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Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft

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Übertragungstechniken als Diskontinuierung<br />

1948 kritisiert Ernst Robert Curtius den disziplinär<br />

zersplitterten Zustand der akademischen Literaturwissenschaft,<br />

deren Stand er mit dem Eisenbahnsystem von 1850 vergleicht:<br />

"Die Eisenbahn haben wir modernisiert, das System der<br />

Traditionsübermittlung nicht." 1<br />

Die systemtheoretische Übersetzung der kulturellen<br />

Gedächtnissemiotik nimmt wahr, daß sie sich nicht in<br />

geschichtsemphatischen Archivierungsfunktionen erschöpft,<br />

sondern sich in Prüfoperationen, also dem Abgleich von<br />

Traditionen im Licht neuer Information manifestiert, denn das<br />

Archiv ist eine Differenzmaschine, "ein semantischer Rechner"<br />

.<br />

Kultur ist eine unvollständige, ja mißverständliche Übersetzung des Vergangenen, wie Lotman sagt. Unter<br />

dem Deckmantel der Tradierung behindert sie die Übertragung. Denn was sie tradiert, tradiert sie nicht als<br />

Selbstverständliches, sondern, indem sie es tradiert, als schon nicht mehr Selbstverständliches. 2<br />

Womit das Archiv nur scheinbar Kontinuität sichert,<br />

tatsächlich aber auf einem Akt der Diskontinuierung beruht.<br />

Ein jahrhundertelang auf Archivierung fixierter<br />

abendländischer Kulturbegriff wird unter den Bedingung<br />

technisch beschleunigten Datentransfers mit dem Jenseits des<br />

Archivs konfrontiert: Tradition wandelt sich vom Speicher- zum<br />

Übertragungsbegriff. Aus dieser Erkenntnis resultiert eine<br />

Epistemologie der Diskontinuität.<br />

Die Epistemologie der Brüche paßt auf Beschleunigungsphasen in der Geschichte der Wissenschaften, auf<br />

Phasen, in denen das Jahr und sogar der Monat zur Maßeinheit der Veränderung werden. Die Epistemologie der<br />

Kontinuität findet in den Anfängen, im Erwachen eines Wissens seine bevorzugten Gegenstände. 3<br />

Canguilhems Schüler Michel Foucault zog daraus die Konsequenz<br />

für den Begriff der Tradition:<br />

Man muß sich von einem ganzen System von Begriffen befreien, die mit dem Postulat der Kontinuität verbunden<br />

sind. So etwa der Begriff der Tradition, der jede Neuheit in ein System von bleibenden Koordinaten<br />

einordnet und zugleich die Gesamtheit der konstanten Phänomene definiert. So auch der Begriff des Einflusses,<br />

der den Erscheinungen der Überlieferung und der Mitteilung eine eher magische als substantielle Stütze verleiht. 4<br />

Die erst rousseauistische, dann romantische Opposition gegen<br />

die Schrift als Medienkritik führte zur Hypostasierung des<br />

ursprünglichen Dichters (Homer) als Sänger, verkannte damit<br />

aber, daß (so der medienarchäologische Befund Barrys Powells)<br />

1<br />

Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [*Bern 1948], 8. Aufl. Bern / München<br />

(Francke) 1973, 25<br />

2<br />

Dirk Baecker, Wozu Kultur? Berlin (Kadmos) 2000, 155­160 (158). Siehe Jurij M. Lotman / B. A. Uspenskij,<br />

Zum semiotischen Mechanismus der Kultur [1971], in: Semiotica Sovietica, hg. v. Karl Eimermacher, Bd. 2,<br />

Aachen (Rader) 1986, 853­880;, siehe<br />

3<br />

Georges Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, übers. v. Michael Bischoff / Walter Seitter,<br />

hg. v. Wolf Lepenies, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1979, 52<br />

4<br />

Michel Foucault, Zur Archäologie des Wissens [= Réponse au Cercle d´Épistemologie, in: Cahiers pour l<br />

´Analyse Nr. 9: Genéalogie des Sciences, Paris 1968; übers. v. Walter Seitter, Typoskript<br />

1


sich die Modifikation des phönizischen Konsonanten- zum<br />

altgriechischen Vokalalphabet höchstwahrscheinlich dem Wunsch<br />

nach Notation der homerischen Gesänge verdankt. Schriftkritik<br />

geriet damit in Paradoxien: "Die mündliche Poesie wurde in<br />

Büchern gesammelt und also durch die Aufzeichnung gleichzeitig<br />

gerettet und ausgelöscht" - die Ambivalenz<br />

von Tradition und/oder Archiv.<br />

Fritz Heiders Aufsatz von 1921 über "Ding und Medium" 5 kommt<br />

deshalb so vertraut vor, weil ein Teil seiner Argumente an die<br />

Lektüre von Aristoteles´ Text De anima erinnert. Der<br />

aristotelische protomediale Begriff des Dazwischen (to metaxy)<br />

taucht als Denkfigur in späteren Texten auch dann noch auf,<br />

wenn Autoren vergessen haben, worauf sie zurückgehen; erst<br />

Thomas von Aquin übersetzt ihn dann ausdrücklich mit medium.<br />

Gerade dann wird Überlieferung zur Tradition, wenn die Medien<br />

der Übertragung selbstverständlich oder vergessen werden. "Für<br />

die wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen, drängt<br />

sich die Ansicht auf, unser Leben sei die verworrene Antwort<br />

auf Fragen, von denen wir vergessen haben, wo sie gestellt<br />

wurden." 6<br />

Von dem Moment an, wo das Wissen um Kontexte als<br />

hypertextuelles Schreibverfahren technisch implementiert ist,<br />

lösen wir uns aus der Linearität von Schrift. Womit auch der<br />

Begriff der Tradition sich vom historiographischen zum<br />

archivischen Dispositiv ändert: "Das elementare Schema der<br />

Kommunikation wäre nicht mehr `A übermittelt etwas an B´,<br />

sondern `A modifiziert eine Konfiguration, die Ab, B., C, D<br />

usw. gemeinsam ist." 7 Der Unterschied zur räumlichen<br />

Konfiguration des Archivs ist jedoch die Zeitbindung des<br />

Begriffs der Tradition, der auf den ersten Blick mit dem 2.<br />

Hauptsatz der Thermodynamik kongruiert:<br />

Nur da, wo es ein "vorher" und ein "nachher" gibt, kann man von "tradere", von Überliefern sprechen: außerhalb<br />

der Zeit ist Tradition undenkbar. Es scheint allgemein, daß das, was "vorher" gewesen ist, daß die Vergangenheit,<br />

weil sie etwas Totes, endgültig Abgeschlossenes ist ­ etwas Vorhandenes sei, und daß das Unbestimmte,<br />

Unsichere nur in der Zukunft, in dem was noch nicht ist, liegt. Tradition scheint somit die Übergabe dessen, was<br />

abgeschlossen und für jeden vorhanden daliegt. Bei einer näheren Betrachtung sehenwir aber, daß<br />

Vergangenheit ebenso wie Zukufnt nicht als etwas Vorhandenes zu betrachten sind. Das was nicht mehr ist ­<br />

Vergangenheit ­ und das was noch nichtist ­ Zukunft ­ sind zwei Abgrenzungen, Ermessungen, die sich nur unter<br />

Voraussetzung eines Maßstabes erschließen und zwar auf Grund von etwas Bestehendem. 8<br />

Genau im Raum dazwischen siedelt Martin Heidegger in § 74 von<br />

Sein und Zeit den Begriff der Überlieferung an: Sie antwortet<br />

weniger auf vergangene Wirklichkeiten als vielmehr auf<br />

5<br />

In: Symposion, Heft 2 (1921), 109-157; Wiederabdruck (gekürzt) in: Claus Pias / Joseph Vogl / Lorenz Engell et<br />

al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart (DVA) 1999: 319-333<br />

6<br />

Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus – die<br />

Elmauer Rede, in der vom Autor autorisierten Version in: Die Zeit v. 16. September 1999<br />

7<br />

Pierre Lévy über die "Metapher des Hypertext", in: Engell et al. (Hg.) 1999: 529<br />

8<br />

Ernesto Grassi, Politisches und begriffliches Denken in der italienischen Tradition [29. 11. 1938], in: Jahrbuch<br />

1939 der Kaiser­Wilhelm­Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, hg. durch den geschäftsführenden<br />

Vorstand, 109­134 (110f)<br />

2


vergangene Möglichkeiten (parallel zu Leibniz´ „möglichen<br />

Welten“). „Die Anstrengung der Überlieferung richtet sich auf<br />

das, was seine Wirkung nicht ohnehin schon getan hat; genau<br />

dadurch wird sie zum „Widerruf dessen, was im Heute sich als<br />

Vergangenheit auswirkt“. Gerade das Interesse an Tradition<br />

widerstrebt einer bloßen Fortsetzung des Gewesenen als<br />

Wiederholung. 9 „Die Überlieferung liefert uns nicht einem Zwang<br />

des Vergangenen und Unwiderruflichen aus. Überliefern,<br />

délivrer, ist ein Befreien, nämlich in die Freiheit des<br />

Gespräches mit dem Gewesenen.“ 10<br />

Droysen formuliert in seiner Historik die<br />

Überlieferungsabsicht historischer Quellen und spricht vom<br />

"atmosphärischen Prozeß der aufsteigenden und sich<br />

niederschlagenden Dünste, aus denen die Quellen werden" -<br />

Rausch, nahe der thermodynamischen Gastheorie, aus welcher die<br />

Gesetze der Entropie abgeleitet werden. In welchem Verhältnis<br />

stehen dabei kulturelle Tradition und Redundanz?<br />

Ein verschlüsselter Text ohne jede Redundanz gilt als sicherer Übertragungscode. In der<br />

Informationstheorie ist Redundanz derjenige Teil einer Botschaft, der in einem technischen System nicht<br />

übertragen werden muß, ohne daß der Informationsgehalt der Nachricht verringert wird. 11<br />

Gilt das auch für die Relation von Signatur und Dokument in<br />

den nicht-technischen Systemen Archiv und Bibliothek und<br />

Museum, und ist die historische Narration demgegenüber<br />

redundant? „Einmal mehr taucht die Rätselfrage auf, in welchem<br />

Verhältnis bei Medien Programm und Narrativität stehen.“ 12<br />

Das Archiv ist eine reine Differenzmaschine, intern wie<br />

extern. Als Kulturtechnik zieht es, wie andere<br />

Speichertechnologien, seine "eigenen Demarkationslinien im<br />

Verhältnis von Sagbarem und Unsagbarem, Sichtbarem und<br />

Unsichtbarem, Ordnung und Differenzlosigkeit und damit jene<br />

Grenze, die den historsichen Stand eines Wissenszusammenhangs<br />

vom Außen seines Nicht-Wissens trennt." 13<br />

Auch Übertragungstechniken beruhen auf einem technorhetorischen<br />

Dispositiv:<br />

Nicht zufällig hat der Akt, durch den das Subjekt der Geschichte bestimmt und legitimiert wird, den Namen einer<br />

fundierenden rhetorischen Figur getragen als translatio imperii, "Übertragungen", metaphorische Funktionen<br />

spielen hier immer wieder eine wesentliche Rolle. Alexander ergreift seine historische Konzeption in der<br />

Umkehrung des Xerxes­Zuges über den Hellespont. Der Gott des Alten Testaments überträgt seine<br />

Geschichtshoheit durch Vertrag. Je tiefer die Krise der Legitimität reicht, um so ausgeprägter wird der Griff<br />

nach der rhetorischen Metapher. <br />

9<br />

Jürgen Kaube, Einmal Davos und zurück, über eine Tagung zu Heidegger und Cassirer, in: Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung vom 29. September 1999, N5<br />

10<br />

Martin Heidegger, Was ist das - die Philosophie?, Vortrag August 1955 in Cerisy-la-Salle, Pfullingen (Neske)<br />

1956, 9. Aufl. 1988, 8<br />

11<br />

Axel Roch, Mendels Message. Genetik und Informationstheorie, TS 1996<br />

12<br />

Kittler, Drogen xxx, in: xxx, 249<br />

13<br />

Joseph Vogl in seiner Einleitung zum Kapitel "Formationen des Wissens", in: Claus Pias / ders. / Lorenz<br />

