Tradition als Materialität der Übertragung (Debray)<br />

Stellen wir die Frage nach dem digitalen Kulturerbe. Kunst und<br />

Kultur leben von der Auseinandersetzung mit der Tradition: um<br />

in ihrem Namen zu sprechen, oder aber um sich avantgardistisch<br />

von ihr abzusetzen. Die Digitalisierung großer Bereiche<br />

unserer Kulturproduktion aber scheint jetzt schon der Nachwelt<br />

dieses jüngste Erbe vorzuenthalten. Von der Jahresbilanz bis<br />

zum Computerspiel: Gibt es überhaupt noch Informationen nichtdigitaler<br />

Natur „Was passiert, wenn in ein paar Jahrzehnten<br />

die jeweils benötigte Kombination von Hardware, Betriebssystem<br />

und Software nicht mehr funktioniert Erwartet uns das große,<br />

29<br />

Christiaan L. Hart Nibbrig, Zwischen den Kulturen: Kulturwissenschaft als Grenzwissenschaft, in:<br />

Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven, hg. v. Johannes Anderegg / Edith Anna Kunz, Bielefeld<br />

(Aisthesis) 1999, 93-104 (98)<br />

30<br />

Gespräch über „Die Zukunft der Erinnerung - Archiv und Museum als Erfahrungsspeicher“ im Rahmen der<br />

Ausstellung Museotutopia - Schritte in eine andere Welt am Karl-Ernst-Osthaus Museum Hagen, 11. Juni 2002<br />

9


post-digitale Vergessen“ 31 Fluxus-, Netz- und Medienkunst,<br />

also: prozeßorientierte Kunst im 20. Jahrhundert aber war gar<br />

nicht mehr auf (Langzeit-)Archivierung angelegt; einerseits<br />

also nicht dafür intendiert, andererseits auch gar nicht mehr<br />

technisch archivierbar. Happeningkunst oder Fluxus waren<br />

künstlerische Unternehmen, die Vergänglichkeit und ihren<br />

ephemeren Charakter hervorheben.<br />

Bedarf es einer neuen ägyptischen Priesterkaste, der<br />

Programmierer, die das Wissen der Codes über Generationen<br />

hinweg (permanentes Updaten der Emulatoren), über Plattformen<br />

hinweg, über Systemwechseln hinweg tradiert, wie die<br />

altägyptischen Hieroglyphen Die vor-Champillonsche<br />

Hieroglyphentheorie hat diese Schriftbildzeichen als<br />

priesterliches Geheimwissen interpretiert, die sicherste<br />

Garantie für ungebrochene Tradition. Der amerikanische<br />

Semiotiker Thomas Sebeok hat in diesem Sinne einmal einen<br />

notorischen Vorschlag zur Kennzeichnung atomarer<br />

Endlagerstätten für intelligente Wesen 10.000 Jahre später<br />

unterbreitet. 32<br />

„Die Tradition besteht nicht aus Relikten, sondern aus<br />

Testaten und Legaten“, beschreibt Hans Blumenberg das<br />

Rechtsdispositiv des Traditionsbegriffs. 33 Eine Absage an der<br />

„Materialität der Kultur“ zugunsten eines Medienbegriffs<br />

jenseits der Hardware Hier schreibt sich noch einmal der<br />

Widerstreit zwischen dem archäologischen, monumentalen und dem<br />

historischen, dokumentarisch-(recht-)urkundlichen Blick - wo<br />

die Geschichte als ein Repositorim von Urkunden betrachtet<br />

wird, von denen die Recht der Regierungen und Völker abhängen<br />

. Andererseits stammt der Begriff traditio<br />

aus dem römischen Erbrecht und meint dort die höchst<br />

materielle Übergabe einer beweglichen Sache aus einer Hand in<br />

die andere - Besitzverhältnisse. Hier geht es um die<br />

„materielle Identität der Bestandswahrung“ .<br />

Tradition im Sinne „geistiger Überlieferung“ ist also eine<br />

verdeckte Metapher (Walter Magaß), welche die rechtliche<br />

Fundierung dissimuliert. 34 Die Rechtskonstruktion des copyright<br />

stellt ein Äquivalent zu diesem Imperativ von Erinnerung für<br />

die Zukunft dar. Auch das Urheberrecht erinnert an das<br />

juristische Dispositiv des im Namen von Kultur verbrämten<br />

Begriffs der Tradition.<br />

Eine Medienarchäologie kultureller Übertragungstechniken geht<br />

von der Annahme aus, Kultur sei eine Funktion ihrer Speicherund<br />

Übertragungsmedien. Damit kommen konkret benennbare<br />

31<br />

Abstract zum Panel: Digitales Kulturerbe, im Rahmen der t r a n s m e d i a l e . 0 2. international media art<br />

festival, 5.­10. Februar 2002, Haus der Kulturen, <strong>Berlin</strong>, u. a. mit Rudolf Frieling, ZKM Karlsruhe; Hans Dieter<br />

Huber, Akademie der Bildenden Künste Stuttgart; Andreas Lange, DiGA = The Digital Game Archive, <strong>Berlin</strong><br />

32<br />

xxx<br />

33<br />

Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981, 375<br />

34<br />

Walter Magaß, Klassik, Kanon und Lektüre, Bonn 1980<br />

10


Materialitäten mit ins Spiel. Kulturgeschichte als Tradition<br />

verläuft über konkrete Kanäle, ist damit anfällig für<br />

Überlieferungsstörungen und -katastrophen sind. Durch<br />

sozioalkonstruktivistische Konstruktionen von Tradition 35 „wird<br />

allerdings die Tatsache in den Hintergrund gedrängt, dass die<br />

hierfür genutzten Elemente oft eine Materialität von großer<br />

historischer Tiefe und Unveränderlichkeit aufweisen (vgl.<br />

Relikt), die es nicht zulässt, sie ausschließlich als<br />

zeitgenösssiche `Erfindung´ zu bezeichnen“ 36 - womit die<br />

Historizität von Tradition in der Resistenz des Materialen<br />

selbst liegt.<br />

Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hat es anhand des<br />

Motivs und Befunds literarischer Schreibhemmungen beschrieben.<br />

Das Syndrom des „weißen Blatts“ nämlich erinnert daran, der<br />

modernen Fiktion autonomer Hervorbringung von Texten mit<br />

medienarchäologischem Bewußtsein zu entkommen und<br />

wahrzunehmen, daß Schreiben höchst materiell formatiert wird<br />

von seinen organischen oder anorganischen, monumentalen oder<br />

flüchtigen Schriftträgern. 37<br />

Der Mediologe Régis Debray unterscheidet zwischen<br />

negentropischer matiére organisée und organisation<br />

matérialisée 38 . Die Entropie betrifft beide Seiten: die<br />

physikalische („les archives aussi sonst soumises à l´entropie<br />

générale (le papyrus est détruit par l´humidité, le parchemin<br />

par le feu, le papier par l´acide, les disques en vinyle par<br />

la chaleur, les bandes magnétiques par la désaimantation“<br />

) wie die nachrichtentheoretische. Claude<br />

Shannon definiert Kommunikation als physikalisches Verhältnis<br />

von Signal und Rauschintergrund; der digitale Code im Zuge<br />

Turings ermöglicht es hingegen, „jede der alten Analogien<br />

zwischen physischem und physikalischem Körper auf eine völlige<br />

Indifferenz zu reduzieren“ 39 . Erneut stellt sich damit die<br />

medienkulturarchäologische Kardinalfrage: „Mathematisierung<br />

der Maschine oder Maschinisierung der Mathematik“<br />

Debray differenziert die agencements de communication zwischen<br />

„ce qui relève du mode sémiotique (le type de signe utilisé:<br />

texte, image ou son), du dispositif de diffusion (pierre,<br />

bois, papyrus, papier, ondes), ainsi que les moyens de<br />

transport des hommes et des messages (chemins, véhicules,<br />

infrastructures, réseaux, etc.)“ ; er trennt<br />

also zwischen Übertragen (transmettre) und Kommunizieren<br />

kultureller Daten. Kommunikation ist der Transport von<br />

35<br />

Etwa E. Hobsbawm / T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983<br />

36<br />

Gisela Welz, Eintrag „Tradition“, in: Pethes / Ruchatz 2001: 587-590 (589)<br />

37<br />

Thomas Macho, Shining oder: Die weiße Seite, Typoskript 2003 <br />

38<br />

Régis Debray, Transmettre, Paris (Jacob) 1997, 28<br />

39<br />

Eckhard Hammel, Medien, Technik, Zeit, in: Mike Sandbothe / Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Zeit - Medien -<br />

Wahrnehmung, Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1994, 60-78 (71)<br />

11


Information im Raum; Transmission ist der diachrone Transport<br />

von Information in der Zeit.<br />

So erinnert dieser Dualismus an Harold Innis, der Wissen und<br />

Herrschaft auf Technologien ihrer Speicherung und Übertragung<br />

hin untersuchte. Je nach dem, ob Information im Raum<br />

transportiert wird (Papyrus) oder in der Zeit (Stein- und<br />

Tontafeln), bestimmt die Art des Transportes (also<br />

Kommunikation oder Transmission) die Art der Herrschaft;<br />

nämlich territorial definierter Machtraum oder zeitlich<br />

definierter Machtraum bzw. Machtumfang. Bemerkenswerterweise<br />

entspricht dem bereits Jacob Grimms (avant la lettre)<br />

medienarchäologisches Gespür für eine Medien- als<br />

Transporttheorie der Kultur, nämlich einen „alten<br />

unterschied“:<br />

Er betrifft die wesentlichen gegensätze des deutschen eigenthums undberührt sich mit beiden<br />

hauptrichtungen, dem hirtenleben und dem ackerbau. Aus jenem war die markverfaßung hervorgegangen, aus<br />

diesem der geregelte landbesitz und so ist auch die fahrende habe ursprünglich auf zwei bestandtheile<br />

zurückzuführen, welche in der rechtssprache bedeutsam das treibende und das tragende *) genannt werden. <br />

Die Wirklichkeit von Macht wird durch Innis nach ihren<br />

Effekten beurteilt, die sich in zwei verschiedenen Arten der<br />

Herrschaft bemerkbar machen: über räumliche Gebiete und über<br />

Zeitabschnitte. 40 Ziel kultureller Systeme ist ein<br />

Gleichgewicht der beiden Kontrollen: zeitlicher und<br />

räumlicher. Dieses Verhältnis ist, so analysiert Innis, stark<br />

gestört durch die Echtzeitmedien zu Gunsten der Kontrolle des<br />

Raumes. Das heißt in den Termini Debrays: die Kommunikation<br />

dominiert die Transmission. Transmission (der<br />

Informationstransport in der Zeit) hat laut Debray zum Einen<br />

eine materielle Dimension. Unter Materialiät versteht Debray<br />

das technische Dispositiv (die Apparatur). Er vergleicht die<br />

materielle Dimension der Transmission mit der<br />

Kräfte-"Übertragung" in der Physik, und fügt im Gegensatz zur<br />

Kommunikation, die hauptsächlich im symbolischen,<br />

immateriellen Raum der Sprache stattfindet, einen physisch<br />

spürbaren Faktor hinzu. Hinzu tritt die diachrone Dimension,<br />

das heißt die Garantie oder die Umstände für die Überlieferung<br />

in der Zeit, weil bestimmte Dinge sich wiederholen, gleich<br />

bleiben, ritualisiert sind. Das die Transmission diachron ist,<br />

es sich also um eine Übertragung in der Zeit handelt, wird von<br />

„entreprises de construction de durées" 41 (Religion, Schule,<br />

Familie) getragen und betont.<br />

Gedächtnis als Informationsmuster in Hirn und Computer: „Meme“<br />

40<br />

Harold. A. Innis - der Geschichtsphilosoph, Eine Gedenkschrift von Eric. A. Havelock, in Karlheinz Barck<br />

(Hg.) Harold. A. Innis - Kreuzwege der Kommunikation. Springer-Verlag, Wien 1997, S.15<br />

41<br />

(Unternehmen der Konstruktion von Dauer) Regis Debray, Transmettre, Editions Odile Jacob, Paris 1997, S.18<br />

12


Damit sind wir beim ebenso mächtigen wie nebulösen Begriff des<br />

„Stils“. Was heißt es eigentlich, daß ominöse ästhetische<br />

Schemata unter diesem Namen quer durch historische<br />

Veränderungen insistieren Eine Antwort, ebenso also Modell<br />

wie verführerische Erklärung solcher Muster, ist die Theorie<br />

kultureller Vererbung in Form der sogenannten Meme, die<br />

kleinste semantische Einheit von kulturellem Gedächtnis (wie<br />

es die griechische Wortwurzel schon verrät).<br />

Für Debrays Medientheorie der kulturellen Tradition unter dem<br />

Titel Transmettre reicht das Wissen um das technische<br />

Dispositiv zwar zur Erkärung von Prozessen der Kommunikation<br />

aus, keinesfalls aber zu der von Transmission namens<br />

Tradition. Der Prozeß der Übertragung, Übermittlung grenzt<br />

sich von dem der bloßen Kommunikation durch den Einfluß dessen<br />

ab, was Debray Kultur nennt - und die ist eine spezifisch<br />

menschliche Eigenschaft. Tiere können seiner Meinung nach<br />

nicht überliefern. Ist diese Aussage gerechtfertigt<br />

Selbst bei Tieren gibt es tradiertes Wissen, das zur<br />

Herausbildung einfacher Kulturen führt, vergleichbar mit<br />

frühen menschlichen Jäger- und Sammlergesellschaften.<br />

Beispielsweise glauben Forscher, daß Orcas (der Zahnwal)<br />

erlerntes Wissen an die folgenden Generationen weitergeben.<br />

Das Erstaunliche dabei ist, daß die Walkühe mit spätestens 50<br />

Jahren das letzte Junge kriegen können, ihre Lebenserwartung<br />

aber bei weiteren 20-40 Jahren liegt. Diese Alterszeit ist<br />

zwar fortpflanzungsbiologisch "sinnlos", bieten aber einen<br />

Vorteil „als schwimmende Lexika mit jahrzehntelang<br />

gespeicherter Erfahrung“. 42<br />

Diese Lexeme gespeicherter Erfahrung lassen sich näher<br />

bestimmen, durch die sogennannten „Meme“ als Träger von<br />

Tradition. Gibt es kleinste Einheiten des<br />

Gedächtnistransports, die sich nicht idealistisch, sondern<br />

naturwissenschaftlich erklären lassen Der Zoologe Dawkins<br />

bezeichnet seit 1976 mit Mem eine „Einheit der kulturellen<br />

Vererbung oder eine Einheit der Imitation. Das Wort<br />

`Mimem´ kommt von einer geeigneten griechischen Wurzel, aber<br />

ich suche eineinsilbiges Wort, das ein wenig wie `Gen´ klingt<br />

[man könnte sich] wahlweise vorstellen, daß es mit dem<br />

lateinischen `memoria´ oder mit dem französischen Wort `même´<br />

verwandt ist. Beispiele eines Mems sind Melodien, Gedanken,<br />

Schlagworte, Kleidermode, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen<br />

zu bauen.“ 43<br />

Memetische Informationsmuster gedeihen in Hirnen<br />

(neurologisch) wie in technischen Speichermedien und zeichnen<br />

sich durch ihr Bestreben aus, beständig Kopien ihrer selbst zu<br />

42<br />

Monika Rößiger, Orca, der Primus unter den Walen, in GEO, März 2002<br />

43<br />

Dawkins, Das egoistische Gen, xxx 1978, 226f<br />

13


verbreiten. 44 Diese Vorstellung geht nicht nur auf die<br />

Evolutionstheorie Charles Darwins, sondern auch den Soziologen<br />

Gabriel Tarde zurück, der 1890 seine Abhandlung über die<br />

Gesetze der Nachahmung veröffentlichte. „Als Jurist hatte<br />

Tarde beobachtet, wie sich bestimmte Verbrechen in Wellen<br />

durch die Gesellschaft ausbreiten, ähnlich wie Epidemien und<br />

Moden. Darwins Theorie natürlicher Selektion sowie die<br />

Geschichte der menschlichen Entdeckungen und Erfindungen<br />

führte er auf ein gemeinsames Prinzip zurück: auf die<br />

produktive Interferenz von Wiederholungen“, was der<br />

Wissenschaftshistoriker Bruno Latour nun dahingehend<br />

umgedeutet hat, daß bei Tarde die Änderung, die<br />

Differnzierung, die Übersetzung im Vordergrund steht: „Die<br />

Identität ist nur ein seltener Sonderfall der Differenz, das<br />

Einfache nur der Durchgangspunkt der Vielfalt“; demnach sind<br />

auch Hahn und Henne nur Medien des Eis, ein weiteres Ei<br />

hervorzubringen. 45 Das Huhn ist die Art des Eis, ein weiteres<br />

Ei zu produzieren .<br />

Gabriel Tarde beschreibt die archäologische Einsicht<br />

etruskischer Imitationen des Griechischen. 46 Damit würde sich<br />

auch historiographische Analogiebildung nicht schlicht als<br />

rhetorische Operation, sondern als Mem-basiertes Substrat der<br />

Historie selbst erweisen: der „imitativité humaine“ . Überhaupt basiert die Aussage von Tarde in Les lois de l<br />

´imitation (Paris 1890) auf einem wissensarchäologischen<br />

Modell der Kopierung. Er zieht eine Analogie zwischen den<br />

kulturhistorische Befunden (prähistorische und ägyptische<br />

Wandmalereien etwa) und der Gegenwart. Eine Voraussage der<br />

Postmoderne:<br />

Même de nos jours, nous nous imitons infiniment plus que nous n´innovons. Ce n´est pas une médiocre leçon à<br />

retirer des études archéologiques. Dans un siècle, à coup sùr, presque tous ces romanciers, ces artistes, ces poètes<br />

surtout, la plupart singes ou plutôt lémures de Victor Hugo, dont nous vantons naïvement l´originalité, passeront,<br />

et à bon droit, pour de serviles copistes les uns des autres. <br />

Ausgehend von Richard Dawkins´ Neologismus der Meme als<br />

Protagonisten evolutionären Transfers, quasi als<br />

Gedächtnisalgorithmen, kann die These einer Machtübernahme<br />

durch neue Replikatoren diskutiert werden – ein Modell, das<br />

Ridley Scotts Film Blade Runner, worin den Replikanten ein<br />

künstliches individuelles Gedächtnis implementiert wurde,<br />

durchgespielt hat. Immer schon lautet die Grenzfrage von<br />

Cyborgs, wie sie sich einer eigenen Identität versichern<br />

können. „Könnte es sein, daß eines fernen Tages intelligente<br />

44<br />

Für ein analoges soziologisches Modell von Tradition als Übertragung von kulturellen Mustern siehe E. Shils,<br />

Tradition, Chicago 1981<br />

45<br />

Christoph Albrecht, Die Henne und das Ei, unter Bezug auf: Bruno Latour, Gabriel Tarde und das Ende des<br />

Sozialen, in: Soziale Welt Jg. 52, Heft 3, 2001, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 300 v. 27. Dezember<br />

2001, N3<br />

46<br />

Der Soziologe Gabriel Tarde, Les lois de l´imitation, Paris 1890, Kapitel IV (Qu´est-ce que l´histoire), Absatz<br />

“L´Archéologie et la Statistique”, 110<br />

14


Computer über ihre eigenen verlorengegangenen Ursprünge<br />

spekulieren“ <br />

Die Begriffsprägung einer gedächtnistragenden Substanz namens<br />

Mem geht auf den Miterfinder der Kybernetik, Heinz von Förster<br />

zurück; er hat es im Grunde bereits 1948 formuliert:<br />

In Analogie zu der von Delbrück, Schrödinger u. a. entwickelten Auffassung, das „GEN“, den Träger der<br />

Erbmerkmale, als Quantenzustand eines Großmoleküls (Aperiodischer Kristall) zu deuten, wird hier das<br />

„MEM“, der Träger der Erinnerungsmerkmale, als ein verschiedener Quantenzustände fähiger Mikrokomplex<br />

aufgefaßt. 47<br />

Tatsächlich läßt sich Wissen nicht wirklich quantifizieren,<br />

jedoch dessen Tradition: als Halbwertzeit wissenschaftlicher<br />

Publikationen, gemessen an ihrer Zitierhäufigkeit. Diese Daten<br />

begründeten den Transfer des physikalischen Begriffs


Konstellation exponentiell komplizierter. Agenten der<br />

Transformation sind dabei die Fehler, die an jeder Stelle<br />

einer Kristalloberfläche entstehen können . Das gilt<br />

konkret für die uns vertraute Informationsspeicherkapazität<br />

und deren Fehlermuster, etwa die Compact Disks:<br />

Musikinformationen werden auf der CD dadurch gespeichert, daß<br />

ein Laserstrahl ein Muster in die glasglatte Oberfläche der<br />

Platte einkerbt; winzige Schreibfehler sind dabei<br />

unvermeidlich.<br />

Die Theorie der Meme, in der 1976 erschienenen Monographie The<br />

selfish gene 51 entwickelt, ist also eine Theorie der<br />

kulturellen Überlieferung in Anlehnung an die genetische<br />

Vererbung. Die kulturelle Vererbung benötigt, analog zur<br />

genetischen Evolution, einen Replikator, der sich selbst<br />

replizierend die kulturelle Information weitergeben kann.<br />

Dawkins nennt diese Informationsmuster Meme 52 : „Beispiele für<br />

Meme sind Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die<br />

Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen.“ 53 Alles, was in der<br />

menschlichen Kultur entsteht und entstanden ist, kann ein Mem<br />

werden.<br />

Damit ist nichts anderes gemeint als jene Signalmuster, die<br />

George Kubler in The shape of time als über ausdrückliche<br />

„Relais“ vermittelte Tradition beschrieben wird:<br />

So zum Beispiel, wenn das Leben Jesus´ in unzähligen täglichen Gebeten der Christen erneut gegenwärtig wird.<br />

Um bis zu uns zu gelangen, muß das ursprüngliche Ereignis den Zyklus zumindest einmal durchlaufen haben:<br />

das ursprüngliche Ereignis, sein Signal und unsere darauf folgende Betroffenheit. Das historische Ereignis<br />

erfordert demnach als Minimalbedingungnur ein Ereignis in Verbindung mit seinen Signalen und einen<br />

Menschen, der in der Lage ist, diese Signale aufzunehmen und weiterzugeben. .<br />

Nur daß Memetik den Menschen aus dem exklusiven Prilileg<br />

entläßt, alleiniger Überträger kultureller Botschaften zu<br />

sein, sondern sie um eine Welt aus quasi intelligenten<br />

Artefakten erweitert.<br />

Meme sind nicht-materielle Informationseinheiten, die jedoch<br />

an materielle Träger gebunden sind. Ein Mem ist sozusagen die<br />

technische Struktur für die kulturelle Information, die durch<br />

dieses Mem weitergegeben wird. Meme müssen in das Gedächtnis<br />

gelangen, um zu überleben. 54 Es gibt unterschiedliche Ansätze,<br />

wie ein Mem genau abgegrenzt werden kann. 55 Am gebräuchlichsten<br />

werden Meme als Informationen definiert, die sich sowohl als<br />

Ideen, Verhaltensweisen oder sich auch in Büchern,<br />

Computerprogrammen materialisieren können. Meme können also<br />

51<br />

Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Heidelberg u.a. 2 1994<br />

52<br />

Dawkins 1994, 306-9.<br />

53<br />

Ebd. 309.<br />

54<br />

Douglas Back, The Transformation of Memory to the Desired Form, in: Gerfried Stocker/Christine Schöpf<br />

(Hrsg.), Memesis. The Future of Evolution. Ars Electronica. Wien / New York 1996, 161­171 (162ff)<br />

55<br />

Dazu Susan Blackmore, Die Macht der Meme oder die Evolution von Kultur und Geist, Heidelberg / <strong>Berlin</strong><br />

2000, 115­120<br />

16


verschiedene Ausdehnungen haben. Es kommt nur darauf an, daß<br />

sie charakteristisch und einprägsam genug sind, um als Einheit<br />

weitergegeben zu werden. Dabei ist wesentlich, daß wichtige<br />

Merkmale identisch weitergegeben werden, während Unterschiede<br />

in der Darstellung und Auslegung nicht Teile des Mems sind.<br />

Meme werden in Gehirnen oder „künstlich hergestellten<br />

Gehirnprodukten“ 56 wie Büchern oder Computern gespeichert und<br />

kopiert. Sie werden übertragen, indem sie mit Hilfe des<br />

Gehirns imitiert werden oder über Trägermedien wie Computer,<br />

Sprache oder Bücher von einem Ort zum anderen wandern. 57 Meme<br />

reproduzieren und entwickeln sich also durch Austausch<br />

zwischen Memwirten wie dem Menschen, aber auch Texten bzw.<br />

Büchern, dem Web. Ihr Überleben ist dabei nicht unbedingt von<br />

direkter menschlicher Interaktion abhängig. Meme können sich<br />

auch unbeabsichtigt verbreiten. Findet zum Beispiel ein<br />

Gedanke in der Wissenschaft neue Anhänger, so verbreitet er<br />

sich, indem er von Gehirn zu Gehirn „wandert“. Die<br />

Wirkungsweise eines Mems kann dabei mit der eines Virus<br />

verglichen werden, der sich in eine Wirtszelle einpflanzt,<br />

genau wie das Mem sich im Gehirn festsetzt und von dort weiter<br />

übertragen wird. 58 In Analogie zu den Genen sind einige Meme<br />

dabei erfolgreicher als andere, prägen sich besser ein und<br />

werden öfter weitergegeben. Wie für Gene gelten auch für Meme<br />

die Faktoren „Langlebigkeit“, „Fruchtbarkeit“ und<br />

„Wiedergabetreue“. Ein Mem bzw. die kulturelle Information auf<br />

diesem Mem haben um so mehr Chancen Einfluß auszuüben und<br />

durch die Zeiten zu überleben, je länger sie sich im<br />

Gedächtnis der Menschen festsetzen können.<br />

An dieser Stelle kommen die Materialitäten der Kultur ins<br />

Spiel. Positiv auf die Überlebenschancen eines Mems wirkt sich<br />

nämlich aus, wenn es auf einem Träger liegt, der sehr<br />

beständig ist bzw. an einem Ort abgelagert wurde, der den<br />

Zugriff erleichtert - das Ressort der Speichermedien.<br />

Kriterien für die Überlieferungschance eines Mems sind, wie<br />

gut es sich re(du)plizieren kann, wie einprägsam es ist und<br />

wie häufig es weitergegeben wird. Entscheidend dabei ist, wie<br />

genau die Information auf dem Mem kopiert wird. Vermittels von<br />

Imitation werden Meme weitergegeben; wenn etwa eine gehörte<br />

Geschichte weitererzählt wird, werden vielfach andere Worte<br />

und Satzstrukturen verwendet als in der Vorlage - das Prinzip<br />

der stillen Post. Der Kern der Geschichte bleibt trotzdem<br />

intakt. Meme sind also nur semantisch und nicht syntaktisch,<br />

56<br />

Richard Dawkins, Der blinde Uhrmacher. München 1990, 186.<br />

57<br />

Dazu Daniel C. Dennett, Philosophie des menschlichen Bewußtseins. Hamburg 1994; ferner ders., Darwins<br />

gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens, Hamburg 1997, 482f.; ferner: Joshua S. Lateiner, The<br />

Memetic Web, in: Gerfried Stocker/Christine Schöpf (Hrsg.), Memesis. The Future of Evolution. Ars<br />

Electronica. Wien / New York 1996, 58­65 (61f.); Gerfried Stocker, Memesis, in: ders./Christine Schöpf (Hg.),<br />

1996, 26f<br />

58<br />

Siehe auch André Siegfried, Germs and Ideas. Routes of Epidemics and Ideologies, xxx 1995, Kap. IV<br />

17


d. h. nach bestimmten festliegenden Strukturen, zu<br />

definieren. 59<br />

Die Nähe des kulturellen Mem-Modells zur Evolutionstheorie<br />

Charles Darwins liegt auf der Hand. Meme verändern sich,<br />

während sie weitergegeben werden. Variation und Neukombination<br />

alter Meme sind „Wesensmerkmale“ aller Meme . Wenn alle Darstellungen und Verkörperungen eines<br />

bestimmten Mems vernichtet sind, kann dieses Mem aufgrund von<br />

Mutation trotzdem erneut auftauchen. Leonardo da Vinci etwa<br />

hat ein Vorgängermodell des Fahrrades entwickelt; die<br />

Zeichnung wurde jedoch erst 1966 gefunden. So ist die<br />

Entwicklung des Fahrrades ebenso ohne das ursprüngliche Modell<br />

Leonardos vonstatten gegangen 60 wie auch die Wiedererfindung<br />

der Dampfmaschine im englischen 18. Jahrhundert nach<br />

funktionslosen Ansätzen in der Antike (Hieron von Alexandria).<br />

Ein Fall für die Meme oder ihr kulturarchäologisch<br />

diskontinuierlicher Unfall<br />

Ganz offensichtlich ist das Modell der Meme nicht nur vor dem<br />

Hintergrund des naturwissenschaftlichen Darwinismus, sondern<br />

auch der aktuellen Medienkultur lesbar; von daher erklären<br />

sich die technischen Metaphern: Da es nur eingeschränkten<br />

„Speicherplatz“ gibt, sowohl im menschlichen Gehirn wie auch<br />

darüber hinaus (als Platz in Bücherregalen, als Sendezeiten in<br />

Radio und Fernsehen, als Raum in Zeitungen), müssen Meme um<br />

Platz „rivalisieren“. Damit wird ihnen eine quasi-lebendige<br />

Verhaltensweise unterstellt - die Supposition einer<br />

(schwachen) Subjektivität.<br />

An dieser Stelle ein medienarchäologischer und<br />

-materialistischer Einspruch gegen die grassierende Metaphorik<br />

der sogenannten „Lebenswissenschaften“. Hier gilt es, den<br />

Begriff von seinen aus dem 19. Jahrhundert überkommenen<br />

organizistischen Konnotationen freizuschaufeln, um ihn einer<br />

informatischen Lesart zugänglich zu machen. Neue<br />

Kommunikationsmedien wie elektrischer Telegraph und Telephon<br />

griffen von Ernst Kapp bis Hermann von Helmholtz in die<br />

Vorstellungen von der Funktionsweise des Organischen ein; die<br />

notorischen Analogien zwischen Nervensystem und<br />

Kommunikationsnetzen sind dafür ebenso ein Indiz wie die von<br />

den Experimenten Galvanis und Voltas zur "tierischen<br />

Elektrizität" um 1800 bis hin zu Sigmund Freuds Skizze eines<br />

psychischen "Apparats" im Entwurf einer Psychologie von 1895<br />

evident werdenden epistemischen Korrespondenzen von<br />

physiologischen medientechnischen Modellbildungen. W. von Dyck<br />

äußerte in seiner Rektoratsrede Über die Errichtung eines<br />

Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik<br />

(München 1903), daß das Deutsche Museum nicht nur eine<br />

Sammlung historischer und aktueller Werke der Erforschung und<br />

59<br />

Siehe Blackmore 2000, 32f.; ferner Dennett 1997, 492-497.<br />

60<br />

Heinz-Joachim Fischer, Dem Menschen Mühe erspart, in: FAZ Nr.87 vom 15.04.2002, 12.<br />

18


Erfindung auf naturwissenschaftlichem und technischem Gebiet<br />

sei, sondern „als ein lebendiger Organismus alle seine<br />

Glieder“ umfasse. 61 Vergleichen wir damit die Archivdiskussion<br />

im 19. Jh., wo organizistische Metaphern vom Archivkörper<br />

fröhliche Urstände feierten. Das Regulativ für die preußischen<br />

Staatsarchive von 1881 hat diese Relation festgeschrieben,<br />

doch eine Behördenvorschrift schafft noch keine<br />

Gedächtnisenergie. Dies geschieht erst in der Kopplung dieser<br />

Vorschrift an epistemische „Geltung und Autorität“ 62 , den<br />

Diskurs der Geschichte, der als Organismus verbrämt, was<br />

System ist - korrespondierend mit der Definition der<br />

Archivalie durch „das organische Prinzip der Besonderheit“<br />

(Meisner), das in dem Moment aufgehoben ist, wo sie das<br />

Trägermedium wechselt. 63<br />

In den sogenannten Lebenswissenschaften waren es Figuren wie<br />

Charles Darwin und Ernst Haeckel, welche „das Lebendige“ dem<br />

Zugriff mathematisch-physikalischer Theoretisierung (2.<br />

Hauptsatz der Thermodynamik) zu entziehen suchten; der<br />

indische Physiker Apoorva Patel beschreibt es so:<br />

Organismen bestehen weder aus völlig regulären, festkörperhaften, noch aus restlos freibeweglich­gasförmigen<br />

Arrangements. Dadurch werden die üblichen Werkzeuge der Physik ­ Gleichgewichtsdynamiken, axiomatisches<br />

Schließen, periodische Strukturen und Störungstheorien ­ weitgehend nutzlos. 64<br />

Möglich war diese Sicht nur im schriftstellerischen Modell des<br />

„Lebenserzählens“; dem gegenüber steht die „Informatiknähe<br />

neuer Lebenswissenschaften wie der Genomik, vertreten etwa<br />

durch Dawkins, worin sich Leben in Rechenanweisungen<br />

aufzulösen beginnt .<br />

Damit zurück zur Memetik, also dem Modell<br />

gedächtnisübertragender Einheiten kultureller Evolution, als<br />

Äquivalent des Gens als sich replizierender Einheit der<br />

biologischen Evolution. In der Sprache der Informatik<br />

entsprechen Meme den genetischen Algorithmen oder quasiintelligten<br />

Knowbots:<br />

Meme sind alle Arten von Informationsmustern, die in der menschlichen Kultur überliefert werden, z. B.<br />

Schlagwörter, Erfindungen, Überzeugungen, Melodien (# Ohrwurm) oder Geschichten. Diese # Überlieferung<br />

vollzieht sich als Replikation der Einheiten, die Meme sind als Replikatoren ihre eigentlichen Akteure. Menschen<br />

erscheinen lediglich als Vehikel der Meme. Erfolgreiche Meme modifizieren das Verhalten ihrer Vehikel<br />

dergestalt, daß sie repliziert werden. Eine gute Geschichte wird weiter erzählt, eine eingängige Melodie wird im<br />

Radio gespielt und auf der Straße gepfiffen, der Handschlag setzt sich als Begrüßungsform in einer Kultur durch.<br />

61<br />

Zitiert von Conrad Matschoss in der Einleitung zu ders. (Hg.), Das Deutsche Museum. Geschichte, Aufgaben,<br />

Ziele, <strong>Berlin</strong> / München (VDI-Verlag / Oldenbourg) 1925, 6<br />

62<br />

Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925, 24; dazu Peter Berz, Der<br />

deutsche Normenausschuß. Zur Theorie und Geschichte einer technischen Institution in: Armin Adam / Martin<br />

Stingelin (Hg.), Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungsstrategien von<br />

Institutionen, <strong>Berlin</strong> (Akademie) 1995, 221-236 (228)<br />

63<br />

Fußnote Meisner 1955: 174: „Von den Perspektiven des Mikrofilm sehe ich dabei ab“; Mikrofilm macht<br />

archivische Unikate nicht nur reproduzierbar, sondern auch in einer bibliotheksvertrauten Weise vernetzbar, wie<br />

es Vannevar Bush 1945 in Form eines maschinellen Memory extender angedacht hat.<br />

64<br />

Zitiert nach: Dietmar Dath, Darwins Testament, über: Jay Gould, The Structure of Evolutionary Theory<br />

(2002), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 83 v. 10. April 2002, 47<br />

19


Da # Erinnerung eine Voraussetzung der Replikation ist, ist das menschliche # Gedächtnis ein # Speicher für<br />

Meme. In ihrer Distribution wechseln Meme beständig den Aggregatszustand und nutzen verschiedenste<br />

Speicher­ und Verbreitungsformen (Sprache, Buchdruck, Telefon, Radio, Internet...) als Trägermedien. 65<br />

Kleinste kulturelle Informationsmuster liefern also ein Modell<br />

kulturwissenschaftlicher Tradition. „Meme sind unsichtbar und<br />

werden von Mem-Vehikeln getragen“ 66 - womit sie immer auf<br />

Materialitäten und Medien der Kultur angewiesen sind (Bilder,<br />

Bücher, Redewendungen). Sie funktionieren damit in einer<br />

Weise, welche in anderen Worten längst formuliert worden ist.<br />

Der Begründer der kritischen Editionen mittelalterlicher<br />

Texte, etwa des Nibelungenlieds, der Philologe Karl Lachmann,<br />

hat für die mittelalterlichen Sagenüberlieferung definiert:<br />

„Eine Erzählung muss, selbst ohne Wissen des Erzählenden,<br />

einen Gedanken ausdrücken.“ 67 Rücken damit Meme<br />

kulturwissenschaftlich an die Stelle dessen, was im Reich der<br />

platonischen Philosophie „Ideen“ darstellen Die Denker der<br />

deutschen Romantik sahen Mythos, Sage und Epos als einem<br />

gemeinsamen (göttlichen) Urgrund entsprungen, „und man begriff<br />

sie, ähnlich den platonischen Ideen, als immaterielle, in<br />

ihrer Substanz unveränderliche Wesenheiten, die sich im<br />

Erzählen akzidentell mit der Geschichte (historia) verbanden<br />

und dadurch materialisierten“ .<br />

Jacob Grimm zufolge vermag der alte Mythos „örtlich sich<br />

niederzulassen“, sich also lokal zu konkretisieren . Oder verweisen Meme<br />

vielmehr unablöslich und unvordenklich auf ihr medialmateriale<br />

Substrat<br />

Werkzeuge, Bauwerke und andere Erfindungen sind bestenfalls Mem­Träger. Ein Waggon mit Speichenrädern<br />

bringt nicht nur eine Fracht von einem zu einem anderen Part, sondern trägt auch die brillante Idee eines<br />

Waggons mit Speichenrädern von Geist zu Geist <br />

- eine Formulierung ganz im Rahmen der klassischen<br />

Ideengeschichte, dergegenüber Medienarchäologie auf die<br />

Materialitäten der Kommunikation pocht. In der Epoche<br />

weltweiter elektronischer Kommunikationsnetze ersetzt die<br />

Leitung selbst, der Kanal, also der Akzent auf Übertragung die<br />

klassische Dominanz materieller Speicher(ung). „Wenn die Zahl<br />

der Straßen sich erhöht, werden die Städte kleiner. Je mehr<br />

Neutronen, desto weniger Engramme. Die Relationen vermehren<br />

sich auf Kosten der `Substanz´“ 68 , also Materialitäten, wie<br />

schon die Scholastik des Mittelalters, aber auch Hegel sagte:<br />

„die Nacht der Substanz“. 69 Meme sind, wie wir betonen, ganz<br />

65<br />

Artikel von Björn Laser in: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, hg. v. Nicolas Pethes /<br />

Jens Ruchatz, Reinbek (Rowohlt) 2001, 364-366<br />

66<br />

Daniel C. Dennett, Philosophie des menschlichen Bewußtseins, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1994, 268<br />

67<br />

Karl Lachmann an Wilhelm Grimm, Königsberg, 20. September 1821, in: Jacob Grimm, Werke. Jacob und<br />

Wilhelm Grimm, Forschungsausgabe, hg. v. Ludwig Erich Schmitt, Bd. 36, Abt. 2, Die Werke Wilhelm Grimms.<br />

Die deutsche Heldensage, Bd. 1 [* 1889], neu hg. v. Otfried Ehrismann, Nachdruck der 3. Aufl. Gütersloh<br />

(Bertelsmann 1889), nach der Ausg. v. Reinhold Steig, Hildesheim / Zürich / New York (Olms) 1999, 516<br />

68<br />

Michel Serres, Der Mensch ohne Fähigkeiten. Die neuen Technologien und die Ökonomie des Vergessens, in:<br />