Engell u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart<br />

(DVA) 1999, 485­488 (487)<br />

3


Diese Metapher aber wird materiell, wenn die Übersetzung etwa<br />

das italienische traslazione meint, das die Bewegung zwischen<br />

Orten bezeichnet, besonders das Leichenbegräbnis oder die<br />

Umbettung eines Grabs (translatio im Mittelalter, Überführung<br />

der Reliquien eines Heiligen von seinem Grab zu einer<br />

Kultstätte). 14 Plötzlich sitzt die Übersetzung auf einem<br />

materiellen Substrat, einer Spur des Realen.<br />

Tradition ist eine Funktion medialer Überlieferung. So „war<br />

die Traditionsbildung immer auch physisch fixiertes Ergebnis<br />

von Kommunikation“ 15 . Droysen trennt dabei bekanntlich Quellen<br />

und Überreste; letztere „werden nur durch die Art unserer<br />

Benutzung dazu, sie sind an sich und nach ihrer Bestimmung<br />

nicht Quellen“ .<br />

Überlieferungslücken antiker Texte (lacunae) haben ihre<br />

Ursache in willkürlichen und unwillkürlichen, medialen und<br />

hermeneutischen Funktionen. Die codices mutili der Rhetorik<br />

Quintilians etwa sind "nicht nur zufällig verloren" 16 ,<br />

sondern auch eine Taktik nachfolgender Generationen,<br />

Komplexität im Erlernen dieser Texte zu reduzieren. So daß<br />

Schweigen nicht zwangsläufig auf originäre Absenz, sondern<br />

ebenso auf ein bewußtes Verschweigen verweist.<br />

Flussers Kommunikologie zufolge ist die - zumindest -<br />

menschliche Kommunikation "ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit<br />

zum Tode" , ganz im Sinne von Foucaults Definition<br />

von Diskursen als Anreden gegenüber einer ungeheuren Leere,<br />

dem Schweigen (der medienarchäologischen Artefakte).<br />

Läßt sich kulturelle Übertragung in Begriffen der<br />

mathematischen Theorie der Information, als Operation mit<br />

syntaktischen Mitteln und technisch erklären? Demnach handelt<br />

es sich bei Tradition um einen zeitbasierten Prozeß aus den<br />

Komponenten Nachrichtenquelle, Sender, Kanal (mit<br />

Störeinflüssen), Empfänger, Nachrichtensenke. Indem<br />

Information an Signale gebunden ist, muß ihr Fluß durch eine<br />

materielle Kopplung, den Kanal (das eigentlich materielle und<br />

ausdrücklich benannte "Medium" der Nachrichtentheorie<br />

Shannons) übermittelt werden - als räumlicher wie als<br />

zeitlicher Kanal. Wenn der Sender zu einer definierten Zeit<br />

Signale erzeugt, die der Empfänger zu einer anderen Zeit<br />

entnehmen kann, ist der zeitliche Kanal durch<br />

Zwischenspeichereigenschaften definiert, welche sich von<br />

klassischen Archiven und Bibliotheken bis hin zu technischen<br />

14<br />

Nancy Kobrin, Die psychoanalytische Übertragung als historisches Symptom, in: Gumbrecht / Pfeiffer (Hg.),<br />

Materialität, 94-106 (101)<br />

15<br />

Joachim-Felix Leonhard, Medienkultur, Medien und Kultur: Audiovisuelle Dokumente, Kulturerbe und<br />

Gedächtnisbildung im 20. Jahrhundert, in: Kultur und Entwicklung. Zur Umsetzung des Stockholmer<br />

Aktionsplans, Deutsche UNESCO-Kommission xxx, off-print, 129-133 (129)<br />

16 Otto Seel, Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens, Stuttgart (Klett-Cotta) 1977, 256<br />

4


Speichern (Lochkarten, elektromagentische Bänder und digitale<br />

Datenträger) erstrecken.<br />

Menschliche Kommunikation aber stellt eine kompliziertere<br />

Ebene dar, da neben dem Nachrichtentausch Sender und Empfänger<br />

über gemeinsames Kontextwissen verstehen müssen; die Auswahl<br />

aus dem Zeichenvorrat als Maß von Information bemißt sich<br />

danach. Neben die syntaktischen Aspekte in der Kommunikation<br />

zwischen technischen Systemen kommt zwischen Menschen eine<br />

kulturelle Semantik hinzu.<br />

Die Effektivität beim Übertragungsakt liegt in der möglichst<br />

invarianten Umsetzung der Information in Signale (für den<br />

Kanal), unter Toleranz für Abweichungen, etwa in der Einlesung<br />

eines Buchstabens (optical character recognition) die<br />

verschiedenen Schreibweisen einer Letter.<br />

Mit dem Begriff Nachricht aber ist bereits eine<br />

Überlieferungsabsicht unterstellt, deren Ziel der Historiker<br />

ist. Der Begriff der Sendung ist zugleich postalischadressierend<br />

und im nachrichtentechnischen Gegensinn von<br />

Benjamins "historischem Index" zu verstehen; Bilder der<br />

Vergangenheit sind quasi mit einem - allerdings messianischen 17<br />

- Timecode versehen:<br />

The past "carries with it" a temporal index: the date of its emergence and of its expiration. The address of<br />

the past in all its power will have been if it is read by the present that it enables; it it is not, it disappears without a<br />

trace. Benjamin always thought the address of truth in historical (or at least temporal) terms; translatability,<br />

after all, comes about only in time and for a time, and translation is not a mere transcription. 18<br />

Benjamin zufolge zeichnet sich das Original durch seine<br />

Übersetzbarkeit aus; es besteht ein relationales Verhältnis<br />

zwischen Original und Übersetzung - innig, als ob es das<br />

Original seinem Wesen nach die Übersetzung verlange 19 . Wobei<br />

mit Relationsbegriff bei Benjamin gerade nicht ein<br />

interpretatives, sondern relational-formales Verhältnis<br />

zwischen Übersetzung und Original gemeint ist - ein<br />

Verhältnis, das damit auch im Sinne des technischen<br />

Übertragungsbegriffs formalisierbar wäre.<br />

The very notion of a Relationsbegriff is clearly proposed in order to differntiate the communication that occurs in<br />

the essence of language (where language communicates itself and not some signified content) from any act of<br />

signfication or communication effected by an intending consciousness or depending in any way on such a<br />

consciousness. 20<br />

17<br />

"Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen": Walter Benjamin, Theologisch-politisches<br />

Fragment, in: ders., G. S., Bd. II.1, 203<br />

18<br />

Christopher Fynsk, The Claims of History, in: diacritics vol. 22, fall/winter 1992, 115-126 (123ff); siehe Walter<br />

Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V.1, 577f<br />

19<br />

GS 4: 1.10/I 70, zitiert nach: "The Claims of History" Christopher Fynsk looks for references to Heidegger in<br />

Benjamin's text (diacritics vol. 22, fall/winter 1992, 115-126): 118<br />

20<br />

Fynsk 1992: 118, unter Bezug auf Benjamins Essay Der Übersetzer<br />

5


Tatsächlich stammen die Begriffe Sender und Empfänger aus der<br />

epistolarischen Kommunikation. Hier wird - im Unterschied zur<br />

face-to-face-Kommunikation - das Koninuierliche der<br />

gesprochenen Sprache (Gestik und Mimik, Sprechgeschwindigkeit,<br />

Betonung, Stimmhöhe etc.) als Para-Information ausgefiltert<br />

(wenn auch die Handschrift bleibt). 21 Die Kehrseite des<br />

Rauschens sind Signale, die zwar zu empfangen, aber nicht als<br />

Zeichen dekodierbar sind - ein<br />

klassischer Unfall der Hermeneutik. Medienarchäologie rechnet<br />

mit solchen kontextlosen Befunden. Die Speichermedien der<br />

Informationsgesellschaft sollen daher auch über die Option<br />

verfügen, Rauschen, also Unverstandenes vorzuhalten - auf eine<br />

künftige Entzifferung hin, und nicht vorschnell (wie im<br />

philologischen Verfahren der Emendation) gereinigte<br />

Information zu produzieren, indem durch Filter - etwa<br />

Datenkompression von Bildern - rauschfreie Datenmengen erzeugt<br />

werden.<br />

Für das menschliche Kommunikations- und Traditionssystem<br />

reicht die Strukturgleichheit von erzeugter und empfangener<br />

Nachricht als Signalfolge offenbar nicht aus, um dessen<br />

Leistung zu bestimmen. In Analogie zur Molekularbiologie<br />

entwirft Janich folgendes buchstäblich medienarchäologisches<br />

Szenario:<br />

Ein Archäologe findet einen Stein mit eingemeißelten Mustern, von denen er vermutet, sie seien Schriftzeichen.<br />

Er nimmt ­ als eine Art von Codierung ­ einen Gipsabdruck des Steins, um von diesem im Labor ­ als Prozeß der<br />

Decodierung ­ einen weiteren Gipsabdruck zu nehmen und so zu einer Kopie des ursprünglichen Steins zu<br />

kommen. Beim Codierungs­ wie beim Decodierungsprozeß können Störungen (Rauschen) auftreten .<br />

Angenommen, die vermutliche Schrift enthält Punkte, wie sie das Altarabische als Vokalisierung kennt, und die<br />

Störungen der Strukturübertragung bei der Herstellung einer Kopie bringen gerade solche "Punkte" hervor oder<br />

zum Verschwinden. Dann gibt es zwei Beschreibungsebenen solcher Störungen: zum einen die geometrisch<br />

räumliche, durch die im direkten Vergleich von Original und Kopie festgestellt werden kann, worin sie<br />

voneinander abweichen. Eine andere Beschreibungsebene steht dagegen nur dem verständigen Kenner der<br />

vermutlichen Schrift zur Verfügung: nur diese können entscheiden, ob in der Kopie hinzugekommene oder<br />

weggefallene Punkte die Bedeutung es geschriebenen Textes verändern oder nicht. <br />

Bei Flecken auf frühen Photographien war unentscheidbar, ob<br />

sie photochemisch arbiträr oder als Geistererscheinungen zu<br />

interpretieren waren. Janich nennt es "absurd , z. B. aus<br />

der geometrischen Form der Schallplattenrille, die abgespielt<br />

einen philosophischen Vortrag ergibt, die Bedeutung oder gar<br />

Geltung der gesprochenen Worte ableiten zu wollen" -<br />

doch der medienarchäologische Blick (die Ästhetik des<br />

Scanners) sucht genau diese Lesekultur zu erreichen. Der<br />

archäologische Blick läßt Strukturen sehen, nicht Bilder. So<br />

entdeckten amerikanische Forscher an einem versteinerten<br />

urzeitlichen Reptil "längliche Strukturen, die sie als Federn<br />

deuteten". 22<br />

21<br />

Dazu Peter Janich, Die Naturalisierung der Information, Stuttgart (Steiner) 1999, 23-54 (39ff)<br />

22<br />

Matthias Glaubrecht, Frühe Konkurrenz für den Urvogel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22. November<br />

2000, Nr. 272, N2<br />

6


Nicht von ungefähr greift Jules-Étienne Marey zu einer<br />

epigraphischen Metapher, um die Entzifferung der Schrift der<br />

Natur - die er mit seinen physiologischen Meßinstrumenten<br />

(appareils enregistreurs) erst in das Regime der Schrift<br />

zwingt - zu illustrieren:<br />

S´il fallait absolument une métaphore, j´aimerais mieux comparer l´étude des sciences naturelles au travail des<br />

archéologues qui déchiffrent des inscriptions écrites dans une langue inconnue; qui essayent tour à tour plusieurs<br />

sens à chaque signe, s´aidant à la fois des conditions dans lesquelles chaque inscription a été trouvée, et de l<br />

´analogie qu´elle présente avec des inscriptions déjà connues, et n´arrivent enfin qu´en dernier lieu à la<br />

connaissance des principes à l´aide desquels ils enseigneront à d´autres à déchiffrer cette langue. 23<br />

Diesem Schweigen gegenüber steht die Aufzeichnung der<br />

menschlichen Stimmlaute selbst, etwa durch Edouard Léon Scotts<br />

1857 patentierten Phon-Autographen ;<br />

hier schreibt sich die Natur als Stimme, und zwar analog zur<br />

Handschrift, so wie jedes Medium, McLuhan zufolge, ein anderes<br />

Medium zum Objekt hat: "Scotts Meßschreiber aber ließ sehen,<br />

was nur zu hören gewesen war und viel zu rasch für<br />

unbewaffnete Augen: hunderte von Schwingungen pro Sekunde"<br />

. Kittler erinnert an das<br />

experimentalphonetische Vorbild des modernen Pygmalion in<br />

George Bernhard Shaws Drama Pygmalion (1912), Professor<br />

Higgins. "Im modernen Pygmalion werden Spiegel oder Statuen<br />

unnötig; die Tonspeicherung ermöglicht einem jeden, daß er<br />

`seine eigene Stimme oder seinen eignen Vortrag in der Platte<br />

wie in einem Spiegel beobachten kann ´." 24<br />

Kanal / Übertragungswahrscheinlichkeit<br />

Wir treffen auf die unbeschriebenen Blätter im Buch der<br />

Geschichte; weißes Rauschen aber ist ein idealistischer<br />

Zustand, weil es ihn physikalisch nicht gibt. "Das Rauschen<br />

ist eine Störung, die im Kanal auftritt und die physische<br />

Struktur des Signals verändern kann" 25 - dem die Kodierung, d.<br />

h. die Übersetzung als Abstraktion in einen logischen Raum<br />

(Code, Zeichen) zu entrinnen sucht.<br />

Der Prozeß, der die Übertragungen von im Gedächtnis einer Generation enthaltenen Informationen in das<br />

Gedächtnis der nächsten erlaubt, kann als Kernfrage der menschlichen Kommunikation überhaupt angesehen<br />

werden. Beispielsweise werden "Geräusche" ­ d. h. Elemente, die bei der Übertragung in die Botschaft<br />

eindringen, ohne im Repertoire der Codes enthalten zu sein ­ im Fall der "natürlichen" Kommunikation zu<br />

23<br />

Étienne Jules Marey, Du Mouvement dans les Fonctions de la Vie, Paris (Baillière) 1868, 24<br />

24<br />

Kittler 1986: 45, unter Bezug auf: Rudolph Lothar, Die Sprechmaschine. Ein technisch-aesthetischer Versuch,<br />

Leipzig 1924: 48f<br />

25<br />

Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 5. Aufl. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1990, Kapitel „Offenheit, Information,<br />

Kommunikation“, 90-153 (93)<br />

7


sogenannten "Mutationen", während sie im Fall der "kulturellen Kommunikation" dem Kommunikationsprozeß<br />

überhaupt erst seine Berechtigung geben, ihn "fortschrittlich" machen. 26<br />

Stochastik statt Narration: Läßt sich das Modell der<br />

Geschichte durch eines der Übergangswahrscheinlichkeiten<br />

ersetzen? Leibniz spekulierte über die Apokatastasis Panton<br />

als Iterierbarkeit von Buchstabenfolgen; Norbert Wiener<br />

beschreibt die Unberechenbarkeit von Wolkenformationen im<br />

Unterschied zur Erfassung regelmäßiger Planetenumlaufbahnen<br />

. Laplace konnte<br />

davon träumen, die Zukunft vorauszusagen, indem er sich einen<br />

menschlichen Geist dachte, der im Stande wäre, alle<br />

vorhergehenden und alle folgenden Vorgänge und Ursachen zu<br />

übersehen, wie der Astronom die Bewegungen in dem unendlichen<br />

Himmelsraume das Zeitalter der Revolutionen. In der Menschwelt<br />

sah Laplace dieses Ziel aller Wissenschaft mehr und mehr sich<br />

nähern, ohne daß es je gänzlich zu erreichen wäre. Der Wert<br />

von Wissen ist hoch, wenn die Voraussagen, bezogen auf den<br />

Übertragungskanal korrekt sind, im Gegensatz zur Information,<br />

die possibilistisch ist, da die unwahrscheinlichsten Zeichen<br />

den höchsten Informationsgehalt tragen. "Um Mißverständnisse<br />

zu vermeiden sei angemerkt, daß die Voraussage einer<br />

Information natürlich auch eine Information aus der Geschichte<br />

sein kann, wenn wir beispielsweise aus unserem heutigen Wissen<br />

heraus Ereignisse der Frühzeit erklärbar machen." 27<br />

Tradition aber bricht sich am physikalischen<br />

Übertragungswiderstand. "Übertragen ließe sich hier auch von<br />

einer `Mitsprache´ der medialen Materialität von Speicherung,<br />

Übertragung und Intelligenz reden, ja der materiale Widerstand<br />

selbst als Zeitfaktor benennen" - wie schon Aristoteles am<br />

Zeitwiderstand des akustischen Echos das Medium Luft<br />

festmachte. "Am Rauschen der Medien erwächst der Wahrheit ihre<br />

Historizität." 28 Und so scheiden sich für Goethe die zwei<br />

Körper der Tradition:<br />

So sei nun Sprache, Dialekt, Eigentümlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Körper eines jeden geistigen Werks<br />

anzusehen; dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sei jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbnis<br />

ausgesetzt; wie denn überhaupt keine Überlieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben und, wenn sie auch rein<br />

gegeben würde, in der Folge jederzeit vollkommen verständlich sein könnte, jenes wegen Unzulänglichkeit der<br />

Organe, durch welche Überliefert wird, dieses wegen des Unterschiedes der Zeiten, der Orte, besonders aber<br />

wegen der Verschiedheit menschlicher Fähigkeiten und Denkweisen; weshalb denn ja auch die Ausleger sich<br />

niemals vergleichen werden. 29<br />

In diesem Sinne auch Friedrich Schiller:<br />

I. Unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder<br />

sie sind durch kein Zeichen festgehalten worden. <br />

26<br />

Vilém Flusser, Kommunikologie, Frankfurt/M. (Fischer) 1998, 309<br />

27<br />

Walter Umstätter, Die Messung von Wissen, in: nfd 49 (1998), 221-224 (223)<br />

28<br />

Michael Wetzel, Von der Einbildungskraft zur Nachrichtentechnik. Vorüberlegungen zu einer Archäologie der<br />

Medien, in: Mediendämmerung. Zur Archäoplogie der Medien, hg. v. Peter Klier / Jean-Luc Evard, Berlin<br />

(Tiamat) 1989, 16-39 (30)<br />

29<br />

J. W. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Frankfurt/M. 1975, 567<br />

8


II. Nachdem aber auch die Sprache erfunden und durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene Dinge<br />

auszudrücken und weiter mitzuteilen, so geschah diese Mitteilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren<br />

Weg der Sagen. Von Mund zu Mund planzte sich eine solche Begebenheit durch eine lange Folge von<br />

Geschlechtern fort, und da sie durch Media ging, die verändert werden und verändern, so mußte sie diese<br />

Veränderung miterleiden. 30<br />

Ignaz J. Gelb zufolge (A Study of Writing. The Foundations of<br />

Grammatology) wird das Wesen der Schrift durch die Sprache<br />

bestimmt, als Phonetisierung der Zeichen von Piktogramm zum<br />

Alphabet. J. G. Févriers Histoire de l´écriture (Paris 1948)<br />

definiert Schrift als ein Kommunikationssystem mit<br />

wohldefinierten Zeichen zwischen Menschen, als Sendung und<br />

Empfang. Doch<br />

Févriers Definition der Schrift als Kommunikations­, genauer: Übertragungsmedium entspricht historisch und<br />

technisch streng gelesen einer sehr späten Etappe der Schriftentwicklung. Erst Morses Telegraphenalphabet<br />

beruhte auf einem Code, dessen Anwendung auf Senden und Empfangen beschränkt bleiben konnte. Die<br />

Definition übergeht eine der Übertragung bis dahin notwendig vorgängige Funktion: die der Speicherung.<br />

zur Datenspeicherung wird sie vorab durch eine der Sprache fremde Materialität bestimmt. <br />

Epische Überlieferung als Schrift ist eine Kulturtechnik.<br />

Vergils Aeneis tradierte sich vor allem als Schulübung; Reste<br />

der entsprechenden Papyri sind erhalten. 31 Mit der Schrift<br />

beginnt Kultur als Archiv (jene medienarchäologische Achse des<br />

Abendlandes). Von jener arché leitet sich Tradition ab:<br />

Überlieferung ist nicht bloße Weitergabe, sie ist Bewahrung des Anfänglichen, ist Verwahrung neuer<br />

Möglichkeiten der schon gesprochenen Sprache. Diese selbst enthält und schenkt das Ungesprochene. Die<br />

Überlieferung der Sprache wird durch die Sprache selbst vollzogen. 32<br />

Dabei gilt die Trennung von Ereignis und Nachricht:<br />

Nachrichten von Wundern sind nicht Wunder - daher die<br />

Kraftlosigkeit solcher Nachrichten. "Diese, die vor meinen<br />

Augen erfüllten Weissagungen, die vor meinen Augen geschehenen<br />

Wunder, wirken unmittelbar" - also unmediatisiert (es sei denn<br />

durch das Medium der Luft selbst, die Wellen des Lichts).<br />

"Jene aber, die Nachrichten von erfüllten Weissagungen und<br />

Wundern, sollen durch ein Medium wirken, das ihnen alle Kraft<br />

benimmt." 33 Lessing bezieht sich auf die Schriften des<br />

Origines, antiker Kirchenvater. Damit bekommt der Begriff des<br />

"Evangelisten" einen anderen Sinn: mediatisierte Botschaft,<br />

eu-angelein.<br />

30<br />

F. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, in: Werke Bd. II, München<br />

1966, 18<br />

31<br />

Dazu Richard Seider, Beiträge zur Geschichte und Paläographie der antiken Vergilhandschriften, in: Studien<br />

zum antiken Epos, hg. v. Herwig Görgemanns / Ernst A. Schmidt, Meisenheim am Glan (Anton Hain) 1976, 129­<br />

172 (130)<br />

32<br />

Martin Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache [*Vortrag 1962], St. Gallen (Erker) 1989, 27<br />

33<br />

Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: ders., Werke 1774-1778, hg. v. Arno<br />

Schilson, Frankfurt/M. (Dt. Klassiker Verlag) 1989, 437-446<br />

9


Signal oder Rauschen? Informationstheorie der Tradition<br />

Meint Tradition eine Trennung von Signal und Rauschen, dem mit<br />

einem wave filter begegnet wird?<br />

Here, we have a message which has somehow become scrambled with another, unwanted message which we call<br />

noise. The problem of unscrambling these and restoring the original message with as little alteration as possible,<br />

except perhaps for a lag in time , is the problem of filtering. 34<br />

Hercule Poirot, der Detektiv in Agatha Christies Roman Der Tod<br />

auf dem Nil, deklariert in einem Moment seine Methode: Er habe<br />

sie während einer archäologischen Ausgrabung erlernt. Wird ein<br />

Objekt im Boden entdeckt, werden alle störenden Elemente umher<br />

beseitigt:<br />

Man nimmt die lose Erde weg, man kratzt hier und dort mit einem Messer, bis schließlich der Gegenstand<br />

hervorkommt, um ganz für sich gezeichnet und und fotografiert zu werden, ohne daß irgend etwas Umliegendes<br />

die Aufzeichnung verwirrt. das nicht Dazugehörige beiseite zu schaffen, so daß wir nichts als die<br />

nackte Wahrheit sehen können<br />

- das blanke Gegenteil von contextual archaeology. Objekte<br />

werden vom materiellen Rauschen der Überlieferung befreit,<br />

isoliert, geradezu digitalisiert. Doch selbst bei der Wandlung<br />

analoger Signale in binär kodierte Werte entsteht aufgrund der<br />

Nichtexistenz idealer Filter ein Quantisierungsrauschen.<br />

Gegenüber den Materialitäten der Tradition bleibt es letztlich<br />

der je eigenen Einstellung des Historikers überlassen, "ob er<br />

Rauschen als Störung empfindet oder nicht“ 35 . Als<br />

Medienarchäologie wird dieser Fall buchstäblich in der<br />

Diskussion um Rauschverminderung bei der Rekonstruktion<br />

historischer Schallaufnahmen. Hier wird das Rauschen<br />

phänomenologisch zum Geschichtszeichen (bzw. zum<br />

medienhistorischen Index), mit dem Hinweis auf die<br />

Zugehörigkeit des Rauschens zur eigentlichen Klanginformation,<br />

da es zum technischen Standard der Aufnahmezeit gehöre:<br />

Rauschen wird hier also als eine Codierung für Patina verstanden, vergleichbar der des vergilbten, brüchigen<br />

Papiers alter Manuskripte. Nach dieser Auffassung ist es Teil einer komplexen mehrschichtlichen Nachricht,<br />

dessen Entfernung eine Informationsverminderung zur Folge hätte. Auf diese Weise erhält ein Phänomen, das<br />

urprüngliche eine technische Übertragungsstörung war, einen ästhetischen Wert. <br />

So wird aus Rauschen plötzlich historische Information, und<br />

der Prozeß kultureller Überlieferung in Begriffen der<br />

Nachrichtentheorie faßbar.<br />

George Kubler greift in der Tat auf die Terminologie der<br />

Signaltechnik zurück, wenn er kulturelle Tradition beschreibt:<br />

Historische Kenntnis beruht auf Übermittlungen, bei denen Sender, Signal und Empfänger jeweils variable<br />

Elemente sind, die die Stabilität der Botschaft bewirken. Da der Empfänger eines Signals im weiteren Verlauf der<br />

34<br />

Norbert Wiener, Time, Communication, and the Nervous System, in: Annals of the New York Academy of<br />

Sciences, Bd. 50, 1948/50, 197-219 (205)<br />

35<br />

Martha Brech, Rauschen: Zwischen Störung und Information, in: Sanio / Scheib (Hg.) 1995, 99­107 (106<br />

10


historischen Übermittlung dessen Sender wird, können wir Empfänger und Sender beide unter dem Oberbegriff<br />

„Relais“ oder Schaltstation fassen. Jedes Relais ist die Ursache für eine bestimmte Deformation des<br />

ursprünglichen Signals. 36<br />

Dies gilt für die Filiationskette in Kulturen mündlicher wie<br />

schriftlicher Überlieferung entgegen, als Logik der<br />

Traditionsbildung. Lassen wir uns jedoch auf das<br />

nachrichtentheoretische Modell der Beschreibung von Tradition<br />

ein, gelangen wir zu einer Art negativer Memetik. Michel<br />

Serres beschreibt kulturelle Tradition in Begriffen der<br />

memetischen Evolution und der Nachrichtentheorie Shannons<br />

anhand des Begriffs der Parasiten, die in der Tradition am<br />

Werk sind. Traditionsbildung ist negentropisch, also<br />

willkürlich:<br />

Das produktive Gedächtnis, für Hegel das Äquivalent der antiken mnemosyne, hat es überhaupt nur mit Zeichen<br />

zu tun (Enzyklopädie § 458). Dabei ist es wesentlich, daß das Zeichen einer freien, willkürlichen Tat des<br />

setzenden Geistes sein Dasein verdankt. 37<br />

Die abstrakt aufbewahrte Erinnerung bedarf der Zeichenwerdung,<br />

um aus ihrem nächtlichen Schacht aufsteigen zu können; so ist<br />

jede scheinbar äußerlich-apparative Speichertechnik im Akt der<br />

Erinnerung immer schon essentiell - als „Parasit für die wahre<br />

Mnemosyne, die lebendige Quelle aller Inspiration“ 38 .<br />

Serres definiert das spezifisch medienwissenschaftliche<br />

Projekt der Deutung kultureller Überlieferung: „Ein Parasit im<br />

Sinne der Informationstheorie“ - und das betrifft<br />

<strong>Medienwissenschaft</strong> - „vertreibt einen anderen Parasiten im<br />