Transit 22 (Winter 2001/02), 193-206 (198)<br />

69<br />

Siehe Friedrich Kittler, Die Nacht der Substanz, Bern (Benteli) 19xxx<br />

20


entschieden auf Materialitäten verwiesen - im Unterschied zum<br />

eher „substanzlosen“ Traditionsbegriff in den<br />

gedächtniskulturwissenschaftlichen Schriften von Aleida und<br />

Jan Assmann.<br />

Ein konkretes Beispiel praktizierter Memetik ist das aus<br />

altsprachlichem Unterricht noch vertraute altgriechische<br />

Versmaß, also Muster des Hexameters. Wie konnte sich Homers<br />

Gesang über den Untergang Trojas, die Ilias, die<br />

wahrscheinlich in mykenischer Zeit schon gesungen wurde, sich<br />

über die schriftlose Zeit, also eine Epoche von ca. 400<br />

Jahren, als Gedächtnis retten (falls nicht diese Lücke selbst<br />

ein kalendarischer Rechenfehler ist und schlicht nicht<br />

existierte, analog zu dem von H. Illig aufgewiesenenen Befund<br />

für die Epoche Karls d. Gr.) „Die Geschichten, die wir als<br />

`Mythos´ kennen, sind in mykenischer Zeit entstanden und durch<br />

die `Lücke´ hindurchgewandert“ - eine List<br />

der Meme.<br />

Die Linear B-Schrift war keine Herausforderung an die<br />

hexametrische Dichtung, da Linear B für Verwaltungs-, nicht<br />

aber für poetische Zwecke praktiziert wurde. Als<br />

Hexameterdichtung war sie selbst ein formalisiertes, also<br />

halbwegs stabiles Speicher- und Übertragungsmedium, im<br />

Unterschied zur schlichten oralen Tradition von Geschichten -<br />

eine Kulturtechnik, ein „Meßgefäß“ (Latacz). Dichtung hat hier<br />

gegenüber den Geschichten eine kulturtechnische Funktion. „In<br />

einer schriftlichkeitsbestimmten Kultur sind solche<br />

Zeitabstände relativ bedeutungslos, weil Bibliotheken und<br />

Archive auch noch nach Jahrhunderten im Lesenden<br />

Gleichzeitigkeit erzeugen können“ 70 ; Griechenland um 1000 v.<br />

Chr. aber verfügt über keine solchen externen Speicher als<br />

Relais der Tradition. Formelhafte Wendungen komprimieren die<br />

schiere zu memorierende Textmenge und vermögen, im Medium des<br />

Hexameter, quasi algorithmisch immer wieder spontan Wendungen<br />

zu erzeugen - generative „Grammatik“ in<br />

einer Zeit ohne grammé, ohne Schrift.<br />

Ein Gedächtnismedium, zum Mem verkürzt Meme sind keine Wesen,<br />

sondern Techniken, sprachgenerierende Strukturen. „Es gab ein<br />

Medium, in dem die Troia-Geschichte weitergetragen werden<br />

konnte: die hexametrische griechische Sängerdichtung, und es<br />

gab eine soziale Schicht, die einem solchen Medium durch die<br />

Jahrhunderte hindurch eine Heimstatt bieten konnte und wollte“<br />

. Konkret und materialiter aber mag in II. Gesang<br />

von Homers Ilias (Verse 494-759) der sogenannte<br />

„Schiffskatalog gelangt sein, von der Art eines Auszugs aus<br />

einem von einer Verwaltungsbehörde entworfenen geographischen<br />

Kataster. 71 Es handelt sich hier offensichtlich weniger um eine<br />

Erzählform denn eine Liste - in der Tradition der<br />

70<br />

Joachim Latacz, Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, München / <strong>Berlin</strong> (Keohler &<br />

Amelang) 2001, 256<br />

21


ürokratischen Registraturpraxis mykenischer Palastkultur. 72<br />

„Wie kommt ein Dichter eines erzählenden Epos überhaupt dazu,<br />

eine derartige Statistik in seiner Dichtung vorzulegen Ist<br />

Statistik nicht etwas Undichterisches“ .<br />

Handelt es sich hier um ein „Mem“ oder eine konkrete Vorlage,<br />

etwa eine Inschrift Vermochte Homer Linear B zu lesen<br />

Die Ilias als Ganze aber hört nicht auf, im abendländischen<br />

Gedächtnis sich fortzuschreiben; eine erste Stufe der<br />

Replikation ist Vergils römisches Gründungsepos der Aeneis.<br />

Das MEMory des Abendlands (also des Humanismus) ist in einem<br />

Spruch des Horaz geborgen: „Graecia capta, victa victorem<br />

cepit“.<br />

Besitzen Meme eine Materialität, sind sie als konkrete Träger<br />

faßbar Reproduktion korreliert mit dem Begriff des Abrufs als<br />

Wiedererlangen gespeicherter Information; sie ist damit immer<br />

schon auf externe, materialisierte Speicher verwiesen. 73 Am<br />

literaturwissenschaftlichen Begriff der Topik (der<br />

literarischen, aber auch visuellen, etwa von Aby Warburg<br />

identizifierten topoi) läßt sich diese Frage konkretisieren:<br />

"Kontinuität der literarischen Tradition - das ist ein<br />

vereinfachter Ausdruck für einen sehr verwickelten<br />

Tatbestand", kommentiert Robert Curtius . Im Sinne<br />

der Meme wären dann formelhafte Wendungen (topoi, die<br />

inhaltlich habitualisierten und räumliche geordneten<br />

Wissenselemente dieser kulturellen Tradierung als<br />

Wissensverwaltung über die Zeit hinweg (rhetorischliterarisch-enzyklopädisch)<br />

74 :<br />

Die Lehre von den toipoi oder den rhetorischen Orten, in denen sich das geistige Leben der Antike fixierte, den<br />

Formen und Figuren, in denen es in der Spätantike zwar erstarrte, aber dank dieser Erstarrung auch, gleichsam<br />

verkapselt, in der Kopisten­ und Schultradition des Mittelalters überliefert werden konnte ­ bis mit Dante und<br />

Petrarca ein neuer, schöpferischer Morgen anbrach, die Kapseln erbrochen und ihre Inhalte zu neuem<br />

literarischem Leben erweckt wurden. 75<br />

Allerdings werden die topoi von einer rhetorischen zu einer<br />

mechanischen Technik. Curtius benennt einen konkreten<br />

Medienumbruch als Mitfaktor: "Denn seit dem 4. Jahrhundert<br />

wurde die Papyrusrolle durch den Pergamentcodex ersetzt. Eine<br />

technische Neuerung und ein Geschmackswandel trafen also in<br />

dem Ergebnis einer Verminderung der lateinischen Literatur<br />

zusammen" .<br />

71<br />

E. Visser, Formale Typologien im Schiffskatalog der Ilias. Befunde und Konsequenzen, in: H. L. C. Tristram<br />

(Hg.), New Methods in the Research of Epic, Tübingen 1998, 25-44<br />

72<br />

Dazu Joachim Latacz, Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, München / <strong>Berlin</strong> (Keohler<br />

& Amelang) 2001, 276f<br />

73<br />

Siehe Eintrag „Abruf“ in Pethes / Ruchatz (Hg.) 2001: 22f<br />

74<br />

Siehe den Artikel „Topos“ von Nicolas Pethes, in: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon,<br />

hg. v. dems. / Jens Ruchatz, Reinbek (rowohlts enzyklopädie) 2001, 584f (584)<br />

75<br />

Ulrich Raulff, Quis custodiet custodes Über die Bewahrung und die Erforschung von Tradition, in: ders. /<br />

Gary Smith (Hg.), Wissensbilder. Strategien der Überlieferung, <strong>Berlin</strong> (Akademie) 1999, 1-11 (3f, über Ernst<br />

Robert Curtius)<br />

22


Die Form des Kodex weist als Datenträger entscheidende Vorteile gegenüber der älteren Buchrolle auf, da seine<br />

Benutzer gezielt einzelne Informationsblöcke aus dem Gesamttext abrufen können, ohne ihn immer wieder vom<br />

Anfang her lesen bzw. "aufrollen" zu müssen. Das blätterbare Buch eröffnet die Möglichkeit des<br />

Sei/teneinstiegs, es arbeitet als Random Access Memory, und genau darin liegt auch sein Vorteil bei der<br />

Implementierung von Großtexten in Aufführungssyteme. Neben der Übersetzbarkeit in Sprechsprache und<br />

Interaktion ist es die Möglichkeit des beliebigen Seiteneinstiegs, die das neue Medium in die alten Orte und<br />

Institutionen einpaßt. 76<br />

Medienarchäologie erklärt sich für die Analyse solcher<br />

kulturtechnischen Form zuständig.<br />

Curtius benennt konkret als kulturelle Transmissionstechniken<br />

Grammatik, Rhetorik, die freien Künste und Schulen. Doch<br />

unentschieden schwankt Curtius zwischen dem hermeneutischen<br />

und dem medienwissenschaftlichen Blick auf die Literatur des<br />

Mittelalters. Das Symbol des Humanisten ist seine<br />

Bücherwerkstatt; "was bleibt aber übrig, wenn Hieronymus sein<br />

Gehäuse verläßt" - der reine<br />

Speicher, nicht einmal mehr Gedächtnis.<br />

Die Wahrscheinlichkeit der Tradition ist eine Funktion ihrer<br />

Medien, die auch den Modus bestimmen: ob Daten als<br />

Reproduktion oder als sie selbst übertragen werden. Curtius<br />

sagt es als Präzision des Exempels Platon, daß in der<br />

Literatur alle Vergangenheit als Gegenwart aufgehoben ist. Es<br />

geht um die Differenz von medialer Fortsetzung und materieller<br />

Unübersetzbarkeit. „Homer wird uns durch eine neue Übersetzung<br />

neu vergegenwärtigt“ 77 - quasi als generativer Buchstabenkalkül.<br />

Ich kann den Homer und den Platon zu jeder Stunde vornehmen, ich „habe“ ihn dann und habe ihn ganz. Er<br />

existiert in unzähligen Exemplaren. Der Parthenon und die Peterskirche sind nur einmal da, ich kann sie mir<br />

durch Photographien nur partiell und schattenhaft anschaulich machen. Aber die Photographien geben mir keinen<br />

Marmor, ich kann sie nicht abtasten und nicht darin spazierengehen, wie ich es in der Odyssee oder der Divina<br />

Commedia kann. Im Buch ist die Dichtung real gegenwärtig. <br />

Meme bedürfen ihrerseits ganz entschieden der medialen Träger,<br />

des materiellen support. Mediales Apriori dieses<br />

kulturtechnischen Paradigmas ist der Buchdruck. Dessen<br />

technische Medialität liegt in der Standardisierung nicht erst<br />

auf der Benutzeroberfläche, sondern schon in der Materialität<br />

des Verfahrens, dem wiederholbaren Abguß der Letter aus der<br />

Matrize mit dem Handgießgerät. Buchdruck eröffnet die<br />

Differenz zwischen medialer Fortsetzung von Information und<br />

materieller Unübersetzbarkeit der ehemaligen<br />

Informationsträger.<br />

76<br />

Haiko Wandhoff, Der epische Blick: eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur, <strong>Berlin</strong><br />

(Schmidt) 1996, 326f<br />

77<br />

Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 24. Dazu Elisabeth Lenk,<br />

Achronie. Über literarische Zeit im Zeitalter der Medien, in: Claus Pias (Hg.), Neue Vorträge zur Medienkultur,<br />

Weimar (VDG) 2000, 285-299 (293f)<br />

23


Reprise: Das memetische Modell von Kultur (und das „kollektive<br />

Gedächtnis“)<br />

Die Vorgeschichtsforschung schloß lange Zeit von Artefakten,<br />

die sich in der archäologischen Fundstreuung gehäuft<br />

vorfanden, kurzerhand auf die Existenz einheitlicher Stämme<br />

oder Völker: „Begriffe wie `Bandkeramiker´, `Streitaxtleute´<br />

oder `Trichterbecherkultur´ suggerieren diese Identität von<br />

materiellen Hinterlassenschaften mit fest umrissenen sozialen<br />

und kulturellen Gruppierungen.“ 78 Das technische Wissen<br />

autopoietischer Kulturkreise wird von höchst materiellen Memen<br />

quasi telegraphisch transzendiert:<br />

Schon die technische Verbesserung der Töpferarbeit durch Verwendung der Drehscheibe aber hat sich sicher, alle<br />

Kulturkreiszäune nicht achtend, quer über die Welt ausgebreitet, und ganz deutlich durchbricht die große, die<br />

Steinzeit beendende Werkzeug­ und dann auch Bewaffnungsumwälzung zur Metallverarbeitung hin sowohl in<br />

den Stufen der Ausbildung wie der Ausbreitung seit dem 4. Jahrtausend alle derartigen Schranken. Sie ist ein<br />

Zivilisationsfortschritt, der vom wohl hochasiatische Ursprungsherd überallhin vermittelt wurde, wie<br />

getragen von einer nur durch geographisch­historische Niveauunterschiede verlangsamten prähistorischen<br />

drahtlosen Telegraphie. 79<br />

Transportmedien wie das Rad sind nicht schlicht Vehikel von<br />

Memen, sondern „speichern“ (buchstäblich) das Wissen ihrer<br />

eigenen Konstruktion. Oswald Spengler kommt in einem Vortrag<br />

vom Februar 1934 unter dem Titel „Der Streitwagen und seine<br />

Bedeutung für den Gang der Weltgeschichte“ darauf zu sprechen.<br />

Zunächst beklagt er darin die einseitige, auf Literatur als<br />

Quelle von Information konzentrierte historische Forschung.<br />

Leopold von Rankes Erbe: Seinem Credo zufolge beginnt die<br />

Geschichte ja erst dort, wo auch Textquellen einsetzen. Doch<br />

dann der material culture turn: „Seitdem haben die<br />

Ausgrabungen eine andere Auffassung und andere Methoden<br />

herausgebildet“ . Aber dies<br />

ist keine andere Geschichte, sondern deren Alternative:<br />

Spengler gibt „zu bedenken, daß die Feststellung von Schichten<br />

und die Ordnung von Funden nach formalen Zusammenhängen die<br />

Gefahr in sich birgt, vom Wesen der Geschichte abzulenken. Die<br />

Keramik schweigt von den Ereignissen“ - während ihrer<br />

seriellen Anordnung Michel Foucaults Archeologie du savoir<br />

gerade eine Aussage, eine enonciation darstellen würde. Und<br />

dann hebt er doch eine Gruppe aus den Bodenfunden hervor, die<br />

„in ihrer wirklichen geschichtlichen Bedeutung immer übersehen<br />

oder unterschätzt“ werde: die Waffen. „Sie stehen der<br />

Geschichte näher als Scherben und Schmucksachen“, wenn man sie<br />

nur anders als schlicht stilgeschichtlich betrachte. „Es fehlt<br />

an einer Psychologie der Waffen.“ Was Spengler hier Waffe<br />

nennt, würde heute bereits in das Ressort Archäologie als<br />

Medientheorie fallen, die damit eine kultur-materielle<br />

78<br />

Wolfgang Krischke, Der flexible Bandkeramiker, über die Arbeitsgemeinschaft „Theorie in der Archäologie“<br />

während des 4. Deutschen Archäologenkongresses an der Universität Hamburg, in: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung Nr. 127 v. 5. Juni 2002, N2<br />

79<br />

Alfred Weber, Das Tragische und die Geschichte [*Hamburg 1943], hg. v. Richard Bräu, Marburg (Metropolis)<br />

1998, 67<br />

24


Quellengattung auf eine spezifische Art überhaupt erst<br />

erschließt und somit zu so etwas wie einer Hilfswissenschaft<br />

der Kulturhistorie wird: „Jede Waffe redet auch von dem Stil<br />

des Kämpfens und damit von der Lebensanschauung der Träger.“<br />

In der Erfindung, Verbreitung oder Ablehnung einer<br />

Kriegstechnologie entdeckt Spengler einen Ethos: „Der Bogen z.<br />

B. ist die erste Fernwaffe, die von einer Gruppe europäischer<br />

Stämme als unritterlich instinktiv abgelehnt wird“ . Und<br />

dann betreibt Spengler das, was in der Medientheorie Paul<br />

Virilios als Dromologie bezeichnet wird und in der Theorie der<br />

Deterritorialisation, also den Mille Plateaux von Deleuze /<br />

Guattari, eine Rolle spielt:<br />

Keine Waffe ist so weltverwandelnd geworden wie der Streitwagen, auch die Feuerwaffe nicht. Er ist die<br />

erste komplizierte Waffe. Vor allem tritt hier das Tempo als taktisches Mittel zuerst in die Weltgeschichte<br />

ein. 80<br />

Der medienarchäologische Aspekt an der Memetik ist der, daß<br />

sich nicht nur kulturelle Wissenseinheiten namens Meme<br />

vermittels von Vehikeln übertragen, sondern diese Vehikel -<br />

McLuhan nennt sie Medien - selbst Wissensträger sind, schon<br />

als Apparate, die ein Wissensaggregat aufspeichern, unabhängig<br />

davon, welches Wissen mit ihnen vermittelt wird - so daß<br />

Nietzsches Einsicht gilt, daß das Schreibwerkzeug an den<br />

Gedanken mitschreibt.<br />

Anhand der Schreibmaschinen läßt sich nachweisen, wie Medien<br />

nicht nur kulturelles Wissen (Meme) übertragen, sondern es an<br />

sich tragen. So haben Schreibmaschinen schon als Maschinen ein<br />

kulturtechnisches Wissen, und damit übertragen sie Kultur<br />

transitiv wie intransitiv. Die Schreibmaschine hat ein<br />

Bewußtsein für diskrete Prozesse der Informationsvermittlung<br />

kultiviert und wurde zum Modell für den Schreib/Lese-<br />

Mechanismus der Turing-Maschine. Leibniz wiederum macht das<br />

alphabetische Dispositiv dieser Maschinen deutlich, das<br />

bestimmte Gedanken zu denken überhaupt erst erlaubt: die<br />

Vorstellung einer Kombinier- und Rekombinierbarkeit der Welt<br />

aus kleinsten diskreten Symbolen. Dies wiederum schließt sich<br />

kurz mit der aktuellen Debatte um die Entzifferung der<br />

menschlichen Genomsequenz, welche die menschliche Biologie<br />

selbst kalkulierbar macht. Und an dieser Stelle kommt erneut<br />

die Analogie zwischen kulturellen Übertragungsprozessen und<br />

biologischer Vererbung ins Spiel, die mit der Analogiebildung<br />

von Memen am Modell der Gene einsetzt. Zur Diskussion, ob DNA<br />

als „Text“ verstanden werden kann, gesellt sich nun umgekehrt<br />

die Analyse der Stammesgeschichte mittelalterlicher<br />

Manuskripte mit Hilfe von für DNA-Sequenzen entwickelten<br />

Methoden - der medienarchäologische Blick (jenseits der<br />

Hermeneutik). Auch hier wurde mehrfach und fehlerhaft<br />

kopiert. 81<br />

80<br />

Spengler ebd., 149. Siehe Gilles Deleuze / Félix Guattari, Mille Plateaux, <strong>Berlin</strong> (Merve) xxx<br />

81<br />

Thomas Weber, Evolution von Texten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 61 v. 13. März 2002, N4, unter<br />

Bezug auf einen Beitrag in Endeavour Bd. 25 (September 2001)<br />

25


Lotman/Uspenskij zufolge ist Kultur gegenüber der Trägheit<br />

biologisch-genetischer Evolution ein extrasomatisches, "nichterblich<br />

vermitteltes Gedächtnis eines menschlichen<br />

Kollektivs"; A. Giddens nennt Tradition ausdrücklich ein<br />

„organisierendes Medium“ des kollektiven Gedächtnisses. 82 Doch<br />

was ist ein Kollektiv, was ist „kollektives Gedächtnis“<br />

(Maurice Halbwachs) Wie kommt es zu Erinnerung an Ereignisse,<br />

die wir nie selbst erlebt haben, also eine Vergangenheit, die<br />

so vielleicht nie Gegenwart war Dahinter steht die<br />

anthropologische Trostfigur des „Bandes der Generationen“.<br />

Halbwachs beruft sich auf Marc Bloch, der in einer Schrift<br />

über die mémoire collective die in ländlichen Gemeinschaften<br />

überlebende Praxis betont, daß die Großeltern den Kindern<br />

„Gebräuche und Traditionen aller Art übermitteln.“ 83 Eine<br />

Tautologie, insofern Tradition selbst Übermittlung meint So<br />

ist Tradition Subjekt und Objekt der Überlieferung zugleich.<br />

Die jüdische Gemeinschaft durchlebt zur Zeit die<br />

Transformation des Holocaust von persönlicher Erinnerung zu<br />

Geschichte aus zweiter Hand, die den Institutionen der<br />

Historiographie preisgegeben ist. 84 Das kollektive Gedächtnis<br />

ist ein in sich diffuser Begriff; er bedarf der konkreten<br />

Benennung. Halbwachs selbst verwendet ihn nicht<br />

universalistisch: „Jedes kollektive Gedächtnis hat eine<br />

zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger“ ; an dieser Stelle kommen die Materialitäten nicht<br />

nur als Wetware, sondern auch als Hardware von Übertragung ins<br />

Spiel der Memetik.<br />

Die Meme sind ein Neologismus in Anlehnung an die Etymologie<br />

der Mnemosyne. "Mnemische Energie" heißt bei Aby Warburg,<br />

dessen memetisches Medium Photographien waren und der sich<br />

hier auf einen Begriff von Richard Semon bezieht 85 , jene im<br />

Bildgedächtnis einer Gesellschaft gespeicherte kollektive<br />

Erfahrung, "deren Sinngehalt sich in der Berührung blitzartig<br />

wieder erschließen kann." 86 Walter Benjamin greift dieses Bild<br />

in seinen Thesen über den Begriff der Geschichte wieder auf.<br />

Springen hier konkrete Meme über „Die kollektiven Rahmen des<br />

Gedächtnisses bestehen nicht nur aus Jahreszahlen, Namen<br />

und Formeln, sondern stellen Denk- und Erfahrungsströmungen<br />

dar, in denen wir unsere Vergangenheit nur wiederfinden, weil<br />

sie von ihnen durchzogen worden ist.“ 87 Halbwachs interessiert<br />

sich für die Nahtstellen von äußerlich vermittelter und<br />

persönlich erlebter Geschichte, von Denkweisen und ihren<br />

„materiellen Trägern“ . „Man wird also<br />

annehmen, daß sich eine Art knstliches Milieu bildet, das<br />

außerhalb all dieses persönlichen Denkens besteht, es aber<br />

umschließt - eine kollektive Zeit und ein kollektiver Raum und<br />

82<br />

A. Giddens, Tradition in der post-traditionalen Gesellschaft, in: Soziale Welt, Jg. 44, Nr. 4 (1993), 445-483<br />

83<br />

Marc Boch, Mémoire collective, traditions et coutumes, in: Revue de Synthèse historique, Heft 118-120 (1925),<br />

79<br />

84<br />

Dazu (unter Bezug auf Vidal­Naquet) Hayden White, The Politics of Interpretation, in: Critical Inquiry, xxx<br />

85<br />

Richard Semon, Der Engrammschatz des Gedächtnisses [1904], in: Uwe Fleckner (Hg.), Schatzkammern der<br />

Mnemosyne, Dresden (Verlag der Kunst) 1995, 206-212<br />

86<br />

Jan Assmann (hier in Anlehnung an Aby Warburg), Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders. /<br />

Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, 9­19 (12)<br />

87<br />

Maurice Halbwachs, Kollektives und historisches Gedächtnis, in: ders., Das kollektive Gedächtnis,<br />

Frankfurt/M. 1985, 34-77 (50)<br />

26


eine kollektive Geschichte“ . Doch dieser Rahmen ist<br />

speicherwissenschaftlich präziser faßbar, denn genau<br />

betrachtet gibt es das von Maurice Halbwachs nur nebulös<br />

definierte kollektive Gedächtnis nur vage, insofern technische<br />

und administrative Speicher Daten transferieren, nicht<br />

erinnern. Fraglich ist, ob eine solche Kategorie „nicht bloß<br />

als Metapher anzusehen“ ist, da das soziales Gedächtnis die<br />

Organe nicht angibt, über die es verfügt - seine technischen<br />

Übertragungsmedien . Die romantische Vorstellung vom Archiv als<br />

Gedächtnis der Gesellschaft wird immer noch vorwiegend<br />

inhaltlich verstanden, „doch sind Archive tatsächlich<br />

Gedächtnisse oder sind sie eher wie Andenken, an denen sich<br />

das Gedächtnis verankern kann Bewahren Archive Informationen<br />

zur weiteren Verwendung auf, oder sind sie vielmehr<br />

unverzichtbar als Instrumente der Amnesie-Prävention" 88 Archive<br />

sind das Register, welches gegenüber der mündlichen<br />

Überlieferung die Möglichkeit zur Modifikation und Korrektur<br />

aktueller Gedächtnisleistungen bereithält, mithin also die<br />

Implementierung einer Feedback-Option, ein Speicher zweiter<br />

Ordnung.<br />

Übernehmen wir die von Halbwachs soziologisch gewonnene<br />

Unterscheidung von kollektivem Gedächtnis und Geschichte<br />

und ergänzen sie aus Sicht der<br />

Medienarchäologie um eine weitere Differenz: den Speicher.<br />

Kultur als „die Bezeichnung für wiederkehrende,<br />

identifizierbare Elemente“ bedarf dieser<br />

Orte der Einschreibung. Manche Meme verlieren sich im Weltall,<br />

wenn sie nicht künstlich gespeichert werden oder sich<br />

Speicher- und Übertragungsmedien suchen und finden können.<br />

Hier kommen Medien gegenüber den Memem konkret ins Spiel.<br />

"Sich gegenseitig stützende Co-Meme finden sich zu Mem-<br />

Komplexen zusammen, die gemeinsam überliefert werden.<br />

Sprachen, Religionen oder Kunststile sind in diesem Sinne Mem-<br />

Komplexe" ; tatsächlich verkörpert (also speichert)<br />

Sprache immer auch „gesellschaftlich sedimentiertes Wissen“<br />

. Begriffe brauchen also in ihrer<br />

funktionalen Bedeutung nicht immer neu erfunden zu werden und<br />

bedürfen auch keiner ritualisierten Vermittlungsform.<br />

Zur Etymologie des Ausdrucks “Mem“ gibt der Evolutionstheoretiker R. Dawkins an, es handele sich um eine an<br />

“Gen“ angeglichene Kurzform von “Mimem“ (von gr. mimesis), zieht aber auch lat. memoria und frz. même zur<br />

Erklärung heran. Ähnlich wie er die Vielfalt der biologischen Evolution aus dem einfachen Prinzip des<br />

“egoistischen“ Gens erklärt, das nichts weiter betreibt als seine eigene Replikation, findet Dawkins im<br />

Replikationswettbewerb “egoistischer“ Meme den Mechanismus hinter der Vielfalt der kulturellen Entwicklung.<br />

<br />

Zwar sind biologische und kulturelle Evolution bei Dawkins<br />

strikt getrennt, doch legt schon der Neologismus eine<br />

Analogiebildung zwischen genetisch kodierten<br />

Vererbungsprozessen und kulturellen Kodierungen nahe, wie sie<br />

am Beispiel des Buchdrucks und der Schreibmaschine buchstäbich<br />

88<br />

Angelika Menne­Haritz, Das Provenienzprinzip ­ ein Bewertungssurrogat Neue Fragen zu einer alten<br />

Diskussion, in Der Archivar 47, Heft 2 / 1994, 230­252 (237)<br />

27


wurden, die nämlich kulturelles Wissen ebenso in kleinste<br />

diskrete Einheiten verwandelt haben, die rekombinierbar sind.<br />

Auch wenn Dawkins keine Theorie der menschlichen Kultur beabsichtigte, ist in seiner Nachfolge mit der<br />

Memetik eine solche entstanden. Sie beschäftigt sich mit memetischen Erklärungen des Sprachursprungs oder<br />

der Evolution des menschlichen Neokortex‘ (Blackmore 1999) oder mit Fragen nach der neuronalen Hardware<br />

eines Mems (Delius 1989). 89<br />

Im Internet finden sich zahlreiche Publikationen zur Memetik,<br />

darunter auch das Journal of Memetics seit 1997. Die Idee des<br />

Mems kommt im Medium Internet geradezu zu sich und hat sich<br />

dort selbst als erfolgreiches Mem erwiesen.<br />

Kulturelle Phänomene als sich replizierende Einheiten zu betrachten und ihnen die Faktoren, die ihre Replikation<br />

fördern, als Strategien zuzuschreiben, kann eine fruchtbare Perspektive für Einzelfragen etwa nach der<br />

Konstitution eines kollektiven Gedächtnisses sein. Als Universaltheorie, als die sie meist auftritt, stößt die<br />

Memetik aber auf Skepsis und findet auch in Disziplinen, die ihr nahe liegen müßten wie Psychologie oder<br />

Paläoanthropologie, kaum Eingang. <br />

Denn es bleiben medientheoretische Probleme: Welcher Natur ist<br />

die Materialität der Meme; sind sie ein Gedankenspiel, oder<br />

macht dieses Spiel (seinerseits als Mem) mit uns selbst ernst<br />

Auf der Ebene materieller Kultur läßt sich ein Mem als<br />

Zeitkapsel fassen. Im Unterschied zu medialen Zeitkapseln,<br />

welche ausgewählte Artefakte bewußt über größere Zeiträume<br />

hinweg einer Nachwelt bewahren sollen, handelt es sich bei<br />

Spolien um ungeplante Einkapselung (incapsulation) wie etwa<br />

jene Bruchstücke der gestürzten antiken Marathon-Siegessäule<br />

(Schlacht 490 v. Chr.), die im Mittelalter in anderen Gebäuden<br />

verbaut wurden, etwa in einem Turm bei Marathon. 90 Einerseits<br />

überliefert sich nicht alles; andererseits aber ist diese<br />

Selektion nicht völlig zufällig. Wie hoch ist die<br />

Wahrscheinlichkeit einer Überlieferung Die Spolien sollten<br />

nun herausgelöst und unter Verwendung neuer Marmorteile und<br />

anderer Reste rechtzeitig zu Beginn der Olympischen Spiele am<br />

Ruderzentrum bei Marathon 2004 rekonstruiert werden 91 -<br />

negentropisch. Negentropisch ist die Operation der<br />

Archäologie: "Über der Erde hat eine Chance zunächst nur das,<br />

was Lebende sich aneignen; die Masse dessen, was dann die /<br />

Museen füllt, ist erst später mit antiquarischer Absicht<br />

ergraben oder geborgen worden - ein nachträgliches<br />

Rückgängigmachen des historischen Prozesses" ,<br />

dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik zum Trotz und filmgleich.<br />

Zunächst haben die auf christliche Kultur ausgerichteten Augen<br />

mittelalterlicher Pilger oft keinen Blick für die antiken<br />

Überreste gehabt, in Rom, wo einen Basler Landschaftsmaler<br />

eher die Fauna im Colosseum denn dessen antike Architektur<br />

interessiert. Als der Luzerner Ratsherr Hans Schürpf 1497 auf<br />

Jerusalemfahrt geht und auf dem Weg vor dem römischen<br />

89<br />

Laser 2001: 365, unter Bezug auf; S. Blackmore, The Meme Machine, Oxford 1999; J. D. Delius, Of Mind<br />

Menes and Brain Bugs. A Natural History of Culture, in: W. A. Koch (Hg.), The Nature of Culture, Bochum<br />

1989, 26-79<br />

90<br />

Siehe Arnold Esch, Spolien. Zur Wiederverwendung antiker Baustücke und Skulpturen im mittelalterlichen<br />

Italien, in: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969) Heft 1, 1-62<br />

91<br />

dpa-Meldung in der Frankfurter AllgemeinenZeitung Nr. 253 v. 31. Oktober 2001, 48<br />

28


Amphitheater von Pula auf Istrien steht, beschreibt er ihn<br />

ganz präsentistisch, nicht antiquarisch: "Der Palast ist ganz<br />

rund so weit, daß ein Mäher das wohl nicht in einem Tag<br />

abmähen könnte, wenn es inwendig voll Grass stünde." 92 Gras,<br />

auseinandergeschrieben ... (Paul Celan, Engführung). Hier wird<br />

beschrieben, was vor Augen ist: am Nullpunkt der Beschreibung,<br />

der wissensarchäologische Modus - i. U. zur Begriffsverwendung<br />

bei Esch : "Wie formuliert sein (mit<br />

archäologischer Fachsprache noch unvertrauter) Mund, was sein<br />

(antiquarisch noch ungeschultes) Auge wahrnimmt"<br />

Der Maler Mantegna, pädagogisiert durch die Textkultur des<br />

Humanismus und der Renaissance, malt dann, wie sich in<br />

scheinbar entropischen Schuttmassen als Grundierung eines<br />

italienischen Platzes antikes Mauerwerk einmischt, als sei es<br />

die memetische List etwa einer antiken Inschrift, erst eine<br />

Phase des Mülls zu durchlaufen, bevor sie - Michael Thompsons<br />

Theorie des Abfalls gemäß 93 - von späteren Archäologen als<br />

Kulturgut wiederentdeckt werden kann. Thompson schlußfolgert,<br />

daß „die Abgrenzung zwischen Abfall und nicht-Abfall sich<br />

entsprechend dem sozialen Druck verändert“ - nicht<br />

anders als die signal-to-noise ratio in der<br />

Nachrichtentheorie.<br />

Einer der interessantesten Fonds im Staatsarchiv Bern trägt den seltsamen Titel „Unnütze Papiere“ ­ eine<br />

Sammlung von Originalbriefen, Verhörprotokollen, Abrechnungen , die uns als Quellen heute<br />

hochwillkommen sind. Berner Ordnungssinn hatte sie als nunmehr „unnütz“ ausgegliedert, bernische<br />

Bedächtigkeit zögerte indes die Beseitigung so lange hinaus, bis neue Historikergenerationen wieder Interesse an<br />

diesen Archivalien fanden und sie für archivwürdig erklärten. 94<br />

Mantegna malt an antiken Mauern "auch die Phasen ihrer<br />

Entstehung"; Esch beschreibt seine Neigung, "ihr die Narben<br />

ihres späteren Schicksals einzugraben, kurz: ihr eine<br />

historische Dimension zu geben." 95<br />

<br />

Vor einem Tor öffnet sich ein gepflasterter Platz, der vorn, gegen den Betrachter, vor einer auf den ersten Blick<br />

unscheinbaren Terassenmauer unterfangenist, die bei näherem Zusehen aber bemerkenswerte Einzelheiten zu<br />

erkennen gibt, ja wie ein Sondierschnitt durch denhistorischen ntergrund der<br />

abgebildeten Stadt wirkt. Über einer unteren Schicht mörtelverbundener Feldsteine lagert eine<br />

Packungbearbeiteter Stücke . vermauert ist da auch ­ in leichter, natürlich beabsichtigter Schräglage ­ ein<br />

Stein mit deutliche gemeißelter Rahmung , vermutlich eine Inschrift, deren untere Rahmenleiste<br />

weggebrochen ist. Und jedenfalls als Inschrift gemeint ist der Stein mit oberer Rahmenleiste und<br />

angedeuteten Buchstaben, quer gepackt wieunverstandene römische Inschriftenin so mancher Spolienmauer.<br />

<br />

92<br />

Zitiert nach: Arnold Esch, Staunendes Sehen, gelehrtes Wissen: zwei Beschreibungen römischer Amphitheater<br />

aus dem letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 50, Heft 3 / 1987, 385-393<br />

(385)<br />

93<br />

Michael Thompson, Die Theorie des Abfalls: über die Schaffung und Vernichtung von Werten [*Rubbish<br />

Theory. The creation and destruction of value, Oxford UP 1979], Stuttgart (Klett-Cotta) 1981<br />

94<br />

Arnold Esch, Der Umgang des Historikers mit seinen Quellen. Über die bleibende Notwendigkeit von<br />

Editionen, in: Lothar Gall / Rudolf Schieffer (Hg.), Quelleneditionen und kein Ende, München (Oldenbourg)<br />

1999, 129-147 (132)<br />

95<br />

Arnold Esch, Mauern bei Mantegna, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 47, Heft 1 / 1984, 293- (293)<br />

29


- MEMory, buchstäblich.<br />

Analog zu dieser Archäologie ein Fall aus den Archiven:<br />

Kürzlich wurde im Tresor der Düsseldorfer Universitäts- und<br />

Landesbibliothek vom Mediävisten Klaus Zechiel-Eckes ein im<br />

Coduces Latini Antiquiores bislang nicht verzeichneter oder<br />

gar erschlossener Fragmentbestand von 1500 Blättern entdeckt:<br />

mittelalterliche Handschriften, z. T. aus dem frühen 8.<br />

Jahrhundert, darunter Abschriften von Klassikern - ein<br />

Beispiel dafür, wie ein Medienwechsel (in diesem Fall: vom<br />

Manuskript zum Buchdruck) kulturelle Reste konserviert, die<br />

sonst wohl verlorengegangen wären. Inkapsulation ist eine<br />

memetische Technik des kulturellen Unbewußten, und nur der<br />

Unfall bringt dieses Gedächtnis zutage, frei nach Walter<br />

Benjamin: Nur Bruchstellen sind Fundstellen.<br />

Der Pragmatismus der Buchbinder des späten 15. Jahrhunderts sorgte für die Puzzlearbeit der Forscher von<br />

heute: Handschriften wurden auseinandergeschnitten, die Blätter, mitunter auch verkehrt herum, auf hölzerne<br />

Innendeckel von Inkunabeln geklebt, wo das strapazierfähige, nahezu reißfeste Pergament als Schmutzblätter<br />

oder Schutzhüllen seinen Zweck erfüllte. 96<br />

Hier wurde literarische Tradition also auf ihre reine<br />

Materialität reduziert. Zum Beispiel drei bislang unbekannte<br />

Schriftstücke des mittleren achten Jahrhunderts,<br />

wahrscheinlich dem northumbrischen Schrifttum zuzuweisen, vom<br />

heiligen Liudger zu einem angelsächsischen Stützpunkt auf dem<br />

Kontinent gebracht.<br />

Unters Buchbindermesser kamen sie sechshundert Jahre später im Kloster Beyenburg , wo alle zehn der<br />

bisher bekannten Blätter der Handschrift als vordere und hintere Spiegel in Inkunabeln Verwendung fanden. Aus<br />

Beyenburg gelangten sie 1805, im Zuge der Säkularisierung, in die damalige Kurfürstliche<br />

Öffentliche Hofbibliothek Düsseldorf. <br />

Erneut erweist sich eine Bruchstelle (diesmal eine historischpolitische)<br />

als Fundstelle.<br />

Ferner schließlich eine bislang unbekannte merowingische<br />

Fassung der Märtyrerlegende des heiligen Justus von Auxerre,<br />

„deren zweiunddreißig Zeilen als `Leimabdruck´ eines im 15.<br />

Jahrhundert auf den Holzband eines Buches geklebten Pergaments<br />

aus dem achten Jahrhundert lesbar geblieben sind“ -<br />

eine Kopierverfahren im Sinne von Dawsons Memetik (der solchen<br />

Befunden ein eigenes „Wollen“ unterstellt, teleologisch wie<br />

Alois Riegls „Kunstwollen“ in der spätrömischen<br />

Kunstindustrie).<br />

Zeitkapseln<br />

Im Prozess der kulturellen Tradition sind die Transportmedien<br />

von Memen, um diesen Begriff ein weiteres Mal zu führen,<br />

weniger raum- denn zeitgreifende Vehikel. Zeitkapseln<br />

verkörpern laut dem Lexikon Gedächtnis und Erinnerung im<br />

96<br />

, Reite, Lancelot! Mittelalterliche Handschriften in Düsseldorf gefunden, in: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung Nr. 73 v. 27. März 2002, 41<br />

30


Unterschied zu Spolien als unintendierten „Überresten“, also<br />

dem Unbewußten der Tradition (im Sinne Bernheims / Droysens),<br />

eine<br />

Form der Tradierung, bei der materielle Zeitzeugnisse (Texte, Bilder, Tonträger, Gebrauchsgegenstände usw.) in<br />

einem Behältnis verschlossen hinterlegt werden. Öffnungszeitpunkt und Adressaten einer Z. können vorbestimmt<br />

sein oder offen bleiben. Z.n sollen ihren Inhalt zum einen materiell konservieren, zum andren zeitweilig dem<br />

Zugriff entziehen und die Kette lebendiger Tradierung unterbrechen 97<br />

- denn nur im Entzug aus der Ökonomie der Tradition entsteht<br />

mögliche künftige Information. Bibliotheken halten Wissen vor,<br />

das damit als Maßeinheit für potentielle Information definiert<br />

ist:<br />

Der Witz ist, daß sich in der Bibliothek Gelesenes zu Ungelesenem verhält. Das Speichern ist daher zunächst ein<br />