Sinne der Anthropologie“ . Serres zielt auf<br />

den Parasiten im Sinne der Physik, der Akustik und der<br />

Informatik, im Sinne von Ordnung und Unordnung.<br />

Kommen wir an dieser Stelle auf die These vom postalischen<br />

Dispositiv der Tradition zurück. Auch Leibniz kam 1698 zu der<br />

Erkenntnis, daß die Übersendung von Briefen Zufällen<br />

ausgesetzt ist. Tradition ist als postalische<br />

Nachrichtenübermittlung mithin in einer zeitprozeßbezogenen<br />

Form der mathematischen Informationstheorie faßbar - nicht nur<br />

für den Transport von Information über räumliche, sondern auch<br />

zeitliche Distanz hinweg. 39<br />

Die Evolutionstheorie basiert auf zwei Begriffen: Mutation und Selektion. Es ist mehr als ein Bild, wenn<br />

man sagt, es handele sich um eine Botschaft, die auf einem Träger gespeichert ist. Ein Teil dieser Botschaft<br />

verändert sich durch Mutation, Abwesenheit, Substitution oder Verschiebung von Elementen. Es ist mehr als nur<br />

ein Bild, wenn man sagt, es handele sich um die Einwirkung eines Rauschens auf die Botschaft. Rauschen im<br />

Sinn von Unordnung, also Zufall, aber auch im Sinne von Störung, einer Störung, welche die Ordnung verändert,<br />

und mithin den Sinn . In jedem Falle aber verändert diese Störung die Ordnung. Die Störung ist ein Parasit<br />

36<br />

George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1982,<br />

57f<br />

37<br />

Hermann Schmitz, Hegels Begriff der Erinnerung, in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 9, Bonn (Bouvier)<br />

1964, 37­44 (40)<br />

38<br />

Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, Wien (Passagen) 1986, 64<br />

39<br />

Siehe Martin Fontius, Post und Brief, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der<br />

Kommunikation, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 267-279 (267), unter Bezug auf: E. Vaillé, Histoire générale<br />

des postes françaises, 5 Bde, Paris 1947-1951 (Bd. 1, 1ff)<br />

11


. Die neue Ordnung erscheint durch den Parasiten, der die Nachricht stört. Er verwirrt die glatte Reihe, die<br />

Folge, die Botschaft, und er komponiert eine neue. <br />

Ersetzt die medienwissenschaftliche Nachrichtentheorie die<br />

historiographische Theorie des Archivs? Doch die<br />

Informationstheorie beachtet die semantische Seite der<br />

Nachricht ausdrücklich nicht“, welche auf Seiten der Kultur<br />

steht.<br />

Michel Foucault definiert als Archiv nicht die materielle<br />

Speicheragentur juristischer oder historischer Überlieferung,<br />

sondern die Ebene einer Praxis zwischen der Sprache und dem<br />

Korpus, das die gesprochenen Worte passiv aufnimmt (klassische<br />

Archive oder technische Aufnahmemedien). Zwischen der<br />

Tradition und dem Vergessen läßt seine Wissensarchäologie die<br />

Regeln einer Praxis erscheinen, die den Aussagen gestattet,<br />

fortzubestehen und zugleich sich regelmäßig zu modizifieren.<br />

Für ihn ist das Archiv "das allgemeine System der Formation<br />

und der Transformation der Aussagen" 40 . Läßt sich dieser<br />

diffuse Kanal von Tradition, diese Praxis im Element des<br />

Archivs positiv, konkret: medial benennen? "Das besondere<br />

Kennzeichen aller Kanäle ist, daß sie durchwegs in das Gebiet<br />

der Physik fallen." 41 Alle Tradition ist damit den<br />

Materialitäten verschrieben, in denen kulturelle Kodes<br />

übermittelt (oder verrauscht) werden - das, was an der Reibung<br />

mit Realien als das Reale (Geräusch) entsteht.<br />

Droysen illustriert Wahrscheinlichkeit von Geschichte anhang<br />

der Pigmente der Malerei:<br />

Die Farben, die Pinsel, die Leinwand, welche Raphael brauchte, waren aus Stoffen, die er nicht geschaffen; diese<br />

Materialien zeichnend und malend zu verwenden hatte er von den und den Meistern gelernt ­ aber daß auf<br />

diesen Anlaß, aus diesen materiellen und technischen Bedingungen, auf Grund solcher Ueberlieferungen und<br />

Anschauungen die Sixtina wurde, das ist in der Formel A = a + x das Verdienst des verschwindend kleinen x<br />

Mag immerhin die Statistik zeigen, daß in dem bestimmten Lande so und so viele uneheliche Geburten<br />

vorkommen, mag in jener Formel A = a + x dieß a alle die Momente enthalten, die es `erklären´, daß unter<br />

tausend Mädchen 20, 30 unverheirathet gebären ­ jeder einzelne Fall der Art hat seine Geschichte und wie<br />

oft eine rührende und erschütternde ; in den Gewissensqualen durchweinter Nächte wird sich manche von<br />

ihnen sehr gründlich überzeugen, daß in der Formel A = a + x das verschwindend kleine x von unermeßlicher<br />

Wucht ist. 42<br />

Damit ist das Menschliche am Menschenwerk als statistische<br />

Abweichung definiert. Die Differenz von statistischer<br />

Regelmäßigkeit, historischer Wahrscheinlichkeit und Gesetz<br />

definiert hier Geschichte.<br />

Die großen Werke der Antike sind allesamt überlieferte Werke, das heißt, dass es im Transskriptionsprozess über<br />

die Jahrhunderte hinweg zu einer Unzahl von Ungenauigkeiten und Varianten gekommen ist , aber auch zu<br />

Lücken. Was wäre wohl, wenn statt der zehn Komödien des Aristophanes alle vierzig erhalten<br />

40<br />

Michel Foucault, Das historische Apriori und das Archiv , hier zitiert nach dem<br />

Auszug in: Foucault 1999: 77­84 (82)<br />

41<br />

Hans Titze, Ist Information ein Prinzip?, Meisenheim/Glan (Hain) 1971, 104<br />

42<br />

Johann Gustav Droysen, Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: Historische<br />

Zeitschrift Bd. 9 (München 1863), 1­22 (13f)<br />

12


geblieben wären? Müsste sich unser Bild der Antike ändern oder kann man darauf vertrauen, dass die kopierten<br />

Texte auch ein repräsentatives Bild der Literatur jener Zeit widergeben? 43<br />

Datentransfer über die Zeit geschieht als eine Art Sampling<br />

mit statistisch gleichverteilten Verlusten.<br />

Was wird in Zukunft bleiben von einem Menschen? Heute sind es einzelne, eher zufällige Momentaufnahmen. In<br />

Zukunft wird es bei manchen ein großer Datenberg sein, ein fast kontinuierliches Protokoll, das sie ein Stück<br />

unsterblich macht 44<br />

- Leben von Tag zu Tag, aufgeschrieben als digitales Tagebuch.<br />

Doch läßt sich symbolisches Überleben als Tradition<br />

programmieren?<br />

Schon um das eigene Archiv zu durchforsten, müsste man ja eigentlich zweimal leben. Die elektronische Vita<br />

von Prominenten wird eine Fundgrube für Historiker und Klatschreporter sein. Normalsterbliche hingegen<br />

könnten eher ihre Festplatte mit ins Grab nehmen. Ungelesen. <br />

Tatsächlich kommt das nachrichtentechnische Verhältnis von<br />

Redundanz und Klartext ins Spiel, wenn Foucault von<br />

Diskurskontrolle als "Verknappung diesmal der sprechenden<br />

Subjekte" schreibt. 45 Funktion von Archiven ist nicht Fülle,<br />

sondern Selektion (triage).<br />

Der Prozeß, der die Übertragungen von im Gedächtnis einer Generation enthaltenen Informationen in das<br />

Gedächtnis der nächsten erlaubt, kann als Kernfrage der menschlichen Kommunikation überhaupt angesehen<br />

werden. Beispielsweise werden "Geräusche" ­ d. h. Elemente, die bei der Übertragung in die Botschaft<br />

eindringen, ohne im Repertoire der Codes enthalten zu sein ­ im Fall der "natürlichen" Kommunikation zu<br />

sogenannten "Mutationen", während sie im Fall der "kulturellen Kommunikation" dem Kommunikationsprozeß<br />

überhaupt erst seine Berechtigung geben, ihn "fortschrittlich" machen. <br />

Aber was hat überhaupt die Chance, tradiert zu werden? Bislang<br />

nur das, was registriert, aufgeschrieben wird. Diesem Fakt<br />

widmet sich Foucault im Vorwort zu seiner geplanten Anthologie<br />

über Das Leben der infamen Menschen 46 . Der Rezensent weist<br />

darauf hin, daß erst die Störung Geschichte generiert:<br />

Diese Menschen haben eine tradierbare Präsenz, weil sie der Macht in die Quere kamen. Man weiß von ihnen<br />

überhapt nur, wenn zum Beispiel ihre "Exzesse des Weines und des Geschlechts" höheren Ortes missfielen. Es<br />

gibt Dokumente, in denen aufgezeichnet wurde, was man ihnen zur Last legte. Es gibt an die Macht gerichtete<br />

Texte, von denen nicht minder nichtige Existenzen Hilfe gegen die infamen Menschen zu erreichen hofften. 47<br />

Eine kontingente Existenz war Grund genug, in Foucaults Plan<br />

infamer Menschen aufgenommen zu werden, der gerade kein Buch<br />

der Geschichtswissenschaft schreiben wollte, sondern eine<br />

Skizzierung, die Historiograffiti von Leben, die nur in<br />

wenigen Zeilen oder wenigen Seiten überliefert sind:<br />

biographische Unglücke und Abenteuer, zusammengerafft in einer<br />

handvoll Wörter, auf die er zufällig in Büchern und Dokumenten<br />

43<br />

Moritz Schuller, Der Wille zur Einmischung, in: Der Tagesspiegel Nr. 17692 v. 1. März 2002, B3<br />

44<br />

Christoph Drösser, Leben auf der Platte, in: Die Zeit Nr. 2 vom 3. Januar 2002, 23f (24)<br />

45<br />

Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, in: ders. 1999: 68<br />

46<br />

Aus dem Frz. u. mit e. Nachwort versehen jetzt von Walter Seitter, Berlin (Merve) 2001<br />

47<br />

Franz Schuh, Die Rückkehr der infamen Menschen, in: Die Zeit Nr. 30 v. 19. Juli 2001<br />

13


traf. Die Kontingenzen einer Biographie sind das, was allen<br />

anderen Wahrscheinlichkeiten gegenüber unkalkulierbar ist und<br />

historische Information generiert. Was sendet die<br />

Überlieferung des Archivs als Grab der Signifikanten:<br />

"Botschaft oder Rauschen?" 48 Eine vergangene Wirklichkeit "wird<br />

im Zusammenhang der Zeichen und Zuschreibungen fixiert, deren<br />

`Grammatik´ die Geschichte ist" - auf der<br />

Ebene der symbolischen Ordnung also, dergegenüber nur selten<br />

eine Spur des Realen, als Rauschen oder als Störfall - und sei<br />

es im Stoff der Dokumente selbst - durchschießt. Genau in<br />

diesen Momenten aber wird ein Archiv informativ. Keine grossen<br />

gongschlaghaften Momente des Verstehens also, statt dessen<br />

kleinste zeitkritische Momente, so als ob ein Nervenpunkt<br />

getroffen wird. 49<br />

Paul de Man hatte im Zweiten Weltkrieg französische<br />

Widerstandskämpfer dabei unterstützt, in Belgien eine in<br />

Frankreich verbotene Zeitschrift zu verbreiten. Der Titel<br />

dieser Zeitschrift lautete Exercice du silence - Einübung<br />

(nicht etwa Stimme) der Stille. Nicht das Archiv, sondern ein<br />

technisches Übertragungsmedium spricht den Titel dieser<br />

Zeitschrift: „Das Ohr ganz dicht am Telephon, bin ich dennoch<br />

nicht sicher, richtig gehört zu haben : Exercice du<br />

silence.“ 50 Hier kommt sie zu sich, Derridas Metapher vom<br />

„Meeresrauschen“, in der Telefonmuschel: das Rauschen der<br />

Radiowellen, die nachrichtentechnische signal-to-noise-ratio<br />

aller Überlieferung zwischen Information und Entropie. „Auch<br />

so ein `actually happened´ stellt ja die Tonbandtranskription<br />

der Diskussionseinleitung vor.“ 51 Paul de Man ist also<br />

nicht nur ein Archiv-Fall für Literaturwissenschaft und<br />

Ideologiekritik, sondern auch für Medienarchäologie. Derrida<br />

zitiert sich an dieser Stelle selbst, aus der Transkription,<br />

also aus dem Medienarchiv seines Diskussionsbeitrags in<br />

Tuscaloosa - „eine Quelle, die ich in meine Erzählung<br />

aufnehmen zu sollen glaubte“ ; im französischen<br />

Original: „archive que je crois devoir inclure dans ma<br />

narration". Auf das „tatsächlich ereignet“ in Englisch<br />

angesprochen („actually happened“ 52 ), hat Derrida 1988 in einer<br />

Diskussion dieses Idiom spontan mit „avoir lieu“ (rück-)<br />

übersetzt, dem Ereignis also mnemotechnisch einen Platz<br />

zugewiesen - den Ort des Archivs (im Unterschied zum „actually<br />

happened“, das die historische Erzählung privilegiert, und zum<br />

„ce qui s´est passé effectivement“ als Ereignis). 53<br />

48<br />

Unter dem Titel »Message ou bruit?« hat Michel Foucault 1966 vor Medizinern in Paris vor-diskursive<br />