Aufbewahren auf unbestimmte Zeit und keine Lagerhaltung, die auf einen prompten Abruf zielt . Es ist diese<br />

kleine Differenz, die die Bibliothek eben nicht zu einem Übertragungsmedium oder Kanal macht, sondern das<br />

Übertragen aussetzt. An diesem Punkt des Aussetzens geschieht aber das Neue: daß man a) stutzt und b)<br />

etwas Neues findet, nämlich etwas ganz Altes, was schon lange da war, aber immer übersehen wurde, weil es von<br />

den Datenströmen, an die man sich gewöhnt hatte, überdeckt worden war. 98<br />

Womit die Bibliothek nach dem Prinzip des Luhmannschen<br />

Zettelkasten als Generator von unerwartetem Wissen, also<br />

Information definiert und mithin der Raum des Katechontischen<br />

eröffnet ist.<br />

Wissen ist Erfahrung, die sich tradiert und verfügbar ist.<br />

"Für die Weitergabe von Erfahrenem und von Erkenntnissen<br />

reicht das gesprochene Wort. Grundlage der Wissenschaft ist<br />

jedoch die Schrift." 99 Wissen lebt von Weitergabe und<br />

Rekombination 100 , ist dabei aber weniger eine soziale denn eine<br />

informationstheoretische Größe. Information, so Jürgen<br />

Mittelstraß, ist die Art und Weise, in der das Wissen sich<br />

transportabel macht, also eine Kommunikationsform über einen<br />

Kanal. 101<br />

Eine Inkunabel aus dem Bestand der Bibliothek der <strong>Berlin</strong>er<br />

Humboldt-Universtität, also ein spätmittelalterlicher<br />

Erstdruck eines Manuskripts nach Erfindung des Buchdrucks,<br />

ging in den 1930er Jahren zum Buchbinder; nach der<br />

Rücklieferung wurde bei der Neueinschreibung der<br />

Bibliothekssignatur versehentlich ein Buchstabe falsch<br />

notiert. Mit der unerbittlichen Logik der Magazinbibliotheken,<br />

wo es mit der diskreten Logik symbolischer Signaturen (denn im<br />

altgriechischen Sinn des symbolon muß hier in der Tat die auf<br />

dem Bestellzettel des Lesers notierte Signatur im realen<br />

97<br />

Jens Ruchatz, Eintrag „Zeitkapsel“, in: Pethes / ders. (Hg.) 2001: 663f<br />

98<br />

e-mail Uwe Jochum, Universitätsbibliothek Konstanz, 14. Mai 1998<br />

99<br />

Hendrik Budde / Bernd Graff, Wissenswertes. Wegweiser durch die Ausstellung, in: Budde / Sievenich (Hg.)<br />

2000: 16- (16)<br />

100<br />

Gero von Randow, Know-how für alle! , in: Die Zeit v. 8. Juni 2000, 33f (34)<br />

101<br />

Paraphrasiert hier von: Dieter Simon, Wissen ohne Ende [Vortrag anläßlich der 120. Versammlung der<br />

Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte e.V. an der Humboldt-Universität zu <strong>Berlin</strong> am 21. September<br />

1998], in: Rechtshistorisches Journal Bd. 18 (1999), 147-166 (157f)<br />

31


Magazinraum mit seinem Buch zusammenfinden) binär nur entweder<br />

den richtigen oder den falschen Ort gibt und keine Übergänge,<br />

wie sonst im kontinuierlichen Raum der Wahrscheinlichkeiten,<br />

der „guten Nachbarschaften“ im Sinne der Bibliothek Warburgs,<br />

war das Buch damit auf Langzeit unzugänglich, weil verstellt.<br />

Für den Magaziner gibt es nur richtig oder falsch hingestellt.<br />

So wurde das Buch dann an einen Ort gestellt, der nicht mehr<br />

mit seinem Stellenwert im Katalog übereinstimmte. Und dann<br />

zeigte sich kürzlich, was die Differenz des realen,<br />

materiellen, gegenüber den Aporien im rein logischen Raum ist.<br />

Ein Bauarbeiter nahm nämlich im Magazin ein dickes Buch, um<br />

damit ein Brett zu stützen. Als das vom Bibliothekar jenseits<br />

der symbolischen Signatur-Ordnung bemerkt wurde, wollte dieser<br />

das Buch entsetzt zurückstellen und entdeckte dabei die<br />

verloren geglaubte Inkunabel. Das ist Realpräsenz: Etwas kann<br />

abwesend und dennoch da sein (die Ästhetik der religiösen<br />

Ikonenmalerei). Hier erzeugte der unerwartete Fund, die<br />

stochastische Unwahrscheinlichkeit, dann Information.<br />

Niklas Luhmann definiert in diesem Sinne Information als das<br />

Unerwartete. Hier haben wir es sehr konkret mit Zeit-Räumen<br />

der Virtualität zu tun: mit dem, was gelagert, aber nicht<br />

unmittelbar zugänglich ist. Apropos Stellenwert: Die<br />

mechanische im Unterschied zur systematischen<br />

Magazinaufstellung bringt es mit sich, daß die Bibliothekare<br />

und Magaziner in bestimmten Abständen die Buchbestände<br />

buchstäblich verrücken, um Leerstellen und Lücken zu<br />

verschieben, bewußt neu herzustellen (etwa für<br />

Zeitschriftenreihen, die zur Zukunft hin offen sind) oder zu<br />

schließen. Was heute in Bibliotheken richtig steht, kann<br />

morgen schon verkehrt stehen - ein Vabanque-Spiel. Wenn der<br />

sogenannte Rückaufwand der Umordnung zu zeitmächtig wird,<br />

steht eine neue Ordnung an. Vielleicht aber wird die neue<br />

Ordnung keine räumliche, sondern zeitliche sein.<br />

Kommen wir damit zurück zu den Zeitkapseln. Der alte Brauch,<br />

bei Grundlegung von Architekturen Gründungsdokumente<br />

einzumauern, erinnert an die Praxis des Depots, des<br />

Depositums. Sir John Soanes Museum in London hat einen<br />

testamentarischen Charakter. Ganz als ob sein Stifter, ein<br />

damaliger Architekt, dies museo-graphisch manifestieren<br />

wollte, versiegelte er sein Künstlerhaus schriftlich: Im<br />

November 1836, wenige Wochen vor seinem Tod, verschloß er<br />

einen Teil seiner persönlichen Korrespondenz in einer Reihe<br />

von Schubladen, Schränken und anderen Behältern seines Museums<br />

- bis hin zu einer antiken Graburne. Darauf hinterließ er inschriftlich<br />

die Anweisung und Daten zu ihrer posthumen Öffnung<br />

(1866, 1886, 1896). Die Enttäuschung der späteren<br />

Museumskuratoren über die Unergiebigkeit der Funde aus diesem<br />

musealen Archiv (zumeist Rechnungen) war groß 102 - nicht weniger<br />

102<br />

Siehe John Summersons, Account of Soane's personal correspondance, im National Register of Archives,<br />

London<br />

32


groß vielleicht als die des Unternehmens, welches den Tresor<br />

aus dem Wrack der versunkenen Titanic bargen, nur um dann ein<br />

paar halbleere Brieftaschen, nicht aber etwa Kronjuwelen zu<br />

finden. Natürlich ist auch ein Tresor eine Kapsel auf Zeit.<br />

Konkret stammt der Begriff time capsule von der Firma<br />

Westinghouse anläßlich der Weltausstellung von 1939, die ein<br />

Sortiment moderner Industrieprodukte in einem eigens dafür<br />

entwickelten Behälter für 5000 Jahre einkapselte.<br />

Den höchsten Anspruch an Repräsentativität stellt die 1936 projektierte Crypt of civilization der Oglethorpe<br />

University in Atlanta, die für die im Jahr 8113 vorgesehene Öffnung auf 57 qm neben Fotografien,<br />

Tondokumenten und mikroverfilmten Büchern auch Alltagsgegenstände wie einen Golfball bereithält.<br />

<br />

Doch sind auch die Medien, die Abspielgeräte zum Hören und<br />

Lesen dieser gespeicherten Daten mit eingeschlossen Kein<br />

Problem des Stollens Oberried bei Freiburg, wo juristisch und<br />

kulturell verbindliche Dokumente der Bundesrepublik<br />

Deutschland auf Mikrofilm sicherheitsgelagert sind, ist neben<br />

der Haltbarkeit der Filme, sondern die Zukunft der analogen<br />

Lesegeräte. Doch für Digitalisate stellt sich die ebenfalls<br />

Frage der Dekodierbarkeit. Im Reich des Digitalen tickt hier<br />

eine Uhr für alle Formen von Zeitkapseln:<br />

Im Internet abgelegte Z.n setzen auf den keineswegs gesicherten Fortbestand des Mediums. Eine von der MIT<br />

Sloan School noch vor dem Jahr 2000 ins Internet gestellte Zeitkapsel (mit Prognosen zur Zukunft dieses<br />

Mediums) deutet auf die Kurzlebigkeit des Computergedächtnisses: Sie soll bereits in fünf Jahren geöffnet<br />

werden. <br />

Florian Rötzer beschreibt in seinem Artikel „Monument und<br />

Zeitkapsel“ in der online-Zeitschrift Telepolis vom 7. Februar<br />

1999 das Experiment einer Zeitkapsel, die im digitalen Raum<br />

selbst tickt:<br />

Die MIT Sloan School versteht sich als eine Kaderschmiede, die künftige Wirtschaftsführer an der Schnittstelle<br />

von Ökonomie und Technik ausbildet und für ihre technische Erfahrung, ihre Innovation und ihre Ausrichtung<br />

auf neue Trends bekannt sei. Man hat, rechtzeitig vor dem Jahr 2000, ein neues Curriculum und eine "nextgeneration<br />

web site" eingerichtet ­ und eben eine "digitale Zeitkapsel" auf der neuen Website eingeschlossen, die<br />

ihre Geheimnisse erst in fünf Jahren preisgeben soll, wenn denn nicht schon zuvor jemand die Verschlüsselung<br />

knackt. <br />

Dort hatte man die Idee, wichtige und vielleicht weniger<br />

wichtige Informationen aus und über das Internet als eine Art<br />

Schnappschuß des Monats Januar 1999 zu sammeln und in die<br />

"Kapsel" zu stecken. Doch die Verfallsdaten der Internet-<br />

Browser, welche diese Kapsel überhaupt zu lokalisieren und zu<br />

öffnen vermögen, werden wahrscheinlich selbst dazu führen, daß<br />

diese Form von digitaler Zeitkapsel ein unentschlüsselbarer<br />

Datenfriedhof oder eine Dateiruine wird. An dieser Stelle<br />

kommt erneut der Widerstand des Materialen als Chance und<br />

Gegenentwurf ins Spiel:<br />

Angesichts der Geschwindigkeit des Alterns und der Kurzlebigkeit von digitalen Medien, aber auch dem<br />

Alzheimer anfälligen Gedächtnis der Speicher und Netze haben einige Digerati ein Projekt initiiert, das in Form<br />

33


eines nicht­digitalen Monuments endlich wieder Dauer einführen soll: nämlich eine riesige mechanische Uhr, die<br />

nur einmal im Jahr tickt, in der nur einmal im Jahrhundert eine Glocke ertönt und einmal im Jahrtausend<br />

gewissermaßen der Kuckuck heraussieht. Man träumt von der langen Zeit und dem hohen Alter und kehrt zur<br />

vordigitalen Zeit zurück. Angestoßen hat das Projekt der Uhr des langen Jetzt Daniel Hillis, ein<br />

Computerwissenschaftler, Entwickler der Connection Machine, eines der ersten großen Parallelrechner, und einer<br />

der Pioniere des Künstlichen Lebens. Vorbild war ein Monument wie Stonehenge, das seit Jahrtausenden die Zeit<br />

überdauert. Von ebenso mythischer Dauer soll die Uhr sein, um den Menschen an der symbolischen<br />

Jahrtausendwende wieder eine Zeitdimension von mindestens 10000 Jahren zu vermitteln. So lange soll das<br />

Uhrenmonument nämlich mindestens halten und funktionieren ­ und auch das jetzt schon voraussehbare, aber<br />

nicht berücksichtigte Jahr­10000­Problem bewältigen. Geplant ist, sie irgendwo in einer Wüste aufzustellen, weil<br />

sie dort sicherer als in den Städten sei. <br />

Zwar wird in der Ankündigung des genannten digitalen<br />

Zeitkapsel nicht das Wort Monument gebraucht, aber das Projekt<br />

sucht gerade das zu emulieren, was mit der Uhr des langen<br />

Jetzt schiere Materialität ist. Denn man verkündete, die<br />

Kapsel würde für denjenigen, der sie in fünf Jahren öffnet,<br />

eine "archäologische Grabungsstelle" sein. „Reste und Ruinen<br />

bleiben in der Tat im Internet nicht lange zurück“ - womit wir bei der Archäologie der materiellen Kultur<br />

wären.<br />

Memetische Vehikel<br />

Archäographie meint den Modus, in dem Medien an der<br />

Überlieferung mitschreiben - die arché ist hier kein<br />

substanzloser Ursprung, sondern ein Beiwerk. Die Memetik als<br />

Modell kultureller Überlieferung wäre damit auf eine<br />

Mediamemetik hin zu präzisieren.<br />

Zunächst ist Memetik ein Modell, denn positiv sind Meme nicht<br />

faßbar. Ein Modell ist - im Unterschied zur Simulation - "eine<br />

Abstraktion von Erscheinungen oder Problemen, die aufgrund<br />

ihrer Vereinfachung für den menschlichen Geist verständlich<br />

bzw. für Computer bearbeitbar werden" 103 ; der Begriff geht auf<br />

Vitruvs Begriff für den Maßstab in der Architektur (modulus)<br />

zurück. Antike etruskische Steinbögen haben tatsächlich als<br />

stablile Struktur überdauert, ohne Zement: das reine<br />

Gedächtnis der Statik. Behauptet das Modell der Memetik jedoch<br />

"eine Abbildung realer Tatbestände" 104 Entscheidend für den<br />

medienarchäologischen Blick ist am Modell der Memetik, daß die<br />

Übertragungsmedien nicht nur passiv das Wissen der Meme<br />

transportieren, sondern dabei auch das Wissen ihrer selbst. An<br />

dieser Stelle wird der mimetische Aspekt der Memetik, aus dem<br />

Dawkins ausdrücklich seinen Neologismus ableitet, auch im<br />

engeren Sinne medientechnisch konkret: keine rein passive<br />

Speicherung und Übertragung, sondern ein Mitgestalten an der<br />

Botschaft (einem klassischen Diktum McLuhans entsprechend). So<br />

103<br />

Walther Umstätter, Digitales Handbuch der Bibliothekswissenschaft / Definitionen:<br />

http://www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/wistru/definitions/db8.html<br />

104<br />

Eintrag „Modell“ in: Hans Heribert Schulze, Das Rororo Computer Lexikon, Reinbek 1984, 251<br />

34


schrieb es auch Nietzsche: Das Schreibinstrument schreibt mit<br />

an den Gedanken. Dies zu sehen aber erfordert einen nichtinhaltistischen<br />

Blick.<br />

Der Begriff der Medienarchäologie sucht die im besten Sinne<br />

technischen oder kulturtechnischen Anteile an Prozessen der<br />

Tradition zu fokussieren. Doch an dieser Stelle zeigt sich<br />

erneut: wenn der Begriff der "Kultur" im Spiel ist, wird die<br />

Wahrnehmung semantiklastig. Dennett schlägt vor, Meme als<br />

abstrakte semantische Informationseinheiten zu betrachten, die<br />

sich in verschiedenen Formen verkörpern und "medien- und<br />

sprachneutral" seien. 105 Hier ist die Memetik platonisch<br />

(logozentristisch) statt medienarchäologisch präzise. Werden<br />

Meme als unsichtbare Einheiten der kulturtechnischen Imitation<br />

von Mem-Vehikeln übertragen, sind die medialen (Über-)Träger<br />

immer schon mit im Spiel respektive am Werk, parergonal,<br />

supplementär im Sinne Derridas. Der medienarchäologische Blick<br />

schaut exakt auf die Vehikel der Tradition, das syntaktische<br />

Dispositiv aller kulturellen Semantik.<br />

So ist das Speichenrad nicht nur das Vehikel für memetische<br />

Information, sondern an sich schon der Speicher seiner eigenen<br />

Technik, die sich mitüberträgt - "die brillante Idee eines<br />

Waggons mit Speichenrädern von Geist zu Geist" . Tatsächlich aber (über)trägt jedes Mem auch die Spur<br />

seines jeweiligen Wirtes an sich und weiter. „Der <br />

Diskurs über `Meme´ wirft die Frage auf, wie `Information´<br />

durch die Zeit reist“ 106 ; demgegenüber ist die Form der<br />

Narration ein fraglicher Transport. Nicht länger ist die<br />

Erzählung die privilegierte Kulturtechnik, komplexes Wissen<br />

durch zeitliche Streckung komprimiert zu übertragen:<br />

Unter den Bedingungen der Multilinearität, der Navigation, des möglichen Benutzereingriffs auf die<br />

vorgegebenen Daten ändern sich die gewohnten Muster der Wissensvermittlung ­ wie auch der Erzählung. <br />

Tradierte narrative Elemente und dramaturgische Methoden verbinden sich mit neuen Strategien. Das Verdichten<br />

der Information durch Visualisierung verspricht die Datenmengen handhabbar werden zu lassen. 107<br />

So treten Bilder (oder allgemeiner Visualisierungen, also auch<br />

Karten und Diagramme) als Abkürzungen von Datenmengen an die<br />

von der Erzählung verlassene Stelle.<br />

Rom als Read Only Memory<br />

Rom selbst ist memory, ein Feld, in dem Meme sich einnisten<br />

können, um von dort aus weiterübertragen zu werden. Rom im<br />

Ganzen ist Übersetzung (Heidegger) - die konsequente Folge des<br />

105<br />

Daniel Dennett, Darwin´s Dangerous Idea, New York 1996, 353 ff, zitiert hier nach Rötzer 1998: 167<br />

106<br />

Geert Lovink, Media Memory, 230-xxx, in: Gerfried Stocker / Christine Schöpf (Hg.), Memesis. The Future<br />

of Evolution, Wien / New York (Springer) 1996, 230<br />

107<br />

Abstract zur Sektion "Wissen" der Tagung: interaktiv / narrativ. eine reise, Bauhaus-Universität Weimar,<br />

Fakultät Medien, 22./23. November 2001<br />

35


Begriffs von imperium, auf das es gründete (was sonst bedeutet<br />

imperium buchstäblich "Übertragungsreichweite"). Und so<br />

schreibt sich Rom als medienarchäologisches Objekt in<br />

Großbuchstaben (ROM). Gemeint ist das römische Archiv als Read<br />

Only Memory. Fortan fungierte auch nach dem Untergang des<br />

Reiches dort der katholische Textkorpus als software, die von<br />

der hardware kirchlicher Institutionen in einem dogmatischen<br />

Festwertspeicher festgeschrieben und im exegetischen Netz der<br />

Kommentare eines vielfachen Schriftsinnes lesbar gehalten<br />

wird. Der kanonische ROM-Speicher der päpstlichen Kurie folgt<br />

der augustinischen Maxime des "Roma locuta, causa finita", die<br />

alles Schreiben in Archivmengen konvertiert. 108 Tatsächlich ist<br />

der Archi(v)text dadurch definiert, daß in ihn nichts mehr<br />

hineingeschrieben werden darf - zumindest nicht interlinear,<br />

bestenfalls marginal. Hier liegt die Differenz der<br />

archivischen Tradition zur Überlieferungspraxis des jüdischen<br />

Talmud, der weniger einen Wissensspeicher darstellt denn „eine<br />

Enzyklopädie, die das Wissen vermittelt, Wissen erzeugen<br />

und beurteilen zu können“ 109 . Es gab einmal eine Zeit, in der<br />

Rom - anders als die peer-to-peer-Kommunikation des Internet,<br />

in der jeder PC selbst zum Server werden kann - vor allem als<br />

Zentraladresse von Nachrichtenübertragung fungierte. Rom zu<br />

sehen hieß immer schon: Romwissen(schaft). Lies nicht: schau!<br />

lautet die Strategie Montaignes, der beim Anblick des realen<br />

Roms 1581 einsieht, daß er alle gespeicherte Literatur<br />

vergessen und sich die Momente autoptisch neu ergehen muß. Rom<br />

fungiert als ein Read Only Memory, zu dem sich jede<br />

Geschichtsschreibung wie ein Random Access Memory verhält. Die<br />

Reglementierung des Zugangs zu Ruinenstätten und Museen in Rom<br />

praktiziert es längst. Ein Vorschlag zum Denkmalschutz besagt,<br />

das Marc-Aurel-Reiterstandbild hydraulisch unter der Erde<br />

verschwinden zu lassen und nur zu bestimmten<br />

Besichtigungszeiten wieder hervorzuholen 110 - Anarchäologie.<br />

Konkret wird Roms kulturelle Transmission anhand einer der<br />

ältesten Institutionen, die von der Antike bis in die<br />

Gegenwart dauert: der Vatikan.<br />

<br />

1772/73 malt Winckelmanns Zeitgenosse Anton Raphael Mengs für<br />

die Bibliothek des Museo Pio-Clementino in Rom eine Allegorie<br />

der Geschichte - zugleich eine Medientheorie der Tradition.<br />

Einerseits gestützt auf die greise Zeit (temporale Evidenz),<br />

108<br />

Michael Wetzel, Die Enden des Buches und die Wiederkehr der Schrift, Weinheim (VCH 1991), 21. Dazu<br />

auch Jochen Hörisch, Der eine Geist und die vielen Buchstaben, in: ders.: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der<br />

Hermeneutik, Frankfurt/M. (Suhrkamp 1988), 32f<br />

109<br />

Dagmar Börner-Klein, Assoziation mit System: Der Talmud. Die „andere“ Enzyklopädie, in: Hedwig Pompe /<br />

Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln (DuMont) 2002, 113-120<br />

(119)<br />

110<br />

Winfried Löschburg: Schatten über der Akropolis. Kunstwerke in Gefahr, <strong>Berlin</strong> 1982, 131<br />

36


schaut die Muse der Geschichtsschreibung Klio andererseits dem<br />

Gott Janus nach, der auf das Antikenmuseum weist<br />

(metahistorische Ästhetik). Oszillierend zwischen diesen<br />

beiden Polen blickt sie nicht wirklich auf das, was sie<br />

schreibt - Klio registriert. Janus aber ist der<br />

doppelgesichtige Gott der Türschwelle: Wohin schaut seine<br />

rückwärtsgewandte Hälfte, während er Klio diktiert<br />

Zerstreut im Bildraum sind Museumsobjekte. Zwei Zeichenregime<br />

sind hier im Widerstreit: Registrieren und Beschreiben<br />

einerseits, narrative Geschichtsschreibung andererseits. Klio<br />

ist unentschieden auf der Grenze zwischen Geschichte und<br />

Archäologie; Mengs´ Deckenfresko ist ein Entwurf, welcher die<br />

schriftliche Dimension der Historie auf allen Ebenen, eben<br />

auch der archäologischen, akzentuiert. Janus weist ihr den<br />

Blick auf das Reich der Ästhetik (repräsentiert durch die<br />

Statue der Cleopatra respektive Ariadne im besagten Museum),<br />

während ein Genius ihr Daten beiträgt. Ein Riß verläuft durch<br />

diese Präsentation: der Deut auf Cleopatra/Ariadne als<br />

metahistorisch gültiger Maßstab von Ästhetik und andererseits<br />

die Verwiesenheit auf konkrete Daten aus dem Archiv, das alle<br />

Gültigkeit verzeitlicht. Historische Imagination bedarf der<br />

Figuration (Bilder ikonisch, Tropen rhetorisch), um in Gang<br />

gesetzt werden zu können gegenüber Daten, die an sich stumm<br />

sind. Das Imaginäre (namens Phantasie) bedarf der Form (der<br />

Narration), um Historie zu werden. Schreibt Klio hier<br />

Geschichte oder ein Inventar Und so handelt das Fresko nicht<br />

so sehr von den Gegenständen, die thematisch werden, als<br />

ebenso über das Problem der Aufschreibesysteme von Historie 111 ,<br />

speziell der Kirchenhistorie. Denn hier geht es um die<br />

katholische Tradition in ihrer Medialität. Michel Foucault<br />

fragt angesichts des tridentinischen Konzils, „in welchen<br />

Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die<br />

Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten<br />

Verhaltensweisen vorzudringen“ 112 . Und wenn Ernst Kantorowicz<br />

die Formel „Überleben durch Übertragung“ prägt, dann zeigt er<br />

sich auch medienbewußt, das heißt aufmerksam auf den Akt der<br />

Übertragung, seine Wege und Vehikel. 113 Wie, "durch welche<br />

Kanäle wurden die geistlichen arcanae ecclesiae auf den<br />

Staat übertragen“ fragt er an einer anderen Stelle in seinem<br />

Aufsatz „Mysterien des Staates“ . Politische<br />

Theoreme überleben durch Übertragung; hier wird Diskursanalyse<br />

zur Medienarchäologie.<br />

Janus kann bei Mengs auch Substitut für die barocke Allegorie<br />

der Prudentia sein 114 ; in Comenius' Orbis Sensualium Pictus von<br />

1659 schaut Prudentia durch ein Teleskop. In der englischen<br />

111<br />

Vgl. White 1991: 155, über Darwins Entstehung der Arten: „Dieses Werk handelt ebensosehr über das<br />

Problem der Klassifikation wie über seinen angeblichen Gegenstand, die Daten der Naturgeschichte.“<br />

112<br />

Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1983, 21<br />

113<br />

Ernst H. Kantorowicz, Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, hgg. v.<br />

Eckhart Grünewald / Ulrich Raulff, Stuttgart (Klett) 1998, 58<br />

37


Übersetzung lautet die suscriptio dazu: "She looks backward,<br />

as into a lookinglass, to things past; and seeth before her,<br />

as with a Perspective-glass, things to come, or the end."<br />

Das Sekretariat, nicht die Erzählung von Historie ist das<br />

Thema in Mengs´ Gemälde, gemalt als Deckenfresko in jenem<br />

Papyruskabinett, das die Vatikanische Bibliothek mit dem neu<br />

eingerichteten Muso Pio-Clementino verband. Klios<br />

Geschichtsbuch ruht auf einem Pult, der aus Flügeln besteht:<br />

Es handelt sich um die Flügel Saturns (Chronos), und Flügel<br />

sind (in der Iconographie Cesare Ripas) Symbole für die<br />

Verbreitung von Erinnerung, mithin also Bilder für die Medien<br />

der Übertragung.<br />

Die historische Überlieferung in ihren verschiedenen möglichen Formen ist das Thema, unter dem sich nahezu<br />

alle Darstellungen unter der Decke des Papyruskabinetts, einschließlich der Zeugnisse, die in diesem Raum<br />

aufbewahrt wurden, vereinigen lassen. <br />

Neben Papyrus als Bedingung der Überlieferung von Schrift<br />

figuriert entsprechend ein anderes Medium der<br />

Schriftspeicherung im Szenario dieser Allegorie, eine antike<br />

Inschrift. Dargestellt wird in Meng´s Komposition ein<br />

archäologischer Moment, das Zutagetreten einer antiken<br />

Inschrift. Papst Clemens XIV. ließ 1772 die Galleria Lapidaria<br />

einrichten; prompt erscheint in Mengs´ Fresko ein Epigraph aus<br />

diesem Bestand. Der Altphilologe Amaduzzi veröffentlichte die<br />

Inschrift und bestimmte sie als Stiftungsinschrift der<br />

Familiengrabstätte des T. Claudius Primigenius, Archivar der<br />

kaiserlichen Besitzungen. Steffi Röttgen deutet die Inschrift<br />

als solche und den Mann, der sie setzen ließ, als eine<br />

willkommene Ergänzung der Thematik des Freskos: der Archivar<br />

als ein Bewahrer der historischen Erinnerung sorgt für seine<br />

eigene Erinnerung. Tatsächlich stammt der Begriff traditio aus<br />

dem römischen Erbrecht und meint dort die höchst materielle<br />

Übergabe einer beweglichen Sache aus einer Hand in die andere.<br />

Hier geht es um die „materielle Identität der Bestandswahrung“<br />

. Die für Grabsteine gewohnte und auf der<br />

gemalten Inschrift ablesbare juristische Formel "heredes<br />

monumentum ne sequeretur" legt fest, daß sie nicht zur<br />

Erbschaft gehören - Gedächtnis als Gesetz, nicht als<br />

Erinnerung. 115 Tradition aber meint auch Verrauschen; in der<br />

Vorzeichnung zu Meng´s Allegorie blickt Saturn (quasi<br />

laserstrahlend) auf den Stein, der schon deutliche Spuren von<br />

Verwitterung zeigt. Nun ist aber grundsätzlich alle Schrift<br />

testamentarisch; das Schreibinstrument Klios, der stilus,<br />

konkurriert hier mit der Sense des Chronos. "Die Wunde<br />

schließt der Speer nur, der sie schlug" (Richard Wagner).<br />

Konkret bringt der geflügelte Genius Klio die Dokumente in<br />

Form mehrerer Papyrusrollen herbei: Sammeln, Bewahren,<br />

Auswerten, so lautet das Programm des Mediums Museum, das auch<br />

heidnische Objekte der Zerstörungsmacht der Zeit entreißt, und<br />

einer Wissenschaft, deren Grund Quellen sind. Die Materialität<br />

114<br />

Steffi Röttgen, Das Papyruskabinett von Mengs in der Biblioteca Vaticana. Ein Beitrag zur Idee und<br />

Geschichte des Museo Pio­Clementino, in: Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst 31, 1980, 189­246 (209)<br />

115<br />

Wolfgang Hering, Die Dialektik von Inhalt und Form bei Horaz. Sartiren Buch I und Epistula ad Pisones,<br />

<strong>Berlin</strong> (Akademie­Verlag) 1979, 63, unter Bezug auf: Horaz´ Satire Nr. 7, Vers 13<br />

38


dieser Papyri erinnert daran, daß die Arbeit der Sekretäre<br />

nicht nur des Schreibens, sondern auch der Schreibflächen,<br />

einer Hardware zur Speicherung des Geschriebenen bedarf. Im<br />

Fall von Mengs' Allegorie soll der Diskurs der katholischen<br />

Kirche, der den christlichen Anschluß an antike Überlieferung<br />

sicherstellt, vermittels einer metonymischen Operation der<br />

Hardware sichergestellt werden. Denn die in diesem Raum<br />

aufbewahrten Papyri sind frühchristliche Schenkungsurkunden an<br />

die Kirche von Ravenna und Verträge, die von der<br />

ravennatischen Kurie geurkundet sind, damit also im besten<br />

antiquarischen Sinne Funktionen von Machtansprüchen; ihre<br />

materiale Basis ist Papyrus aus Ravenna. Vermittlung ist erst<br />

in Verbindung mit einem medialen support (Träger) denkbar,<br />

etwa die materielle Unterlage Papyros oder Pergament. Das<br />

älteste originale Objekte, das Ur-Objekt des Pariser<br />

Nationalarchivs ist ein merowingischer Papyrus aus dem Jahr<br />

625, auf dem König Clothar II. die Schenkung eines<br />

Territoriums in Paris an den Abt von Saint Denis bestätigt.<br />

Nicht erst der Text dieser Urkunde, die Struktur des Papyrus<br />

ist selbst schon Textur. Die Unterlage jeder Aufschrift ist<br />

ein Text, und zwar kein zufälliger, sondern ein binärer (die<br />

kreuzweise Verflechtung der Papyrusstreifen): mediale<br />

Archi(v)textur der Historie, ihre digitale Fabrikation.<br />

Alessandro Albani beschrieb Papyri als "reliquie delle antiche<br />

scritture". Der Begründer der medienwissenschaftlichen Schule<br />

von Toronto, Harold Innis, betrachtete Papyrus „as the central<br />

medium of the Roman period of power, tracing once again the<br />

rise and decline of an empire which emphasized the spational<br />

factors and failed to solve the problems of time and dynasty<br />

associated with religion.“ 116<br />

In beziehungsvoller Abwandlung barocker Zeitallegorien, wo verwitterte und zerstörte Monumente häufig als<br />

Vanitassymbole auftreten, erscheint das Motiv hier als eine Anspielung darauf, daß die steinernen Dokumente<br />

(bezeichnenderweise wurde ein heidnischer Epigraph gewählt) schon teileise der Vergessenheit und der<br />

Zerstörung anheimgefallen waren, bevor nun auch sie in die Obhut des Museums genommen wurden. Das Sigel<br />

der Inschrift H.M.H.N.S. (Hoc Monumentum Haeredes Non Sequitur) ist damit, symbolisch gesehen, außer<br />

Kraft gesetzt <br />

- beziehungsweise der neue Anspruch der Kirche, sich als<br />

Fortsetzung des römischen Geltungsanspruches (eines Diskurses<br />

auch diesseits des Glaubens) zu manifestieren. Aus Allegorie<br />

wird damit Symbol, aus Distanz Kontinuität:<br />

This legend, inscribed on an artifact destined itself to be incorporated into the museum, implies that it is the<br />

Church's duty as legitimate heir to Rome to protect its monuments from desecration and alientation. As in<br />

ancient precedent, the acronym signifies that the heir may neither sell the ancestral plot nor allow it to fall into<br />

disrepair, but is required to maintain and honor the site, preserving it for transmission intact to all later<br />

descendants. 117<br />

116<br />

David Godfrey, "Introduction“, in: Harold Innis, Empire and communications, Victoria (Press Porcépic), 1986<br />

(Originalausgabe Oxford UP 1950), 85- (85)<br />

117<br />

Carolyn Springer, The Marble Wilderness: Ruins and Representaton in Italien Romanticism 1775­1850,<br />

Cambridge UP 1987, 26f<br />

39


Die mnemische Aufladung der Antiken, die zunächst einmal<br />

antiquarische Information, nicht schon Historie sind (gleich<br />

ob Text oder Objekt), bedarf der Energiequellen, also der<br />

Macht der Imagination, der enargeia. Ein Brief Giuseppe<br />

Bianchinis an Papst Benedikt XIV aus Anlaß der Einrichtung des<br />

Museo Sacro im Vatikan beschreibt den Zweck der Sammlung als<br />

"memorie dei secoli passati, e le testimonianze della verità<br />

delle storie scritte in lapidi cristiane", um häretischen<br />

Ansichten gegenüberzutreten, die den Glaubensinhalt der<br />

ältesten Codizes bezweifeln . "Das Zitieren<br />

hat der enargeia den Rang abgelaufen" 118 ; dazwischen steht<br />

die Inschrift in ihrer schieren Materialität.<br />

Es ist dieser Akt, der die disparaten Antiken des Museums und<br />

die Bücher der Bibliothek der Dauerhaftigkeit der Geschichte<br />

überantwortet. Der Kontinuitätsgedanke, der hier über den<br />

Bruch triumphiert, ist ein ideologischer, imperialer. Sein<br />

Name ist Fama, eine weitere der in Mengs´ Gemälde<br />

figurierenden Allegorien, deren Trompete dem Schweigen der<br />

Relikte erst eine Stimme verleiht, die jene der Macht ist. Sie<br />

weist auf die Überschrift MUSEUM CLEMENTINUM, den Titel des<br />

Museums, über dem Türrrahmen, und es ist jene christliche<br />

Erzählung, in deren Namen die Unordnung der antiken Fragmente<br />

erst wieder Sinn erhalten soll. Eingerahmt von Darstellungen<br />

des Moses (Gesetz) und des Petrus<br />

(Kirchengeschichtsschreibung), ist die vorliegende Allegorie<br />

in die Treue der historischen Überlieferung eingebettet - das<br />

Weiterleben der testamentarischen Botschaften in der römischen<br />

Kirche entspringt der Formel Übertragung + Gesetz.<br />

Traditionsbildung, also Überlieferung kultureller Information<br />

in der Zeit, vollzieht sich anhand von Genealogie und<br />

Kanonbildung. Genealogie stellt ein ununterbrochenes Kontinuum<br />

her und sichert damit Tradition, etwa durch Testamente. Hier<br />

überwiegt der normative Aspekt des Traditionsbegriffes. Auch<br />

Texte können testamentarisch sein, wenn es um „geistige“<br />

Überlieferung geht, die gelernt und weitergegeben, aber nicht<br />

verändert oder kritisch hinterfragt werden soll (ROM, eben).<br />

Wie bei einem Testament besteht hier ein Vertragsverhältnis,<br />

das verbindlich ist. Genealogie als Konstruktion eines<br />

Stammbaumes steht damit im Bund. 119<br />

Der nachrichtentechnische Begriff der Mediums verknüpft die<br />

Operation der Datensammlungen mit deren Berechnung,<br />

Speicherung und Übertragung. Damit sind wir beim Kernbegriff<br />

der translatio, also der Vermittlung. Im Buch Daniel der Bibel<br />

liegt die Figur der Ablösung eines Reiches durch ein anderes:<br />

"Ipse (Dominus) mutat tempora et aetates, transfert regna,<br />

atque constituit." Aus transferre wird der Begriff der<br />

translatio nicht nur imperii, sondern auch studii; "von Karl<br />

ab ist deutsche Geschichte auf Jahrhunderte verflochten mit<br />

der Idee der Erneuerung Roms" . Translatio<br />

imperii, studii, armis:<br />

118<br />

Carlo Ginzburg, Veranschaulichung und Zitat, in: xxx, 98<br />

119<br />

Aleida Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Köln u.a. 1999, 91­115<br />

40


Es kommt nicht von ungefähr, daß Sloterdijk sich für das Jahr 1945 als Bruchstelle der europäischen Geschichte<br />

entschieden hat. Denn bei der Suche nach dem, was eigentlich die europäische Identität ausmache, ist er auf<br />

den Vorgang der "Reichsübertragung" als spezifische Mythomotorik Europas gestoßen. Was Sloterdijk damit<br />

meint, ist die Idee einer "translatio imperii", die im Mittelalter als Legitimationsformel für die Wiedererrichtung<br />

und Perpetuierung des im Westen Mitte des 5. Jahrhunderts erloschenen römischen Kaisertums Verwendung<br />

gefunden hat. Es wäre sinnvoll und hilfreich gewesen, wenn Sloterdijk sich gerade in dieser Frage ein wenig mit<br />

dem historischen Material auseinandergesetzt hätte. Dabei wäre ihm unter anderem aufgefallen, daß die Idee<br />

einer "renovatio Romae" erst bei Otto III. und keineswegs bei Karl auftaucht, der im Gegenteil, als er sich als<br />

"pater Europae" apostrophieren ließ, seine Unabhängigkeit gegenüber dem Papst wie Rom betonen wollte.<br />

Überhaupt hat der Reichsgedanke als europäische Ordnungsidee nur bis zum Ende des Hochmittelalters Geltung<br />

gehabt, und Dantes Schrift "Über die Monarchie" ist bereits der Abgesang darauf. Was sich danach herausbildete,<br />

war ein Staatensystem, in dem der Reichsbegriff keine wirkliche Oberhoheit mehr anzeigte. Die Hegemonie, wie<br />

sie danach immer wieder angestrebt und auch erreicht wurde, war auf reale Macht und nicht auf Symbole und<br />