Körpersignale im Sinne der Nachrichtentheorie gedeutet; dt. in: ders. 1999, 140-144<br />

49<br />

Annette Bitsch, Eail vom 12. Oktober 2000<br />

50<br />

Schlußsatz von Derrida: 1988b (116) ­ sein Telefongespräch mit dem belgischen Schriftsteller Georges<br />

Lambrichs<br />

51<br />

Rüdiger Campe (Essen), Brief v. 13. Juli 1988<br />

52<br />

„We have a lot of work before us if we are to know what actually happened“: So lautet es in der englischen<br />

Übersetzung: „Like the Sound of the Sea Deep within a Shell: Paul de Man´s War“, in: Critical Inquiry 14<br />

(Spring 1988), 590­652 (635)<br />

53<br />

Diskussion des Autors mit Jacques Derrida aus Anlaß seines Seminars „Habermas / Heidegger / Paul de Man“<br />

am Graduiertenkolleg Kommunikationsformen als Lebensformen am Fachbereich 3 der<br />

Universität/Gesamthochschule Siegen, 5.­7. Juli 1988<br />

14


Mais trop tard puisque la transcription circule, toujours le problème de l´archive, archive non maîtrisable, là pas<br />

plus que jamais, à cause de cette technique du recording . Cependant, l´archive légale saturant moins que<br />

jamais le tout de l´archive, celle­ci reste immaîtrisable et continue, en continuité avec l´anarchive . 54<br />

Archive, archäologische Lagen und Überlieferungschancen<br />

Stellen wir dem Gedächtnis kultureller Archiv eine rührige<br />

Variante gegenüber, nämlich die Archäologie dessen, was sie<br />

ausgrenzen. Notierte (schriftfixierte), dann kodierte (mit<br />

Signaturen versehene) Schriftstücke bilden als Archiv nicht<br />

vergangene Wirklichkeiten ab, es sei denn die Logistik von<br />

Verwaltung selbst. Vielmehr bilden sie - gleich Pixeln einer<br />

Bildmenge - die Grundlage für eine narrative Modellierung<br />

namens Geschichtsbild. Hier wird dann eine strikt serielle<br />

Ordnung von Daten in eine plausible Ordnung (Erzählung)<br />

transformiert; die historische Lesart ist dabei eine<br />

künstliche. Im Winter des Jahres 1903 macht der Fürstlich<br />

Pless´sche Archivar Ezechiel Zivier den Vorschlag, ein<br />

Allgemeines Archiv für die Juden Deutschlands zu begründen, um<br />

aus jüdischen Körperschaften „ältere Akten und Dokumente, die<br />

für die laufenden Geschäfte nicht mehr von Belang sind“, also<br />

entkoppelt von Wirklichkeit als Verwaltungsmacht (wie Droysen<br />

in seiner Historik die Transformation von Geschäften in<br />

Geschichte beschreibt), „zur weiteren Aufbewahrung und<br />

Nutzbarmachung für geschichtliche und andere Forschungen<br />

abgeben könnte.“ 55 Eine Inspektion der Dokumentenbestände<br />

süddeutscher jüdischer Gemeinden macht ihm deutlich, daß von<br />

Archiven dort keine Rede sein kann, sondern vielmehr von<br />

Überresten in Speichern. Die Abfassung einer kontinuierlichen<br />

Geschichte ist auf dieser Grundlage nicht möglich; wo die<br />

Kunde hebräischer Schrift verstummt ist, werden die<br />

entsprechenden Schriftstücke ausgesondert. Anders im Fall der<br />

Neuordnung der Hamburger Deutsch-Jüdischen Gemeinde im 19.<br />

Jahrhundert, als sich die konservativen Vertreter davon<br />

scheuen, „dieses Material, das in hebräischer, d. h. in der<br />

heiligen Schrift niedergeschrieben war, zu vernichten oder als<br />

Altpapier zu verkaufen. Man ließ es aber ungeordnet liegen und<br />

konnte auch nicht verhindern, daß einzelne Aktenstücke und<br />

Archivalien verschwanden.“ 56 Einmal aber in Unordnung und<br />

unregistriert, d. h. gedächtnissymbolisch unkodiert, liegt<br />

Ordnung allein in der diskreten Buchstabenfolge, also auf der<br />

wissensarchäologischen Ebene der Schriftstücke selbst. Nicht<br />

Geschichte, sondern ihr Mangel ist die ästhetische<br />

Voraussetzung des Studiums verbliebener Dokumente.<br />

54<br />

Jacques Derrida, Pour l'amour de Lacan, in: Collège International de Philosophie (Hg.), Lacan avec les<br />

philosophes, Paris 1991, 397­420 (400 u. 419)<br />

55<br />

Ezechiel Zivier, Eine archivische Informationsreise, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des<br />

Judentums, 49. Jg. (= N. F. 13. Jg.) 1905, 209-254 (209)<br />

56<br />

Der ehemalige Archivar der Breslauer Synagogengemeinde Bernhard Brilling, Das jüdische Archivwesen in<br />

Deutschland, in: Der Archivar, 13. Jg., Heft 2/3 (1960), Sp. 271-290 (Sp. 285)<br />

15


Auch museale Sammler sammeln gerade das Unwahrscheinliche. Das<br />

Unwahrscheinliche als Überlieferungschance liegt in seiner<br />

Materialität: Die aus Knossos auf uns gekommenen Linear B-<br />

Täfelchen der minoischen Palastkultur um 1200 v. Chr. „sind<br />

zufällig erhalten geblieben, weil im betreffenden Jahr der<br />

Palast und damit das Schreib-Archiv in Flammen aufgingen und<br />

der Ton dadurch gehärtet wurden; die Namen geben also<br />

schlaglichtartig lediglich den Sachstand während eines<br />

einzigen bestimmten Jahres wieder“ .<br />

Ähnliches gilt für das hettitische Palastarchiv der Hauptstadt<br />

Hattusa. Und das antike Karthago war scheinbar ohne Literatur<br />

und Bibliothek; tatsächlich aber sind die zahlreich gefundenen<br />

Tonamulette wohl vielmehr Lehmsiegel ehemaliger Bücherrollen,<br />

die beim Brand Karthagos erhärteten und von den Büchern<br />

blieben.<br />

Erste Finder der Tontafeln von Hattusa haben nicht den genauen<br />

Fundort verzeichnet. Aber aus einer alt-hettitischen<br />

Abfallgrube läßt sich aus Splittern von Tontafeln jetzt<br />

teilweise die genaue Lokalisierung der Dokumente bestimmen,<br />

als sei die Abfalltheorie Michael Thompsons für Archäologen<br />

geschrieben: daß nämlich kulturelle Objekte zunächst eine<br />

Phase als Müll durchlaufen haben müssen, um als Werte<br />

wiederentdeckt zu werden. Dieses Gesetz galt bis zum Internet,<br />

das auf Übertragung, nicht Speicherung angelegt ist.<br />

Geschichte ist immer nur eine Funktion dessen, was uns<br />

überliefert ist; Historie = f(Tradition). Und so wäre die von<br />

Claude Shannon entwickelte mathematische Kalkulation der<br />

Übertragungswahrscheinlichkeit von Signalen als Information<br />

gegen potnetielle Verrauschung vom Raum (medialer Kanal) auf<br />

die Zeit ("Tradition", Überlieferung) zu übertragen und<br />

zeitbasiert (entropisch) zu berechnen. Die<br />

Überlieferungschancen von Daten läßt sich zählen:<br />

Schätzungsweise sind nicht einmal 0,001 % aller Urkunden der<br />

Merowinger-Zeit überliefert. 57 Mit Nachrichtentheorie wäre dort<br />

weiterzudenken, wo Geschichte aussetzt. Was aber, wenn der<br />

Historiker selbst der Auslesende ist, also der<br />

Überlieferungsbildner? Bei der Auswahl in der Aufbewahrung<br />

massenhafter einförmiger Akten ist sampling denkbar:<br />

ob in Form von `Specimina´, `typischen´ Akten, `repräsentativen´ Serien, oder aber in ganz mechanischer<br />

Auswahl, etwa: aus den massenhaften Akten einer Stadtverwaltung, z. B. bei den (alphabetisch nach<br />

Familiennamen geordneten) Registraturen der Sozialverwaltung nur die Akten des Anfangsbuchstabens H<br />

aufzubewahren. Solch mechanischer Zensus würde die künftige Forschung am wenigsten determinieren, ist<br />

gewissermaßen künstlich herbeigeführter Überlieferungszufall. Die Frage, wie verhältnismäßig<br />

Überlieferung sein müßte, läßt sich hier gewissermaßen experimentell durchspielen ­ aber tun wir es lieber nicht,<br />

es könnte uns um den Verstand bringen. 58<br />

57<br />

Eberhard Holtz, Überlieferungs- und Verlustquoten spätmittelalterlicher Herrscherurkunden, in: Olaf B. Rader<br />

(Hg.), Turbata per aequora mundi. Dankesgabe an Eckhard Müllers-Mertens, Hannover (Hahn) 2001, 67-80 (67)<br />

58<br />

Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in:<br />

Historische Zeitschrift 240 (1985), 529-570 (567), unter Bezug auf: Hugo Stehkämper, Die massenhaften<br />

16


Aber mathematische Statistik behält hier kühlen Kopf, wenn<br />

Medienarchäologie an die Stelle von Historie tritt. Claude<br />

Shannon spielt Discrete Noiseless Systems am Beispiel von<br />

Buchstabenfolgen durch . An dieser<br />

Stelle kommt die mediensemiotische Differenz von Tradition als<br />

Übertragung und Übersetzung ins Spiel: bei der Übersetzung<br />

arabischer Texte zu Mathematik und Geometrie (selbst meist<br />

Übersetzung aus dem Griechischen, aus Syrien) ins Lateinische.<br />

„The literary defects of a literal translation are obvious,<br />

but if an interpretative translator does not understand the<br />

text, or does not understand it fully, the result can be<br />

worse.“ 59 Bei literarischen Texten herrscht hier eine große<br />

Fehlertoleranz, bei mathematischen Symbolen nicht, wie in der<br />

Welt der Programmierung: ein bug zerstört gleich den ganzen<br />

Sinn. Al-Kindi insistiert daher darauf, bei Überstzung aus dem<br />

Griechischen die Ordnung der Worte beizubehalten, selbst auf<br />

Kosten des Stils. „Even in the case of unambiguous translation<br />

there are problems. One is the existence of revisions,<br />

sometimes by the translator himself“ . Die<br />

Transformationsregeln solcher Übersetzungsverluste lassen sich<br />

formalisieren, ebenso wie sich Daten, wenn sie nicht als<br />

Signal an die Nachwelt gedacht und gesendet wurden, als<br />

unabsichtliche Überlieferung ebenfalls nachrichtentheoretisch<br />

berechnen lassen. „Information in der Kommunikationstheorie<br />

bezieht sich nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern<br />

mehr auf das, was gesagt werden könnte“ 60 - anders als die<br />

Diskurstheorie, die vom tatsächlich Gesagten (Foucault)<br />

ausgeht. Mithin aber lauert hier das Phantom der allegorischen<br />

Lesart des verborgenen Schriftsinns: Historiker lauschen den<br />

Geschäften einer vergangenen Gegenwart Information ab, die<br />

nicht intendiert, aber ausgesagt war. Der Empfänger führt in<br />

der Signalkette normalerweise den entgegengesetzten<br />

Arbeitsgang des Senders durch, indem er die Nachricht wieder<br />

aus dem Signal rekonstruiert. 61 Indem nun die Gegenwart sich<br />

nachträglich (und in einem Akt hermeneutischer<br />

Selbstermächtigung) an die Stelle des Nachrichtenziels setzt,<br />

liegt eine Bestimmung, eine Destination zweiter Ordnung vor;<br />

mithin muß die Nachrichtentheorie somit für die Übermittlung<br />

von Vorgängen über den Zwischenspeicher der Zeit reformuliert<br />

werden.<br />

gleichförmigen Einzelsachakten in einer heutigen Großstadtverwaltung. Dargestellt am Beispiel Kölns, in:<br />

Archivalische Zeitschrift Bd. 61 (1965), 98-127 (100f)<br />

59<br />

Richard Lorch, Greek-Arabis-Latin: The Transmission of Mathematical Texts in the Middle Ages, in: Max-<br />

Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 82 (International Workshop: Experience and Knowledge<br />

Structures in Arabic and Latin Sciences, Berlin, Dezember 1996), 3-6 (5)<br />

60<br />

Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Claude E. shannon<br />

/ ders., Mathematische Grundlagen der Informationstheorie [1949], übers. v. Helmut Dreßler, München<br />

(Oldenbourg) 1976, 11-40 (18)<br />

61<br />

Claude E. Shannon, Die mathematische Theorie der Kommunikation, in: ders. / Warren Weaver 1976: 41-143<br />

(44)<br />

17


Überlieferungschance und -zufall eines Datums unterliegen<br />

Wahrscheinlichkeiten, die von der Nachrichtentheorie auf<br />

berechenbare Maße gestellt wird. Arnold Esch untersucht die<br />

Überlieferungs-Massen (Notariats-Urkunden) im Archiv von Lucca<br />

unter dem Gesichtspunkt der Maßstäbe unserer historischen<br />

Erkenntnis - „seltsame Umverteilung der Wirklichkeit durch die<br />

Überlieferung!“; demgegenüber hat das ägyptische Wüstenklima<br />

die antiken Papyri von Fayum (Überreste im Sinne Droysens,<br />

ohne Überlieferungsabsicht) Schriftliches ohne Ansehen der<br />

Bedeutung überdauern lassen . Hier sind<br />

wir mit einer Physik der kulturellen Tradition konfrontiert.<br />

Bekanntlich trennt Gustav Droysen Quellen und Überreste;<br />

letztere „werden nur durch die Art unserer Benutzung zu<br />

Quellen, sind es aber „an sich und nach ihrer Bestimmung<br />

nicht“ . Droysen faßt die nachträgliche<br />

Modellbildung von Datenfluß als Signalmengen durch den<br />

Historiker avant la lettre in Begriffen der Nachrichten- und<br />

Medientheorie, als vektorgraphische Umgruppierung:<br />

Und als Geschäft in dem breiten und tausendfach bedingten und bedingenden Nebeneinander der<br />

Gegenwart vollziehen sich Dinge, die wir nachmals nach ihrem Nacheinander als Geschichte auffassen, ­ also in<br />

ganz anderer Richtung auffassen, als die war, in der sie sich vollzogen, und die sie in dem Wollen und Tun derer<br />

hatten, durch welche sie sich vollzogen. So daß es nicht paradox ist zu fragen, wie aus den Geschäften<br />

Geschichte wird, und was mit dieser Übertragung gleichsam in ein anderes Medium teils hinzugetan wird,<br />

teils verlorengeht. <br />

Friedrich Jodl insistiert in seinem Aufsatz Der Begriff des<br />

Zufalls 1904, „nicht der feinste Beobachter, nicht der<br />

scharfsinnigste Rechner, aus den Antezedenzien eines Wurfes<br />

abzuleiten vermag, wie der Würfel fallen muß“ 62 - ein<br />

stochastischer Prozeß. Läßt sich aus der Buchstabenmenge von<br />

Archiven ein getreues Abbild der Historie erwürfeln?<br />

Wenn man alle denkbaren Memoires, Verhandlungen und Korrespondenzen der Napoleonischen Zeit<br />

zusammenstellte, so würde man noch nicht einmal ein photographisch richtiges Bild der Zeiten haben, in den<br />

Archiven liegt nicht etwa die Geschichte, sondern es liegen da die laufende Staats­ und Verwaltungsgeschäfte in<br />

ihrer ganzen unerquicklichen Breite, die sowenig Geschichte sind, wie die vielen Farbenkleckse auf einer Palette<br />

ein Gemälde. 63<br />

Doch längst gelten auch Farbenkleckse als Malerei - eine Frage<br />

der signal-to-noise-ratio, ihrerseits abhängig von der<br />

ästhetischen Perspektive einer gegebenen Epoche. Die<br />

statistische Moderne sieht dies anders als der historistische<br />

Blick Droysens, und auch Tintenkleckse wurden von Dichtern in<br />

den Rang poetischer Aufschreibesysteme erhoben .<br />

62<br />

Friedrich Jodl, Der Begriff des Zufalls. Seine theoretische und praktische Bedeutung [1904], in: ders., Zur<br />

neueren Philosophie und Seelenkunde. Aufsätze, ausgew. u. hg. v. Wilhelm Börner, Stuttgart / Berlin (Cotta)<br />

1917, 3-13 (12)<br />

63<br />

Johann Gustav Droysen, Historik: historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart / Bad-Cannstadt<br />

(frommann-holzboog) 1977, 11 (= Historik. Die Vorlesungen von 1857)<br />

18


Ein System, das eine Folge von Symbolen hervorbringt, die<br />

einer gewissen Wahrscheinlichkeit entsprechen, heißt<br />

stochastischer Prozeß. Der Unterschied zwischen der Rolle von<br />

Buchstaben in Bibliotheksordnungen und in der Literatur ist<br />

der zwischen stochastischem Prozeß und seinem Sonderfall, bei<br />

dem die Wahrscheinlichkeit einer Letternfolge von<br />

vorhergehenden statistischen oder semantischen Ereignissen<br />

abhängt (Markov-Ketten). 64 Hier kommt die Rolle der Bibliothek<br />

als negentropischer Katechont gegenüber dem Tanz der<br />

Signifikanten ins Spiel. Markov der Ältere wandte seine<br />

Mathematik analytisch auf die Literatur von Puschkin an und<br />

hat sich in eine Auseinandersetzung mit theologisch<br />

eingestellten Mathematikern über die Frage verstrickt, ob auch<br />

Authenzität und Zeugenschaft mit Methoden der<br />

Wahrscheinlichkeit zu<br />

erbringen ist sei. 65<br />

Der Diskurs des Nationalen ist nicht im Realen, sondern im<br />

Symbolischen, dem Schriftarchiv der Sagbarkeit, verankert. Die<br />

Sammlung deutscher Drucke 1450 bis 1912 sucht einen Ausgleich<br />

zu schaffen für das Fehlen einer historisch gewachsenen<br />

Nationalbibliothek zu schaffen - um den Preis allerdings, daß<br />

sich die digitale Verzeichnung von der Realität des gedruckten<br />

Textes löst. 66 Nach dieser Loslösung stellt die Frage, "ob<br />

unsere Buchkultur eine permanente Kultur bleiben wird"; nach<br />

dem von Roland Barthes verkündeten "Tod des Autors" wird - in<br />

Kopplung an den Medienwechsel zur elektronischen Schrift -<br />

"auch das Buch als distinkte und fixierte Texteinheit in Frage<br />

gestellt. Antithetisch tritt dem gedruckten der elektronische<br />

Text gegenüber, auf Fluidität und Veränderbarkeit angelegt"<br />

. Stellt die Bibliothek demgegenüber einen<br />

Ort der Remanenz dar, wie das Museum gegenüber dem Streaming<br />

elektronischer Bilder? "Wo die Gesellschaft sich verändert<br />

, muß der Staat die Ordnungen fixieren, in denen sie<br />

fortbestehen kann" . Längst aber fixiert nicht mehr der<br />

Staat, sondern der Stand der Medientechnologien diese Ordnung<br />

des Sagbaren von Kultur. Daraus ergibt sich die Option eines<br />

medienarchäologischen, nicht länger historisch-narrativen<br />

Modells von kultureller Tradition als Übertragung: Es gibt<br />

diskrete Zustände kleinster Informationseinheiten, deren<br />

Wahrscheinlichkeit aber in Kenntnis der vorherigen Zustände<br />

gefaßt werden kann, im Unterschied zu kontingenten<br />

Ereignissen.<br />

Stochastische Prozesse liegen der Mechanik kultureller<br />

Tradition zugrunde. Gedächtnis wird hier im Wortsinn zur<br />

Metapher:<br />

64<br />

Siehe Leonard B. Meyer, Meaning in Music and Information Theory, in: Journal of Aesthetics and Art<br />

Criticism, Juni 1957, zitiert in: Eco 1990: 143f. Ebenso definiert in: Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur<br />

mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Shannon / ders. 1976: 11­40 (21)<br />

65<br />

Information Philipp v. Hilgers, 11. Februar 2002<br />

66<br />

Bernhard Fabian, Der Staat als Sammler des nationalen Schrifttums, in: ders. (Hg.), Buchhandel - Bibliothek -<br />

Nationalbibliothek, Wiesbaden (Harrassowitz) 1997, 21-52 (39 u. 44)<br />

19


Die Theorie gilt auch für sehr komplizierte Sender und Empfänger, z. B. solche mit „Gedächtnis“, so daß die Art,<br />

wie ein bestimmtes Nachrichtenzeichen codiert wird, nicht nur von dem Zeichen selbst abhängt, sondern auch<br />

von den vorhergegangenen Nachrichtenzeichen und davon, wie diese codiert worden sind. 67<br />

Ist "Geschichte" damit eine idealisierende, narrative,<br />

ordnungs- und sinnstiftende Fehlbezeichnung stochastischer<br />

Prozesse? "So fehlen häufig Übergangsformen, Brüche und<br />

Bifurkationen scheinen ziemlich plötzlich zu geschehen" 68 , wie<br />

auch in der Katastrophentheorie René Thoms dargelegt. Scheiden<br />

sich hier Natur- und Geisteswissenschaften?<br />

Auf einem solchem Modell hätte ein Begriff zeitlicher Dynamik<br />

zu bauen, der nicht mehr historisch ist, sondern Niklas<br />

Luhmanns Selektionsmodell auf die zeitliche Erstreckung<br />

(Tradition) faltet. Ihm zufolge erzwingt Komplexität die<br />

Notwendigkeit zur Selektion - zugleich als Chance zur Freiheit<br />

der Auswahl, der ("kritischen") Ent-scheidung. Eine Markov-<br />

Kette:<br />

Die Stabilität (= Erwartbarkeit) von Handlungen bestimmter Art ist somit Resultat eines kombinatorischen<br />

Spiels, eines mixed­motive game. Evolution filtert das heraus, was sowohl psychisch als auch sozial akzeptabel<br />

ist . Man stelle sich nur vor, ein "Bauherr" von 1883 würde heute versuchen, ein Haus zu bauen: Es würden<br />

ihm fast alle Anschlüsse für seine Erwartungen fehlen, nicht nur im technischen, sondern gerade im sozialen<br />

Bereich. <br />

Was kulturell tradiert wird, erhebt nicht den flächendeckenden<br />

Anspruch auf Repräsentativität. Tradition als systematische<br />

Auswahl erweist sich, medienarchäologisch nüchtern betrachtet,<br />

als eine Serie gestreuter Archiv- und Bibliothekbefunde, und<br />

deren Einspielung geschieht im Vertrauen darauf, daß auch<br />

partikulares Wissen in seiner Zufälligkeit, also auch das<br />

Kontingente ein Wissen um epistemologische Verhältnisse hat<br />

und verrät. Prähistorie muß in diesem Sinne<br />

medienarchäologisch, nämlich von den Übertragungsmedien ihrer<br />

Signifikanten her begriffen werden, die jedes Signifikat erst<br />

konstituieren und dabei immer schon verschieben. Die<br />

kartographische Feststellung der Verteilung von Funden auf<br />

verschiedene Nationen sagt nichts vorweg über deren<br />

Nationalität; Überlieferung von Daten ist eine Funktion von<br />

Kommunikation, Transport und Verkehr:<br />

Gemeinsame Alterthümer müssen in bewegliche und unbewegliche getheilt werden. Die transportablen<br />

Alterthümerunterliegen immerhin ohne Weiteres der Möglichkeit, als Handelsartikel, Tauschmittel oder<br />

Kriegsbeute in die Hände wilder Völker gerathen zu sein, wie denn die ganze Indianerwelt heutzutage mit<br />

englischen und französischen Stahl­ und Feuergewehren versehen ist. Was aber die unbeweglichen Monumente<br />

anbelangt, so glauben wir, diese Alterthümer könnten dem ursprünglichen, noch reinerhaltenen Geschlechte<br />

angehören. <br />

Für die Archive der Historie gilt ebenso wie für die der<br />

prähistorischen Archäologie:<br />

67<br />

Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Shannon / ders.<br />

1976: 11­40 (27)<br />

68<br />

Rötzer 1998: 129, unter Bezug auf Stephen Hay Gould, Zufall Mensch, München 1991<br />

20


Der Vor­ und Frühhistoriker, dem sich das Problem eher in einer Gemengelage von Überlieferungs­Chance und<br />

Fund­Chance darbietet, wird sich angesichts einer Fundkarte von Gräberfeldern immer fragen, ob ein<br />

weittragender Streifen von Gräbern gleichen Typs nun wirklich einen (sagen wir:) alemannischen<br />