Titel gestützt. 120<br />

Doch die Fortsetzung des römischen Imperium als Übertragung<br />

liegt nicht länger in Europa, sondern in Amerika: „La ligne-<br />

Amérique, comme il sied à une nation d´ingénieurs et de<br />

pionniers d´industrie, privilegiera au contraire le moment<br />

technique de la transmission. À ses yeux, medium is message“<br />

. Und „en guise d´apologue: `l´Amérique´<br />

pense la route (ou le câble), et `l´Europe´, le missionnaire<br />

(ou le message.“ Semantik also auf Seiten Europas<br />

Schrift und Zeit (Lafitau, Moeurs des Sauvages Ameriquaines)<br />

Orlandi rekurriert in seiner erweiterten Ausgabe von Ripas<br />

Iconologia (1764/65) im Zusammenhang mit der Personifikation<br />

der Historia und ihrer Tätigekeit des Schreibens auf den<br />

Unterschied von "memoria degli animi" und "memoria del corpo",<br />

von Gedanke und Objekt, von schriftlicher und bildlicher<br />

Erinnerung. Memoria aber ist Gedächtnis, nicht Geschichte im<br />

neuzeitlich emphatischen Sinn, und ihre Schlüssel (in der<br />

Informatik heißen sie Adressen) sind Archive. 121<br />

Stellen wir der Allegorie der Geschichte von Anton Raphael<br />

Mengs eine andere Geschichtsallegorie beiseite, die zunächst<br />

einen Raum jenseits der katholischen Kirche bezeichnet:<br />

Amerika, die Neue Welt. Denn hier wird das Spiel von Bewahren<br />

und Übertragen kultureller Erinnerung nicht nur in einem<br />

zeitlichen, sondern auch räumlichen Sinne konkret.<br />

<br />

Vergleichen wir mit Mengs´ Szenario das Frontispiz zu Lafitaus<br />

1724er Publikation Moeurs des sauvages Ameriquains; das Bild<br />

zeigt "the encounter of writing and time in a closed space<br />

120<br />

Herfried Münkler, Wer schläft, sündigt nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Oktober 1994, Nr. 230,<br />

L29, über: Peter Sloterdijk: "Falls Europa erwacht". Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des<br />

Zeitalters ihrer politischen Absence. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1994<br />

121<br />

Siehe: Le chiavi della memoria. Miscellanea in occasione del i centenario della scuola vaticana di paleografia,<br />

diplomatica e archivistica, a cura della Associazione degli ex­Allievi, Rom xxx<br />

41


littered with `vestiges´ coming from both Classical Antiquity<br />

and the New World. One holds the pen, the other the scythe,<br />

which approach each other without ever touching,<br />

asymptotically."<br />

<br />

History deals with relics which can be seen, and seeks to supply explanations; ancient things which have become<br />

mute throught the degradation owing to time may to some extent become clearer if we invoke customs observed<br />

among contemporary savages. This operation needs a locus, which in the eighteenth century is the collection: a<br />

technique, which is that of comparison and an author, an historian. This `Schreberian passion´ of<br />

Lafiteau betrays the desire to fill all lacunae and generate a new order on the ruins of the paternal<br />

tradition. 122<br />

Wir sind hier also mit einem Verständnis von Kultur als<br />

negentropischem Prozeß, als Technik gegen das Vergessen<br />

konfrontiert: Ein Anschreiben gegen die thermodynamische<br />

Tendenz zur Unordnung, ein künstliches Aufrechterhalten von<br />

Ordnung gegen die zeitbedingten Auflösungsprozesse, writing<br />

versus time.<br />

Goethe setzte sich über die Negentropie der Historie als<br />

höchst materieller Auflösungstendenz ihrer<br />

Hinterlassenschaften hinweg. Am 29. Juni 1820 schreibt Goethe<br />

an Lambert Büchler, den Sekretär der Gesellschaft für ältere<br />

deutsche Geschichtskunde, von seiner Überzeugung, “daß alle<br />

Ueberlieferung nur durch innern Assens und Zustimmung erst<br />

gewiß” werde. 123 Dem „Enthusiasmus der Zerstörung“ müsse man<br />

„den Enthusiasmus der Ordnung entgegensetzen“, notierte Goethe<br />

einmal höchst negentropisch (und begründet damit auch die<br />

kulturgeschichtlich-restaurarative Museumswelle als Reaktion<br />

auf die Französische Revolution, beschrieben schon in der<br />

Friedhofs-Szene seiner Wahlverwandtschaften). Festhaltens und<br />

gesichertes Weitergeben: Kultur sei nichts anderes als eine<br />

unausgesetzte Folge bewahrender Anstrengungen, die „man nicht<br />

wieder fahren lassen (und) um keinen Preis aufgeben“ dürfe. 124<br />

Weshalb er auch zeitentrückte Orte wie Rom den Metropolen<br />

(Paris, <strong>Berlin</strong> oder Wien) vorzog. Rom, „war gleichsam ein<br />

riesiges steingewordenes Monument der Kontinuität“ . Demgegenüber erinnerte A. Berman in seiner Intervention<br />

„Traduction, communication, entropie“ von auf dem Kolloquium<br />

Mémoir du futur (Paris 1985) an „la règle de l´entropie<br />

innovatrice“ .<br />

Klio als Sekretärin aber ist hier nicht Autorin. Das Buch<br />

nämlich, an dem sie schreibt, ist eine komparatistische<br />

Maschine, eine Analogiemaschine, die Bilder aus der Alten und<br />

der Neuen Welt nebeneinanderstellt und damit eine Operation<br />

übertragbar macht, als imaginäres Museum, wie sie in der<br />

Fixiertheit realer Sammlungen kaum möglich ist.<br />

122<br />

Annette Lavers (Rez.), über Michel de Certeaus Essay in: Rethinking History, hg. v. M.­R. Logan / J. F.<br />

Logan, New Haven = Yale French Studies 59 (1980); Rezension publiziert in: History and Theory XXII, 3 / 1985,<br />

hier: 330f<br />

123<br />

Zitiert nach Goez 1994: 87<br />

124<br />

Hier zitiert nach: Joachim Fest, Das Zerreißen der Kette. Goethe und die Tradition, in: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung Nr. 141 v. 21. Juni 1997, Beilage Bilder und Zeiten (Abdruck seines Vortrags zur Wiedereröffnung des<br />

Freien Deutschen Hochstifts und des Goethe-Museums in Frankfurt)<br />

42


In der unbearbeiteten historischen Überlieferung existiert die Tatsache nur als eine ungeordnete<br />

Ansammlung von lediglich durch ihr Nebeneinander verbundenen Bruchstücken. Diese Bruchstücke müssen<br />

zusammengesetzt werden, um einbesonderes, nicht allgemeines Gesetz zu ergeben. <br />

Die Funktion von Chronos im Titelkupfer zu Lafiteaus Moeurs<br />

verweist die inventarisierende Klio auf eine bildhafte Vision,<br />

eine metahistory, die den zerstreuten Objekten erst eine<br />

Organisation gibt. Schauen wir nicht so sehr auf ihre Figur<br />

der schreibenden Frau, die ikonologisch die Rolle Klios<br />

spielt, sondern auf das Buch, in das sie schreibt. Dort ziehen<br />

sich nämlich nicht lineare Zeilen hin, Historiographie als<br />

Erzählung, sondern Spalten, Zahlen. In der deutschen Ausgabe<br />

von Lafitaus Werk 125 heißt es erklärend zu den in der ersten<br />

Abteilung enthaltenen Kupferstichen, daß es im<br />

Kulturvergleich, mithin in den Kulturwissenschaften um Listen<br />

geht:<br />

Das Titelkupfer stellet eine schreibende Person vor, die gegenwärtig mit der Vergleichung verschiedener<br />

Denkmale des Altertums, als Pyramiden, Obelisken, pantheischen Figuren, Münzen, alten Schriftstellern, u.s.w.<br />

mit verschiedenen Erzälungen, Landkarten, Reisen und andern americanischen Merkwürdigkeiten, die alle um<br />

dieselbe herum liegen, beschäftget ist. Zween Schutzgeister bringen diese Denkmale herzugetragen, halten eins<br />

gegen das andere, und erleichtern diese anzustellende Vergleichungen durch Bekanntmachung ihrer mit einander<br />

habenden Ueberenstimmung. Die Zeit aber, auf welche die Kenntnis aller Dinge hautpsächlich ankömt, macht<br />

diese Zusammenhaltung dadurch noch weit rürender, wenn sie die rechten Quellen anzeiget, und die wahrhafte<br />

Verbindung dieser Denkmale mit dem ersten Ursprunge der Menschen, mit dem Grunde unserer Religion, und<br />

mit dem ganzen Lehrgebäue der unseren Vätern nach dem Sündenfalle geschehenen Offenbarung gleichsam mit<br />

den Fingern zeiget.<br />

Die Rede ist von Zusammenhaltung, nicht Zusammenhang: die<br />

Kohärenz ist nicht intrinsisch, sondern fabriziert. Was<br />

geschieht, wenn keine autoritäre Erzählung, keine Große<br />

Erzählung (im Sinne Lyotards) Klios Schrift anleitet, hat<br />

Gustave Flaubert in seiner Novelle Bouvard et Pécuchet<br />

satirisiert:<br />

Die Objekte in der Sammlung von Flauberts Schreiberlingen Bouvard und Pécuchet sollten im Idealfall mithilfe<br />

von Regeln und Prozeduren klassifiziert und geordnet werden, die selbst nicht der Inventarisierung unterliegen.<br />

Die Unfähigkeit Bouvards und Pécuchets, die verschiedenen Disziplinen des Wissens dadurch zu beherrschen,<br />

daß sie ihnen zusammenhängende Erzählungen zuordnen, liegt in der Tatsache begründet, daß Worte und<br />

Gegenstände Ordnungen angehören, die nichts miteinander zu verbinden scheint. Wenn es ihnen unmöglich<br />

erscheint, die Archäologie ihrer ordnenden Kontrolle zu unterwerfen, so deswegen, weil ihre Kenntnis der<br />

Geschichtswissenschaft unzureichend ist. 126<br />

Archäographie hieß in einem Werktitel des britischen<br />

Altertumsforschers Jacques Spon einmal der alternative Name<br />

nicht nur zur Archäologie, sondern zur Geschichtsschreibung<br />

selbst. Klios Position als Aufschreibesystem (statt<br />

Geschichtenerzählerin) ist nicht so exzentrisch, wie sie auf<br />

den ersten Blick scheint, wenn sie diskursiv isoliert<br />

betrachtet wird. Auch Antoine Laurent Lavoisier,<br />

Mitherausgeber der Méthode de nomenclature chimique von 1787<br />

(ein Meilenstein der anorganischen Chemie bis heute), wird im<br />

125<br />

Leipzig 1987 (hrsg. v. Helmut Reim), Neudruck der Auflage Halle 1752/3: Jean­Francois Lafitau, Die Sitten<br />

der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit<br />

126<br />

Dazu Sven Spieker, Il y a: Kabakov´s Weigerung, den Mülleimer zu leeren, Typoskript, Kapitel<br />

„Bouvard et Pécuchet. Mit Dank an den Autor.<br />

43


handelnden Vollzug portraitiert: Das wissenschaftliche<br />

Experiment ist mit dem Aufschreibesystem der Registrierung<br />

verbunden, dem Aufzeichnung und Verarbeiten der aktuellen<br />

Daten; speziell seiner Frau Marie-Anne obliegt die<br />

Protokollierung und die zeichnerische Skizzierung der<br />

experimentellen Anordnungen). Computer war einmal der Name für<br />

rechnende Frauen in Büros um 1900. Wo die Frau zur Muse wird,<br />

konkretisiert sich die Beziehung zwischen Lavoisier und Marie-<br />

Anne in dem Sinne, wie sich die Blicke von Klio und Janus in<br />

Mengs´ Deckenfresko oder in Lafitaus Titelkupfer schneiden.<br />

Geschichten müssen immer wieder innehalten, um auf Bild- und<br />

Textarchive zu verweisen, das archäologische Fundament ihrer<br />

Autorisation. Die genannte Allegorie von Mengs will Geschichte<br />

bedeuten, sagt aber Archäologie und Archivologie. Papyri,<br />

Archive, Antiken und der Diskurs der Historie: "Wahrscheinlich<br />

sind Geschichte als Museum und Geschichte als Anmerkungsteil<br />

dasselbe." 127 Denn der Anmerkungsteil des Aufsatzes Steffi<br />

Röttgens – die in ihrer brillianten Entzifferung von Mengs´<br />

Deckengemälde selbst ganz Sekretärin der Vergangenheit wird -<br />

löst die glatte Argumentation ihrer historischen Erzählung<br />

auf, in seine Bausteine bis hin zu den Rechnungen für das<br />

Gemälde selbst. Jeder dieser Bausteine, genau betrachtet, fügt<br />

sich nicht exakt und ohne Beschneidung in den<br />

historiographischen Rahmen.<br />

Die wissensarchäologische Ausstellung des Archivs als<br />

Monumente (nicht Dokumente) des Wissens, welche bewußt die<br />

typographische Verschränkung von argumentativem Text und<br />

Zitaten trennt, stellt der Lektüre dasselbe zur modularen<br />

Verfügung, diskret und als Baukasten. Insofern steht die<br />

Exponierung des Anmerkungsteil als Form in Äquivalenz zur<br />

Funktion der Sammlung im Titelkupfer von Lafitaus Moeurs. Der<br />

Mediävist Peter von Moos hat in seiner Studie über<br />

mittelalterliche Trostliteratur methodisch ähnliche<br />

Konsequenzen für die Darstellung historischer Polytextualität<br />

gezogen. Systematisch trennt er sein Werk in einen narrativen<br />

Darstellungsband, einen Band mit Quellentexten, und einen mit<br />

Fußnoten (samt Index). Die Referenzbände dienen dem<br />

wissenschaftlichen Fließtext dabei nicht schlicht als<br />

Supplement, sondern agieren auch als unabhängige<br />

Wissenseinheiten; so hat der Apparat "selbständigen Wert als<br />

Nachschlagewerk und Anthologie des verstreuten, teils<br />

unendierter Schriftgutes und erlaubt, einen großen Teil des<br />

Motivschatzes als materia jederzeit präsent zu haben" 128 ; er<br />

präsentiert seine Quellen also im archivischen und<br />

bibliothekarischen Modus. Zwar läßt sich dabei nicht<br />

vermeiden, daß kontextuelle Bezüge in dieser isolierten Form<br />

vernachlässigt werden; den Mangel gleich der optionale<br />

Interpretationsteil wieder aus. 1708 demaskiert der Hamburger<br />

Vincentius Placcius in seinem lexikalischen Theatrum<br />

anonymorum et pseudonymorum scheinbar anonyme Autoren von<br />

Texten schon im Titelkupfer: Der Gelehrte nimmt mehreren<br />

Autoren die Masken vom Gesicht, um letztere auf einer Schnur<br />

aufzureihen. Medium dieser Enttarnung ist die<br />

Gelehrtenbibliothek, und das Instrument, auf welches die<br />

127<br />

Friedrich A. Kittler, Brief vom 1. Juni 1989; vgl. sein Aufsatz "Lohenstein"<br />

128<br />

Peter von Moos, Consolatio, München 1971, Darstellungsband, 8<br />

44


Maskenschnur allegorisch verweist, sehr konkret jene Zettel,<br />

die mit einer Heftklammer an metallene Registerkarten geheftet<br />

wurden, um sie so beliebig umsortieren zu können. Damit tritt<br />

das transitorische „Interface“ an die Stelle der festgefügten<br />

Ordnung, und an die Stelle rhetorischer Loci oder Topoi in<br />

gedruckten Büchern. Eine neue Kulturtechnik von interfacing<br />

knowledge, so daß der entsprechende Hinweis darauf nicht von<br />

ungefähr in einer wissensgeschichtlichen Publikation<br />

auftaucht. 129<br />

Stephen Greenblatt von Seiten des new historicism löst in<br />

seiner Lesart die spätmittelalterlichen Mandeville´s Travels<br />

in reine Medialität, reine Vermittlung auf, in der Gegenstand<br />

und Beschreibungsmedium (der Textkörper) konvergieren:<br />

The body of John Mandeville is a set of pieces that are set in motion, carried from one place to another, endlessly<br />

exchanged. There is no original, no authorizing self, no authentic text; all texts are translations of /<br />

fragments that are themselves translations. Translation here and everywhere else. <br />

Greenblatt aber geht noch einen Schritt weiter in der genuinen<br />

Medialisierung des Mandeville´schen Textkörpers: "The<br />

merchants of language travel with neither gold nor goods: they<br />

travel with paper currency, and no ruler with authorize - that<br />

is to say, underwrite - the medium of exchange" . Mandeville selbst berichtet über das Wunder des<br />

chinesischen Papiergelds. Münze als Medium aber verlieren ihre<br />

Prägung mit der Zeit.<br />

Übertragung durch Schrift und Druck (Schiller, Müller, DB)<br />

Dem Gebäude der Deutschen Bücherei in Leipzig ist gleich einem<br />

Golem an seiner Stirnseite die abendländische Verquickung von<br />

Phono- und Logozentrismus als Wendung und Revision in güldenen<br />

Lettern eingeschrieben (Jacques Derridas Grammatologie zum<br />

Trotz): "Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen<br />

Gedanken. Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende<br />

Blatt." 130 Ein Jahrhundert zuvor hat Friedrich Ludwig Jahn die<br />

Sprache des deutschen Volkes als Schatz (also Speicher)<br />

definiert, in dem (etymologisch naheliegend) die „Urkunde<br />

seiner Bildungsgeschichte niedergelegt“ ist; in jeder<br />

metaphysischen Ideologie ist das Wissen von<br />

Aufschreibesystemen immer schon mit am Werk. 131 Substanzlose<br />

Ideen erhalten durch die Medien ihrer Aufzeichnung erst einen<br />

Körper, werden (hier) zum Textkorpus der Nation, ganz wie<br />

Schillers Zeitgenosse Adam Müller 1812 die Buchdruckerkunst<br />

129<br />

Helmut Zedelmaier, De ratione excerpendi: Daniel Georg Morhof und das Exzerpieren. Dazu Martin Mulsow<br />

(Rez.), Jedem Autor seine Maske. Eine Bibliothek als Theater: Vincentius Placcius erfindet 1708 das<br />

Karteikastensystem, in: FAZ Nr. 25 v. 30. Januar 2002, N3. Ferner Françoise Waquet (Hg.), Mapping the World<br />

of Learning. The „Polyhistor“ of Danile Georg Morhof, Wiesbaden 2000<br />

130<br />

Friedrich Schiller, Gedichte: Der Spaziergang (1795, unter dem Titel "Elegie" in den Horen zuerst<br />

erschienen). Dazu Friedrich Meinecke, Schillers „Spaziergang", in: Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für<br />

Heinrich Ritter von Srbik, München (Bruckmann) 1938, 187­201<br />

131<br />

Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum [*1810], hg. v. Franz Brümmer, Leipzig (Reclam) o. J. [ca. 1890],<br />

213<br />

45


als zeiträumliches Übertragungsmedium der Beredsamkeit<br />

definiert, wobei er zugestehen muß, daß sich „die eigentliche<br />

Wirkung nach Maßgabe der Entfernung, wie die Wellenkreise im<br />

ruhigen Strome, welche das Schiff zieht, nach und nach in<br />

weiterer Entfernung schwächer und schwächer werden, verhält“. 132<br />

Die Metaphorik dieser Aussage hält die elektronische Option<br />

offen, als Schrift begriffen, doch die Sprache der Elektrik<br />

verläuft weder über die Stimme noch über die Schrift.<br />

„Gleichermaßen auf beide verzichtet die Informatik.“ 133<br />

Friedrich Schiller selbst klagt über eine gewisse<br />

Flüchtigkeit, oder vielmehr über ein gewisses Verfliegen des<br />

Gedankens in der Sprache. Müller zitiert diesen größten Redner<br />

der Nation, der Dichtung als Medium nur wählte, „weil er<br />

gehört werden wollte“ 134 : „Spricht die Seele“, sagt Schiller,<br />

`so spricht, ach schon die Seele nicht mehr.´“ 135 Demgegenüber<br />

definiert Müller die Sprache als göttliches Siegel, durch das<br />

Gedanken erst veredelt (und archivierbar) werden: ein medialer<br />

Kanal, der die Botschaft determiniert. Das unbequeme<br />

Verhältnis des Deutschen zur Sprache (so schon G. E. Lessings<br />

Bezeichnung des Verhältnisses von ästhetischen Zeichen und der<br />

ihr unterstellten Bedeutung im Traktat Laocoon) ist dabei<br />

steuerungswissenschaftlich kanalisiert: „So regiert der<br />

deutsche Gelehrte auf dem Papier den Staat.“ Einmal als<br />

artifizielles Medium, als Suprematie von Signifikanten<br />

eingespielt, wird sprachliche Rhetorik nicht mehr semiotisch,<br />

sondern nachrichtentechnisch, mithin also nicht mehr<br />

hermeneutisch, sondern kryptologisch beschreibbar:<br />

In dem einen Augenblick hantieren wir mit der Sprache despotisch und eigenmächtig, als wenn sie ein<br />

erfundenes Wesen, eine Art von Chiffre oder Signal wäre, das man willkürlich verändernt, wenn der Schlüssel in<br />

Feindes Hände gefallen ist; in dem anderen Augeblick hantiert dafür die Sprache mit uns, verwandel wider<br />

unsern Willen die Gedanken unter unsern Händen, zähmt sie, bändigt sie. <br />

Hier schreibt sich die Sensibilität der Napoleonischen Epoche<br />

für Kodes, zivile und militärische, juristische, kommunikative<br />

und technische. 136<br />

Schillers Vers an der Front der Deutschen Bücherei koppelt<br />

Schrift an das Medium des Buchdrucks (dessen Speicher die<br />

Institution darstellt, im Unterschied zum urkunden-, aktenund<br />

manuskriptzentrierten Archiv). Zum Zeitpunkt der Fixierung<br />

dieser Lettern in Leipzig liest sich eine hundert Jahre zuvor,<br />

132<br />

Adam Müller, Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, mit einem Essay und<br />

einem Nachwort von Walter Jens, Frankfurt/M. (Insel) 1967, IX. Von der neueren Schriftstellerei der Deutschen,<br />

163<br />

133<br />

Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 6.<br />

Aufl. 1992, 310. Und ganz im Sinne des Mottos der Deutschen Bücherei: „Die Schrift impliziert einen<br />

allgemeinen Sprachgebrauch, der dadurch sich auszeichnet, daß sich der Graphismus an der Stimme ausrichtet,<br />

sie aber gleichzeitig übercodiert und eine als Signifikant funktionierende fiktive Stimme der Höhen einführt“<br />

(308f)<br />

134<br />

Müller 1812/1967: I. Vorwort, 41<br />

135<br />

Zur asignifikanten, zeitgeistlichen Pneumatik des Seufzers ach! in der deutschen Dichtung um 1800: Friedrich<br />

A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800 / 1900, München (Fink) 1985, 11. Für Frankreich sieht das anders aus: „In<br />

welchem bequemen, schebenden Verhältnis steht dagegen der Franzose zu seiner Sprache: Spricht die Seele - so<br />

hat sie auch genau im Worte Platz“ (Müller 1812/1967: 43); in Frankreich also ist das Reale an seinem Ort.<br />

136<br />

Siehe Stefan Kaufmann, Kommunikationstechnik und Kriegsführung 1815-1945. Stufen medialer Rüstung,<br />

München (Fink) 1996, Einleitung (10)<br />

46


zur Zeit der Leipziger Völkerschlacht ausgesprochene Prognose<br />

wie die Vorwegnahme des den (an das Dispositiv der Post<br />

gekoppelten) Buchdruck überflügelnden Mediums Radio -<br />

Restitution der Rede nicht als logozentristische Metaphysik<br />

der Präsenz, sondern als Funktion einer Übertragungstechnik:<br />

Es wird bald dahin gekommen sein, daß wir mit allen Flügeln der Buchdruckerkunst nicht weiter reichen, als mit<br />

der gewöhnlichen Stimme und mit aller Vervielfältigung unsrer Geistesprodukte nicht weiter reichen als mit<br />

einem gewöhnlichen Brief. und der vermeintlich so mächtige Hebel der Geister, die Buchdruckerkunst, tritt<br />

zuletzt in die Reihe der gewöhnlichen Kopiermaschinen zurück. 137<br />

Vorerst aber lautet das Übertragungsmedium der Stimme,<br />

schneller als aller Buchdruck körperloser Gedanken, Gerücht,<br />

akzeleriert durch den Ausnahmezustand eines Europakrieges:<br />

Die Gedanken fliegen schon von selbst umher auf allen Gassen, man braucht nur zu atmen, um sie zu haben;<br />

noch heut können Millionen Geister von dem rechten Feldherrn, wenn er kommt, wie mit einem Schlage ihr<br />

Losungswort erhalten. <br />

Müller will nur noch gedruckt sehen, was schon gesprochen<br />

wurde - Druckerkunst „als eine dienende Beihülfe für die<br />

eigentliche rednerische Tat“, als Distributionsmedium . Dabei macht es einen Unterschied, ob der Leser „Lettern<br />

in seine Seele hineindrücken läßt, und sich leidend verhält“,<br />

oder bei der Lektüre anderer Schriften „dieselbige Seele<br />

zwischen den Zeilen spielen und einfügen läßt, was ihr<br />

beifällt“. Dem Buchdruck setzt Müller in agonalem<br />

Anachronismus zur Restitution der alten Würde des<br />

geschriebenen Wortes das Manuskript entgegen, wie es in<br />

Bibliotheken vergraben liegt und der<br />

wissensarchäologischen Entdeckung harrt (wie es das<br />

Quelleneditionsunternehmen der Monumenta Germaniae historica<br />

fast zeitgleich in Angriff nehmen wird): „So sicher als die<br />

Werke des Homer oder des Platon wandeln sie durch die Stürme<br />

der Jahrhunderte hindurch“ - ein Phänomen, auf das<br />

auch die Memetik hinweist.<br />

Philologie aber achtet auf Brüche in der Übertragung Homers,<br />

dem „transmissional process in action“ . „The general<br />

picture is one of a very danyamic, open tradition, with<br />

diminuition over time in the range of textual variation“ <br />

- Kanonisierung. Wobei im 2. Jh. v. Chr. entscheidende<br />

Standardisierung des Textes feststand. „Readers in the 3rd<br />

century B.C. faced merely a succession of letters,<br />

uninterrupted except by verse-termini“ 138 ; erst im Akt des<br />

Lesens wurde durch Artikulation interpretiert (Software).<br />

Hinzu tritt „the changing nature of its physical form“ ,<br />

die Materialität der kulturellen Übermittlung:<br />

For any attempt to trace the history of Himer in antiquitey it is the ancient manuscripts themselves that constitute<br />

the only secure evidential bse; they serve as a control on the nature and worth of the medieval tradition and on<br />

any reconstruction of the first four or five hundred years. <br />

137<br />

Müller 1812/1967: 157 (Rede IX. Von der neueren Schriftstellerei der Deutschen)<br />

138<br />

Michael Haslam, Homeric Papyri and Transmission of the Text, in: Ian Morris / Barry Powell (Hg.), A new<br />

Companion to Homer, Leiden / N. Y. (Brill) 1996, 55-<br />

47


Das Schreibmedium selbst (Papyri respektive Pergament) „too<br />

underwent change, from scroll form to codex“ . Das<br />

Medienarchiv wird hier zum Dispostiv:<br />

Die Erhaltung der platonischen Meme über eine Serie von Kopien ist ein besonders augenfälliges Beispiel. Zwar<br />

sind in neuerer Zeit einige Papyrus­Texte gefunden worden, die wohl schon zu Platos Lebzeiten existiert haben,<br />

doch ist das Überleben der Meme selbst davon so gut wie unabhängig. Die heutigen Bibliotheken enthalten<br />

Tausende, wenn nicht Millionen physischer Kopien (und Übesetzungen) von Platos Meno, während ihr<br />

eigentlicher Vorfahre ­ der Urtext ­ schon vor Jahrhunderten zu Staub wurde. <br />

Die Wahrscheinlichkeit der Tradition ist eine Funktion ihrer<br />

Medien, die auch den Modus bestimmen: ob Daten als<br />

Reproduktion oder als sie selbst übertragen werden.<br />

Ganz anders als Sokrates es in Platons Dialog Phaidon mahnt,<br />

vertraut Müller die Handschrift einem genuin medialen Prozeß<br />

an, beschreibt sie in Begriffen der Nachrichtenübertragung<br />

(Tradition), von Gedächtnis als Adresse (Nachwelt) und von<br />

Informationsretrieval:<br />

Aus dem Schutte versunkener Städte treten sie zur rechten Zeit ans Licht: an die Nachwelt gelangt jede<br />

ordentliche Adresse, und keinen zuverlässigen Boten an sie gibt es, als den eigenen Genius eines großen Werkes.<br />

Aber auch für die Gegenwart ist das Werk besser besorgt in der Abschrift als im Druck: niemand liest weniger,<br />

als der selbst viel Bücher hat, oder die Zuversicht, daß er jederzeit erreichen kann was er braucht. <br />

Müller koppelt die Ökonomie des Geistes an die des Kapitals;<br />

im Bunde mit dem Medium beweglicher Lettern steht die<br />

Zirkulation des Geldes: „Die Excesse in der Anwendung der<br />

Schrift, der Buchdruckerkunst und des Metallgeldes sind zu<br />

Ende“; die Losung der Folgezeit wird sein: Rede und Schrift,<br />

Manuskripte. Schluß mit dem „Wunderglaube an die edlen<br />

Metalle und an die Presse“ .<br />

Dementsprechend medienbewußt definiert auch Müllers Kronzeuge<br />

Schiller die universalgeschichtliche Wissensüberlieferung der<br />

Kultur (im Wissen um einkalkulierte Wissenseinbußen), aber<br />

ebenso wie Müller nicht medienarchäologisch, insofern anstelle<br />

einer konsequenten Analyse der Techniken von Überlieferung der<br />

Weltgeist steht, „im Bunde mit allen empfundenen, großen,<br />

gottähnlichen Dingen“ . Ganz nebenbei war es<br />

Hegel, der den Weltgeist nach der preußischen Niederlage in<br />

Jena sehr viel konkreter vorbeireiten sah; Jahre vor dieser<br />

Epiphanie, am 27. Mai 1789, hielt Schiller seine Jenaer<br />

Antrittsvorlesung als Professor für Geschichte unter dem Titel<br />

Was heißt und zu welchem Ende studiert man<br />

Universalgeschichte Analog zur Kontingenztheorie der<br />

mittelalterlichen Scholastik ist das, was die Panoptik des<br />

Weltgeists überschauen kann, dem einzelnen Akademiker ein<br />

Trümmerhaufen an Überlieferungen (historische Quellen,<br />

Nachrichten der Gegenwart), da nicht alle Ereignisse zur<br />

Aufzeichnung kommen, vor allem aber als Organ der Tradition<br />

Mündlichkeit fungiert. Begebenheiten gehen damit als<br />

Mitteilung von Mund zu Mund, „und da sie durch Media gieng<br />

, die verändert werden und verändern“, schreiben Medien<br />

mit an Inhalt und Form der Botschaft, verrauschen sie. 139 1812<br />

139<br />

Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte Reprint (Friedrich-<br />

Schiller-Universität Jena, wiss. bearb. v. Volker Wahl, Jenaer Reden und Schriften 1989) des Erstdrucks der<br />

48


weiß der Historiker und Diplomat Barthold Georg Niebuhr über<br />

den antiken pater historiae Herodot zu schreiben, daß kein<br />

Quellenstudium „Licht und Wahrheit gewähren kann, wenn<br />

der Leser nicht den Standpunkt faßt, von wo, und die Media<br />

kennt, wodurch der Schriftsteller sah, dessen Berichte er<br />

vernimmt." 140 Die Sage, so Schiller weiter, läßt alle<br />

Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die<br />

Welt(als)geschichte, die erst im Diskurs narrativ-linearer<br />

Argumentation überhaupt als Zusammenhang postuliert werden<br />

kann (Immanuel Kant), „so gut als verloren" gehen .<br />

Tatsächlich weiß diese Form der Übertragung von einer (dem<br />

Diskurs der Historie gegenüber) differenten<br />

Gedächtnismedialität. „Nur wenige Trümmer haben sich aus der<br />

Vorwelt in die Zeiten der Buchdruckerkunst gerettet“ ;<br />

so legitimiert sich auch der Impuls zu vom Steins<br />

Editionsprojekt der Monumenta Germaniae historica nach 1819<br />

aus der Notwendigkeit, ein dauerhaftes, d. h. operables, in<br />

reproduzierbare Texte überführtes Gedächtnisdispositiv, eine<br />

typographische Datenbank für künftige Historiographien zu<br />

setzen - einen Speicher zu akkumulieren als „Aggregat von<br />

Bruchstücken“ .<br />

Schillers Mißtrauen erwacht ob solcher Medieneffekte negativer<br />

Filterung und wissenschaftlicher Unwiederbringlichkeit und der<br />

Unzuverlässigkeit menschlicher Berichterstattung „bey dem<br />

ältesten historischen Denkmal, und es verläßt uns nicht einmal<br />

bey einer Chronik des heutigen Tages“ ; das<br />

Bewußtsein von Techniken der Nachrichtenübertragung macht die<br />

Differenz von Vergangenheit und Gegenwart nichtig. „So viele<br />

Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken<br />

in der Ueberlieferung giebt“ , doch diese Einsicht<br />

in Übertragungsverluste läßt Schiller dennoch blind für eine<br />

weitergehende Medienanalyse. Empirische Leerstellen im Archiv<br />

des kulturhistorischen Wissens, die der wissensarchäologisch<br />

diskret operierende Forscher konstatiert, sollen<br />

Geschichtsphilosophen unter Bezug auf teleologische<br />

Algorithmen der Weltgeschichte („diese Folge von<br />

Erscheinungen, die in seine Vorstellung soviel Regelmäßigkeit<br />

und Absicht annahm“ 141 ) divinieren oder zum System ergänzen - im<br />

abgeleiteten Medium der historischen Imagination und qua<br />

Analogie . 142 Einmal mit dem Programm einer<br />

Geschichtsphilosophie ausgestattet, durchwandert der<br />

Historiker mit diesem teleologischen Prinzip das Archiv noch<br />

einmal, um in seiner Speicheranordnung „die Ordnung der Dinge“<br />

selbst zu (er-)finden; ein gedächtnistechnisches<br />

Arrangement wird somit zur Information seiner Daten.<br />

Jenaer akademischen Antrittsrede aus dem Jahre 1789 (in: Der Teusche Merkur vom Jahre 1789, viertes<br />

Vierteljahr, Weimar), 126<br />

140<br />

B. G. Niebuhr, Über die Geographie Herodots (1812), in: Kleine historische und philologische Schriften. Erste<br />

Sammlung, Bonn 1928, 132<br />

141<br />

Heinrich Luden, Einige Worte über das Studium der vaterländischen Geschichte. Vier öffentliche Vorlesungen,<br />

Jena 1810, 18<br />

142<br />

Siehe Friedrich Kittler, Medien der Universalgeschichte bei Schiller, in: ders., Eine Kulturgeschichte der<br />

Kulturwissenschaft, München (Fink) 2000, 80ff<br />

49


Kultur, negentropisch<br />

Lotman/Uspenskij definieren kulturelles Gedächtnis als eines,<br />

"das in einem bestimmten System von Verboten und Vorschriften<br />

zum Ausdruck kommt". 143 In diesem Sinne auch Horkheimer/Adorno:<br />

Der ausdrückliche und implizite Katalog des Verbotenen und Tolerierten reicht so weit, daß er den<br />

freigelassenen Bereich nicht nur umgrenzt, sondern durchwaltet. Die Kulturindustrie legt, wie ihr<br />

Widerpart, die avancierte Kunst positiv ihre eigene Sprache fest, mit Syntax und Vokabular. 144<br />

- wobei die Vorschriften bislang zumeist außerhalb des<br />

Organismus in Form von Aufzeichnungen gespeichert wurden 145<br />

(während der Computer seine Programme im Arbeitsspeicher<br />

selbst ablegt). Ist Kultur somit eine Funktion von synchronen<br />

Vektoren, von kybernetischen Operationen, demgegenüber der<br />

Begriff von Gedächtnis (memory) zur Metapher wird Die<br />

Toronto-Schule (Harold Innis, Eric Havelock, Marshall McLuhan)<br />

präzisiert, daß Kulturen durch die Kapazität ihrer Medien der<br />

organisierten (also standardisierten) Weitergabe, d. h. ihrer<br />

Aufzeichnungs-, Speicherungs- und Übertragungstechnologien<br />

definiert sind. 146 Die Pointe und Provokation dieser Richtung<br />

besteht darin, daß sie aus der Kulturwissenschaft eine<br />

Ingenieur- oder noch besser eine Nachrichtenwissenschaft<br />

macht 147 , was nicht ohne Folgen für die Analyse von Tradition<br />

bleibt.<br />

Auch Marshall McLuhan definiert in Understanding Media unter<br />

Bezug auf Julian Huxley den Menschen im Unterschied zu „rein<br />

biologischen Geschöpfen“ als dasjenige, das über einen<br />

„Übertragungs- und Umformungsapparat“ verfügt, der seinerseits<br />

auf seiner Fähigkeit, Erfahrung zu speichern, basiert.<br />

Grundfunktion von Medien ist es, "Informationen zu speichern<br />

und zu beschleunigen" , wobei die<br />

Speicherung von Information bereits eine Form der<br />

Beschleunigung, nämlich der schnellen Zugreifbarkeit im<br />

Unterschied zum langwierigen Sammeln, bedeutet.<br />

Vilém Flusser definiert das natürliche Gedächtnis als<br />

Informationsspeicher (Wasserstoffatome, galaktische Systeme,<br />

Biomassen); die interiorisierte, verarbeitete und nicht<br />

schlicht evolutionär weiterkopierte Weitergabe erworbener<br />

143<br />

Lotman/Uspenskij 1986: 856; s. a. dies., Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen<br />

Kultur, in: Poetica (1977) Heft 1, 1ff<br />

144<br />

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: dies., Dialektik der<br />

Aufklärung [*1944], Frankfurt/M. 1986, 108­150 (115)<br />

145<br />

Siehe F. Klix, Information und Verhalten. Kybernetische Aspekte der organismischen<br />

Informationsverarbeitung, Wien (3. Aufl.) 1976; ferner W. E., Im Namen des Speichers: Eine Kritik der Begriffe<br />

"Erinnerung" und "Kollektives Gedächtnis", in: Moritz Csáky / Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses.<br />

Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit ­ Kompensation von<br />

Geschichtsverlust, Wien (Passagen: Orte des Gedächtnisses) 2000, 99­127<br />

146<br />

S. a. Stocker 1997: 60f („Medien und Gedächtnis“)<br />

147<br />

Siehe Aleida Assmann (unter Bezug auf Friedrich Kittler), Exkurs: Archäologie der literarischen<br />

Kommunikation, in: Miltos Pechlivanos / Stefan Rieger / Wolfgang Struck / Michael Weitz (Hg.), Einführung in<br />

die Literaturwissenschaft, Stuttgart / Weimar (Metzler) 1995, 200­206 (201)<br />

50


Information (Goethes Begriff von Tradition als erworbenes<br />

Erbe) kennzeichnet das kulturelle Gedächtnis. Neuronale<br />

Gedächtisse speichern dabei nicht mehr schlicht Daten, sondern<br />

lernen das zweckmäßige Speichern, das Abrufen und Variieren<br />

von Daten, also nicht mehr das Repertoire, sondern die<br />

Struktur von Systemen – ein katalogisches Metagedächtis.<br />

Kreativität heißt also das Prozessieren von gespeicherten<br />

Daten. 148 Flusser bezweifelt die - von Lotman nahegelegte -<br />

Unterscheidung zwischen Heredität und Paideia, zwischen der<br />

Übertragung ererbter und erworbener Informationen; vielmehr<br />

geht er von deren Verknüpfung aus, da die genetische<br />

Information das Gedächtnis nicht nur vorprogrammiert, bevor es<br />

von der kulturellen weiterprogrammiert wird, sondern überhaupt<br />

erst die Struktur des Gedächtnisses aufbaut - ganz im Sinne<br />

des Konstruktivismus in der Neurologie:<br />

Die genetische Information verhält sich zur kulturellen nicht nur, wie sich zwei übereinandergelagerte<br />

Programme in einem Computer zueinander verhalten, sondern auch, wie sich die Hardware des Computers zu<br />

der Methode verhält, nach der er programmiert wird. 149<br />

Aktuelle Diskussionen um den menschlichen Spracherwerb<br />

scheinen dies zu bestätigen. „Die Geschichte von Genen und<br />

Sprachen verläuft im Wesentlichen parallel“, meint der<br />

Populationsgenetiker Cavalli-Sforza, und der kalifornische<br />

Sprachforscher Joseph Greenberg sucht mit seiner Kollegin<br />

Merritt Ruhlen evolutionsarchäologisch der Protosprache auf<br />

die Spur zu kommen, wie sie vor 60- bis 100000 Jahren<br />

gesprochen wurde. Das eine Wort, das bereits entdeckt wurde,<br />

ist ausgerechnet digital: „Tik bedeutet eins, wurde im<br />

Protoindoeuropäischen zu deik (zeigen) und dann zum<br />

lateinischen Finger: digitus.“ 150 Genetische und kulturelle<br />

Entwicklung verlaufen dabei funktional asymmetrisch und lassen<br />

sich kybernetisch beschreiben:<br />

Im Erbgut sind die Baupläne für Stimmbänder, für den tief gelegten Kehlkopf und ein filigranes Mundwerk<br />

angelegt. Aber erst die Kultur bringt uns bei, die körpereigenene Instrumente zu orchestrieren. „Sprache ist eine<br />

kulturelle Errungenschaft“, sagt Cavalli­Sforza, aber sie beruhe „auf einer präzisen anatomischen und<br />

neurologischen Grundlage“. Der Fund von FoxP2 ist ein Beleg dafür, dass sich Kultur nicht<br />

von der Biologie trennen lässt: Sie macht sich in einer Art Rückkoppelung im Erbgut des Menschen bemerkbar.<br />

<br />

Womit wir wieder bei der Memetik sind. Sprachtheorien im<br />

Widerstreit: Füllt sich das Hirn des Neugeborenen allmählich<br />

mit Sprachkompetenz durch Nachahmung, durch Mimesis, beginnen<br />

sie mit einer evolutionären tabula rasa oder mit einer<br />

Vorstrukturierung, einer Art vorgängigen Grammatik, d. h.<br />

Programmiertheit<br />

Die mediale Form von Überlieferung und Historie (Otto Pächt)<br />

148<br />

Vilém Flusser, Gedächtnisse, in: Arts electronica, <strong>Berlin</strong> xxx, 50<br />

149<br />

Vilém Flusser, Kommunikologie, Frankfurt/M. (Fischer) 1998, 309<br />

150<br />

Ulrich Bahnsen / Urs Willmann, Wie Gene die Lippen spitzen, in: Die Zeit Nr. 51 v. 13. Dezember 2001, 35f<br />

(36)<br />

51


Die Agentur der Überlieferung hat originär Anteil an dem<br />

Geschehen selbst, der Botschaft des Mediums. In der Form<br />

dieser Anteilnahme nun unterscheiden sich die medialen<br />

Funktionsträger des Mittelalters von denen der Epoche<br />

technischer Medien fundamental. Im Mittelalter ist der<br />

kommunikative Akt, der Prozeß der Übermittlung und Übertragung<br />

also, immer schon an symbolischen Mehrwert gekoppelt;<br />

demgegenüber sind die technischen Medien den Inhalten ihrer<br />

Übertragungsleistung gegenüber geradezu konstitutiv<br />

indifferent. Stellt sich die Frage, inwieweit technische<br />

Medien der Tradition eine Archivierbarkeit einräumt - "sofern<br />

man unter Archivierung über das Speichern hinaus auch die<br />

Regelung von Übertragungen verstehen will“ 151 .<br />

In seinem Aufsatz "Ding und Medium" insistiert Fritz Heider<br />

1921 darauf, daß mediale Übertragungen (Lichtstrahlen etwa)<br />

"Kunde von Dingen geben" 152 - ein aus Herodots Begriff der<br />

historia vertrauter Begriff. Hier ist er auf elektronische<br />

Strahlen (TV) übertragbar - ein alternativer Begriff von<br />

"Nachrichten." An dieser Stelle ist eine Geschichte der Medien<br />

nichts als eine Beobachtung zweiter Ordnung der Medien der<br />

Geschichte selbst.<br />

Jacques Lacans methodische Distinktion zwischen Imaginärem,<br />

Reellem und Symbolischen im psyschischen Haushalt setzt<br />

Friedrich Kittler mit der technischen Dreiheit von Speichern,<br />

Übertragen und Berechnen gleich. 153 Gilt diese Dreiteilung im<br />

kybernetischen Sinn auch für den Mechanismus der Tradition Am<br />

Beispiel der Monumenta Germaniae Historica, also des<br />

Editionsunternehmens von Quellen zur deutschen Geschichte im<br />

Mittelalter, läßt sich beim Initiator, dem Freiherrn vom Stein<br />

unter anderen, das Motiv ausmachen, den juridischen Untergang<br />

des Heiligen Römischen Reiches in Napoleons Kriegen durch<br />

seine kulturelle Archivierung wettzumachen. Am Anfang steht<br />

also das Gedächtnis als reales, auf Schlachtfeldern<br />

vergossenes Blut, am Ende ein administratives Großunternehmen<br />

der symbolischen Ordnung von Geschichtswiss, welches einen<br />

Volksgeist durch die Tiefe seiner historischen Imagination<br />

hervorzurufen sucht. Die Sammelepoche der MGH kommt aller<br />

Geschichtsphilosophie zum Trotz mit Gutenbergs Buchdruck als<br />

Ausdifferenzierung von Urkunde und Akte zum Ende;<br />

mediengeschichtlich erweisen sich mithin die MGH selbst als<br />

systematische Überführung von Handschriften in Druckschriften.<br />

Tatsächlich sind die Epochen der Überlieferung durch<br />

Medienrevolutionen zäsuriert. Die ehernen Letter, für<br />

dauerhafte identische Reproduktion gegossen, macht in einer<br />

medial höchst materiellen metonymischen Verbiebung von der<br />

151<br />

Philipp von Hilgers über Klaus Gasteiers CD-ROM Dump Angel (Diplomarbeit Kunsthochschule für Medien<br />

Köln 1997), in: Lab. Jahrbuch für Künste und Apparate Bd. 3, Köln (König) 1997, xxx<br />

152<br />

Fritz Heider, Ding und Medium [1921], Wiederabdruck in: Pias et al. (Hg.) 1999: 319­333 (329)<br />

153<br />

Jacques Lacan, Écrits, Paris 1966, 720; Kittler, ­ ­ ­ , 65<br />

52


Schrift zum Druck den Spruch des Horaz buchstäblich wahr:<br />

"Monumentum aere perennius ...". Tatsächlich aber führt die<br />

selektive oder kontingente Überführung von Handschriften in<br />

Buchdruck zur damit einhergehenden sukzessive Zerstörung<br />

handschriftlicher Vorlagen, zu Traditionsverlust.<br />

1811, inmitten der Mobilisierung geistiger Energien in<br />

Deutschland gegen den Besatzer Napoleon, verfaßt der Verleger<br />

Perthes ein Schriftstück, dessen Einleitung die deutsche<br />

Literatur und mithin Kultur überhaupt als Funktion ihres<br />

technischen Dispositivs, und dynamisch ihrer<br />

Übertragungsmedien, bestimmt: Es sei nötig, die Geschichte des<br />

deutschen Buchhandels zu entwickeln, da "ohne demselben <br />

keine deutsche Litteratur bestände und somit nicht die Stufe<br />

der geistigen Cultur, worauf die deutsche Nation steht" 154 . Der<br />

Geist also weht nur, wo Infrastruktur von Buchstaben ist.<br />

Gerade als Netzwerk ersetzt der Buchhandel die fehlende<br />

Kulturzentrale.<br />

Die Archäologie eines Deutschen Gesamtkatalogs geht bis auf<br />

Goethes 1795er Einsicht zurück, im Herzogtum Weimar das, was<br />

an realen Büchern in zerstreuten Bibliotheken nicht an einem<br />

zentralen Ort zusammenzubringen war, durch „virtuale<br />

Vereinigung“ im Medium Gesamtkatalog zu verknüpfen 155 . Die<br />

virtuelle Zentralisierung 156 der preußischen Bibliotheken durch<br />

Bereitstellung von Katalogzweitexemplaren in der Königlichen<br />

Bibliothek zu <strong>Berlin</strong> nach Plänen um 1900 hat genau dies<br />

leisten sollen; mit dieser logistischen Virtualität<br />

korrespondiert die deutsche Einrichtung der Fernleihe, die<br />

anstelle einer denkbaren nationalen Buchkonzentration auf die<br />

<strong>Berlin</strong>er Königliche Bibliothek die deutsche<br />

Bibliothekslandschaft in Zerstreuung beließ. Nicht die realen<br />

Buchkörper, sondern ihre Metadaten werden in <strong>Berlin</strong><br />

zusammengeführt; die dortige Zentralstelle weist nicht so sehr<br />

die Orte, sondern die genauen Titel gesuchter Bücher nach -<br />

eine nachrichtentechnische Verlagerung vom Ort des Speichers<br />

auf seine Adressierung als Bedingung der Übertragbarkeit von<br />

Information. 157<br />

Perthes´ formuliert sein Plädoyer für den deutschen Buchhandel<br />

in Begriffen, die ein solches Netz - ganz im Sinne des<br />

154<br />

Zitiert nach dem Abdruck im Börsenblatt Nr. 132 v. 9. Juni 1884 = Perthes 1995: 81f<br />

155<br />

Goethes Vortrag vor der Weimarer gelehrten Freitagssozietät unter dem Titel: Über die verschiedenen Zweige<br />

der hiesigen Tätigkeit, zitiert nach: Eugen Paunel, Goethe als Bibliothekar, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen,<br />

Jg. 63, Heft 7/8 (Juli/August 1949), 235­269 (259); Paunel kommentiert: „Es fällt hier die bis dahin in der<br />

Bibliothekssprache nicht übliche Bezeichnung `virtualiter´, die man besser versteht, wenn man sie durch das der<br />

griechischen Sprache entlehnte Fremdwort `dynamisch´ ersetzt“ (260) ­ was man noch besser versteht, wenn<br />

diese Dynamik an einen elektromechanischen Stromkreis angeschlossen ist. Virtual im Sinne von<br />

Platzhalterschaft für künftige Eintragungen durch weiße Zwischenblätter ist Goethes konkreter Plan für die Form<br />

des (Gesamt­)Katalogs vom 23. Mai 1798: Siehe Karl Georg Brandis, Goethes Plan eines Gesamtkatalogs der<br />

weimarischen Bibliotheken, in: Jahrbuch der Goethe­Gesellschaft 14 (1928), 152­165 (157)<br />

156<br />

Begriff in: Bernhard Fabian, Die Reform des preußisch­deutschen Bibliothekswesens in der Ära Althoff:<br />

Fortschritt oder Weichenstellung in eine Sackgasse, in: xxx, 425­441 (429)<br />

157<br />

Richard Fick, Die Zentralstelle der Deutschen Bibliotheken (Das <strong>Berlin</strong>er Auskunftsbureau und der<br />

Gesamtkatalog), in: Commission permanente des Congrès internationaux des Archivistes et des Bibliothécaires,<br />

Congrès de Bruxelles 1910. Actes, hg. v. J. Cuvelier / L. Stainier, Brüssel 1911, 399­449 (410)<br />

53


Internet - mit Rückkanal denkt, andererseits aber - und das<br />

ist die Differenz zum Internet - die mittelpunktslose<br />

Verknotung nicht formulieren mag:<br />

In Deutschland können Wissenschaften und Künste nicht betrieben, nicht gefördert werden, wenn nicht durch<br />

alle Provinzen, wo Deutsch gesprochen wird, der Buchhandel von einem Punkt aus gehandhabt, wenn nicht von<br />

allen Provinzen aus gleichförmig wieder nach einem Punkt gestrebt würde. Deutschland hat keinen Mittelpunkt,<br />

keine Hauptstadt, keinen allgemeinen Beschützer für Wissenschaft, Kunst und Litteratur. ­ Die Gesammtheit<br />

muß dies ersetzen, ­ der Buchhandel ist das Mittel zur Einheit <br />

Als Inhalt wird das Medium zur Form: "Die deutsche Nation ist<br />

eine lesende, reflectirende: die Litteratur ist ihr Mittel zur<br />

Cultur" . Man mag Perthes daran erinnern wollen, daß in<br />

der römischen Antike die Buchhändler, die librarii, zunächst -<br />

nach griechischem Vorbild - bibliographoi waren, "also<br />

Abschreiber auf Vorrat" - von daher das Wort Kopie, von copia<br />

(Menge) - "oder Bestellung". 158 Titulus war dabei das Etikett,<br />

das den Inhalt der Pergamentrollen kurz skizzierte und anpries<br />

- reine Adresse. "In der Spätantike hatte der Kodex, gut<br />

ablesbar am byzantinischen Kulturkreis, vor allem Speicherund<br />

Tradierfunktion." 159 Erst der Kodex "als kulturtechnisches<br />

Signal" macht Bücher buchstäblich<br />

handhabbar und damit interaktiv (in Rückkopplung) lesbar,<br />

ermöglichte doch "die Codexlektüre gleichzeitiges Abschreiben,<br />

Exzerpieren, Vergleichen, kurz: aktive Auseinandersetzung mit<br />

einem Text" . Nach dem Vorbild der zusammengehefteten<br />

Wachshefte aus Holz ermöglichte der Kodex die Unterteilung und<br />

damit diskrete Adressierbarkeit von Texten - Orientierung und<br />

Navigierbarkeit. Bis zum siebten Jahrhundert waren antike<br />

Texte, die man für erhaltswert ansah, buchstäblich in die neue<br />

Überlieferungsform übertragen - das Medium der Tradition (auch<br />

wenn die päpstliche Kanzlei noch länger am Papyrus festhielt).<br />

Indem die christliche Religion diesen medialen Träger der<br />

göttlichen Offenbarung mit dem Gattungsnamen selbst als Bibel<br />

bezeichnete, wurde das Medium hier buchstäblich zur Botschaft<br />

. Die erfolgreichsten Religionen sind laut Dawkins<br />

diejenigen, welche Instruktionen zum Kopieren in sich tragen.<br />

Eine Aufforderung zur Speicherung und Verbreitung der<br />

christlichen Lehre sowie zur Drohung bei Veränderung dieser<br />

Lehren ist in der Offenbarung des Johannes zu finden: "Selig<br />

ist, der die Worte der Weissagung in diesem Buch bewahrt“;<br />

„Versiegle nicht die Worte der Weissagung in diesem Buch, denn<br />

die Zeit ist nahe; „Wenn jemand etwas hinzufügt, so wird Gott<br />

ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben<br />

stehen“; „Wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs<br />

dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am<br />

Baum des Lebens". 160 Der Begriff der abendländischen Kultur ist<br />

158<br />

Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, München (Beck) 1991, 14<br />

159<br />

Werner Faulstich, Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike, Göttingen (Vandenhoeck &<br />

Ruprecht) 1997, 264<br />

160<br />

Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg): Die Bibel nach der<br />

Übersetzung Martin Luthers, Leipzig, Evangelische Haupt­Bibelgesellschaft zu <strong>Berlin</strong> und Altenburg, <strong>Berlin</strong>,<br />

1986, Das Neue Testament, S. 306<br />

54


ohne den Wechsel von der Papyrusrolle zum Pergamentkodex kaum<br />

denkbar:<br />

Wäre man nicht zum Pergamentkodex übergegangen, so wären die materiellen Voraussetzungen für das<br />

Weiterleben des antiken Schrifttums die denkbar ungünstigsten gewesen. Die Zeitbrücke, die die Vergangenheit<br />

mit der Zukunft verband, wäre äußerst eng geworden, denn von Generation zu Generation hätte sich nur das<br />

vererbt, was dem Wechsel des Publikumsgeschmacks und dem Tagesinteresse nicht unterworfen war und<br />

kontinuierlich neu aufgelegt werden mußte, und das wäre in den nachantiken Jahrhunderten praktisch nur die<br />

Heilige Schrift, die Bibel gewesen 161<br />

- und damit die Verengung von Tradition auf einen Kanal, auf<br />

den einen Schriftsinn. Von orthographischen Verirrungen<br />

abgesehen lassen sich Texte auch bei Umformatierung des<br />

Seitenlayout relativ sicher kopieren; anders sieht es mit den<br />

eingeschobenen Illustrationen aus, die an sich schon Gefahr<br />

laufen, im Kopierakt manipuliert oder fortlaufend reduziert zu<br />

werden. "Wie diese fortlaufende Reduktion stattgefunden hat,<br />

der Strom der bildlichen Überlieferung immer dünner wurde, um<br />

schließlich auf einige Titelbilder zusammenzuschrumpfen",<br />

demonstriert Otto Pächt anhand der Illustration der<br />

biblischen Makkabäerbücher in einer spätkarolingischen,<br />

wahrscheinlich in St. Gallen entstandenen Handschrift aus der<br />

1. Hälfte des 10. Jahrhunderts - die Kopie einer antiken<br />

Vorlage. Pächt verfolgt die "Geschichte dieser Tradierung";<br />

soll nicht besser, in seinem eigenen Sinne, von einer<br />

Medienkulturarchäologie dieser Tradierung gesprochen werden<br />

Tatsächlich ist Wort- und Bildtradition um den Preis eines<br />

Verlusts erkauft. "Natürlich gibt es auch bei der Tradierung<br />

von Bildvorlagen Korruption, Sinnverstümmelung infolge<br />

mangelnder Fähigkeit und Geschicklichkeit des Kopisten,<br />

Mißverstehen des Vorbildes, denn auch das passivste Kopieren<br />

beinhaltet schon eine unwillkürliche Interpretation", schreibt<br />

Pächt , doch nur, um dann in spitzer Klammer<br />

hinzuzufügen: "Es ist aber auch ein mißverstehen Müssen, im<br />

Sinn von `in der neuen Sprache ausdrücken müssen´, welches die<br />

neue Form mitbestimmt. Ein Umdeuten, Übersetzen in eigene, für<br />

die Zeitgenossen bestimmte, verständlichere Formen." Am Werk<br />

ist hier ein deviantes Begehren, eine kulturelle Energie, die<br />

am Kopieren mitschreibt wie umgekehrt die Medien an den<br />

Gedanken. So ist die variante Bildkopie auch ein Akt von<br />

aktiver Kritik. 162<br />

Medienarchäologische "Bruchstellen" sind archäologische<br />

"Fundstellen" im Sinne Walter Benjamins, nämlich<br />

wissensproduktiv:<br />

Die Gewinne, die, wenn auch nicht dank der Umstellung von der Buchrolle zum Codex, so doch in ihrem<br />

Gefolge nach und nach erzielt worden sind, sind eher abzuschätzen als die Verluste, deren Umfang und<br />

Beduetung wir heute nur mehr erahnen können. Wir können beobachten, wie aus der neuen Koexistenz von<br />

Schrift, Bild und Dekoration immer wieder völlig neue Formen und Ausdrucksweisen entstehen . Die<br />

161<br />

Otto Pächt, Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, München (Prestel) 1984, 15<br />

162<br />

Siehe Segolen Le Men, , in: xxx<br />

55


Bilderzyklen, die mit der Vernichtung der illustrierten Rollen zugrunde gegangen sind, wird kein Spaten eines<br />

Archäologen auch nur fragmentweise ausgraben können. Daß man die Verluste nicht hoch genug veranschlagen<br />

kann, wird man sich noch am ehesten am Beispiel der Bibelillustration vergegenwärtigen, deren Tradition <br />

trotz des Wechsels des Mediums, trotz Kulturkatastrophen und Krisen der Kunst nie ganz abgerissen ist. <br />

Was hier insistiert, heißt Macht (der Ideologie).<br />

Im Sinne der Memetik transportiert die jeweilige mediale Form<br />

des Buches (Rolle, Kodex) nicht nur den Inhalt der Texte und<br />

Bildern, sondern auch das Wissen um das eigene Medium mit sich<br />

und an sich. Hinzu tritt das Gedächtnis der Bilder:<br />

mittelalterliche Illustrationen transportieren neben<br />

Illustration des jeweiligen Textes immer auch formal und<br />

ikonologisch das antike Bildgedächtnis fort, asymmetrisch zum<br />

konkreten, etwa biblischen Text.<br />

Aby Warburgs Projekt des Mnemosyne-Atlas und sein Begriff der<br />

"mnemischen Energie" im kulturellen Akt greifen hier. Dieser<br />

(von ihm formulierte) „Versuch einer Psychologie menschlicher<br />

Orientierung auf universeller bildergeschichtlicher Grundlage“<br />

versuchte auf 63 Bildtafeln mit rund 1000 photographischen<br />

Einzelabbildungen das abendländische Fortleben antiker<br />

„Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes<br />

Erbgut“ evident zu machen - hier ganz anlog zu Memen. 163<br />

Obgleich Warburg ein ausgesprochenes Mißtrauen gegenüber den<br />

elektrischen Übertragungsmedien (Telegraphie etwa) zeigt, ist<br />

er sensibel für die Materialitäten von Tradition als medialer<br />

Überlieferung:<br />

Die Wucht des Eintritts der antikisierenden Gebärdensprache erklärt sich indirekt aus der zweifach<br />

angeforderten reaktiven Energie, die die Wiederherstellung der umrißklaren Ausdruckswerte der Antike aus den<br />

Fesseln einer nicht homogenen Überlieferung beanspruchte. Faßt man demgemäß Stilbildung als ein Problem des<br />

Austausches solcher Ausdruckswerte auf, so stellt sich die unerläßliche Forderung ein, die Dynamik dieses<br />

Prozesses in Bezug auf die Technik seiner Verkehrsmittel zu untersuchen. Die Zeit zwischen Piero della<br />

Francesca und der Raffael­Schule ist eine Epoche der beginnenden intensiven internationalen Bildwanderung<br />

zwischen Norden und Süden, deren elementare Gewalt, sowohl was die Wucht des Einschlags wie den Umfang<br />

ihres Wandergebietes angeht, dem europäischen Stil­Historiker verdeckt wird durch den offiziellen `Sieg´ der<br />

römischen Hochrenaissance. Der flandrische Teppich ist der erste noch kolossalische Typus des automobilen<br />

Bilderfahrzeugs, der, von der Wand losgelöst, nicht nur in seiner Beweglichkeit, sondern auch in seiner auf<br />

verfielfältigende Reproduktion des Bildinahltes angelegten Technik ein Vorläufer ist des bildbedruckten<br />

Papierblättchens, d. h. des Kupferstiches und des Holzschnittes, die den Austausch der Ausdruckswerte zwischen<br />

Norden und Süden erst zu einem vitalen Vorgang im Kreislaufprozeß der europäischen Stilbildung machten 164<br />

- Benjamins Kunstwerk-These avant la lettre.<br />

Als konkreter kultureller Nord-Süd-Kanal und sein politisches<br />

Medium fungierte Burgund. Flandern und Burgund einerseits,<br />

Italien und Rom insbesondere andererseits unterhielten im<br />

Mittelalter komplizierte wechselseitige rechtspolitische,<br />

163<br />

M. Koos u. a. (Hg.), Begleitmaterial zur Ausstellung Mnemosyne, Hamburg 1994, Tafel 5; dazu der<br />

Kurzeintrag von Manfred Weinberg in: Pethes / Ruchatz 2001: 380f<br />

164<br />

Aby Warburg, Einleitung, in: ders., Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. v. Martin Warnke unter Mitarb. v.<br />

Claudia Brink, <strong>Berlin</strong> (Akademie) 2000, 3-6 (5)<br />

56


wirtschaftliche und spezifisch kulturell-künstlerische<br />

Beziehungen. Die Karolingische Renaissance hat eine bestimmte<br />

Idee der prä-byzantinischen römischen Antike erst wieder nach<br />

Rom gebracht (und nicht etwa umgekehrt). 165 Im Spiel zwischen<br />

"revival and survival of antiquity" (Kantorowicz), die sich an<br />

der monastischen Bewegung zu scheiden scheinen, hat zur Zeit<br />

Karls des Kahlen nicht etwa Rom aktiv das Frankenreich reromanisiert,<br />

sondern von dort flossen nahöstliche Elemente des<br />

spätantiken Kultus´ nach Rom. Der Begriff des Kanals ist hier<br />

mit Bedacht gewählt; er meint zum einen "the channels through<br />

which the new Italian mentality passed to the North" 166 ,<br />

andererseits aber auch den medientechnischen Begriff des<br />

Kanals. Die kulturtechnischen Implikationen dieses Nord-Süd-<br />

Verhältnisses lassen sich in seiner räumlichen (cisalpin /<br />

transalpin) und seiner zeitlichen (Spätantike /<br />

Frühmittelalter; Spätmittelalter / Renaissance) Tradition<br />

fassen.<br />

Die scheinbare Epochengrenze Spätantike und Frühmittelalter<br />

aber liest sich aus Sicht der Rechtsüberlieferung anders.<br />

Setzt das Editionswerk der MGH mit dem Aufhören des<br />

Weströmischen Reiches ein, plädiert der als Vertreter der<br />

<strong>Berlin</strong>er Akademie der Wissenschaften bei der Reorganisation<br />

des Instituts maßgeblich beteiligte Theodor Mommsen aufgrund<br />

seiner Vertrautheit mit dem römischen Staatskalender von 354,<br />

mit der Ravennater Kosmographie des 5. und 6. Jahrhunderts<br />

sowie mit der Chronik des Cassiodor aus der Zeit des<br />

Gotenkönigs Theoderich für eine inverse Perspektive: nicht des<br />

Bruchs, sondern des Übergangs zwischen spätrömischem und<br />

germanischen Reichen, der Insistenz der römischen Ordnung in<br />

Institutionen. 167 „Man sollte diese Epoche nicht als die Bildung<br />

römisch-germanischer Königreiche bezeichnen, sondern als die<br />

Zersplitterung des römischen Reiches in Theilstaaten.“ 168 Die<br />

juridische Ordnung generiert ein von den Textarchäologien der<br />

Mediävisten differentes Gedächtnis - im Widerstreit. Mommsen<br />

sucht die gegenseitige Ergänzung zwischen Philologie,<br />

Rechtswissenschaft und Historie; von einer Suprematie des<br />

historischen Diskurses ist nicht die Rede. Mommsen vergleicht<br />

die Lage des Forschers dieser Übergangszeit nicht mit der Lage<br />

des Archäologen, sondern des Botanikers, „dem nur die Knospe<br />

165<br />

Ernst H. Kantorowicz, Charles the Bald and the Natales of the King, Typoskript (Leo Baeck Institute<br />

Archives, New York, Kantorowicz Collection, xxx, Folder 2), 3<br />

166<br />

Ernst H. Kantorowicz, The Dukes of Burgundy and the Italian Renaissance, Typoskript Detroit, 1. November<br />

1960 (Leo Baeck Institute Archives, New York, Collection B2, F13), 3. Siehe auch Stefan Esders, Römische<br />

Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6.<br />

und 7. Jahrhundert, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1997<br />

167<br />

Die Insistenz institutioneller Kontinuität bestätigt jetzt auch Stefan Esders, Römische Rechtstraditionen und<br />

merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert,<br />

Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1997<br />

168<br />

Theodor Mommsen, Ostgotische Studien, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche<br />

Geschichtskunde 14 (1889), 542; s. a. Oswald Redlich, Theodor Mommsen und die Monumenta Germaniae, in:<br />

ders., Ausgewählte Schriften, Zürich / Leipzig / Wien (Amalthea) 1928. 141-155 (146f)<br />

57


vorliegt und nicht die voll entwickelte Blüte und die gereifte<br />

Frucht.“ 169 Geschichte ist die Theorie morphologischer Räume.<br />

Georges Salles thematisiert die transkulturelle voyage des<br />

formes: "Comment se transmettent-elles réfléchies par d<br />

´autres vues imaginaires. Par essence fluides." 170 Demgegenüber<br />

ersetzt die Systemtheorie die Opposition von Form und Inhalt<br />

im Prozeß der Tradition durch die von Form und Medium; ein<br />

elektronisches Bild etwa ist eine Form in einem Medium strictu<br />

sensu:<br />

Tights couplings are temporary couplings; they integrate and disintegrate, appear and vanish as noises and things<br />

in their respective fields of percption. The medium as pure virtuality cannot prevent the appearing of noises and<br />

things as forms of tight coupling. And it cannot prevent their dissolution. 171<br />

Sogenannte Inhalte, die einem materiellen Träger anvertraut<br />

sind, transportieren neben ihrer eigenen Aussage immer auch<br />

die Botschaft oder präziser: die Formate ihrer<br />

Aufbewahrungsmittel mit.<br />

Die Tatsache, daß visuelle Information über Blumen und Pflanzen nicht in Worten gespeichert werden kann,<br />

weist zugleich darauf hin, daß die Wissenschaft in der westlichen Welt lange vom visuellen Faktor abhängig war.<br />

Seit die Elektrizität vielseitige, nicht­visuelle Möglichkeiten geschaffen hat, Information zu speichern und<br />

wieder verfügbar zu machen, hat nicht nur die Kultur, sondern auch die Wissenschaft Grundlage und Charakter<br />

grundlegend verändert. 172<br />

Nachdem McLuhan Innis´ Empire and Communication gelesen hat,<br />

schreibt er dem Autor und stellt die "very technological form"<br />

aller Kommunikation zur Debatte. Speziell für die moderne<br />

Presse gilt: "Ihre ausgesprochen technologische Form bestimmt<br />

die Wirksamkeit, die Effects weit mehr als irgendeine<br />

informative Absicht". 173 Genau diese Einsicht wird dann später<br />

von den Cultural Studies vom Kopf auf die Füße gestellt, wenn<br />

Raymond Williams etwa, immerhin im Sinne des dialektischen<br />

Materialismus, von Television as Cultural Form schreibt<br />

(1974).<br />

Das Medium bestimmt die Form der Tradition. Kinematographie<br />

als technisches Medium speichert und überträgt Mitschnitte<br />

einer gegebenen Kultur in einem anderen Sinn als etwa die<br />

Historiographie 174 , die ihrerseits zugleich Form und Inhalt<br />

eines anderen "Mediums" ist - der mündlichen Erzählung. 175<br />

169<br />

In: Neues Archiv 16 , 51, zitiert in: Redlich 1928: 147<br />

170<br />

Georges Salles, Le Regard [*1939], Paris (Réunion des Musées Nationaux) 1992, 70<br />

171<br />

Luhmann 1992: 31, unter Bezug auf: Fritz Heider, Thing and Medium, in: Psychological Issues 1.3 (1959), 1­<br />

31<br />

172<br />

Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. "Understanding Media", Düsseldorf / Wien (Econ) 1968, 173<br />

173<br />

Letters of Mashall McLuhan, selected and edited by Matie Molinaro / Corinne McLuhan / William Toye,<br />

Toronto / Oxford / New York 1987, 221 u. 223. Dazu Karlheinz Barck, Harold Adams Innis ­ Archäologe der<br />

<strong>Medienwissenschaft</strong>, in: Harold A. Innis, Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. v. Karlheinz<br />

Barck, Wien / New York (Springer) 1997, 3­13 (bes.<br />

174<br />

Dies in Differenz zu Siegfried Kracauer, Geschichte ­ vor den letzten Dingen (= Schriften, Bd. 4),<br />

Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1971<br />

175<br />

Engell möchte "auch das, was gemeinhin den `Inhalt´ oder den `Gegenstand´ der Geschichtsschreibung<br />

ausmacht, nämlich die Geschichte, als Medium begreifen": Engell 1999: 112, unter Bezug auf: Reinhart<br />

58


Benjamin betreibt in der Tat Medienarchäologie, wenn er den verdeckten Rahmen der Informationsspeicherung<br />

und ­übermittlung seiner eigenen Zeit reflektiert. An der Nahtstelle des Übergangs vom Wortraum zum<br />

Bildraum werden konsequenterweise die Repräsentationsleistungen verschiedener Speichermedien erörtert 176<br />

- nämlich Photographie und Film im Unterschied zur vergangenen<br />

Form der Erzählung (und der Figur des Erzählers). Es gibt eine<br />

Kanalgerechtigkeit der Überlieferung in dem Sinne, wie G. E.<br />

Lessings 1766er Traktat Laokoon oder die Grenzen von Malerey<br />

und Poesie die mediale Bequemlichkeit der Semiotik gefordert<br />

hat:<br />

Jeder Buchtypus scheint von sich aus nicht nur ihm allein entsprechende Bildformate zu verlangen, sondern auch<br />

ihm allein kongeniale bildliche Erzählweisen. Jeder Buchtypus ist ein anderes Medium , in dem andere<br />

Gestaltungsmöglichkeiten schlummern. Das kontinuierliche Band der Schriftrolle legt es nahe, die Motorik der<br />

Buchform, das Abrollen in die Bildform und bildliche Erzählweise hineinzutragen, seitlich offene<br />

Bildkompositionen zu schaffen. Der Codex mit seiner Folge relativ kleiner, separater Blätter wiederum drängt<br />

auf seitlichen Abschluß, auf Unterteilung, Insichgeschlossensein des Bildes wie der Buchseite. <br />

Doch liegt der Rhythmus kultureller Praktiken mit<br />

medienarchäologischen Einschnitten im Ungleichgewicht und<br />

zeitigt Ungleichzeitigkeiten:<br />

<br />

Wie immer man sich die Entstehung der Bilderfolge des vatikanischen Josuarotulus zu denken hat ob sie als<br />

archaisierende Neuschöpfung der mazedonischen Renaissancebewegung zu verstehen ist, wie Waitzmann<br />

vorschlägt, und das hieße als Bilderstreifen, der durch Aneinanderflicken und Auffädeln einer großen Anzahl<br />

ursprünglich getrennter Einzelepisoden entstanden ist, ­ aus in sich geschlossenen, gerahmten Bildern, ­<br />

oder aber ob die Josuaillustrationen schon ursprünglich als szenischer Film, als fortlaufendes Geschehensband<br />

erfunden worden sind, wie man lange, Wickhoffs Interpretation folgend, glaubte, auf jeden Fall ist es eine aus<br />

dem Geist des Mediums entwickelte Erzählweise ­ die kontinuierliche Erzählung ­, für die es monumentale<br />

Gegenbeispiele in der Spätantike gibt, wie das um eine Säule sprialig gewundene Reliefband der Marc­Aureloder<br />

der Trajan­Säule. Besteht Weitzmanns These zu Recht, derzufolge wir im Bilderzyklus der Josuarolle eine<br />

künstliche Rekonstruktion einer antiken Bilderrolle zu erblicken haben, die genuine antike Rollenillustration<br />

jedoch den kontinuierlichen Erzählstil nicht kannte, dann stünden wir vor dem höchst seltsamen historischen<br />

Phänomen, daß die der Buchrolle kongeniale Erzähltechnik erst post mortem des Rollenbuches von einem<br />

gelehrten Kopf erdacht worden sei. <br />

Die Weitergabe von als bedeutsam entschiedener Inhalte, also<br />

Tradition kultureller Semantik, ist ein Prozeß der Kontrolle<br />

durch Rahmungsarbeit. Heute ist diese Rahmung technisch:<br />

Formatierung von Daten, nur daß im digitalen Raum das<br />

fortfällt, was etwa für den musealen Rahmen noch gilt: der<br />

irreduzible "Konflikt zwischen dem Gegenstand und dem Rahmen" 177<br />

. Julius von Schlosser hat um 1900 in seinem Buch Die<br />

Kunstliteratur geahnt, „daß die Geschichte der Kunstformen<br />

Koselleck / Wolf Dieter Stempel (Hg.), Geschichte. Ereignis und Erzählung, München (Fink) 1983<br />

176<br />

Heiko Reisch, Das Archiv und die Erfahrung. Walter Benjamins Essay im medientheoretischen Kontext,<br />

Würzburg (Königshausen & Neumann) 1992, 22<br />

177<br />

Horst Rumpf, Über Spielarten der Aufmerksamkeit gegenüber Gegenständen, in: Julia Breithaupt / Peter<br />

Joerißen (Hg.), Kommunikation im Museum. Dokumentation im Anschluß an die Jahrestagung der<br />

Arbeitsgemeinschaft der deutsch-sprechenden Mitglieder der CECA im ICOM v. 2.-4. November 1985 in<br />

München, Typoskript, 15-26 (22)<br />

59


auch eine Geschichte von Denkformen ist, daß die Kunst lange<br />

in Büchern schlummern kann, ehe sie Bild wird" 178 - eine Memetik<br />

der ästhetischen Energie, kulturelles Gedächtis als<br />

Latenzzustand, der seiner Aktualisierung harrt.<br />

Übertragung und Kommunikation (Debray, Luhmann)<br />

Übertragungstechnologien in „Echtzeit“ löschen das klassische<br />

Bewußtsein für den medialen Unterschied, die mediale<br />

différance. In dieser Schreibweise wird deutlich, daß jede<br />

Übertragung eine Differenz macht,einen Unterschied; diese<br />

Schreibweise betont nicht nur die Nachträglichkeit, sondern<br />

auch den mit jeder medialen Übertragung impliziten Unterschied<br />

zwischen Nachrichten im Moment des Absendens und im Moment<br />

ihres Eintreffens. Zwischen Speicher und Übertragung<br />

ermöglichen erst mediale Speicher die asynchone Tele-<br />

Kommunikation über die Zeit hinweg.<br />

The popularity of store­and­forward systems from answering machines to email largely resides in the disjunction<br />

between sender and receiver where the former can be confident of the delivery of the message and the latter<br />

maintains control over accessibility and the time of response. Asynchronous communications restore an illusion<br />

of control to the individual whose time is more clearly managed by those who demand that more of it be devoted<br />

to work. 179<br />

Ist Tradition eine Art temporale Erstreckung, eine Zeitlupe<br />

des Akts der kommunikativen Übertragung, also asynchrone<br />

Kommunikation Die Nachrichtentheorie stellt drei Typen von<br />

Fragen an die Überlieferung von Daten:<br />

LEVEL A. How accurately can the symbols of communication be transmitted (The technical problem.)<br />

LEVEL B. How precisely do the transmitted symbols convey the desired meaning (The semantic problem.)<br />

LEVEL C. How effectively does the received meaning affect conduct in the desired way <br />

Läßt sich nun dieser raumbezogene Kommunikationsbegriff auf<br />

zeitgreifende, tempor(e)ale Kommunikation übertragen, oder<br />

findet Tradition als Prozess medialer Überlieferung überhaupt<br />

in einem Energiefeld statt, das weder Raum noch Zeit meint<br />

„Nous parlons de `transmettre´, non de `communiquer´.“ 180 Debray<br />

betont dabei zunächst den materiellen Aspekt:<br />

„Communiquer“, au sens ordinaire, nous lie à l´immatériel, aux codes, au langage. „Transmettre“, en<br />

revanche se dit des forces commes des formes: on appelle transmission, en mécanique, les transports de<br />

puissance et de mou/vement. <br />

Die Allianz von materiellen Agenten und personalen Akteuren<br />

erinnert an die Überschrift von Kapitel I: „Le Double Corps du<br />

Médium“ . Folgt der diachrone Aspekt der Übertragung:<br />

178<br />

Wilfried Wiegand, Der Lessing der Kunst. Zum Tode von Ernst Gombrich, in: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung Nr. 259 v. 7. Noveber 2001, 49<br />

179<br />

D. N. Rodowick, An uncertain utopia - digital culture, in: Claus Pias (Hg.), Medien. Dreizehn Vorträge zur<br />

Medienkultur, Weimar (VDG) 1999, 263-283 (277)<br />

180<br />

Régis Debray, Transmettre, Paris (Jacob) 1997, 15<br />

60


Si la communication est essentiellement un transport dans l´espace, la transmission est essentiellement un<br />

transport dans le temps. La première est ponctuelle ou synchronisante . La seconde est diachronique :<br />

elle fait lien entre les morts et les vivants, le plus souvent en l´absence physique des „émetteurs“. <br />

Debray verwehrt sich gegen die Reduktion der Tradition auf<br />

technische oder biologische Prozesse, sondern klagt soziale<br />

Komponenten ein, wie sie Maurice Halbwachs´ Begriff des<br />

„kollektiven Gedächtnisses“ zu fassen sucht:<br />

On pourrait définir une transmission comme une télécommunication dans le temps où la machine est une<br />

interface nécessaire mais non suffisante et où le „réseau“ aura toujours double sens. Le canal unissant les<br />

destinateurs aux destinataires ne s´y réduit pas à un mécanisme physique (ondes sonores ou cirucit électrique) ni<br />

à un dispositif industriel (radio, télé, ordinateur), comme pour la diffusion de masse. La transmission ajoute à l<br />