Siedlungskorridor abbilde, oder ob er nicht einzig der Tatsache verdankt wird, daß der Bau einer Autobahnlinie<br />

hier, und vorerst nur hier, Gräber zutage förderte ­ ob der kartierte Streifen also Völkerwanderung abbilde oder<br />

nur den massierten Zufall von Fundumständen. <br />

Ob Autobahnbau oder die Furchungen der Ackerbauern: Die<br />

Dynamik von Infrastruktur wird hier selbst zum archäologischen<br />

Suchschnitt, jenseits humanistischer Hermeneutik - eine<br />

Archäologie des kulturellen Unbewußten als genitivus<br />

subiectivus und obiectivus. So auch am 2. November 1993 im<br />

griechischen Theben, als bei der Verlegung von<br />

Wasserleitungsröhren im Stadtzentrum ein ganzer Komplex von<br />

Linear B-Täfelchen gefunden wurde <br />

und einen neuen Blick auf die mykenische Kultur ermöglichte,<br />

weil die flüchtigen Tontafeln nach einem Brand im Palast-<br />

Archiv der Kadmeia gehärtet wurden und damit aus<br />

kommunikativer Software Hardware wurde. Nicht nur<br />

Archivöffnungen, sondern auch archäologische Funde triggern<br />

die Memoria von Geschichte. Die neuentdeckten Linear B-<br />

Täfelchen nämlich bestätigen nicht nur die geographischen<br />

Namen im sogenannten Schiffskatalog der Ilias Homers, sondern<br />

erklären zugleich, weshalb derselbe mit Theben einsetzt: Um<br />

1200 (auf diese Zeit läßt sich der Fund datieren) ist Theben<br />

der Sitz des Herrschers von Ahhijawa. Kadmos, der Bruder von<br />

Europé, hat den Griechen angeblich die Schrift übermittelt:<br />

das archaische Griechenland hat ein präzises Gedächtnis daran,<br />

daß im Zentrum der mykenischen Macht einmal mit Schrift<br />

operiert wurde. Nichts anderes sagt der Fund vom November<br />

1993, als daß die Signifikanten insistieren, allerdings im<br />

Unbewußten von Linear B gegenüber dem Leuchten des späteren<br />

Vokalalphabets.<br />

Er wird sich auch fragen, inwieweit beigabenlose Gräber (und noch fataler:<br />

Gräber aus beigabenloser Zeit!) nicht prinzipiell unterdokumentiert sind einfach deshalb, weil sie bei<br />

Aufdeckung die geringere Chance haben, erkannt, gemeldet und damit von der Wissenschaft registriert zu<br />

werden. <br />

Denn das Gedädchtnis des Realen differiert eklatant von dem<br />

des Symbolischen (also des Aufgezeichneten). Die<br />

Maßstäblichkeit dessen zu erkennen, was die Kanäle der<br />

Überlieferung sortieren, „und das heißt: die auslesende<br />

Überlieferung zu entzerren“, ist nicht nur eine Frage von<br />

Vergangenheit, sondern der Nachrichtenlagen schon jeder<br />

Gegenwart (Zeitungen etwa: „Was aber mag dann das Maß dieser<br />

Wahrheit sein?“); es gilt also, das (aus der Geographie<br />

vertraute) Verzerrungsgitter zu zeichnen . Genau<br />

an dieser Stelle, an der Eschs Fragestellung mit dem<br />

Schlußsatz aussetzt („Lassen wir uns nicht entmutigen, in das<br />

21


Dunkel hineinzufragen“) 69 , setzt die mathematische<br />

Informationstheorie (und der Historiker als semantic receiver)<br />

ein und fragt: „How does noise affect information? after<br />

the signal is received there remains some undesirable (noise)<br />

uncertainty about what the message was“? 70 Die Differenz von<br />

Nachrichtenpraxis und historischer Forschung liegt darin, daß<br />

der Historiker gegebene Daten als Botschaft einer Vor- an die<br />

Nachwelt lediglich als Modell unterstellt, „und wenn der<br />

Empfänger die Zeichen entschlüsselt, kann es ihm schließlich<br />

egal sein, welche Nachricht ursprünglich gesendet wurde“<br />

. Bedeutungsverschiebungen: „Somit gleichen<br />

Quellen in Bezug auf die von ihnen repräsentierten Handlungen<br />

Telegrammen, die auf dem Übermittlungsweg gestört wurden“<br />

wie die notorische Emser Depesche,<br />

deren Lesart durch Bismarck 1870 einen Krieg auslöste. Solche<br />

Nachrichtenverarbeitung gilt auch auf neurologischer Ebene:<br />

"Ebenso nimmt das ganze Organ des Bewusstseins die Nachrichten<br />

entgegen, die zunächst in dem sensorischen Sprachcentrum <br />

gleichsam der Empfangsstation der acustischen Depeschen<br />

anlangen" . Die Syntax der Sprache vermag<br />

selbst bei gänzlicher Zerstörung der Begriffsregionen und<br />

einem hieraus resultierende „tiefste thierische<br />

Blödsinn“ vollständig erhalten zu bleiben, und auch hier kommt<br />

es wieder zu einer Formulierung, welche Nachrichtentechnik<br />

modelliert: „Der Telegraphenapparat ist in Ordnung, nur das<br />

aufgebene Telegramm ist unsinnig“ .<br />

Präzisieren wir diese Metaphorik:<br />

We may assume the reveived signal E to be a function of the transmitted signal S and a second variable, the noise<br />

N. The noise is considered to be a chance variable just as the message . In general it may be<br />

represented by a suitable stochastic process 71 ;<br />

mithin läßt sich das, was Esch hermeneutisch<br />

(kulturgESCHichtlich) als Überlieferungs-Chance zu fassen<br />

sucht, mathematisch so formulieren: E = f(S, N). Ergänzen wir<br />

die temporale Dimension, welche dem medialen Kanal zur Seite<br />

steht, als Oxymoron des stummen Geräuschs: E = f(S, N, t).<br />

Zeit ist jene diachrone Dimension, mit der ein semiotisches<br />

Nachrichtenübertragungsmodell Schwierigkeiten hat; „Semiologie<br />

kann also Veränderung nicht von Geräusch unterscheiden“<br />

. Ein Kanal muß so beschaffen sein, daß<br />

durch Einwirkung des Sender S auf den Kanaleingang Signale<br />

erzeugt werden können, die im Kanalausgang vom Empfänger E<br />

gemessen bzw. beobachtet werden können.<br />

69<br />

Siehe auch Esch 1999: 134; dort weist er auf „das Problem, ob historische Überlieferung frühere Wirklichkeit<br />

maßstäblich abbildet oder aber verzerrt“ und „die schwer berechenbaren Verluste“ - eine eher stochastisch denn<br />

ontologisch beantwortbare Frage.<br />

70<br />

Warren Weaver, Recent Contributions to the Mathematical Theory of Communication [1949], in: Claude E.<br />

Shannon / ders., The mathematical theory of communication, Urbana, Ill. (University of Illinois Press), 1963, 1-<br />

28 (18, 21)<br />

71<br />

Claude E. Shannon, The Mathematical Theory of Communication [1948], in: ders. / Warren Weaver 1963: 29-<br />

125 (65)<br />

22


Dieser Typ dient der Übertragung von Signalen von einem Ort zu einem anderen (räumlicher Kanal) .<br />

Man spricht jedoch auch dann von einem Kanal, wenn es möglich ist, durch S zur Zeit t 1 im Kanal Signale zu<br />

erzeugen und durch E zur Zeit t 2 aus dem Kanal zu entnehmen (zeitlicher Kanal, → Speicher → Gedächtnis). In<br />

diesem Sinne sind auch Bücher, Tonbänder usw. "Kanäle". Treffen die angegebenen möglichen Bedingungen<br />

beide zu, so spricht man von einem raumzeitlichen Kanal. Mathematisch ist ein Kanal dann festgelegt, wenn eine<br />

statistische Verteilung für S und E gegebene ist, und wenn außerdem für jedes Paar die<br />

Wahrscheinlichkeit p dafür festgelegt ist, mit der ein ausgesandtes Signal empfangen wird. 72<br />

Von daher lassen sich Verzerrungen in der Überlieferung<br />

archäologischer Objekte an den Stellen ihrer medialen Kanäle,<br />

mithin den stochastischen Streuungen des Marktes und den<br />

Zwischenspeichern Museen ausmachen; nicht die Normalserie,<br />

sondern das Abweichende wird registriert:<br />

Die irrtümliche Ansicht nordischer Alterthumsforscher, als seien die Geräthe und Waffen von Stein in<br />

Süddeutschland, namentlich den Rheingegenden seltener, beruht wahrscheinlich auf dem Umstande, dass in den<br />

Museen zum Theil nur die ungewöhnlichen Formen oder nur ausgezeichnete Exemplare aufbewahrt<br />

werden. Die Steinwaffen hiesiger Gegend, obgleich durch den Antiquitätenhandel massenweise ins Ausland<br />

verkauft, finden sich doch noch zu Dutzenden in jeder selbst kleineren Privatsammlung. <br />

Hier kommt eine Differenz zwischen Nachrichtentheorie und<br />

Historie ins Spiel, die schon in der Replik Arnaldo<br />

Momiglianos auf Hayden Whites Metahistory eine Rolle spielt:<br />

The mathematical theory of Shannon and Weaver, so far from being universally applicable, takes no account of<br />

activities such as those of the historian. For the study of history, as distinguished from the writing of the same, is<br />

not an act of transmission but one of retrieval. Furthermore, to the historian the absence of data is frequently as<br />

significant as its presence, the hidden context as important as the evident. In other words the historian can be as<br />

interested in what is not being mediated by a communications system as in what is. He can also be very<br />

interested in noise, or what has been mediated in distorted form. 73<br />

Historie ist an starre Designatoren, mithin Namen und Begriffe<br />

(als Ereignisse) gebunden; Vorgeschichte ist anonym, also nur<br />

in anderen Formen adressierbar. Als Ende des 19. Jahrhunderts<br />

die erste Beschreibung der Konfiguration des<br />

landesgeschichtlichen Franzens-Museums im ehemaligen Brünn<br />

erscheint, kann ihr Verfasser, der seit dem 7. März 1836 als<br />

Kustos amtierende Albin Heinrich, ledigliche einige wenige<br />

Altertümer der vorgeschichtlichen Zeit seines Landes namhaft<br />

machen:<br />

Die Bronzegegenstände wurden damals consequent als `römische´, die Thongefäße einfach als `heidnische´<br />

Alterthümer bezeichnet. Der Gegenstand an sich erschien als das Wertvollste, während die Fundverhältnisse, auf<br />

welche die moderne Forschung mit Recht ein großes Gewicht legt, gar nicht berücksichtigt wurden; ja in der<br />

Mehrzahl der Fälle erschien sogar der Fundort nebensächlich. 74<br />

Chaotische Lagerhaltung: Den Beginn der Tätigkeit Heinrichs<br />

bildete die Katalogisierung der Sammlungen, „eine<br />

72<br />

Georg Klaus (Hg.), Wörterbuch der Kybernetik, Bd. 1, Frankfurt/M. (Fischer) 1969, 294f<br />

73<br />

Graeme H. Patterson, History and Communications, Toronto et a. (University of Toronto Press) 1990, 100f.<br />

Vgl. Arnaldo Momigliano, , xxx<br />

74<br />

Karl Hucke, Wie das Mährische Landesmuseum entstand, in: Zeitschrift des Mährischen Landesmuseums, N.<br />

F., III. Bd., Brünn 1943, 5-15 (12f), unter Bezug auf: A. Heinrich, Mährens und k. k. Schlesiens Fische, Reptilien<br />

und Vögel, Brünn 1856, Einleitung<br />

23


Sisyphusarbiet angesichts des chaotischen Zustandes, in dem<br />

sich der größte Teil der Bestände befand“ . Heinrich<br />

selbst schreibt, daß bei der Übergabe und Übernahme der<br />

Museumsinventarien und der dazu gehörigen Sammlungen „die<br />

verschiedenen Gegenstände alle chaotisch durch-, über- und<br />

untereinander als rudis indigestaque moles in mehreren<br />

Gemächern aufgeschichtet lagen“ . In kurzer Zeit<br />

kann er dieses Übelstandes Herr werden und dem Trägerverein<br />

des Hauses, der mährischen Ackerbaugesellschaft, ausführliche<br />

Kataloge der Sammlungen vorlegen; Hucke wählt hier Worte, mit<br />

denen Friedrich Nietzsche philologische Hermeneutik als Wille<br />

zur Macht (über Wissen) identifiziert hat.<br />

Archäologisches Rauschen, kulturelle Signale<br />

Reines Speichergedächtnis liegt vor, wenn die Daten<br />

buchstäblich in Fächern (-thek) lagern wie bits in den arrays<br />

von computer memory; keine (narrative) Ordnung der Historie,<br />

sondern die Kompartmentalisierung von Gedächtnis.<br />

Übertragungsverluste sind materialiter eine Funktion ihrer<br />

Container: "Der Zufall vernichtet gerne gattungsweise :<br />

Nicht einzelne Bände, sondern Hunderte von Kisten (und das<br />

heißt eben: ganze Fonds) gingen bei der Rückführung des<br />

Vatikanischen Archivs von Paris nach Rom verloren." 75 Doch erst<br />

ein Verzerrungsgitter (Esch) läßt die Lücken bemessen.<br />

Tatsächlich bedarf der Transport von Gedächtnis nicht nur der<br />

medialen Trägermedien (Papier, Papyrus), sondern auch der<br />

Übertragungsmedien (Container). So wurden etwa Dokumente der<br />

Gemeindearchive in der frühen Neuzeit "im günstigen Fall in<br />

einer Truhe aufbewahrt, aber wer jeweils die Truhe in seiner<br />

Obhut hatte, ist nicht sicher“ 76 . Régis Debray betont in seiner<br />

Mediologie, daß die Übertragung von Inhalten nicht an das<br />

gleichzeitige Existieren von Sender und Emfänger gebunden ist,<br />

sondern auch über Generationen hinweg, also diachron erfolgen<br />

kann; Shannons Nachrichtenübertragungsmodell wird hier timebased,<br />

zum Prozess einer différance. 77 Zum medium wird für<br />

Debray eine Art Black Box des Komplexes von Milieu und<br />

Technologie, das Dazwischen von Input und Output: die<br />

"Transmission" ist es, die aus Ideen (Wörter, Buchstaben,<br />

Photonen) Ideologien (Gesetze, Institutionen) werden läßt. 78<br />

Neurobiologie arbeitet mit einem Gedächtnisbegriff, der den<br />

Akzent auf das Prozedurale setzt, um zu erklären, was<br />

75<br />

Esch 1985: 549, unter Bezug auf: Remigius Ritzler, Die Verschleppung der päpstlichen Archive unter<br />