´outil matériel de la communication un organigramme, en doublant le support technique par une personne<br />

morale. La transmission est charge, mission, obligation: culture. <br />

Das Medium der Übertragung ist seiner Botschaft (im Sinne<br />

McLuhans) vorgängig. Debray demonstriert es am christlichen<br />

Glauben: „l´objet de la transmission", nämlich Christus, "ne<br />

préexiste pas à l´opération de sa transmission", nämlich das<br />

Christentum . Läßt sich der im<br />

nachrichtentechnischen Sinne räumlich, distanzüberbrückend<br />

gemeinte Begriff der Übertragung (daher seine räumlichen<br />

Präfixe, tele-) auf zeitbasierte Prozesse übertragen -<br />

Übertragung in zeitlicher Erstreckung, Tadition Oder gilt im<br />

Sinne der Quantenmechanik ein Jenseits dieser<br />

Ausdifferenzierung von Übertragung in Raum und Zeit<br />

Rrst der Vektor der Kommunikation bestimmt ein Anzeichen zur<br />

Übertragung. Luhmann erinnert an einen archäologischen statt<br />

hermeneutischen Kommunikationsbegriff, schreckt aber vor<br />

dessen Konsequenzen zurück. Auch „kulturlose Bilder“ (Claus<br />

Pias) sind denkbar:<br />

Alle Mitteilung muß über Anzeichen abgewickelt werden, aber es gibt Anzeichen auch außerhalb aller<br />

Kommunikation ­ so die Marskanäle als Zeichen für die Existenz intelligenter Marsbewohner. Ausdruckswert<br />

und somit Bedeutung haben Anzeichen jedoch nur, wenn und soweit sie im "einsamen Seelenleben" fungieren<br />

und dieses mit Sinn beleben. <br />

Luhmann distanziert sich von einer metaphorischen<br />

Begriffsverwendung der Übertragung als Kommunikationsbegriff -<br />

wobei die Metapher selbst "Übertragung" praktiziert: "Man<br />

sagt, die Kommunikation übertrage Nachrichten oder<br />

Informationen vom Absender auf den Empfänger." 181 Tatsächlich<br />

ist Tradition ist ein Verhältnis in der Zeit; Luhmann aber hat<br />

Bedenken, dies als kommunikativen Akt zu beschreiben:<br />

Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, daß der<br />

Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil der Absender nichts<br />

weggibt in dem Sinne, daß er selbst es verliert. Die gesamte Metaphorik des Besitzens, Habens, Gebens und<br />

Erhaltens, die gesamte Dingemtaphorik ist ungeeignet für ein Verständnis von Kommunikation .<br />

181<br />

Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankkfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 193<br />

61


Denn Information ist weder Materie noch Energie (Norbert<br />

Wiener). Doch impliziert die Übertragungsmetapher "zu viel<br />

Ontologie" nur dann, wenn der Akzent auf der Metaphorik liegt.<br />

Tatsächlich aber ist dieser tautologische Begriffe der<br />

"Übertragungsmetapher" ein Hinweis auf die Anwesenheit von<br />

Kanälen in jedem Kommunikationsakt, also das Spiel von<br />

Rauschen und Signal, von System und Umwelt.<br />

Der Prozeß, der die Übertragungen von im Gedächtnis einer Generation enthaltenen Informationen in das<br />

Gedächtnis der nächsten erlaubt, kann als Kernfrage der menschlichen Kommunikation überhaupt angesehen<br />

werden. Beispielsweise werden "Geräusche" ­ d. h. Elemente, die bei der Übertragung in die Botschaft<br />

eindringen, ohne im Repertoire der Codes enthalten zu sein ­ im Fall der "natürlichen" Kommunikation zu<br />

sogenannten "Mutationen", während sie im Fall der "kulturellen Kommunikation" dem Kommunikationsprozeß<br />

überhaupt erst seine Berechtigung geben, ihn "fortschrittlich" machen. 182<br />

Quanteninformation beruht durch die immediate Verschränkung<br />

entfernter Teilchen scheinbar rauschfreie Kommunikation,<br />

Übertragung ohne Kanal. Doch in reale Makrosysteme<br />

implementiert, kommt es zur Dekohärenz der Verschränkung und<br />

erfordert Verifikation der Nachrichten über klassische<br />

Übertragungskanäle. Genau diese Dekohärenz sucht die<br />

Quantenkryptographie durch Segmentierung der Wegstrecken zu<br />

überbrücken - Rückkehr der Relais, der Pferdewechselstationen<br />

antiker Botensysteme.<br />

Luhmann weist den Begriff von Kommunikation als "Gabe" zurück.<br />

Die Metaphorik des kulturellen Erbes (Goethe: "erwirb es, um<br />

es zu besitzen") aber unterstellt ein ökonomisches Dispositiv,<br />

eine Logik der Gabe. Gegenüber der Übertragung als das Wesen<br />

der Kommunikation akzentuiert Luhmann die Operation der<br />

Mitteilung als Selektionsvorschlag. Womit Tradition eher in<br />

Begriffen der Nachrichtentheorie denn der Hermeneutik zu<br />

fassen wäre: "Wir müssen deshalb zunächst die Terminologie<br />

reorganisieren" . Luhmann referiert einen<br />

Begriffsvorschlag von Johann Jakob Wagner, Philosophie der<br />

Erziehungskunst, Leipzig 1803, 55: "Alle Mitteilung ist<br />

Erregung." Nervenphysiologie steht zur Analyse solcher<br />

zeitkritischer Prozesse dereit (Hermann von Helmholtz); am<br />

Ende steht eine Signal-Ökonomie der Aufmerksamkeit (xxx<br />

Franck).<br />

Doch eine Übersetzung syetemischer Theorie auf zeitgedehnte<br />

Prozesse kann auf den Begriff der Übertragung nicht<br />

verzichten. Wenn Luhmann Kommunikation als "Prozessieren von<br />

Selektion" beschreibt, benennt er damit implizit die mediale<br />

Infrastruktur der kulturellen Überlieferung - die nämlich<br />

nicht primär kulturelle Semantik, sondern syntaktisch Daten<br />

prozessiert (Archive, Bibliotheken, Museen, Editionen).<br />

Dennoch reicht Luhmann der Gadamerschen Hermeneutik die Hand,<br />

wenn er betont, daß Kommunikation nicht auf den reinen Akt der<br />

Selektion aus einem Vorrat, einem Repertoire reduzierbar ist:<br />

182<br />

Vilém Flusser, Kommunikologie, Frankfurt/M. (Fischer) 1998, 309<br />

62


Die Selektion, die in der Kommunikation aktualisiert wird, konstituiert ihren eigenen Horizont; sie konstituiert<br />

das, was sie wählt, schon als Selektion, nämlich als Information. Das , was sie mitteilt, wird nicht nur<br />

ausgewählt, es ist selbst schon Auswahl und wird deshalb mitgeteilt. vielmehr ist die Selektivität der<br />

Information selbst ein Moment des Kommunikationsprozesses, weil nur im Hinblick auf sie selektive<br />

Aufmerksamkeit aktiviert werden kann. <br />

Damit ist die Selektion nicht passiv (als Speicher), sondern<br />

konstruktiv am Werk der Tradition.<br />

In einem Zug nennt Luhmann sein nachrichtentheoretisches<br />

Modell für diese Definition: Claude Shannons und Warren<br />

Weavers Mathematical Theory of Communication 183 - wohl wissend,<br />

daß dieser Informationsbegriff Sinnbezüge ausdrücklich<br />

zugunsten rein technischener Berechnungen außer Acht läßt<br />

. Doch von dem Moment an, wo Kulturtechniken im<br />

wohldefinierten Sinne verstanden werden, können Sinnkontexte<br />

selbst als syntaktisch selektive Akte (als Syntax zweiter<br />

Ordnung) begriffen werden.<br />

Luhmann bezeichnet die kommunikative Relation als "Ego" und<br />

"alter". In diesem Sinne steht auch die Vergangenheit in einem<br />

alterierten Verhältnis zum Lektüreakt einer gegebenen<br />

Gegenwart,. Für Luhmann ist die Distanz kein Fakt einer<br />

transzendentalen Situierung, sondern "Effekt der Tatsache, daß<br />

Ego das Verhalten Alters als Kommunikation auffaßt und ihm<br />

dadurch zumutet, diese Distanz anzunehmen" - womit der<br />

Vergangenheit eine postalische Adressierung der Gegenwart<br />

unterstellt wird. An anderer Stelle kommt Luhmann unter Bezug<br />

auf Fritz Heiders Differenzierung von "Ding und Medium" darauf<br />

zurück, daß der mediale Kanal die Zeit selbst sein kann:<br />

Lose Kopplung, die Offenheit einer Vielzahl möglicher Verbindungen, kann in sachlicher und in zeitlicher<br />

Hinsicht verstanden werden. Sachlich ist dann gemeint, daß viele festere Kopplungen in Betracht kommen und<br />

jede Formbildung eine Selektion erfordert. Zeitlich wird unter einem Medium oft eine Bedingung der<br />

Möglichkeit von Übertragungen verstanden. Auch besteht ein enger Zusammenhang mit der Theorie des<br />

Gedächtnisses, wenn man Gedächtnis als Verzögerung der Re­aktualisierung von Sinn begreift. 184<br />

Denn "Gedächtnis ist nicht etwa Speicherung von etwas<br />

Vergangenem (wie sollte das gehen), sondern Hinausschieben der<br />

Wiederholung" - also in den Worten von Jack Goody<br />

ein delayed transfer, der indes weniger der makrohistorischen<br />

Ökonomie denn einer zeitkritischen Medialität gehorcht und<br />

darin aufgehoben ist. Ein kurzfristiger Aufzeichnungsakt<br />

verwandelt das Ereignis in einen Informationsraum (das<br />

"Archiv") und einen latenten Zustand - eine Stauchung der Zeit<br />

-, der seiner Aktualisierung harrt. Womit Historie nicht einer<br />

emphatischen Geschichtszeit, sondern einer Ausstülpung eines<br />

183<br />

Claude E. Shannon / Warren Weaver, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München<br />

(Oldenbourg) 1976 [*1949]<br />

184<br />

Niklas Luhmann, Medium und Form, in: ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1995,<br />

165-214 (168), unter Verweis auf: Robert B. Glassman, Persistence and Loose Coupling in Living Sytems, in:<br />

Behavioural Sciences 18 (1973), 83-98, woher Luhmann den Begriff der "losen Kopplung" übernimmt - ein<br />

Begriff der Regelungstechnik.<br />

63


Zeitfensters der Gegenwart entspricht. Das klassische Medium<br />

dieser Operation (das Vokalalphabet als Kulturtechnik) ist<br />

dabei stabiler als die Form (etwa Historiographie), eben weil<br />

es nur lose Kopplung benötigt .<br />

Quelle und Überrest (Droysen)<br />

Die medienwissenschaftliche Frage nach Kultur als Tradition<br />

sucht tautologischen Formulierungen zu entgehen, etwa<br />

solcherart: „Kultur ist selber das Gedächtnismedium, durch das<br />

sie sich überliefert. 185 Demgegenüber gilt es, die Medien der<br />

kulturellen Tradition präzise zu benennen, also bestimmte<br />

Metaphern der Übertragung (exzessiv formuliert 186 )<br />

kulturtechnisch, ja kulturtechnologisch wörtlich zu nehmen.<br />

Die Lektüre der Historik macht deutlich, wie sich bei Johann<br />

Gustav Droysen ontologische und epistemologische Postionen<br />

überlagern. "Empirisch ist klar, dass nur vom Material her<br />

geforscht werden kann und zwar nur dann, wenn es nicht<br />

`verschüttet´ ist. Der konstruktive Zug führt dann doch immer<br />

wieder auf die Ordnung des preußischen Geschichts- gleichwie<br />

des Archivkörpers zurück." 187<br />

Zettelwirtschaft (Markus Krajewski): Schreiben ist das, was<br />

sich auf dem Schreibtisch oder am Computermonitor als<br />

Verschiebung und Transformationen von Komplexitäten vollzieht,<br />

indem Daten programmatisch werden. Weil Lektüren zumeist den<br />

vorliegenden historischen Texten folgen, ist die daraus<br />

resultierende Schrift ihrerseits versucht, deren suggestive<br />

Linearität fortzuschreiben. Doch dem medienhistorischen<br />

Apriori folgend kann es nicht darum gehen, retrospektiv<br />

lineare Vorgeschichten der Gegenwart zu entziffern; vielmehr<br />

sucht das medienarchäologische Vokabular diese Ge/schichten zu<br />

durchkreuzen.<br />

Aus der Sicht der Kulturhistoriker basiert die Überlieferung<br />

auf sogenannten Quellen. Worin unterscheiden sich Quellen von<br />

schlichten Daten Daten sind Ergebnisse eines Meß- oder<br />

Beobachtungsprozesses; Quellen dagegen werden häufig als<br />

unmittelbarer Teil, als Überreste der gestrigen Welt angesehen<br />

– die ganze Differenz von Konstruktivismus und Hermeneutik. 188<br />

185<br />

Christiaan L. Hart Nibbrig, Zwischen den Kulturen: Kulturwissenschaft als Grenzwissenschaft, in:<br />

Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven, hg. v. Johannes Anderegg / Edith Anna Kunz, Bielefeld<br />

(Aisthesis) 1999, 93-104 (98)<br />

186<br />

Jacques Derrida gesteht, „daß es mir, selbst wenn ich es wollte, nicht gelingen würde, unmetaphorisch von der<br />

Metapher zu sprechen“: ders, Der Entzug der Metapher, in: Volker Bohn (Hg.), Romantik, Frankfurt/M. 1987,<br />

319<br />

187<br />


Eine petitio principii: Die „romantisierende Metaphorik“ 189 des<br />

Quellen-Begriffs ist mehr als ein Bild: Sie unterstellt<br />

zugleich das, was sich aus ihnen erst ableitet, die<br />

Kulturhistorie. Kulturbildende Quellen werden damit zu Quellen<br />

der Kultur (als genitivus subiectivus) umdeklariert, post<br />

festum. "Aber nicht erschöpft kann er werden, der so<br />

herrliche, durch die Thaeler der Vorzeit stroemende Quell",<br />

heißt es in Die Vorzeit (1817). Tatsächlich ist dies eine<br />

Halluzination, eine Fata Morgana von Wasserstellen in der<br />

Wüste des archivischen Gedächtisses. Der Informationswert<br />

solcher Quellen liegt gerade in ihren Umwegen:<br />

Die Flüsse bleiben für gewöhnlich in ihrem Bett, sie suchen sich selten ein Tal, das höher liegt als ihr eigener<br />

Talweg. Dazu sind Abweichungen, Fluktuationen nötig. Der Informationsgewinnt ist dann erheblich.<br />

<br />

Für Droysen sind Quellen beschränkt auf die „mündliche oder<br />

schriftliche Überlieferung zum Zweck, historische Kenntnis zu<br />

verschaffen“ - und damit intentional im Sinn von Gadamers<br />

Horizontverschmelzung. Eine wissensarchäologische Lage:<br />

"Genügt etwa, daß irgendetwas irgendwo noch jetzt vergraben<br />

liegt und niemand weiß davon Ist das gegenwärtig Es ist<br />

vielmehr, als wäre es nicht." 190 Ist Memetik als Modifikation<br />

von Droysens Modell historischer Überlieferung zugleich eine<br />

Gedächtnismedien-Historik Das, was im dead media archive<br />

zuhanden ist, kann Monument oder Dokument sein.<br />

Was die Rückschau früherer Zeiten in i h r e Vergangenheit, die aufgezeichnete Vorstellung oder Erinnerung<br />

über dieselbe bietet, nennen wir Q u e l l e n . Daß diese Quellen zugleich Ü b e r r e s t e der Gegenwart sind,<br />

in der sie entstanden, ist für uns zunächst nebensächlich<br />

- die "äußere Kritik" in der Diplomatik, den Hardware-Aspekt<br />

der Quellen, blendet Droysen gerade aus. Für eine Medienphysik<br />

der Historie aber ist dieser Zustand entscheidend.<br />

Wesentlich ist uns an ihnen, daß die, von denen sie stammen, die Absicht hatten, Nachricht von früheren<br />

Vorgängen oder Zuständen zu geben. Von ganz anderer Art ist es, wenn aus der Vergangenheit selbst allerlei<br />

Dinge noch erhalten und entweder mannigfaltig umgestaltet oder trümmerhaft und um so unkenntlicher noch in<br />

unserer Gegenwart da sind. So ein altes Gebäude, eine alte Zunfteinrichtung; unsere Sprache selbst ist noch ein<br />

gut Stück Vergangenheit, wenn auch noch lebendig und in vollem Gebrauch. Nur von dem Forschenden werden<br />

sie als Material für seine Forschung erkannt und benutzt. 191<br />

Droysen macht in seinem Grundriß der Historik einen<br />

Unterschied zwischen geschäftlichen Papieren, die er zu den<br />

Überresten, und Urkunden, die er zu den Denkmälern rechnet;<br />

Differenzkritierium ist die Absicht der Überlieferung zum<br />

Zweck der Erinnerung. In seinem Sinne gehört ein großer Teil<br />

189<br />

Peter Hüttenberger, Überlegungen zur Theorie der Quelle, in: Bernd A. Rusinek / Volker Ackermann / Jörg<br />

Engelbrecht (Hg.), Einführung in die Interpretation historischer Quellen, Paderborn / München / Wien / Zürich<br />

(Schöningh) 1992, 253-265 (253)<br />

190<br />

Johann Gustav Droysen, Historik. Historisch­kritische Ausgabe, hg. von Peter Leyh, Stuttgart­Bad Cannstatt<br />

1977, hier: "Historik. Die Vorlesungen von 1857", 67<br />

191<br />

Johann Gustav Droysen, Historik, hg. v. Rudolf Hübner, München / <strong>Berlin</strong> (Oldenbourg) 1937, 37 (Kapitel<br />

"Die Heuristik", § 20)<br />

65


der königlichen Mandate, die lediglich einen Befehl erteilen,<br />

nicht zu den Urkunden. 192 Es gibt aber frühmittelalterliche<br />

Beurkundung, deren Wert im Akt der Übertragung selbst liegt:<br />

Die alte Auffassung, daß Recht nur durch rechtssymbolische Handlung geschaffen werden kann, nicht durch<br />

„Schrift“, setzt sich, der spätgermanischen Kultursituation entsprechend, wieder durch. Der Carta sowohl wie der<br />

Notitia wird daher ein rechtssysmbolischer Wert unterstellt: nicht mehr die Schrift, sondern die traditio cartae,<br />

die rechtssysmbolischeHandlung der Überganbe des Pergaments, erscheint als der maßgebliche Akt. Damit wird<br />

der geschriebene Inhalt immer unwichtiger. 193<br />

Tradition also analog zum speech act, der die Funktion der<br />

Unterschrift ersetzt; Übertragung setzt hier Recht.<br />

Überreste gelten als unabsichtliche, unwillkürliche<br />

Überlieferung, etwa Sachüberreste (Realien): bis hin zu<br />

körperlichen Überresten, dem Skelett. Dem gegenüber steht der<br />

„abstrakte Überrest“ (Ahasver von Brandt), etwa Institutionen,<br />

Sprache, „Zustände“ (von Aufseß, System der<br />

Altertumswissenschaft) und schriftliche Überreste<br />

(pragmatisches Schriftgut). Überreste auch in der Psyche:<br />

Das archäologische Modell ist für das psychoanalytische Denken prägend gewesen . Es dient der<br />

Beschreibung verschiedener Formen von Destruktion, und zwar so, daß der verbleibende Überrest stetes als<br />

Ausgangspunkt dient. Daher ist das evozierte totale Objekt das Bauwerk, das Monument, das Gebäude, oder die<br />

Statue, die Töpferware, das heißt: ein vor allem räumliches Gebilde. 194<br />

Überrest ist das aus der Vergangenheit noch unmittelbar<br />

Vorhandene; Quelle aber das, was zum Zweck der Erinnerung<br />

überliefert ist. Das Denkmal bildet demgegenüber eine<br />

Mischform wie der bewußt auch schon an die Leser der Nachwelt<br />

adressierte Brief - im Unterschied zu jenen Briefen, deren<br />

Autoren versterben, wenn er selbst noch auf dem postalischen<br />

Weg an den Adressaten ist (ungewolltes Denkmal). Kurz vor dem<br />

Aufbruch zu jenem Kreuzzug, den er nicht überleben sollte, gab<br />

Kaiser Heinrich VI. um 1200 aus dem tiefsten Süden mehrere<br />

Diplome nach Deutschland auf, „die als sein Vermächtnis in der<br />

Heimat ankamen“ 195 . So ist jede Schrift schon testamentarisch 196 ,<br />

und im postalischen Verzug (différance) liegt ihr Vollzug.<br />

Eine allegorische Kernszene der Tradition, insofern sie als<br />

postalisches System der Übertragung begriffen wird, ist die<br />

Ankunft eines lange verzögerten Briefs aus der Vergangenheit<br />

in der Gegenwart. Der nachträglichen Zustellung von Post aus<br />

einem vorzeitig abgestürzten Flugzeug im Himalaya „strikes us<br />

now with the full disruptive force of an event“ , und der Film, in dem dieses Motiv kürzlich<br />

192<br />

Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, dritte Auflage <strong>Berlin</strong> (de Gruyter)<br />

1958, 3<br />

193<br />

Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers, 9., erg. Aufl. Stuttgart u. a. (Kohlhammer) 1980 [*1958], 85<br />

194<br />

Guy Rosolato, Das Fragment und die Ziele der Psychoanalyse, in: Lucien Dällenbach / Christiaan L. Jart<br />

Nibbrig (Hg.), Fragment und Totalität, Frankfurt/MN. 1984, 77ff (78)<br />

195<br />

Rudolf Schieffer, Urkunden, die über die Alpen getragen wurden, in: Olaf B. Rader (Hg.), Turbata per aequora<br />

mundi. Dankesgabe an Eckhard Müllers-Mertens, Hannover (Hahn) 2001, 37-47 (47)<br />

196<br />

Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 19xxx, xxx<br />

66


wieder auftauchte, heißt Die wunderbare Welt der Amelie (F<br />

2001). Die Protagonistin Amelie läßt sich hier aber nur von<br />

der Post-Geschichte (um nicht zu sagen: post-histoire) der<br />

nachträgliche Zustellung des Inhalts des Postsacks der<br />

abgestürzten Maschine inspirieren, um einer unglücklichen<br />

Frau, die unentwegt die Briefe ihres in Abwesenheit lange<br />

verstorbenen Mannes liest, aus kopierten Briefschnipseln einen<br />

fiktiven Brief zustellen zu lassen, unter der Fiktion einer<br />

solchen nachträglichen Lieferung. Genau das ist das<br />

abendländische Verständnis von kultureller Tradition: die<br />

Vorstellung einer Zustellung, eines Geschicks von etwas, das<br />

in Wirklichkeit nur zerstreute Fragmente ist - im Namen der<br />

verzögerten Kontinuität, hinter der sich vielmehr ein<br />

diskursiver Kurzschluß verbirgt.<br />

So tut sich eine Differenz zwischen räumlicher, synchroner<br />

Kommunikation und zeitlicher Transmission respektive Tradition<br />

auf. Urkunden und Akten etwa<br />

erzählen nicht zum Zweck historischer Unterrichtung der Mitwelt oder Nachwelt, sondern zur Begründung des ­<br />

aus der Gegenart und für die Gegenwart oder für die „Ewigkeit“ ­ vollzogenen Rechts­ und Verwaltungsaktes.<br />

Die stehende Redewendungin der „Arenga“ mittelalterliche rUrkunden, daß das Gedächtnis der Menschen<br />

wankelhaft und daher die schriftliche Dokumentation erwünscht oder notwendig sei, zielt nicht auf „historische“,<br />

sondern auf rechtliche Unterrichtung. <br />

Gerade in der Unabsichtlichkeit eines Überrestes aber liegt<br />

eine Quelle der Information, insofern „für den Historiker sehr<br />

häufig gar nicht der ursächliche Zweck der Quelle, sondern ein<br />

damit verbundene Nebenumstand Aussagewert besitzt“ - Information im Sinne der Nachrichtentheorie. So<br />

etwa ein Eintrag des Rechnungsführers der Bischofs Wolfger von<br />

Passau, vom 12. November 1203: „Walthero cantori de Vogelweide<br />

pro pellicio .v. solidos“; aus dem Klartext, also der nichtredundanten<br />

Historiographie, erwächst hier die Information.<br />

„Das hiermit überlieferte Lebenszeugnis des Vogelweiders ist<br />

unwillkürliches, daher objektives Zeugnis“ . Unter Überresten haben wir also dasjenige Material zu<br />

verstehen, „das von den Geschehnissen unmittelbar - also ohne<br />

das Medium eines zum Zweck historischer Kenntnis gerichteten<br />

Vermittlers - übriggeblieben ist“ . Hier<br />

taucht der Medienbegriff gleich zwiefach auf, und die auch von<br />

Umberto Ecos Semiotik bemerkte Differenz zwischen Signal und<br />

Zeichen (Sinn) kommt ins Spiel. In der Sprache Shannons heißt<br />

dies: Wo keine Kodierung, kein Kanal bereitgestellt ist, wird<br />

die Hardware selbst das Medium ihrer Übermittlung.<br />

Die Trennung von Überrest und Tradition ist arbiträr und<br />

oszilliert relativ wie die zwischen Rauschen und Botschaft:<br />

„so etwa, wenn ein Brief mehr oder minder bewußt, schon im<br />

Gedanken an eine spätere Veröfflentlichung als<br />

Nachrichtenquelle für die Nachwelt geschfrieben worden ist“,<br />

oder die Zeitung , in einem funktionaltraditionalen<br />

Zwischenraum also. Der Zug zur Tradition liegt<br />

67


in der Medialität der Übertragungsmedien schon angelegt,<br />

ebenso wie im materiellen Grund der Speicher, die damit immer<br />

noch etwas einer Nachwelt erhalten, selbst Zeitungspapier.<br />

Eine Metapher aus dem Reich der optischen Medien illustriert<br />

den vermeintlichen Einblick ins Archiv:<br />

Für den Überrest scheint fast immer eines charakteristisch: er gibt ein objektives Bild ­ der Lichtstrahl der<br />

Begebenheittrifft das Auge des Betrachters unmittelbar, ungebrochen ­, aber er gibt meist nur eine<br />

„Momentaufnahme“, umim photographischen Bild zu sprechen. alles, was zeitlich davor oder danach,<br />

räumlich außerhalb liegt, bleibt „unbelichtet“. <br />

Im Briefwechsel zwischen Yorck und Dilethey ist vom Historiker<br />

Ranke als „Okular“ die Rede. Doch das 20. Jahrhundert war<br />

nicht metaphorisch, sondern höchst real das erste, das sein<br />

Gedächtnis nicht mehr primär schrift- und aktenbasiert,<br />

sondern in audiovisuellen Bewegtmedien überlieferte. An die<br />

Stelle der historischen Anschauung (als kognitiver Leistung)<br />

tritt damit die Unmittelbarkeit auditiver und visueller<br />

Evidenz. Boleslas Matuszewski verfaßte in Paris 1898 Une<br />

nouvelle source de l´Histoire (Création d´un dépôt de<br />

cinématographie historique), das Plädoyer für Film als<br />

Hilfsquelle für den Geschichtsunterricht und als Möglichkeit,<br />

als Supplement des nationalen Gedächtnisses, dem neben<br />

Schrift-Archiven, Buch-Bibliotheken Objekt-Museen ein eigener<br />

Ort gegeben werden soll. Mutuszewski betont vor allem den<br />

unmittelbaren Zeugnischarakter dieser neuen Quellengattung von<br />

Historie: „Sie ist der wahrhaftige und unfehlbare Augenzeuge<br />

par excellence.“ 197 Jacques Perriault schreibt 1981 seine<br />

Mémoires de l´ombre et du son denn auch nicht als Geschichte,<br />

sondern ausdrücklich im Untertitel als Une archéologie de l<br />

´audiovisuel. Die klassische Quellenkritik der Historie kommt<br />

mit dieser neuer Archivlage noch kaum zurecht:<br />

Während in den Sprach- und Literaturwissenschaften ebenso wie<br />

in der historischen Quellenforschung eine Betrachtungsweise,<br />

die die Problematik verschiedener Fassungen eines "Textes“<br />

berücksichtigt, Grundlage einer ernstznehmenden Beschäftigung<br />

mit dem „Text“ ist, geht dieses Problembewußtsein im<br />

alltäglichen Bemühen um die Beschaffung audiovisuellen<br />

Materials allzu leicht unter. 198<br />

Überlieferungslagen: Photographische Archäologie (Pompeji)<br />

Der Begriff von Tradition als Zustellung vergangener<br />

Botschaften an die Gegenwart ist nicht nur aus dem Archiv des<br />

postalischen Diskurses der Historiographie, sondern auch der<br />

197<br />

Boleslas Matuszewski, Eine neue Quelle für die Geschichte. Die Einrichtung einer Aufbewahrungsstätte für<br />

die historische Kinematographie (Paris 1898), aus d. Frz. v. Frank Kessler, in: montage av 7, Heft 2 / 1998, 6-12<br />

(9)<br />

198<br />

Ursula von Keitz, Vorwort, in: dies. (Hg.), Früher Film und späte Folgen. Restaurierung, Rekonstruktion und<br />

Neupräsentation historischer Kinematographie, Marburg (Schüren) 1998, 7f (8)<br />

68


Archäologie vertraut. Durch seine archäologische Freilegung<br />

wurde die antike Kleinstadt Pompeji der "Beleuchtung früherer<br />

Begebenheiten durch die späteren" (Kerenyi) exponiert. Diese<br />

Lage ist ihrerseits Resultat eines zu spät, nämlich jener<br />

vulkanischen Katastrophe, die Pompeji quasi photographisch<br />

festbrannte und gar xerographisch (weil trocken) fixierte.<br />

Die Belichtungsmetapher ist ihrerseits ein Produkt des<br />

aufklärenden Blicks von Quellenforschung. "`Dunkel´ meint hier<br />

nämlich nicht die Unerleuchtetheit (wie beim Wort vom<br />

`finsteren´ Mittelalter), sondern die Unbeleuchtetheit des<br />

Zeitalters, eben seinen Quellenmangel" . Der Romancier des Untergangs von Pompeji aber,<br />

Edward Bulwer-Lytton, versteht unter Beleuchtetheit nicht die<br />

Quellenlage Pompejis, sondern seine museale Ausleuchtung - ein<br />

präziser technischer Begriff des Museums.<br />

Arnold Esch beschreibt den Fall Pompeji(s) als den einer<br />

scheinbar idealen Überlieferungslage aus dem Bereich der<br />

Denkmäler, der nicht-schriftlichen Quellen":<br />

Und doch wird niemand meinen, dieses Leben genommen und wie in Zement gegossen, dieses Leben überrascht<br />

von Vulkan­Asche, sei die ideale Überlieferungslage, dieses Präparat, diese gigantische Momentaufnahme bilde<br />

Geschichte ab. Halten wir also den Film der Geschichte nicht weiter an, lassen wir auch auf diese Stadt<br />

versuchsweise einmal den historischen Prozeß los und damit den Prozeß der Auslese. <br />

Es ist der Effekt eines von technischen Medien geprägten<br />

Begriffs der kulturellen Tradition, daß Esch bei der<br />

Diskussion der Überlieferungschancen von schriftlichen Quellen<br />

und Denkmälern auf die Sprache der technischen Medien,<br />

konkret: Photographie und Film, zurückgreift. In der Tat war<br />

es ein historistisches Ideal der Romantik, Geschichte in<br />

gigantischen Momentaufnahmen geradezu photographisch<br />

abzubilden, eine Geschichte gleichsam im "Naturselbstausdruck"<br />

zu schreiben (Grillparzer bezüglich Ranke). Damit ist die<br />

Faszination, die Pompeji auf die historische Imagination des<br />

19. Jahrhunderts ausübte, definiert. Der Vulkanausbruch hatte<br />

einen Moment dieser Stadt geradezu im photographischen Blitz-<br />

Licht festgefroren, und hier denkt sich die Korrelation von<br />

Historiker und Kameramann, die Sigfried Kracauer ausgerechnet<br />

unter dem Titel Geschichte - vor den letzten Dingen, also in<br />

unheimlicher Nähe zur pompejanischen Katastrophe, aufstellt.<br />

Es war das neue Medium Photographie, das in der Museologie des<br />

19. Jahrhunderts eine neue Ästhetik des immediaten Einblicks<br />

in Räume der Vergangenheit bewirkte, und in der<br />

Historiographie der preußischen Schule (Leopold von Ranke) das<br />

Ideal des "bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen" zeitigte.<br />

Mit Pompeji tritt dieser medieninduzierte ästhetische<br />

Historismus auf sein archäologisches Korrelat.<br />

Mit dem 20. Jahrhundert ist die kulturelle Tradition als<br />

Technik der Speicherung und Übertragung um den Komplex<br />

zeitbasierter Apparate wie dem Film erweitert worden. Daß auch<br />

69


für diese neue Quellengattung die Droysensche Differenz<br />

zwischen absichtsvoller, gezielter Tradierung (mit dem Akzent<br />

auf den buchstäblich medial kodierten Vermittlungsprozessen 199 )<br />

und unabsichtlicher Überlieferung (Überrest) gilt, zeigt der<br />

Film Geliebtes Leben. Michael Kuball hat Amateurfilme aus der<br />

Zeit von 1900 bis 1940 zusammengetragen: zehntausende von<br />

Metern privater Filmdokumente. „Zu sehen ist damit eine<br />

Geschichte des Alltags, die mehr erzählt als alle<br />

mediengerecht zusammengebastelten Wochenschauen und<br />

Reportagen. Ein Stück kollektiver Erinnerung.“ 200 Der<br />

Amateurfilm ist als Nachrichtenmedium jenseits der Sprache und<br />

deren Zwang zum reflektierenden Erzählen oder Argumentieren zu<br />

verstehen. 201<br />

Sendet die Vergangenheit damit Lichtstrahlen, wie ein<br />

Filmprojektor, in die Gegenwart Unser Blick in den Weltraum<br />

jedenfalls erblickt Sterne, die vielleicht längst schon<br />

erloschen sind. Béla Balázc wies 1949 darauf die paradoxe<br />

Wirkung alter Filme hin: Diese werden nämlich nicht primär als<br />

Vergangenheit, sondern Gegenwart wahrgenommen und lösen beim<br />

Betrachter entsprechende Affekte aus.<br />

Interessanterweise greift Droysen auf die Physik des Lichts<br />

zurück, um die Intentionalität von kultureller Tradierung zu<br />

beschreiben. Da selbst die vorzüglichsten Quellen<br />

Vergangenheiten in jener Gestalt seien, „wie menschliches<br />

Verständnis sie aufgefaßt und sich geformt“ habe, geben sie<br />

dem Historiker „sozusagen nur polarisierendes Licht“ 202 .<br />

Die Lehre vom Wellencharakter des Lichtes, auf die Droysen rekurriert, stellt heraus, daß das Licht bei<br />

gewöhnlichen Wellen in allen Richtungen senkrecht zu seiner Ausbreitungsrichtung schwingt. Erst ein<br />

Polarisator richtet die Schwingungsebene des Lichts. 203<br />

Die Polarisation des Lichtes meint dessen Ausrichtung:<br />

Eine transversale Welle hat ihre Schwingungsrichtung (z.B. den E­Feldvektor einer Lichtwelle) senkrecht zur<br />

Ausbreitungsrichtung k. Es gibt jedoch beliebig viele Ebenen, die senkrecht zu einer gegebenen Richtung k<br />

stehen können. Wenn die Schwingungsrichtungen von Wellen wahllos über diese möglichen Ebenen verteilt sind,<br />

heißen sie unpolarisierte Wellen (Beispiel: "natürliches" Licht: Sonnenlicht oder Licht von einer thermischen<br />

Quelle). Findet dagegen die Schwingung in nur einer bestimmten Ebene statt, spricht man von einer polarisierten<br />

Welle. 204<br />

Der Elektrizitäts-Metapher in Droysens Historik geht es um den<br />

Funken, der überspringt. Walter Benjamins Thesen über den<br />

199<br />

Siehe den Eintrag „Tradierung“ von Jens Ruchatz, in: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres<br />

Lexikon, hg. v. Nicolas Pethes / ders., Reinbek (rowohlts enzyklopädie) 2001, 586f<br />

200<br />

Kommentartext in: zitty 1/2002, 172<br />

201<br />

In diesem Sinne auch Heino Handelmann (Schmalfilmmuseum Strasburg/Mecklenburg), Der lange Atem der<br />

Wirklichkeit. Die Schmalfilmbewegung, Typoskript<br />

202<br />

Johann Gustav Droysen, Grundriß der Historik, in: ders., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und<br />

Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, Darmstadt 1974, 319-366 (333f)<br />

203<br />

Michael Zimmermann, Quelle als Metapher. Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen<br />

Selbstverständlichkeit, in: Historische Anthropologie, 5. Jg. (1997) Heft 2, 268-287 (280)<br />

204<br />

http://www.physik.fu-berlin.de/~brewer/ph3_polar.html<br />

70


Begriff der Geschichte formulieren, daß Vergangenheit "im Nu"<br />

als Bild auf blitzt; elektronisches Gedächtnis auch bei Aby<br />

Warburg: Übertragung ohne das Dazwischentreten von Zeit und<br />

Datenverlust, wie ihn Schiller noch annahm. Kulturelle<br />

Erinnerung bezieht sich bei Warburg vorrangig auf Bilder und<br />

Symbole. Seiner Theorie geht es (in Anlehnung an die<br />

Gedächtnisforschung von Semon) um unmittelbare Berührungen von<br />

Vergangenheit und Gegenwart. Durch direkte Berührung eines<br />

Artfakts aus der Vergangenheit kommt es zu einer Entladung des<br />

darin enthaltenen latenten Erinnerungsgehaltes, ohne<br />

Vermittlung durch die Zeiten. Der Weg durch die Zeit wird<br />

abgekürzt in einem Moment.<br />

Chronokommunikation und Kalendarik<br />

Greifen wir zur Etymologie, die keine Wahrheiten, aber doch<br />

eine Genealogie der Bedeutung von Worten bereitstellt.<br />

Tradition ist demnach im 16. Jh. aus dem lateinischen<br />

traditio, also: Übergabe, Überlieferung, entlehnt. Im<br />

lateinischen tradere liegt dare verborgen: Das Geben<br />

(vergleiche "Datum"). 205 Womit wir beim Zeitbezug sind, bei<br />

Tradition als Weitergabe von Information in der Zeit, im<br />

Unterschied zum raumbezogenen, synchronen<br />

Kommunikationsbegriff unter Anwesenden. Jacques Derrida hat<br />

einmal vom Donner (le temps) de la traduction geschrieben; die<br />

(Weiter-)Gabe von Zeit selbst ist Tradition.<br />

Tradition meint eben auch Chronotechnik und nicht schlicht<br />

das, „was von den Begebenheiten übriggeblieben ist,<br />

hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche<br />

Auffassung“ , mithin also: human<br />

prozessierte Daten. Von Brandt nennt darunter u. a. Annalen,<br />

aber die stellen einen Grenzfall dar, denn sie sind eher ein<br />

Aufschreibesysteme von Jetztzeit, funktional an die Was in<br />

frühmittelalterlicher Kalendarik insistiert, ist nicht<br />

genuines Geschichtsbewußtsein, sondern die liturgische<br />

Notwendigkeit, das Datum von Ostern genau festzulegen.<br />

Überhaupt bietet es sich heuristisch an, das mittelalterliche<br />

Geschichtsbewußtsein (ein Terminus ex post) eher von seinen<br />

nichthistoriographischen Quellen her aufzuschließen und als<br />

diverse Modi der Verarbeitung von Zeiterfahrung zu<br />

beschreiben. 206 Eine formalistische Technik - die der Liturgie -<br />

bewahrt also eine andere spätantike Kulturtechnik, "die<br />

Techniken der astronomischen Berechnung, die andernfalls<br />

verschwunden wären." Liturgie triggert hier memoria, ohne<br />

205<br />

Duden Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim / Wien / Zürich<br />

(Bibliotgraphisches Institut / Dudenverlag) 1963, 714<br />

206<br />

In diesem Sinne Hans-Werner Goetz (Hg.), Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel<br />

nichthistoriographischer Quellen, <strong>Berlin</strong> (Akademie) 1998; darin etwa Arnold Angerendt, Die liturgische Zeit:<br />

zyklisch und linear, 101-115<br />

71


Bedarf von Geschichte. 207<br />

Fragmentierung der Überlieferung<br />

Das kultursemiotische Modell unterstellt Absicht in der<br />

Kommunikation; im Fall von Tradition aber macht es ebenso<br />

Sinn, von Unabsichtlichkeit auszugehen und sich nicht an die<br />

Stelle des Adressaten zu setzen, wenn es gar nicht als Brief<br />

gemeint war. Nicht um Verstehen geht es, sondern um<br />

archäologische Artefakte. Konkret lud einmal vor über 40<br />

Jahren der damalige israelische Ministerpräsident Ben Zvi<br />

mehrere Archäologen in seine Residenz, darunter den (ansonsten<br />

als Generalstabschef bekannten) Archäologen Yigael Yadin<br />

(Ausgräber u. a. der antiken Widerstandsfestung Massada).<br />

Yadin wandte sich an den Staatspräsident mit den Worten, "daß<br />

wir fünfzehn Schreiben entdeckt haben, die von dem letzten<br />

Präsidenten des alten Israel vor 1800 Jahren geschrieben oder<br />

diktiert worden sind“ 208 . Hier wird Kommunikation unter<br />

gleichzeitig Anwesenden uminterpretiert zu einer Nachricht an<br />

die Nachwelt, wie der Anachronismus des Titels „Präsident“ für<br />

Bar Kochba, der zwischen 132 und 136 n. Chr. den letzten<br />

großen jüdischen Aufstand gegen die Römer anführte, es<br />

signalisiert. Damit wird ein Bogen über fast 2000 Jahre<br />

gespannt: Tradition als bewußte Setzung, als Behauptung.<br />

Demgegenüber steht dazwischen der Raum der Diskontinuitäten;<br />

keine Linie, sondern eine Interpunktion: " - - - - ". An den<br />

Historikern des Altertums habe die Neuzeit unersetzliche<br />

Verluste erlitten, schreibt Jakob Burckhardt, weil "die<br />

Kontinuität der geistigen Erinnerungen" - doch eben auch das<br />

kulturtechnische Gedächtnis - auf wichtigen Strecken<br />

fragmentarisch geworden sei.<br />

Diese Kontinuität aber ist ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins und ein metaphysischer Beweis<br />

für die Bedeutung seiner Dauer; denn ob Zusammenhang des Geistigen auch ohne unser Wissen davon<br />

vorhanden wäre, in einem Organ, das wir nicht kennen, das wissen wir nicht und können uns jedenfalls keine<br />

Vorstellung davon machen, müssen also dringend wünschen, daß das Bewußtsein jenes Zusammenhangs in uns<br />

lebe. 209<br />

Die jüdische Kultur privilegiert einen Begriff von Tradition,<br />

der nicht nur Überlieferung, sondern ausdrücklich das<br />

„Bindende“, das „Verpflichtende“ meint (hebräisch masoret),<br />

mithin also synonym zur lateinischen religio. 210 Gegenüber<br />

sozioalkonstruktivistischen Konstruktionen von Tradition 211 aber<br />

207<br />

Philippe Ariés, Geschichte im Mittelalter [ein Kapitel des im Athenäum Verlag erschienenen Buches von<br />

Philippe Ariès, Zeit und Geschichte], a. d. Frz. v. Perdita Duttke, Frankfurt/M. (Hain) 1990, 30<br />

208<br />

Zitiert im Artikel von Werner Eck, ich versteh´ nur nicht, daß er keine Fußspuren hinterlassen hat, in:<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 301 v. 28. Dezember 2001, 45<br />

209<br />

Jakob Buckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. Jakob Oeri, Stuttgart 41921, Kapitel IV: "Über Glück<br />

und Unglück in der Weltgeschichte", 271f<br />

210<br />

Siehe Dagmar Börner-Klein, Eintrag „Tradition“, in: Pethes / Ruchatz 2001: 590f (590)<br />

211<br />

Etwa E. Hobsbawm / T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983<br />

72


„wird allerdings die Tatsache in den Hintergrund gedrängt,<br />

dass die hierfür genutzten Elemente oft eine Materialität von<br />

großer historischer Tiefe und Unveränderlichkeit aufweisen<br />

(vgl. Relikt), die es nicht zulässt, sie ausschließlich als<br />

zeitgenösssiche `Erfindung´ zu bezeichnen“ 212 - womit die<br />

Historizität von Tradition in der Resistenz des Materialen<br />

selbst liegt.<br />

Tatsächlich hat diese Behauptung ein mediales Dispositiv: die<br />

Tatsache, daß überhaupt Briefe aus der Antike erhalten sind.<br />

Im Wadi Nahal Hever, einer Wüste in der Nähe des Toten Meeres,<br />

waren die Archäologen auf ein Bündel beschriebener Papyri<br />

gestoßen: Briefe Bar Kochbas und aus seiner Umgebung, deren<br />

sorgfältige Publikation sich bis in Ende 2001 hinzog. In der<br />

ideologischen oder nationalistischen Debatte um die Bedeutung<br />

dieses letzten Aufstandes nehmen nicht-literarische Quellen<br />

(also archäologische Quelle strictu sensu) einen besonderen<br />

Stellenwert ein: Inschriften, Papyri und archäologische<br />

Überreste. Überreste im Sinne Droysens: „Alle drei Typen von<br />

Quellen weisen den Vorteil auf, daß sie unmittelbar aus der<br />

Zeit stammen, über die Aussagen gemacht werden“ ,<br />

während spätere literarische Reflexionen über das Ereignis<br />

dasselbe bereits verschieben. 1977 entdeckte der Archäologe<br />

Gideon Foerster im nördlichen Jordantal südlich der antiken<br />

Stadt Scythopolis mehrere Fragmente einer lateinischen<br />

Inschrift, die er zu einem fast vollständigen, rund 11 Meter<br />

breiten Text ergänzte. Wir erkennen den Spalt zwischen dem<br />

Realen (der Materialität bzw. den Lücken) und dem Symbolischen<br />

(der hypothetischen Ergänzung) der Überlieferung, nach Regeln,<br />

wie sie aus der Nachrichtentechnik vertraut sind: Es geht um<br />

die Wahrscheinlichkeit der Buchstabenfolge nach dem<br />

mathematischen Modell der Kommunikation. Daten sind das<br />

Resultat von Tradition, buchstäblich und etymologisch.<br />

Angesichts löchriger Inschriften und der allgemeinen<br />

Fragmentarität von Überlieferung fordert Medienarchäologie den<br />

mutigen Blick auf die Lücken zwischen den Daten. Zurecht<br />

werden Stimmen laut, die da fragen, wie sich denn auf diese<br />

Art überhaupt noch Geschichte schreiben läßt. In der Tat geht<br />

es hier um einen alternativen, medienarchäologischen Entwurf<br />

dessen, was traditionell und ontologisch Geschichte heißt.<br />

Es ist den Versuch wert, die lückenhafte Datenbasis der<br />

Überlieferung von Vergangenheit nicht durch hypothetisch zu<br />

Erzählbarkeit (also Historie) zu ergänzen, sondern<br />

buchstäblich mit ihren Lücken zu rechen. Ganze<br />

Kollektivsingularia - wie etwa Namen für antike Völker - lösen<br />

sich dann wieder auf in diskrete fragmentarische Datencluster.<br />

Dies läuft auf eine radikale Entzeitlichung des<br />

Traditionsbegriffs hinaus, zugunsten von Termini der<br />

Operationen des Speicherns, Übertragens und Reaktualisierens<br />

von Daten: „Es ist nichts anderes als ein jeweils aktuelles<br />

212<br />

Gisela Welz, Eintrag „Tradition“, in: Pethes / Ruchatz 2001: 587-590 (589)<br />

73


cross-checking des Zustandes des Systems. Und Zeit ist im<br />

gedächtnismäßigen Sinne nichts anderes als ein Konstrukt zur<br />

Überprüfung von Redundanzen“. 213 Damit kommt der Begriff der<br />

Rekursivität aus Informatik, Logik und Mathematik ins Spiel:<br />

der Rückgriff auf eigene Operationselemente eines Systems.<br />

Das Gedächtnis überführt die operativen Rekursionen in die Beobachtung von temporalen Rekursionen,<br />

indem es die jeweilige systemische Gegenwart als Ergebnis von Voraussetzungen erfahrbar macht, die sich im<br />

Rückgriff auf vergangene Systemzustände erklären 214<br />

- reine Markov-Ketten. Geht es um die<br />

Überlieferungswahrscheinlichkeit von einzelnen Buchstaben<br />

(etwa Aristoteles´ Bemerkungen über die stoicheia selbst),<br />

also von reinen Signifikanten, greift eine statistisch höhere<br />

Wahrscheinlichkeit der Überlieferungsverzerrung denn bei der<br />

Überlieferung von Signifikaten (die Semantik von Texten, die<br />

Ikonologie der Bilder). Doch von Buchstabenketten in<br />

literarischen Texten (die medientechnische Operation der<br />

Übertragung handschriftlicher Urkunden des Mittelaltes in<br />

kritisch edierte Druckwerke von Seiten der Monumenta Germaniae<br />

Historica etwa) unterscheidet sich die Hermeneutik antiker<br />

epigraphischer Monumente in zwei Hinsichten. Einmal ist -<br />

ablesbar am Corpus Inscriptionum Latinarum - das Regelwerk<br />

ebenso wie die Form der Lettern für das römische Reich in<br />

hohem Maße standardisiert und damit voraussagbar; Variablen<br />

liegen vielmehr in Eigennamen. Zum anderen aber kommt das<br />

Rauschen auf der materiellen Ebene ins Spiel: Es sind ständig<br />

Entscheidungen zu treffen, ob es sich an bestimmten (Bruch-)<br />

Stellen um korrumpierte Buchstaben (also kulturelle Signale)<br />

oder schlicht um Schadstellen am Stein handelt (noise). Neben<br />

die reine Symbolfolge des Alphabets tritt also die Frage des<br />

medialen Trägers (Speichers) respektive Kanals der<br />

Übertragung.<br />

Der Text aus dem Jordantal sagt - in der hypothetischen<br />

Rekonstruktion - buchstäblich lapidar, daß er als Teil eines<br />

Bogenmonuments dem Kaiser Hadrian gewidmet war; dies aber muß<br />

aufgrund eines römischen Sieges geschehen sein. Daß<br />

ausgerechnet im Jordantal eine solche Inschrift errichtet war,<br />

zeigt an, daß der Bar Kochba-Aufstand bis dahin seine Kreise<br />

gezogen hatte, wie auch der Fund von durch Bar Kochba<br />

geprägten Münzen indiziert. Münzen haben hier das bessere,<br />

weil archäologische Gedächtnis: Münze / monere. „Du läßt<br />

Münzen schlagen, damit sie künftigen Jahrhunderten von unseren<br />

Zeiten Nachricht geben“, heißt es in der Formel einer<br />

spätrömischen Amtsanweisung um 536. 215 Aus einem funktionalen<br />

Medium des Kapitals wird hier Gedächtniskapital in einer<br />

Kultur, die offenbar noch nicht mit ihrem Ende rechnet,<br />

sondern mit Kontinuität ihrer symbolischen Werte. Die Münze<br />

213<br />

Luhmann 109: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: Soziologische Aufkärung 5: Konstruktivistische<br />

Perspektiven, Opladen 1990, 95­130<br />

214<br />

Natalie Binczek, Eintrag „Rekursion“, in: Pethes / Ruchatz (Hg.) 2001: 481f (481)<br />

215<br />

Zitiert als Motto in: Maria R.-Alföldi, Antike Numismatik, Teil I: Theorie und Praxis, Mainz (v. Zabern) 1978<br />

74


als staatliches Metallgeld hat die Nebenfunktion eines<br />

Nachrichten- und Massenkommunikationsmittels; die Prägung<br />

nimmt den Buchdruck vorweg. "Von diesem Doppelcharakter der<br />

Münze hängt ihr historischer Quellenwert ab.“ 216<br />

Im Fall von Traditionsquellen schließt sich der hermeneutische<br />

Verstehenshorizont: Der Quellenzweck des Senders und die<br />

Quellennutzung durch den Historiker, der sich an die Stelle<br />

des Adressaten setzt, decken sich, "während bei den Überresten<br />

beide in der Regel auseinanderklaffen“ .<br />

Eine Traditionsquelle läßt bewußter den Zusammenhang erkennen:<br />

„Denn sie erzählt, berichtet ja historisch“ - im Medium<br />

der Narration. Ist Narration das Medium der Tradition „The<br />

narrative (= Tradition), without documents, is at least<br />

intelligble, the documents (= Überrest) would be hardly<br />

intelligble without some narrative“, schreibt E. A. Freeman<br />

.<br />

Während der Überrest meist einer „Momentaufnahme“ gleicht, nur punktförmig erhellt, ist die Traditionsquelle<br />

einem Film zu vergleichen, der mit „beweglicherKamera“ Abläufe zeigt oder weiträumige Zustandsüberblicke zu<br />

geben vermag. <br />

Gegenüber historischen Photos ist der Film eine<br />

Narrativisierungsmaschine derselben (Habbo Knoch); er gibt<br />

ihnen einen Vektor und Kontext. Theoretiker des<br />

Dokumentarfilms wie Siegfried Kracauer schreiben dem Film ein<br />

die referentielle Illusion überbietendes Potential zu, nämlich<br />

die Fähigkeit, „die sichtbare – oder potentiell sichtbare –<br />

physische Realität nicht nur wiederzugeben, sondern auch zu<br />

enthüllen“ (Joachim Paech).<br />

Tradition, postalisch: die Perspektive der Hermeneutik<br />

(purlointed letters)<br />

Hans-Georg Gadamer nennt alles Verstehen ein "Einrücken in ein<br />

Überlieferungsgeschehen" 217 ; damit erinnert er nolens volens an<br />

das mediale Dispositiv der Hermeneutik. Zunächst aber ist die<br />

Technik dieses "Einrückens" keine apparative, sondern eine<br />

rhetorische; was hier am Werk ist, heißt Supposition, die<br />

Unterstellung eines Adressaten:<br />

Derrida versteht Husserls ”Rückfrage” als eine Form der Mitteilung, in der man sich über einen Abstand hinweg<br />

nachträglich die Frage stellt, wie, warum und mit welcher Absicht uns eine Sendung ins Haus geschickt wurde<br />

. Die geschichtliche Überlieferung wird so den nie ganz reibungslos funktionierenden Systemen der<br />

”Telekommunikation” angeglichen . Es führt, in geometrischer Sprache ausgedrückt, kein Vektor vom<br />

Absender zum Empfänger. 218<br />

216<br />

Robert Göbl, Numismatik. Grundriß und wissenschaftliches System, München (Battenberg) 1987, 20<br />

217<br />

Zitiert von Thomas Wirtz, Traditionsunlust [über die Einstellung des Bochumer Dilthey­Jahrbuchs], in:<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22. November 2000, Nr. 272, N5<br />

218<br />

Rudolf Bernet, Vorwort zur deutschen Ausgabe von: Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am<br />

Leitfaden der Geometrie [*Paris 1962], München (Fink) 1987, 11-30 (16)<br />

75


Es gibt keine Horizontverschmelzung als Chronokommunikation.<br />

In seiner Glosse „Hermeneutische Aufklärung“ empfahl Jürgen<br />

Kaube Hans das Hauptwerk Wahrheit und Methode des jüngst<br />

verstorbenen Hans-Georg Gadamer „zur nichtdekonstruktiven<br />

Lektüre“ 219 . In derselben Ausgabe ließ die Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung den Meisterdenker der Dekonstruktion,<br />

Jacques Derrida, mit einem Nachruf zu Gadamer zur Wort kommen<br />

(„Wie recht er hatte! Mein Cicerone Hans-Georg Gadamer“).<br />

Seltsame Korrespondenzen - ein versöhnliches Geistergespräch<br />

über die Abgründe des Mißverstehens hinweg, wie wohl erst mit<br />

Toten möglich ist, nachdem eine wirkliche Aussprache zwischen<br />

Dekonstruktion und Hermeneutik nahezu endlos hinausgeschoben<br />

war. Vergessen wir nicht, Anfang der 80er Jahre war Derrida in<br />

Paris mit Gadamer in eine harte, geradezu unversöhnliche<br />

Auseinandersetzung geraten, weil der Begriff des verstehenden<br />

Dialogs gerade jene Störungen und Differenzen ausbzublenden<br />

drohte, die jede Auseinandersetzung buchstäblich prägen.<br />

Begreift man Korrespondenz als Ort der ideellen Begegnung<br />

zwischen einer ersten und einer zweiten Person, "ist die<br />

Intervention einer dritten naturgemäß störend“ 220 - das<br />

Parasitäre, übertragen auf die Zeit: Zensur-Systeme (der Post<br />

als Übertragung), oder die Hardware von Medien. Derrida<br />

insistierte damals auf „diskontinuierlicher Umstrukturierung“.<br />

Gegenüber einem Rechnen mit Diskontinuitäten ist der Begriff<br />

der Tradition gedächtnispolitisch konservativ. Beide Denker<br />

aber konvergieren in ihrer Blindheit gegenüber der medialen<br />

Natur dieser Übertragungsstörungen von Verstehen.<br />

Hermeneutik klagt die Vorurteilsstruktur des Verstehens als<br />

blinden Fleck der Geisteswissenschaften ein. Dieser blinde<br />

Fleck aber sind nicht die Geister, sondern die Medien der<br />

Tradition, die Gadamer implizit benennt. Wenn alles Verstehen<br />

ein "Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" ist, erinnert<br />

es nolens volens an das mediale Dispositiv der Hermeneutik. Zu<br />

diesem Zweck braucht Tradition nur durch den<br />

nachrichtentechnischen Begriff der „Übertragung“ ersetzt zu<br />

werden.<br />

Gadamer beschreibt die kognitive Finte der "unmittelbaren<br />

Substitution des Interpreten an die Stelle des Adressaten",<br />

die den Interpreten also an die Stelle des ursprünglichen<br />

Adressaten eines Textes treten läßt - jene Position, die<br />

Historiker gerne einnehmen, indem sie sich als Adresse einer<br />

Post, eines Geschicks namens Historie setzen. Auch wenn<br />

Gadamer diese Einsicht in "die Ursprünglichkeit des Gesprächs<br />

als des Bezugs von Frage und Antwort" umbiegt, weiß er doch,<br />

daß bei aller kommunikativen Übertragung medialer Verzug -<br />

nämlich der mediale Kanal - mit im Spiel ist; das<br />

219<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 70 v. 23. März 2002<br />

220<br />

Martin Fontius, Post und Brief, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl L. Pfeiffer(Hg.), Materialität der<br />

Kommunikation, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 267-279 (273)<br />

76


mittelalterliche Botensystem steht für die Varianten einer auf<br />

unmittelbare Gesprächssituation zielenden, aber durch<br />

vielfältige Medialitäten gebrochene Nachrichtenübertragung.<br />

Korrespondenz erweist sich damit als ein interessantes<br />

Übergangsphänomen: „eine Art schriftlichen Gesprächs, das die<br />

Bewegung des Aneinander-Vorbeiredens und Miteinander-<br />

Übereinkommens gleichsam zerdehnt" (Gadamer) - eine<br />

deutschsprachige Entsprechung der Derrida´schen différance.<br />

Solche Systeme sind jedoch nicht abgeleitete Formen des<br />

Gesprächs, sondern verlangen einen medienarchäologischen<br />

Blick. Jede hermeneutische Rückfrage an Texte oder Artefakte<br />

der Kultur stellt über einen Abstand hinweg nachträglich die<br />

Frage, mit welcher Absicht sie uns als Sendung ins Haus<br />

geschickt wurden; die geschichtliche Überlieferung wird so den<br />

Signal-Rausch-Abständen der Telekommunikation angeglichen. Es<br />

führt kein Vektor vom Absender zum Empfänger (so argumentiert<br />

Derridas Schrift Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden<br />

der Geometrie). In einem meist überlesenen Abschnitt seiner<br />

notorischen Elmauer Rede Regeln für den Menschenpark - seinem<br />

„Antwortschreiben“ auf Heideggers Brief über den Humanismus -<br />

interpretiert auch Peter Sloterdijk die Philosophie seit der<br />

griechischen Antike als „ein Kettenbrief durch die<br />

Generationen“, allen Kopierfehlern zum Trotz. „Ohne die<br />

Codierung der griechischen Philosophie auf transparenten<br />

Schriftrollen hätten die Postsachen, die wir die Tradition<br />

nennen, niemals aufgegeben werden können“; somit ist Tradition<br />

als Kulturtechnik des Übertragens und Speicherns definiert.<br />

Gadamer möge den <strong>Medienwissenschaft</strong>en verzeihen, daß sie dies<br />

zu verstehen suchen.<br />

Um hier in Heideggers Spur mit den Worten zu spielen: Das<br />

abendländische Verständnis von Geschichte versteht darunter<br />

nicht nur ein Schicksal, sondern auch ein Geschick;<br />

etymologisch gehört zum Verb geschehen (im Sinne von „eilen,<br />

rennen“) das Veranlassungswort schicken. 221 Damit kommen wir<br />

wieder zurück auf das postalische Dispositiv der Tradition.<br />

Der Empfänger eines klassischen Briefes hat immer ein<br />

Bewußtsein des Zeitverzugs in der Kommunikation gehabt; ihm<br />

war immer klar, daß er es bei der Lektüre „nicht mit dem<br />

Absender zu tun hatte, denn er hielt ein Stück Papier in den<br />

Händen, welches möglicherweise seinen Absender schon<br />

überdauert hatte, als der Empfänger ihn öffnete“ 222 - vertraut<br />

als das postalische Dispositiv von Historie als Geschick.<br />

Diese Zeitspanne zwischen Senden und Empfangen war identisch mit der Differenz zwischen<br />

Kommunikationsmedium und Mensch. Auch bei der Telegraphie mußten die Tonsignale des Morsealphabets<br />

noch in eine verständliche Sprache übersetzt werden. Das Telefon hingegen sorgte für den Fortschritt der<br />

Indifferenzierung zwischen hypomnestischem Ding und der menschlichen mneme. <br />

221<br />

Siehe Duden Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet v. Günther Drosdowski,<br />

Paul Grebe u. a., Mannheim / Wien / Zürich (Dudenverlag) 1963, 214f<br />

222<br />

Eckhard Hammel, Medien, Technik, Zeit, in: Mike Sandbothe / Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Zeit - Medien -<br />

Wahrnehmung, Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1994, 60-78 (68)<br />

77


Doch schon der Augenblick der Photographie führte, nachdem die<br />

Belichtungszeiten auf Sekundenniveau verkürzt wurden, zum<br />

Verlust des Intervalls. Götz Großklaus führt in seiner<br />

Betrachtung der Photographie das Extrembeispiel der Polaroid-<br />

Kamera an, bei deren Nutzung quasi alle Intervalle, die<br />

„normalerweise“ die Zeitspanne von Produktion, Distribution<br />

und Rezeption des Medieninhalts in mehrere Phasen ein- und<br />

unterteilen, wegfallen. Ein Druck auf den Auslöser genügt, um<br />

in verschwindend geringer Zeit ein fertiges Photo in der Hand<br />

zu halten. Der fast vollständige Verlust des Intervalls tritt<br />

mit Einführung des Mediensystems Fernsehen, des Live-Bilds<br />

auf. Übergänge, „die Transferstellen des „Dazwischen“, wie<br />

Grossklaus es nennt, verschwinden vollständig. Das live TV–<br />

Bild sorgt dafür, daß sich der Zuschauer immer schon am Ziel,<br />

im Hier und Jetzt befindet.<br />

Gadamer benennt die kognitive Finte der "unmittelbare<br />

Substitution des Interpreten an die Stelle des Adressaten"<br />

respektive die "Applikation, die den Interpeten sozusagen an<br />

die Stelle des ursprünglichen Adressaten eines Textes treten<br />

läßt" - also jene Figur, die<br />

Historiker gerne einnehmen, indem sie sich als Adresse einer<br />

Post, eines Geschicks namens Historie setzen - ersatzweise für<br />

alle lettres en souffrance.<br />

Anfang Februar 2002 wurden von Seiten des Niels-Bohr-Archivs<br />

bisher unveröffentlichte Briefentwürfe des dänischen Physik-<br />

Nobelpreisträgers an seinen deutschen Schüler Werner<br />

Heisenberg zugänglich 223 , der ihn im September 1941 in<br />

Kopenhagen besuchte, um bislang ungeklärte Gespräche über<br />

deutsche und alliierte Atombombenprojekte zu erörtern. An<br />

dieser Stelle lassen sich Quantenphysik, Droysens Historik und<br />

Überlieferungswahrscheinlichkeit aufeinanderfalten, zwischen<br />

„Quelle“ und „Überrest“:<br />

In der Quantenphysik resultiert eine strukturelle, unüberwindliche Zweideutigkeit und „Unschärfe“ daraus, daß<br />

der Beobachter das Beobachtete zwangläufig beeinflußt. Er kann nie das Objekt messen, sondern muß immer<br />

erst den eigenen Einfluß aus seinen Daten herausrechnen. Historiker nennen so etwas Quellenkritik. Quellen sind<br />

umso verdächtiger, je mehr sie als bewußte Erinnerungen abgefaßt werden und je weniger es sich um schlichte<br />

Protokolle handelt. Im Fall des Gesprächs zwischen Bohr und Heisenberg gibt es kein Protokoll, sondern nur<br />

Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung. 224<br />

So daß - wie für alles archivisch-archäologisches Gedächtnis<br />

-gilt: „Die verstörende Lücke bleibt.“ 225 Bohr war sich später<br />

223<br />

Im Netz unter www.nba.nbi.dk, Faksimiles und Transkription sowie englische Übersetzung;darunter<br />

Dokument Nr. 1: „Draft of letter from Bohr to Heisenberg, never sent. In the handwriting of Niels Bohr's<br />

assistant, Aage Petersen. Undated, but written after the first publication, in 1957, of the Danish translation of<br />

Robert Jungk, Heller als Tausend Sonnen, the first edition of Jungk's book to contain Heisenberg's letter.“<br />

224<br />

Christoph Albrecht, Unschärfer. Das Rätsel bleibt: Warum kam Heisenberg 1941 zu Bohr, in: FAZ Nr. 35 v.<br />

11. Februar 2002, 45<br />

225<br />

Christiane Grefe, Zwei Freunde, kein Gespräch. Bohrs Briefe an Heisenberg dokumentieren eine gestörte<br />

Kommunikation, in: Die Zeit Nr. 8 v. 14. Februar 2002, 29<br />

78


seiner eigenen Erinnerungen an das Treffen unsicher, das<br />

selbst unter unsicheren kommunikativen Bedingungen gestanden<br />

hatte und post eventum schon im Zeichen von Hiroshima und<br />

Nagasaki stand. „Hat er den Brief wegen solcher Unsicherheit<br />

nicht abgeschickt“ . Michael Frayn beschrieb vor<br />

Bekanntmachung der Dokumente das historische Treffen beider<br />

Physiker in seinem Theaterstück Kopenhagen. Seine Analyse der<br />

neuen Dokumente kommentiert die Frankfurter Zeitung einleitend<br />

als den Triumph des Dramas über die Archive. „Zumindest hier,<br />

auf der Bühne, kommen sie noch einmal zusammen, um<br />

herauszufinden, was geschehen war.“ 226<br />

Für unzustellbare oder nicht zugestellte Sendungen steht auch<br />

der Fall de Man, eines Meisterdenkers der literarischen<br />

Dekonstruktion, nach dessen Tod aus dem Archiv hinterrücks<br />

inkriminierende Zeitungsartikel aus seiner Jugendzeit im von<br />

der deutschen Wehrmacht besetzten Belgien im 2. Weltkrieg<br />

auftauchten. An einigen Stellen scheint er nämlich den Plan<br />

einer Deportation der Juden Europas nach Madagaskar<br />

befürwortet zu haben. Zwar hatte Paul de Man aus mehreren<br />

Anlässen (etwa bei Antritt seiner Professur in den USA) auf<br />

seine Artikel in Le Soir verwiesen, doch diese frühen<br />

Schriften<br />

had remained, like the purlointed letter, exposed but invisible, open but unread, until the relentless progress<br />

of archival devotion delivered them from sufferance. the arrival of this long­delayed letter strikes us now<br />

with the full disruptive force of an event as an `occurrence´ ­ an irreversible disruption of cognition. <br />

But that theory´s outside was precisely, we know now, always already within. The arrival of this purlointed<br />

letter, then, is an event not only for de Man . His death makes it necessary to face the letter without him. 227<br />

Jacques Lacan weist auf den semantischen Nebensinn der<br />

französischen Formel vom lettre en souffrance: ein<br />

"unzustellbarer" Brief respektive Buchstabe. 228 Denken wir<br />

jedoch die Textartefakte im Archiv analog dazu als Lettern<br />

(„Archiv heißt ein Behältnis von Sachen und Briefschaften“ 229 ),<br />

deren mediale Latenzzeit (als Zwischenspeicher) auf<br />

Adressierung wartet, wird sofort klar, daß zwischen dem von<br />

Poe beschriebenen und von Lacan analysierten Delirium der<br />

Signifikanten und ihrer archivischen Einlagerung die<br />

Differenz, der Einschnitt der Institution liegt, welcher aller<br />

Arbitrarität der Zeichen Schranken setzt, die der Logistik von<br />

Gedächtnismacht selbst entspricht. Nicht jeder kulturelle<br />

Speicher ist Archiv, und der Unterschied von Lettern und<br />

226<br />

Michael Frayn, Ich gab Heisenberg die Chance, sich zu verteidigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 41<br />

v. 18. Februar 2002, 51<br />

227<br />

Barbara Johnson, xxx, 1989, xii<br />

228<br />

In ihrer Freiburger Dissertation: Verfolgung und Trauma, Wien (Passagen) 1990; Jacques Lacan, „Das<br />

Seminar über E. A. Poes `Der entwendete Brief´“, in: ders., Schriften I, hg. Norbert Haas, Frankfurt/M.<br />

(Suhrkamp) 1975 (*Écrits, Paris 1966), 7­41 (28f)<br />

229<br />

Johann Heinrich Zedler, Großes Vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 2, Halle / Leipzig 1732 (Reprint Graz<br />

1961), Spalte 1244<br />

79


Archivalie 230 ist der zwischen Diskurs und medialem Gesetz der<br />

Überlieferung.<br />

Ist die Post das Medium der Tradition Stephen Greenblatt<br />

erinnert an Franz Kafkas Geschichte "Die große chinesische<br />

Mauer", worin dem Leser der sterbende Kaiser eine Botschaft<br />

sendet, die aber im Prozeß der Übertragung (zuviele Paläste,<br />

zuviele Straßen, zuviele Tore) den Adressaten nie erreichen<br />

werden . Hier spielt sich der klassische Streit<br />

Derrida / Lacan um die destinerrance ab, das Spiel der Stillen<br />

Post. Tatsächlich ist die Struktur der Post nicht nur synchron<br />

die Bedingung der humanistischen (Freundschafts-)Ethik,<br />

sondern auch diachron; die Philosophie ließ sich seit der<br />

griechischen Antike überhaupt erst „weiterschreiben wie ein<br />

Kettenbrief durch die Generationen, und allen Kopierfehlern<br />

zum Trotz“ (Sloterdijk) – ein Wissen, das immer auch seine<br />

kryptologische Variante mitgeneriert hat. „Ohne die Codierung<br />

der griechischen Philosophie auf transparenten Schriftrollen<br />

hätten die Postsachen, die wir die Tradition nennen, niemals<br />

aufgegeben werden können“ (Sloterdijk; Kursivierung W. E.);<br />

somit ist Tradition, medial, als Kulturtechnik des Übertragens<br />

und Speicherns definiert. 231 Wird der Übertrager der Botschaft<br />

am Ende wieder für die Botschaft verantwortlich gemacht<br />

Weil man gegen die im Ausland sitzenden Betreiber der am Pranger stehenden Seiten wenig unternehmen kann,<br />

sollen nun die Zugangsanbieter virtuelle Grenzzäune errichten und auch pflegen. Man wolle sich an den<br />

Briefträger halten, kritisierte eine Anti­Zensur­Initiative um den Stuttgarter Aktivisten Alvar Freude. 232<br />

So taucht eine schon verschwundene Figur wieder auf: der<br />

Postbote als Briefüberträger, die körperliche Präsenz der<br />

Mediation. Zwischen Sender und (unterstellter) Adresse liegt<br />

also eine postalische, zeit-räumliche Verschiebung, eine<br />

différance, eine Verzerrung. Wer auch immer sich an die Stelle<br />

eines angenommenen Adressaten stellt, steht zu ihm immer schon<br />

in einem nach-träglichen Verhältnis (Nachnahme). Sender und<br />

subsumierter Empfänger teilen nicht denselben Code. „Texts<br />

that obsessively aim at arousing a precise response on the<br />

part of more or less precise empirical readers are in<br />

fact open to possible `aberrant´ decoding“ 233 - statt Bestimmung<br />

und Schicksal (Destination) also - mit Derrida gesprochen -<br />

destinérrance. Hat sich dieses Modell mit der Übertragung in<br />

elektronischen Medien (Radio, Fernsehen) geändert<br />

230<br />

Stefan Brotbeck spricht - unter Bezug auf Lacan 1966/1975 - von der „verschütteten arché des Briefes“: „Sujet<br />

en souffrance“, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse 7 (Februar 1988), 57-82 (58). Siehe auch das Gegenstück<br />

Martin Stingelins, ebd. Heft 6 (Oktober 1987), 68-84<br />

231<br />

Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus – die<br />

Elmauer Rede, in der vom Autor autorisierten Version in: Die Zeit v. 16. September 1999, 15<br />

232<br />

Monika Ermert, Saubermann im Cyberspace. Tumult in Düsseldorf um Sperrung von Web-Seiten, in:<br />

Süddeutsche Zeitung v. 9. April 2002 (Ressort Wissenschaft)<br />

233<br />

Umberto Eco 1981b: 8, zitiert, nach: Jörgen Bang, The meaning of plot and narrative, in: Peter Bögh Andersen<br />

/ Berit Holmqvist / Hens F. Jensen (Hg.), The computer as medium, Cambridge / New York / Melbourne<br />

(Cambridge UP) 1993, 209-221 (213)<br />

80


Die Post meint die räumliche Übertragung einer Nachricht. Das<br />

„post“ als lateinisches Adverb aber meint neben der räumlichen<br />

Bedeutung („hinten/nach“) auch das zeitliche „hernach,<br />

darnach, nachher“.<br />

Die postalische Unterstellung der Tradition findet ihr Modell<br />

in einer Epistemologie als Epitolologie. Kulturhistorie geht<br />

von Ursprüngen aus, welche auf die Gegenwart zulaufen,<br />

so daß die heutige Wissenschaft immer bis zu einem gewissen Grad schon in der Vergangenheit angekündigt ist.<br />

Der Epistemologe geht vom Aktuellen aus und auf seine Anfänge zurück, so daß nur ein Teil dessen, was sich<br />

gestern als Wissenschaft ausgab, bis zu einem gewissen Grad als durch Gegenwart begründet erscheint. 234<br />

Gadamer erinnert an die Ekstase dieses Verfahrens:<br />

Z. B. dort, wo ein Text einen ganz bestimmten Adressaten hat, etwa den Partner des Vertrages, den Empfänger<br />

der Rechnung oder des Befehls. Hier kann man sich wohl, um den Sinn des Textes ganz zu verstehen, sozusagen<br />

an die Stelle des Adressaten versetzen, und sofern diese Versetzung bewirken soll, daß der Text seine volle<br />

Konkretion gewinnt, kann man auch dies als eine Leistung der Interpretation anerkennen. 235<br />

Wenn der Priester in der Kirche das Evangelium verlesen läßt,<br />

etwa die Briefe des Apostels Paulus an die Thessalonicher,<br />

tritt die Gemeinde an diese systemische Stelle.<br />

Aber solche Versetzung in den ursprünglichen Leser (Schleiermacher) ist etwas ganz anderes als Applikation. Sie<br />

überspringt gerade die Aufgabe der Vermittlung von Damals und Heute , die wir mit Applikation meinen<br />

und die etwa auch die juristische Hermeneutik als ihre Aufgabe erkennt. <br />

Im Begriff der "Vermittlung von Damals und Heute" ist die Medialität des Prozesses schon<br />

mitgesprochen. Vermittlung aber bedarf der Interfaces, und an<br />

diesen Stellen kommt es zur prosopopoietischen Illusion. Seit<br />

diese Worte sich schrieben, ist Gadamer im März 2002<br />

verstorben. Welchen Unterschied macht dies bei der Zitierung<br />

seiner Werke Stand und steht die Art und Weise, wie Wahrheit<br />

und Methode längst in die sogenannte geistesgeschichtliche<br />

Tradition eingegangen ist, in einem asymmetrischen Verhältnis<br />

zum (Über-)Leben des Autors „Jedes Gespräch setzt eine<br />

gemeinsame Sprache voraus“ (Gadamer). „Mit einem Abwesenden<br />

aber kann man nicht sprechen“ (Goethe).<br />

Die Materialität der Kabel und Leitungssysteme über Land wie<br />

unter See zeitigt im 19. Jahrhundert Experimente, die<br />

Verwundbarkeit der Übertragung durch drahtlose Telegraphie zu<br />

umgehen.<br />

1898, im spanisch­amerikanischen Krieg, brauchten die Vereinigten Stsaaten nur im Süden Floridas ein<br />

Unterseekabel zu unterbechen, das Spanien mit seiner vorletzten Kolonie Kuba verband, um eine zum Schutz<br />

Havannasausgelaufene Flotte ihrem Verderben auszuliefern. Am 2. August 1914, dem zweiten Tag des Ersten<br />

234<br />

Georges Canguilhem, Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards, in:<br />

ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, übers. v. Michael Bischoff u. Walter Seitter, hg. v. Wolf<br />

Lepenies, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1979, 7-21 (12)<br />

235<br />

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [*1960],<br />

Tübingen (Mohr) 4. Aufl. 1975, 316<br />

81


Weltkriegs, stach die Royal Navy mit dem Befehl in See, alle Transatlantikkabel der Mittelmächte zu kappen.<br />

Weil Medien strategische Eskalationen sind, entspringt gerade aus der Verwundbarkeit eines gewesenen<br />

Leitmediums das nächste. Nach jenem Schlag der Royal Navy rückte die Drahtlosigkeit als solche aufs<br />

Programm. 236<br />

Konsequent setzt Lucent Technologies, ein Nachfolger der Bell<br />

Labaratories, an denen Shannon seine Nachrichtentheorie<br />

entwickelte und deren Name noch auf das Telephon selbst<br />

verweist, auf die Laserübertragung per Glasfaserkabel, weil<br />

dies schnellere Übertragungsraten erlaubt denn die Übertragung<br />

im Äther - eine Ironie der Archäologie von Hardware der<br />

Kommunikation. „Nicht der Veränderung und der Beförderung von<br />

Materie“ dient Telegraphie,<br />

sondern der Übermittlung von Gedanken. Um dies zu bewirken, bedient man sich eines Stoffes, der so fein ist,<br />

daß man ihn angemessenerweise als spirituelle und nicht als materielle Kraft betrachte müßte. Die Kraft der<br />

Elektrizität, die latent in allen Formen der Materie, der Erde, der Luft und des Wassers anwesend ist, ist<br />

dennoch unsichtbar und viel zu fein, um analysiert zu werden. 237<br />

Im Gegensatz zu technischen Übertragungsmedien wird bei der<br />

Post bzw. im Kurierwesen die in einen Medium gespeicherte<br />

Information durch Personen transportiert - physische<br />

Informationsübertragung, etwa durch den Memoria-Boten. 238 Dem<br />

folgt dann der Transport der Nachrichten in materieller Form<br />

(Briefverkehr etwa), am Ende elektronisch. Aber auch noch die<br />

deutsche Post konnte bei Ihrem Börsengang Ende der 1990er<br />

Jahre damit werben, daß selbst im Zeitalter von E-Commerce die<br />

Logistik nach wie vor über höchst materielle Vehikel läuft:<br />

„After all: What´s e-commerce without physical fulfillment“<br />

In der Logistik liege die Zukunft, deklarierte ein TV-<br />

Werbespot der Deutschen Post vom August 2001: insistierend auf<br />

den Materialitäten der Kommunikation, da bei allem e-commerce<br />

nach wie vor physisch reale Waren zu überbringen sind. Tritt<br />

das Prinzip einer generalisierten Post an die Stelle der<br />

emphatischen Lagerung<br />

Kontinuitäten brauchen Vehikel, die in einem langsamen<br />

Zeitverlauf überdauern - Institutionen wie mediale<br />

Apparaturen. „On ne peut transmettre que ce qui a été<br />

incorporé.“ 239 Elektronische Kommunikation findet im virtuellen<br />

Raum statt, überliefert werden kann aber nur, was gespeichert<br />

werden kann. An dieser Stelle lohnt die Erinnerung daran, daß<br />

einmal die technische Hardware von Kanälen und quasiimmaterieller<br />

postalischer Botschaft sehr konkret miteinander<br />

verschränkt waren: in Form der Rohrpost, deren Leitungen in<br />

Paris die Länge von 430 erreichten. In Variationen hat sie bis<br />

heute überlebt: in diversen Bibliotheken wie etwa der von Aby<br />

236<br />

Friedrich Kittler, Krieg im Schaltkreis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25. November 2000, Nr. 275, I<br />

237<br />

Charles F. Briggs / Augustus Maverick, The Story of The Telegraph and a History of the Great Atlantic Cable,<br />

New York 1858, 11f. Siehe Martin Burckhardt, Unter Strom. Der Autor und die elektromagnetische Schrift, in:<br />

Sybille Krämer (Hg), xxx, 1998, 27-54.<br />

238<br />

xxx Hiebel (Hg.) 1997, Kleine Medienchronik, 19<br />

239<br />

Regis Debray, Malaise dans la transmission, in: Cahiers de médiologie 11, Gallimard, Paris 2001, 23<br />

82


Warburg in Hamburg als System zur Verschickung von Büchern<br />

quer zu Etagen und Abteilungen; ebenso in der Deutschen<br />

Bücherei Leipzig sowie der New York Public Library. 240<br />

Die Werbung der Deutschen Post über die Zusammenarbeit mit<br />

Transportfirmen setzt ein mit einer Spekulation über time and<br />

space - wie es von der Post, mithin den Kommunikationsmedien<br />

durchquert wird. Die Kantschen Aprioris Raum und Zeit müssen<br />

also in ihrer materiellen Verbundenheit mit Medien des<br />

Transports, des Transfers gedacht werden, „including planning,<br />

distribution, storage and transport“ 241 . Eine geradezu<br />

metaphysische Botschaft: „Space - and time. The ability to<br />

transcend both unlocks the power both to master decisions.<br />

Transcend borders“, heißt es in der zweiten Version des<br />

Werbevideos.<br />

Die Anschauung in Raum und Zeit beruht Kant zufolge auf einem<br />

Begriff, der selbst nicht weiter begründbar ist und damit<br />

einen „Grundbegriff“ darstellt, „und zwar a priori, endlich<br />

der einzige Grundbegriff a priori, der allen Begriffen von<br />

Gegenständen der Sinne ursprünglich im Verstande zum Grunde<br />

liegt“. 242 Doch der Cyberspace ist jenes neue Empire, in dem ein<br />

feedback-circuit, also eine Rückkopplung von der Konsumtion<br />

zur Produktion erlaubt, die Veränderungen eines Marktes<br />

unverzüglich („just in time“) als informatorische Modifikation<br />

der Produktion selbst zuzuführen 243 - das Prinzip Benetton, wo<br />

die elektronische Lagerhaltung in Echtzeit an den Verkauf<br />

gekoppelt ist. Geordnet und bedient wird auch hier nach dem<br />

Prinzip des random access.<br />

Mit dem Anrufbeantworter „scheint das Senden, das Verschicken,<br />

das epistellein der Epistel eine dramatische Wandlung zu<br />

erfahren, da es nunmehr mit der gleichen Geschwindigkeit<br />

erfolgt wie die Aufnahme selbst“ . Der Brief,<br />

das postalische Dispositiv der Tradition, geht in Zeit auf. Es<br />

wäre jedoch falsch, angesichts dieser Sofortigkeit der<br />

Versuchung zu erliegen, die telefonische oder digitale Voice<br />

Mail als einen weniger materiellen Vorgang zu betrachten.<br />

"Jeder, der schon einmal eine schlechte Telefonverbindung<br />

hatte, weiß, daß das Medium solcher Übertragungen durchaus ein<br />

materielles bleibt" .<br />

240<br />

Siehe Daniel Kiecol, Die Nostalgie der Utopie. Die Metropole und die Rohrpost, in: quadratur, Heft 4: „Stadt,<br />

Blicke“, 2002, 46-49 (49)<br />

241<br />

Werbevideo der Unternehmensfilm GB: Deutsche Post, 1. Version, BBDO, Düsseldorf, 1. Februar 2000<br />

(studio funk. Produktionshaus für Audiovisuelles)<br />

242<br />

Immanuel Kant, Preisschrift "Über die Fortschritte der Metaphysik", Erster Entwurf, erste Abteilung (= Kants<br />

Gesammelte Schriften, hg. v. d. Preußischen Akademie d. Wiss, Bd. XX = Handschriftlicher Nachlaß Bd. VII,<br />

<strong>Berlin</strong> 1942, 271 („Von Begriffen a priori“).<br />

243<br />

Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M. u. New York (Campus) 2002,<br />

299f<br />

83


Die Selbstermächtigung der Historiker<br />

Gadamer kommt auch auf jenen Mechanismus zu sprechen, der die<br />

alteuropäische Lese- und Schreibkultur von der Algorithmik des<br />

Computers trennt - wo "Texte" namens Programme tatsächlich,<br />

das tun, wofür sie stehen. Hier wird als Kommando der<br />

Verstehensbegriff plötzlich sehr unhermeneutisch:<br />

Nehmen wir das Beispiel des Verstehens eines Befehls. Einen Befehl gibt es nur dort, wo einer da ist, der ihn<br />

befolgen soll. Das Verstehen gehört hier also in ein Verhältnis von Personen, von denen die eine zu befehlen hat.<br />

Den Befehl verstehen heißt, ihn der konkreten Situation zu applizieren, in die er trifft. Zwar läßt man einen<br />

Befehl wiederholen, zur Kontrolle dessen, daß er richtig verstanden ist , aber das ändert nichts<br />

daran, daß sein wahrer Sinn sich erst aus der Konkretion seiner "sinngemäßen" Ausführung bestimmt. <br />

Sinngemäß heißt hier - ganz im Sinne des Deutschen Wörterbuchs<br />

der Gebrüder Grimm - noch ganz "Ausrichtung". Und doch bemißt<br />

sich Verstehen nicht in der schriftgemäßen Befolgung des<br />

Befehls allein: Gadamer klagt situative Kompetenz mit ein,<br />

also das, woran die Informatik mit sogenannten adaptiven<br />

Verfahren arbeitet. Gibt es den zeitverzogenen Befehl<br />

Denkt man sich nun einen Historiker, der in der Überlieferung einen solchen Befehl findet und verstehen will, so<br />

ist er zwar in einer ganz anderen Lage als der ursprüngliche Adressat. Er ist nicht der Gemeinte und kann daher<br />

den Befehl gar nicht auf sich beziehen wollen. Gleichwohl muß er, wenn er den Befehl wirkich verstehen will,<br />

idealiter die gleiche Leistung vollbringen, die der gemeinte Empfänger des Befehls vollbringt. Dem<br />

Selbstverständnis der Wissenschaft zufolge darf es also für den Historiker keinen Unterschied machen, ob ein<br />

Text eine bestimmte Adresse hatte oder als ein "Besitz für immer" gemeint war <br />

- womit wir fast schon in Weimar, nämlich in der Weimarer<br />

Klassik Goethes sind, und den Medien, die diesen ewigen Besitz<br />

instituieren: das Goethe- und Schillerarchiv. In der<br />

Unterscheidung einer konkreten Befehlsadressierung von<br />

allgemeingültiger Adressierung kommt Johann Gustav Droysens<br />

Differenz von intentionalem Denkmal und unwillkürlichem<br />

Überrest zum Zug.<br />

Die Selbstinterpretation der geisteswissenschaftlichen<br />

Methodik ist eine Selbstermächtigung, insofern "der Interpret<br />

zu jedem Text einen Adressaten hinzudenkt, ob derselbe durch<br />

den Text ausdrücklich angesprochen worden ist oder nicht"<br />

. Und doch sind Hermeneutik und<br />

Historik offenbar nicht ganz das gleiche; tatsächlich sucht<br />

der Historiker in überlieferten Texten ja garade nicht das<br />

Identische, sondern die Differenz seiner lesenden Gegenwart<br />

zur Vergangenheit: er strebt "durch dieselben hindurch ein<br />

Stück Vergangenheit zu erkennen", mithin also der<br />

perspektivische Blick Albertis, die fenestra aperta - wie es<br />

zeitgleich zum Buchdruck denkbar geworden ist.<br />

Er sucht daher den Text durch andere Überlieferung zu ergänzen und zu kontrollieren. Er<br />

empfindet es geradezu als die Schwäche des Philologen, daß dieser seinen Text wie ein Kunstwerk ansieht. Ein<br />

Kunstwerk ist eine ganze Welt, die sich in sich selbst genügt. Aber das historische Interesse kennt solche<br />

Selbstgenügsamkeit nicht. <br />

84


Historische Interpretation meint also "nicht den gemeinten,<br />

sondern den verborgenen und zu enthüllenden Sinn" - das<br />

allegorische Erbe der biblischen Exegese. Hier liegt auch jene<br />

Figur der historischen Operation angelegt, die Foucault an<br />

Historikern in seiner Einleitung zur Archäologie des Wissens<br />

kritisiert - die Verwechslung von Dokument und Monument. "Der<br />

Text wird als ein Dokument verstanden, dessen eigentlicher<br />

Sinn über seinen wörtlichen Sinn hinaus erst zu ermitteln ist,<br />

z. B. durch Vergleich mit anderen Daten" . Steht Gadamer<br />

hier in unerwartetem Verbund mit dem Anliegen der Annales,<br />

Serien von Daten zu bilden statt sie zu erzählen Historische<br />

Lektüre entpuppt sich als allegorische Operation oder als<br />

symbolische Indiziendeutung im Sinne der psychoanalytischen<br />

Traumdeutung, veritable Archäologie:<br />

So gilt für den Historiker grundsätzlich, daß die Überlieferung in einem anderen Sinne zu interpretieren ist, als<br />

die Texte von sich aus verlangen. Er wird immer hinter sie und die Sinnmeinung, der sie Ausdruck geben, nach<br />

der Wirklichkeit zurückfragen, von der sie ungewollter Ausdruck sind. Die Texte treten neben alles sonstige<br />

historische Material, d. h. neben die sogenannten Überreste. Auch sie müssen erst gedeutet werden, d. h. nicht<br />

nur in dem verstanden werden, was sie sagen , sondern in dem, was sich in ihnen bezeugt. <br />

Hier liegt das Rauschen der Überlieferung - ganz im Sinne von<br />

Droysens Quellengattung der Überreste und der Kriminalistik:<br />

"Der Historiker verhält sich zu seinen Texten wie der<br />

Untersuchungsrichter beim Verhör von Zeugen", wobei die bloße<br />

Tatsachenfeststellung noch nicht die wirklich historische<br />

Operation ausmacht - sagt Gadamer in Antizipation von Carlo<br />

Ginzburgs Spurensicherung . Zudem ist der archäologische<br />

Blick, die diskrete Lektüre, die chirurgische Ästhetik des<br />

hermeneutischen Nullpunkts der Interpretation eine Illusion<br />

(zumindest für Menschen, wenn nicht für Maschinen): "Es gibt<br />

niemals den Leser, der, wenn er seinen Text vor Augen<br />

hat, einfach liest, was dasteht" - es sei denn, der<br />

digitale Scanner.<br />

Die prosopopoietische Illusion<br />

Tradition ist ein System von Übertragungen, Vermittlungen,<br />

Ersetzungen, Unterstellungen, Unterschiebungen - VERschichte.<br />

Wenn Sigmund Freud in seiner Traumdeutung von "Übertragung",<br />

von "Übertragungsgedanken" schreibt, bezeichnet er damit eine<br />

Form von Verschiebung, in welcher der unbewußte Wunsch zum<br />

Ausdruck kommt und sich hinter den von dem vorbewußten<br />

Material gelieferten Tagesresten verbirgt 244 - Überreste der<br />

kurzfristigen Art. Freuds Traumdeutung setzt sich - analog zur<br />

postalisch-hermeneutischen Unterstellung des Historikers - an<br />

die Stelle eines Adressaten, der so nie gemeint war, so daß<br />

„die Darstellung der Traumarbeit, die ja nicht beabsichtigt,<br />

244<br />

Eintrag "Übertragung", in: J. Laplanche / J.­P. Pontialis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M.<br />

(Suhrkamp) 1999, 550­559 (550ff)<br />

85


verstanden zu werden, dem Übersetzer keine größeren<br />

Schwierigkeiten zumutet, als etwa die alten<br />

Hieroglyphenschreiber ihren Lesern.“ 245 Freuds Konzeption der<br />

Nachträglichkeit trägt einen operativen Zug:<br />

Nicht das Erlebte allgemein wird nachträglich umgearbeitet, sondern selektiv das, was in dem Augenblick, in<br />

dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte. Das<br />

Vorbild für ein solches Erleben ist das traumatisierende Ereignis. Das nachträgliche Umarbeiten wird<br />

beschleunigt durch unvermutet eintreffende Ereignisse und Situationen. <br />

Wobei er in einem Brief vom 6. Dezember 1896 an W. Fließ eine<br />

geologisch-archäologisch-archivische Metaphorik wählt für die<br />

"Annahme, da daß unser psychischer Mechanismus durch<br />

Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit<br />

das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung<br />

nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt" .<br />

Halluzinationen von Kommunikation über Zeiten hinweg stehen im<br />

Verbund von Rhetorik und Medien. Gregor von Tours berichtet,<br />

daß König Chilperich (561-584) in einer Asylangelegenheit<br />

einmal an das Grab des heiligen Martinus einen Brief schickte,<br />

in dem stand, der heilige Martinus möge ihm eine Antwort<br />

schreiben, ob man Gunthram aus seiner Kirche herausschaffen<br />

dürfe oder nicht. Der Diakon Baudigisel, der diesen Brief<br />

überbrachte, legte jedoch mit demselben ein unbeschriebenes<br />

Blatt ... bei dem heiligen Grabe nieder. Als er nach drei<br />

Tagen noch keine Antwort erhielt, kehrte er zu Chilperich<br />

zurück. 246 Karls des Großen Schenkung des Kirchenstaats an Papst<br />

Hadrian I. vollzog sich am Ostermittwoch des Jahres 774 in der<br />

Krypta von St. Peter; eine Abschrift der Urkunde wurde im Grab<br />

Petrus´ abgelegt. „Der Apostelfürst nahm Briefe entgegen,<br />

fertigte aber auch durch die Päpste Briefe aus. Im Codex<br />

Carolinus findet sich eine vom Papst mit dem Ich des Petrus<br />

ausgesprochene Antwort; es ist der bekannte Notbrief Stephans<br />

II. an Pippin: Ego apostolus dei Petrus tamquam praesentaliter<br />

in carne vivus adsistens coram vobis ... Der Papst als Stimme<br />

Petri, die sich von dessen Grabe aus erhebt - das ist die<br />

vielberedete Identität von Petrus und Papst“ 247 , und die<br />

propopopoietische Stimme von jenseits des Grabs, also der<br />

memoria (dann abgleitet von Chateaubriand als Mémoire d´outretombe).<br />

Aleida Assmann entziffert die Emergenz des literarischen<br />

Genres „Geistergespräch“ in Humanismus und Renaissance<br />

245<br />

Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich / Angela<br />

Richards / James Strachey, Frankfurt/M. (Fischer) 1982, Bd. II, 337<br />

246<br />

Gregor von Tours, Historiarum libri decem. Zehn Bücher Geschichten V 14, hg. v. Rudolf Buchner, Darmstadt<br />

1955, 304<br />

247<br />

Arnold Angenendt, Grab und Schrift, in: Hagen Keller u. a. (Hg.), Schriftlichkeit und Lebenspraxis im<br />

Mittelalter, München (Fink) 1999, 9-23 (20), unter Bezug auf: Codex Carolinus Nr. 10, hg. v. Wilhelm Gundlach,<br />

in: MGH Epistolae 3, <strong>Berlin</strong> 1892, 467-657 (501f)<br />

86


(Macchiavelli, Petrarca) als Funktion einer Schriftkultur.<br />

Dort nämlich herrscht das Vertrauen darauf, daß geistige Kraft<br />

im Medium Schrift gespeichert und durch Lektüre reaktiviert<br />

werden kann - ein genuin synchrones Speichermodell, dem<br />

gegenüber orale Kulturen ihr Langzeitgedächtnis generationell<br />

übertragen müssen; dem Prinzip dieser Kettenbildung entspricht<br />

die (alte) rechtsförmige Figur der Tradition als Übertragung<br />

in einer hierarchischen Sukzession . So<br />

wird aus einer zeitlichen Übertragung ein räumlicher<br />

Kommunikationsbegriff. "Die historische Methode verlangt, daß<br />

man die Logik von Frage und Antwort auf die geschichtliche<br />

Überlieferung anwendet", deklariert Gadamer in Anlehnung an<br />

Collingwood . Damit unterstellt er der<br />

Übertragung eine hermeneutische Struktur - eine<br />

prosopopoietische Operation. Gadamer benennt sie ganz<br />

unverhohlen als rhetorisches Manöver zur Erzielung<br />

transrhetorischer Effekte: "Zwar redet ein Text nicht so zu<br />

uns wie ein Du. Wir, die Verstehenden, müssen ihn von uns aus<br />

erst zum Reden bringen" . Demgegenüber kultiviert<br />

Medienarchäologie die Kunst, mit Schweigen zu rechnen.<br />

Michael Gieseckes Plädoyer für eine Renaissance der<br />

mittelalterlichen Gesprächskultur im Multimedia-Zeitalter<br />

entspricht dem Ideal der Hermeneutik gemäß Hans-Georg Gadamers<br />

Wahrheit und Methode, der darin "die Ursprünglichkeit des<br />

Gesprächs als des Bezugs von Frage und Antwort" reklamiert<br />

. Aber auch Gadamer weiß, daß bei<br />

aller kommunikativen Übertragung medialer Verzug - nämlich der<br />

mediale Kanal - mit im Spiel ist; das mittelalterliche<br />

Botensystem steht für die Varianten eines auf unmittelbare<br />

Gesprächssituation zielende, aber durch vielfältige<br />

Medialitäten gebrochene Nachrichtenübertragung. Sind solche<br />

Systeme "abgeleitete Formen" des Gesprächs (Gadamer), oder<br />

verlangt nicht der medienarchäologische Blick, hier die<br />

grundsätzliche Differenz zu sehen "So ist etwa die<br />

Korrespondenz ein interessantes Übergangsphänomen: eine Art<br />

schriftlichen Gesprächs, das die Bewegung des Aneinander-<br />

Vorbeiredens und Miteinander-Übereinkommens gleichsam<br />

zerdehnt" - die deutsche Entsprechung der Derrida´schen<br />

différence.<br />

Die Kunst der Korrespondenz besteht darin, die schriftliche Aussage auf die Entgegennahme durch den<br />

Korrespondenten abzustellen. Sie besteht aber auch umgekehrt darin, das Maß von Endgültigkeit, das alles<br />

schriftlich Gesagte besitzt, richtig einzuhalten und zu erfüllen. Der zeitliche Abstand, der die Absendung eines<br />

Briefes vom Empfang der Antwort trennt, ist eben kein äußerliches Faktum allein und prägt die<br />

Kommunikationsform der Korrespondenz in ihrem eigenen Wesen als eine besondere Form der Schriftlichkeit.<br />

So ist es bezeichnend, daß die Verkürzung der Postzeiten durchaus nicht zu einer Intensivierung dieser<br />

Kommunikationsform geführt hat, sondern im Gegenteil zum Verfall der Kunst des Briefschreibens. <br />

Avant la lettre zielt dies auf die Kritik am Verfall der<br />

alteuropäischen Briefkultur durch das - im Sinne Gieseckes -<br />

rückkopplungsintensivste Medium: das Internet in Form der<br />

87


elektronischen Post. Demgegenüber aber ist die<br />

Wiederentdeckung der "Kommunikation unter Anwesenden" im<br />

Mittelalter, die face-to-face-Kommunikation, nichts als ein<br />

nostalgischer, medienkulturkritischer Mythos im Zeitalter der<br />

Interfaces. Eine prosopopoietische Illusion wie der Blick der<br />

Nachrichtensprecher in die Kamera, die dort nicht unsere Auge,<br />

nicht unser Gesicht, sondern nichts als den Spiegel ihres<br />

eigenen Antlitzes - oder den Teleprompter - erblicken.<br />

Tatsächlich bedarf Tradition im medienarchäologischen Sinne<br />

einer ganzen Skala von Interfaces, die nach DIN 44300 den<br />

gedachten oder tatsächlichen Übergang an der Grenze zwischen<br />

zwei gleichartigen Funktionseinheiten mit den vereinbarten<br />

Regeln für die Übergaben von Daten oder Signalen bilden:<br />

Es handelt sich im weitesten Sinne um Übergangsstellen, an denen zwei verschiedene Systeme kooperieren,<br />

Daten, Texte, Bilder, Sprache, Nachrichten oder Signale austauschen. In diesem Sinne dienen Schnittstellen<br />

der Kopplung beliebiger Systeme mit durchgängiger Möglichkeit der Übertragung, Weitergabe oder sonstigen<br />

Kooperation unterschiedlicher Systeme, wobei der Begriff sowohl auf Hardware als auch auf Software<br />

angewandt wird. Prinzipiell sind dabei technische Einrichtungen anzupassen . Im übertragenen Sinne gibt es<br />

auch Sch. zwischen dem Menschen und Datenverarbeitungssystemen (Benutzerschnittstellen) und zwischen<br />

unterschiedlichen Organisationen. <br />

Nun kann eine Schnittstelle, je nach medienarchäologischer<br />

oder hermeneutischer Perspektive, als Bruchstelle oder als<br />

Horizontverschmelzung beschrieben werden. Nicht zufällig steht<br />

der Begriff der Tradition im Zentrum von Gadamers Hauptwerk<br />

Wahrheit und Methode 248 - was den Begriff zu einem<br />

geschichtspolitischen macht. Statt der von Gadamer erträumten<br />

"Horizontverschmelzung" zwischen Absender und Adressat achtet<br />

Medienarchäologie auf die Bruchstellen der Überlieferung. Und<br />

die gelingende Horizontverschmelzung wird erst dann erreicht,<br />

wenn aus Sprache Programmiersprache geworden ist - was<br />

Alltagssprache nie zu leisten vermag: "Jedes Gespräch setzt<br />

eine gemeinsame Sprache voraus, oder besser: es bildet eine<br />

gemeinsame Sprache heraus" . Allerdings sei gegenüber der<br />

"wirklichen hermeneutischen Erfahrung, die den Sinn des Textes<br />

versteht", die "Rekonstruktion dessen, was der Verfasser<br />

tatsächlich im Sinne hatte, eine reduzierte Aufgabe" :<br />

Es ist die Verführung des Historismus, in solcher Reduktion die Tugend der Wissenschaftlichkeit zu sehen und<br />

im Verstehen eine Art von Rekonstruktion zu erblicken, die die Entstehung des Textes gleichsam wiederholt. Er<br />

folgt damit dem uns aus der Naturerkenntnis bekannte Erkenntnisideal, wonach wie einen Vorgang erst dann<br />

verstehen, wenn wir ihn künstlich herbeiführen können <br />

- oder wiederholen (das Reversibilitätsparadigma des<br />

Experiments, die Gedächtnistechnik von Aufzeichnungsmedien).<br />

Demgegenüber schreibt Hermeneutik ein verganenes Leben gerade<br />

nicht als lineare Biographie. 249 Es bleibt ein unkalkulierbarer<br />

Rest, ein Rauschen der Kanäle: Auch Gadamer betont, "daß ein<br />

jeder Historiker und Philologe mit der grundsätzlichen<br />

248<br />

Jürgen Kaube, Hermeneutische Aufklärung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 66 v. 19. März 2002, 53<br />

249<br />

Dazu die Dissertation von Jan Hein Hoogstad, Time Tracks, xxx, Einleitung<br />

88


Unabschließbarkeit des Sinnhorizontes rechnen muß" ; so<br />

ist Überlieferung ganz im Sinne der triadischen Semiotik von<br />

Charles Saunders Peirce (und von Umberto Ecos Offenem<br />

Kunstwerk) durch den endlosen Verweis, durch<br />

"Unausschöpfbarkeit" geprägt, die Arbeit<br />

des Interpretanten. Die asketische Reduktion der Lektüre auf<br />

die "historische Frage" ist eine Operation, Widerstände zu<br />

destillieren: "Sie ist das Restprodukt eines<br />

Nichtmehrverstehens, ein Umweg, auf dem man steckenbleibt"<br />

. In der medienarchäologischen "Aufdeckung dieses Umwegs<br />

des Historischen" liegt das mediale We(i)sen<br />

des Historischen selbst; was sonst meint Überlieferung.<br />

Die hermeneutische Unterstellung sucht "die Frage zu<br />

rekonstruieren, auf die das Überlieferte die Antwort wäre"<br />

. In welcher Asymmetrie stehen nun Wissen und Wirkung<br />

"Daß das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein etwas anderes ist<br />

als die Erforschung der Wirkungsgeschichte, die ein Werk hat,<br />

gleichsam der Spur, die ein Werk hinter sich her zieht - daß<br />

es vielmehr ein Bewußtsein des Werkes selbst ist und insofern<br />

selber Wirkung tut", betont Gadamer - hat Kultur ein<br />

eigenes Bewußtsein ihrer Tradition, und ist dieses Bewußtsein<br />

im medialen oder metaphysischen Sinn faßbar Den Gedanken, daß<br />

das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein "gleichsam in die<br />

Wirkung selbst eingelegt" ist und damit so etwas wie<br />

den Vektor der Überlieferung darstellt, teilt Gadamer mit dem<br />

Kulturhistoriker Johan Huizinga.<br />

Wer versucht, der Überlieferung objektiv, also mit kaltem<br />

Blick gegenüberzustehen - schreibt Gadamer in seiner Kritik<br />

der empirischen Methodik und der historisch-asketischen<br />

Quellenkritik -, "der macht sie zum Gegenstand, d. h. aber, er<br />

tritt der Überlieferung frei und unbetroffen gegenüber, und<br />

indem er alle subjektiven Momente im Bezug zur Überlieferung<br />

methodisch ausschaltet, wird er dessen gewiß, was sie enthält"<br />

. Gleichzeitig aber löst sich der wissensarchäologisch<br />

distante, auf Diskontinuitäten setzende Leser damit von dem<br />

"Fortwirken der Tradition , in der er selbst seine<br />

geschichtliche Wirklichkeit hat" . So "zerstört, wer<br />

sich aus dem Lebensverhältnis zur Überlieferung<br />

herausreflektiert, den wahren Sinn dieser Überlieferung" <br />

- eine Kampfansage an den medienarchäologischen, also<br />

distanten Blick.<br />

Update: Erst Speicherung sichert Kultur<br />

Kultur wird von Assmann und Assmann verstanden als "der<br />

historisch veränderliche Zusammenhang von Kommunikation,<br />

89


Gedächtnis und Medien." 250 Erst Speicherung sichert die<br />

Wiederholbarkeit von Kultur und garantiert damit bewußte, d.<br />

h. artifiziell konstruierte Kontinuierbarkeit. Um<br />

reproduzierbar zu sein, bedarf Kultur der medialen Formgebung,<br />

d. h. Standardisierung (das Gegenstück zu Maurice Halbwachs´<br />

Definition von Gedächtnis als gesellschaftlicher Rahmung 251 ):<br />

"Durch Materialisierung auf Datenträgern sichern die Medien<br />

den lebendigen Erinnerungen einen Platz im kulturellen<br />

Gedächtnis" . Speichergedächtnis bedeutet dabei die<br />

gesamte Menge gesammelter Information; Funktionsgedächtnis den<br />

Prozess der tatsächlich aktivierten Auswahl. Neben<br />

Gedächtnismedien ersten Grades (kodifizierte und gespeicherte<br />

Dokumente) treten dabei, um sie zu aktivieren, Medien zweiten<br />

Grades (Monumente), welche den Dokumenten erst soziale<br />

Gedächtnisenergie verleihen.<br />

Friedrich Kittler sieht den wissenschaftsgeschichtlich<br />

bedingten Zerfall der akademischen Disziplinen in zwei<br />

Kulturen unter den Bedingungen rechnender Medien aufgehoben<br />

und konstatiert:<br />

Nur wenn die historisch überlieferten Bestände so formalisiert sind, daß sie auch unter hochtechnischen<br />

Bedingungen überlieferbar bleiben, ergeben sie ein Archiv von Möglichkeiten, das in seiner Vielfalt keinen<br />

minderen Artenschutz als Pflanzen oder Tiere beanspruchen darf. Umgekehrt geraten die technischen<br />

Implementierungen, in denen die ehedem sogenannte Natur kristallisiert, mehr denn je in Gefahr, mit ihrer<br />

Herkunft auch ihre Bewandtnis zu vergessen. Schon jetzt gibt es Unmengen von Daten, die schlicht deshalb<br />

unlesbar sind, weil sich die Computer, die sie geschrieben haben, nicht mehr zum Laufen bringen lassen. Ohne<br />

Gedächtnis und d. h. ohne eine Geschichte, die auch und gerade Maschinen unter Artenschutz stellt, ist die<br />

Erbschaft dieser Zeit also nicht an die kommende weiterzugeben. Daß sich die Stanford University eben<br />

anschickt, die halbvergessenen Privatarchive aller Silicon Valley­Firmen zu sammeln, könnte sehr bald rettend<br />

wirken ­ wo nicht auf Menschenleben, so doch auf Programme, von denen Menschenleben (nicht nur im Airbus)<br />

mehr und mehr abhängen. 252<br />

An die Stelle dauerhafter Gedächtnisse treten Zwischenspeicher<br />

als temporäre Kanäle; statt Wissen eine Fließform:<br />

Gedächtnisorte waren bisher eindeutig bestimmt, hatte eine finale Struktur. Solche Gedächtnisorte werden im<br />

Cyberspace des Internet zu Zwischenspeichern. Das Archiv wird zum Durchlauferhitzer, es ist nicht mehr<br />

Reservoir. Der größte Teil dessen, was im Cyberspace transportiert wird, existiert nur kurzfristig, weshalb es<br />

falsch wäre, die Inhalte dieser Signaltransporte als Wissen zu bezeichnen. 253<br />

"Qu'est-ce que ça s'archive! ces paradoxes de<br />

l'archivation, de ses blancs, de l'efficacité des ses détails<br />

250<br />

Aleida Assmann u. Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten /<br />

Siegfried J. Schmidt / Siegfried Weischenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die<br />

Kommunikationswissenschaft, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1994, 114<br />

251<br />

Maurice Halbwachs, Kollektives und historisches Gedächtnis, in: ders., Das kollektive Gedächtnis,<br />

Frankfurt/M. 1985, 34-77<br />

252<br />

From: Friedrich.Kittler@Desk.nl (Friedrich=Kittler@rz.hu­berlin.de)<br />

3 Feb 1999, to: nettime­l@Desk.nl<br />

Friedrich Kittler, Von der Implementierung des Wissens. Versuch einer Theorie der Hardware<br />

253<br />

Hans Ulrich Reck, Metamorphosen der Archive / Probleme digitaler Erinnerung, in: Götz-Lothar Darsow<br />

(Hg.), Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog)<br />

2000, 195-237 (226)<br />

90


ou de son inapparence, de sa garde capitalisante". 254 Wenn<br />

Kultur eine Funktion ihrer Speicher ist, stellt sich die<br />

Frage, ob das, was sich nicht archiviert, was nicht Eingang in<br />

den (Schrift-)Speicher findet, nicht teil der Kultur ist -<br />

etwa die erotischen Notizen. In Pompeji hat erst die<br />

Archäologie die Graffiti an den Häusern der Prostituierten<br />

zutage gefördert, die im Korpus der kanonisierten Klassiker<br />

nicht vorkommt. Ex negativo, am Rande des Ausschlusses, werden<br />

solche Literaturen mitüberliefert; dasselbe gilt für die<br />

erotischen Minneparodien im Mittelalter. 255 Zum anderen aber<br />

wird mehr überliefert, als es scheint - eine Frage der<br />

Aufmerksamkeit und der selektiven Filter kanonischer Lektüre,<br />

nicht Überlieferung. Worauf die Philologie nicht schaut, ist<br />

literarischer Abfall; man braucht ihn nur aufzulesen.<br />

Adorno und Horkheimer geben Einsicht in die Ambivalenz einer<br />

medialen Bestimmung des Kulturbegriffs (Medienkultur als Frage<br />

nach den Medien der Kultur):<br />

Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur. Der Generalnenner Kultur enthält virtuell bereits die<br />

Erfassung, Katalogisierung, Klassifizierung, welche die Kultur ins Reich der Administration hineinnimmt. Erst<br />

die industrialisierte, die konsequente Subsumption, ist diesem Begriff von Kultur ganz angemessen. 256<br />

Tradition und technische Zensur stehen im Verbund:<br />

Denn nur der universale Sieg des Rhythmus von mechanischer Produktion und Reproduktion verheißt, daß nichts<br />

sich ändert, nichts herauskommt, was nicht paßte. Zusätze zum erprobten Kulturinventar sind zu spekulativ. Die<br />

gefrorenen Formtypen wie Sketch, Kurzgeschichte, Problemfilm, Schlager isnd der normativ gewandte, drohend<br />

oktroyierte Durchschnitt des spätliberalen Geschmacks. Es ist, als hätte eine allgegenwrätige Instanzt das<br />

Material gesichtet und den maßgebenden Katalog der kulturellen Güter aufgestellt, der die lieferbaren erien<br />

bündig aufführt. Die Ideen sind an den Kulturhimmel geschrieben, in dem sie bei Platon schon gewählt, ja<br />

Zahlen selbst, unvermehrbar und unveränderlich beschlossen waren. <br />

Schließlich ist auch die scheinbare übergreifende Idee nichts<br />

als eine "Registraturmappe"; sie stiftet Ordnung, nicht<br />

Zusammenhang. Archiv und Kulturindustrie stehen also im<br />

Bündnis (so das UNESCO-Programm Memory of the World, das im<br />

Wesentlichen ein Register darstellt); am Rande kommt<br />

Kulturwissenschaft damit kritisch ins Spiel.<br />

Die Blindheit und Stummheit der Daten, auf welche der Positivismus die Welt reduziert,geht auf die Sprache<br />

selber über, die sich auf die Registrierung jener Daten beschränkt. sei es, daß der Name der Diva im Studio<br />

nach statistischer Erfahrung kombiniert wird." <br />

Joseph Beuys hat es einmal auf die Formel gebracht: "Name ist<br />

gleich Adresse." Differenzierter dazu Horheimer und Adorno:<br />

"Der Name überhaupt, an den Magie vornehmlich sich knüpft,<br />

unterliegt heute einer chemischen Veränderung" - geschrieben<br />

in Goethes Wahlverwandtschaften (Otto / tot / Ottilie). "Er<br />

verwandelt sich in willkürliche und handhabbare Bezeichnungen,<br />

deren Wirkkraft nun zuwar berechenbar, aber gearde darum<br />

ebenso eigenmächtig ist, wie die des archaischen" .<br />

254<br />

Jacques Derrida, Pour l'amour de Lacan, in: Collège International de Philosophie (Hg.), Lacan avec les<br />

philosophes, Paris 1991, 401<br />

255<br />

Gabi Herchert, "Das Ding täte ich ihr gern viel". Minnesang und erotische Minneparodien im Mittelalter, in:<br />

quadratur. Kulturzeitschrift, 2. Jg., Heft Nr. 2, 14­19<br />

256<br />

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: dies., Dialektik der<br />

Aufklärung [*1944], Frankfurt/M. 1986, 108­150 (118)<br />

91


Buchstäbliche Symbole, an Elektrizität gekoppelt, werden<br />

materialiter nicht mehr als Zeichen, sondern als Signale<br />

übertragen: "Die Signifikation, als einzige Leistung des Worts<br />

von Semantik zugelassen, vollendet sich im Signal" .<br />

Was die akademische Textphilologie lange nicht ertragen<br />

konnte, war die Koexistenz von Hoch- und Volkskultur im<br />

Minnesang, ein "krasser Gegensatz" (Herchert) von<br />

idealisierender und sexueller Minne. Die romantische<br />

Forschung, die aus politischen Gründe ein ideales Bild des<br />

Mittelalters prägte (die Vermittlung des Mittelalters), konnte<br />

diese strukturale Koexistenz nicht ertragen und hat sie daher<br />

verzeitlicht, als Modell einer Reifezeit einerseits und<br />

Verfallszeit andererseits interpretiert. Die Manessische<br />

Handschrift als Liedersammlung entstand um 1300 als<br />

Prunkhandschrift:<br />

Die kostbare Ausstattung macht es unwahrscheinlich, daß sie zum Verbrauch geschrieben wurde, sie diente wohl<br />

eher repräsentativen Zwecken. Daß diese Liedtexte überhaupt so aufwendig schriftlich fixiert wurden, zeigt<br />

Sammelinteresse, d. h. ein Interesse daran, vor dem Untergang zu bewahren. <br />

Genau das ist eine Funktion von Speichermedien: Gedächtnis<br />

gegen Zerstörung zu sichern. Und so beschreibt auch diese<br />

Liedersammlung aus einer meist mündlich tradierenden Zeit den<br />

Rand gegenüber einer ungeheuren Leere: des nicht-Fixierten.<br />

Das Recht auf Überlieferung heißt copyright: „Tradition<br />

besteht nicht aus Relikten, sondern aus Testaten und Legaten“,<br />

beschreibt Hans Blumenberg das Rechtsdispositiv des<br />

Traditionsbegriffs. 257 Eine Absage an der „Materialität der<br />

Kultur“ zugunsten eines Medienbegriffs jenseits der Hardware<br />

Hier schreibt sich noch einmal der Widerstreit zwischen dem<br />

archäologischen, monumentalen und dem historischen,<br />

dokumentarisch-(recht-)urkundlichen Blick - wo die Geschichte<br />

als ein Repositorium von Urkunden betrachtet wird, von denen<br />

die Recht der Regierungen abhängen. Andererseits stammt der<br />

Begriff traditio aus dem römischen Erbrecht und meint dort die<br />

höchst materielle Übergabe einer beweglichen Sache aus einer<br />

Hand in die andere - Besitzverhältnisse. Hier geht es um die<br />

„materielle Identität der Bestandswahrung“ .<br />

Tradition im Sinne „geistiger Überlieferung“ ist also eine<br />

verdeckte Metapher (Walter Magaß), welche die rechtliche<br />

Fundierung dissimuliert. 258 Ein kulturtechnischer Medienbegriff<br />

aber versteht darunter sowohl Technologien wie Institutionen<br />

und regelgeleitete (also kybernetisch angeregte) Praktiken.<br />

Die Weitergabe von Wissen aber ist an Urheberrechte gekoppelt<br />

- das juristische Dispositiv von Tradition als Kapital. Wer<br />

verfügt über dieses Kapital in der digitalen Medienkultur,<br />

also über die mathematischen Algorithmen<br />

257<br />

Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981, 375<br />

258<br />

Walter Magaß, Klassik, Kanon und Lektüre, Bonn 1980<br />

92


Als Goethe im Januar 1825 einer "Hohen" Deutschen "Bundes­Versammlung" den "günstigen Beschluß" sehr<br />

nahelegte, "von seinen Geistesprodukten" "für sich und die Seinigen" "merkantilischen Vorteil ziehen" zu dürfen,<br />

starteten die Buchstaben eine Privatisierung, die mittlerweile bis auf Formeln und Gleichungen übergegriffen<br />

hat. Gentechnologische und damit notwendig computergestützte Verfahren sind patentiert, während der derzeit<br />

schnellste Primzahlalgorithmus ­ im Gegensatz zu vier Jahrtausenden freier Mathematik ­ ein Betriebsgeheimnis<br />

des Pentagon bleibt. Offenbar sind unsere ererbten Begriffe noch lange nicht auf dem Stand heutiger<br />

Hardware. 259<br />

Die Metonymie dieser ererbten Begriffe ist die Tradition im<br />

Schatten technologischer Übertragungsmedien.<br />

259<br />

Friedrich Kittler, Von der Implementierung des Wissens. Versuch einer Theorie der Hardware, zitiert nach:<br />

Friedrich=Kittler@rz.hu­berlin.de) to: nettime­l@Desk.nl, 3. Februar 1999<br />

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