Napoleon I, in: Römische Historische Mitteilungen VI-VII (1962-64), 144-190<br />

76<br />

Wolfgang Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit: ein deutschfranzösisches<br />

Paradigma, München (Oldenbourg) 1997, 355<br />

77<br />

Régis Debray, Für eine Mediologie, in: Lorenz Engell u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen<br />

Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart (DVA) 1999, xxx<br />

78<br />

www.wired.com/archive/3.01/debray.html (Zugriff: März 2001)<br />

24


passiert, wenn die Speicherungsprozesse des Gehirn jäh gestört<br />

werden:<br />

Denn Erinnerungen werden nicht einfach passiv nach Art des Videorecorders abgespeichert. Wenn Eindrücke im<br />

Gedächtnis haften sollen, müssen sie zunächst analysiert werden. Geschieht dies nur oberflächlich, erinnert man<br />

sich später nicht einmal an einfach Details von tausendmal gesehenen Dingen. Deshalb können sich die meisten<br />

Menschen kaumentsinnen, was die Münzen zeigen, mit denen sie jeden Tag hantieren. Ebenso viele komplizierte<br />

Prozesse verbergen sich hinter dem scheinbar einfachen Abrufen von Erinnerungen. Das Gedächtnis nimmt<br />

gespeicherte Inforationen an eine bestimmte Episode, ergänzt sie um weitere aus vielleicht ganz anderen Quellen<br />

und rekonstruiert so ein vermeintlich originalgetreues Bild. „Aus ein paar eingespeicherten Knochenstücken“,<br />

zitiert Schacter seinen Psychologenkollegen Ulrich Neisser, „erinnern wir einen Dinosaurier“ 79<br />

- Erinnerung an eine Vergangenheit, die (so) nie Gegenwart<br />

war. Archäologische Imagination ist nicht Erinnerung, sondern<br />

Modell. „And if there are gaps within the signal, we can<br />

usually organize the incoming signals into a meaningful<br />

pattern, or a complete gestalt, by filling in those gaps“ 80 ,<br />

heißt es über das Rauschen auditiver Archivdaten; Joseph<br />

Jastrow hat dies um 1900 für visuelle Ambiguität (die<br />

Kaninchen / Ente - Kippwahrnehmung) untersucht. Kulturell<br />

erworbene Assimilationsschemata generieren<br />

Wahrscheinlichkeiten im Sinne von Markov-Ketten. 81 Die Muster<br />

dieser Assimilationsschemata sind keine quasi-natürlichen<br />

Gegebenheiten, sondern Funktionen einer kulturtechnischen,<br />

mithin dann auch medialen Kodierung, eine Kombination aus<br />

Repertoire und Regeln:<br />

Der Kodex stellt ein System von Wahrscheinlichkeiten dar, das der Gleichwahrscheinlichkeit des<br />

Ausgangssystems überlagert wird, um es kommunikativ zu beherrschen. Es ist also nicht der statistische Wert<br />

„Information“, der dieses Ordnungselements bedarf, sondern nur deren Übertragbarkeit. <br />

Damit ist der Akzent kultureller Kommunikation auf den Kanal,<br />

also die Tradition gelegt. Nicht von ungefähr ist Ecos<br />

Beispiel die Schreibmaschinentastatur. In welchem Maße läßt<br />

sich nun das nachrichtentheoretische Modell der Kommunikation<br />

auf Prozesse der Tradition übertragen?<br />

Social scientists in search of a metaphor to explain human communication unproblematically adapted the C­M­R<br />

model [sc. the linear Communicator­Medium­Reponse equation] from Shannon and Weaver original which was<br />

never intended to explain anything more than the conduction of signals through telephone wires. 82<br />

Auf Empfängerseite (Geschichtsforschung) wird die<br />

„Kommunikation“ mit Vergangenheit erst durch Selektion<br />

generiert: „Der Empfangsapparat kann dann so eingerichtet<br />

werden, daß er auf die vorgesehenen Kombinationen<br />

antwortet und die nicht vorgesehenen Kombinationen als<br />

Rauschen außer acht läßt“ ; der hermeneutische<br />

Zirkel schließt sich. Die Information der Quelle wird vom Code<br />

79<br />

Jochen Paulus, Die Knochenreste des Dinosauriers, über: Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung. Gedächtnis<br />

und Persönlichkeit, a. d. Amerikanischen v. Hainer Kober, Reinbek (Rowohlt) 1999, in: Die Zeit v. 20. Januar<br />

2000, 42<br />

80<br />

Helmut Esau, The „smoking gun“ tape: Analysis of the information structure in the Nixon tapes, in: Text. An<br />

interdisciplinary journal for the study of discourse, vol. 2 (4), New York / Amsterdam (Mouton) 1982, 293­322<br />

(306)<br />

81<br />

Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 5. Aufl. 1990 [*ital. 1962], 142<br />

82<br />

Keyan G. Tomaselli, The Marxist Legacy in Media and Cultural Studies: Implications for Africa, in: Africa<br />

Media Review 9, Heft 3/1995, 1-31, unter Bezug auf: D. Sless, In Search of Semiotics, London (Croom Helm)<br />

1986, 21; im Internet unter: www.und.ac.za/und/ccms/media/commstudies/amr.htm<br />

25


korrigiert, der ein Wahrscheinlichkeitssystem festlegt und die<br />

Signale so erst zur Botschaft uminterpretiert. An der Stelle<br />

macht es eine Differenz, ob es sich um Maschine-zu-Maschine-<br />

Kommunikation handelt oder um menschliche Augen und Ohren als<br />

Empfänger:<br />

Wenn der Empfänger ein Apparat ist, geschieht nichts, er hat keine dementsprechenden Instruktionen erhalten<br />

und betrachtet die Botschaft als Rauschen. Ist die Quelle ein Apparat, so darf ein menschlicher Empfänger an<br />

Rauschen denken. Wenn sie aber ein mensch ist, wird der Empfänger eine Absicht in der Formulierung der<br />

Botschaft vermuten und sich überlegen, welche das sein könnte. <br />

Beim Menschen kommt also die Sinnvermutung ins Spiel, die von<br />

der Information der Daten ablenkt. Diese Ablenkung sucht der<br />

medienarchäologische (im Unterschied zum<br />

medienanthropologischen) Blick zu parieren.<br />

Was einmal diskret kodiert wurde, läßt sich auch diskret<br />

wieder zurückrechnen - jenseits der Fragen des semantischen<br />

Sinns oder Unsinns. Der Spielfilm Enigma. Das Geheimnis (R:<br />

Michael Apted, 2001) läßt an einer Stelle eine englische<br />

Aufschreiberin der abgehörten deutschen Funksprüche, die<br />

Buchstabenketten notiert, an den begabten Kollegen<br />

Mathematiker (alias Turing) aus den Baracken von Bletchley<br />

Park fragen, ob er daraus Sinn zu machen verstehe:<br />

Diese gespenstische Vorstellung, wie da Tausende in den Äther hinauslauschten, um unverständliche<br />

Bucshtabenfolgen aufzuschnappen, fängt Apted in einer Szene auf, wo der Mathematiker von einer der fleißigen<br />

Abhörbienen gefragt wird, ob ihre Arbeit auch wirklich wichtig sei. Da tut sich plötzlich ein gähnendner<br />

Abgrund vom Irrwitz des Projekts auf, der flüchtigen Buchstabensuppe eine Form zu geben. 83<br />

In diesem Moment stehen Abhörpraxis und Tradition im<br />

nachrichtentechnischen Bund: Der Entzifferer der kretischmykenischen<br />

Schrift Linear B, Michael Ventris, war im Zweiten<br />

Weltkrieg als Navigator bei der Royal Air Force mit<br />

Decodierung befaßt, bevor er im Juni 1952 seine Hypothese<br />

verkünden konnte, daß die mit dieser Schrift verbundene<br />

Sprache das Altgriechische ist - eine aus dem Geist der<br />

Kryptologie.<br />

Bletchley Park nördlich von London war der Ort, an dem im<br />

Zweiten Weltkrieg Tausende von Menschen mit dem Auffangen,<br />

Archivieren und Entschlüsseln von deutschen Funksprüchen<br />

beschäftigt waren und damit einen Medienverbund formierten,<br />

ein Medium im nachrichtentechnischen Sinne. Tatsächlich aber<br />

hat erst das Meta-Medium Computer (der auf Turings<br />

Berechenbarkeits-These beruhende Colossus) die automatisierte<br />

Dechiffrierung einer Maschine, welche bei jeder Einstellung<br />

ihren Code änderte, ermöglicht, weil er sie in begrenzter Zeit<br />

berechenbar machte. Ein Moment im Film zeigt die Kodeknackerin<br />

Kate vor dem Exemplar der deutschen Enigma, der<br />

Chiffriermaschine, der sie abgefangene Funksprüche eingibt, um<br />

ihre Dekodierung herauszufinden. In einem solchen Moment sitzt<br />

83<br />

Filmrezension Michael Althen, Im Krieg ist ein Kuß nicht ein Kuß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 22<br />

v. 26. Januar 2002, 42<br />

26


sie nicht mehr schlicht vor der Chiffriermaschine, sondern<br />

wird als Denkprozeß an sie gekoppelt, damit selbst zur<br />

Maschine (human-computer-interface). Genau diese Loslösung vom<br />

menschlichen (historisch meist weiblichen) „computer“ aber<br />

dissimuliert der Spielfilm, indem er eine Liebesgeschichte zum<br />

eigentlichen Geheimnis von Bletchley Park macht - und damit<br />

zugleich die Anfälligkeit der menschlichen Mathematiker für<br />

Störungen namens Liebe nachweist 84 (weshalb dieser Faktor dann<br />

auch durch elektronische Rechner ersetzt wurde). Hier dient<br />

die Form der story als das eigentliche (diskursive) Interface<br />

zwischen Mensch und Maschine, wie schon die Funktion der<br />

Helena in Homers Ilias - am Ende eine photographische<br />

Halluzination Heinrich Schliemanns, der seine junge<br />

griechische Gattin mit dem für den Schatz des Priamos<br />

fehlgedeuteten Goldschmuck behängt. Aufklärung heißt<br />

demgegenüber, die Sachlage des Wissens von Bletchley Park aus<br />

der narrativen Umklammerung zu befreien und einer<br />

wissensarchäologischen Beschreibung zugänglich zu machen -<br />

durch Umschneiden des Films etwa.<br />

Womöglich liegt ein Hauptgrund für die Hochkonjunktur der Mathematiker im Weltkino darin, daß wir uns in<br />

Zeiten befinden, in denen der Datenaustausch zwischen Maschinen ein Ausmaß<br />

angenommen hat, das nach Helden verlangt, die den Anschein vermitteln, sie könnten die abstrakte Materie vom<br />

Kopf wieder auf die Füße stellen. Der Wahnsinn ist die Strafe, die sie für uns auf sich nehmen, Ausdruck unsrer<br />

Paranoia, in dem ganzen Datenschrott seien irgendwelche Geheimbotschaften versteckt, für die wir blind sind.<br />

<br />

Daß Musterbildung Vergangenheit nicht abbildet, sondern als<br />

Bildmuster erst konstruktivistisch generiert, wird an John<br />

Dean, einem Berater des mit ihm in die Watergate-Affäre<br />

verstrickten Richard Nixon, deutlich:<br />

In seiner Aussage erinnerte er sich anscheinend wörtlich an Gespräche mit dem Expräsidenten. Erst als später die<br />

Tonbandmitschnitte aus dem Weißen Haus veröffentlicht wurden, zeigte sich, dass Deans Gedächnis die Szenen<br />

neu geschrieben hatte. Er gab nur die Punkte richtig wieder, die immer wieder erörtert worden waren, und<br />

verband sie mit erfundenen Einzelheiten zu einem Gesprächsablauf. <br />

Und weiter heißt es bezüglich eines der Nixon-Tonbänder, denen<br />

Oliver Stone in seinem Film Nixon - Der Untergang eines<br />

Präsidenten (USA 1995) ein Denkmal gesetzt hat:<br />

Although my assistant and I listened to the line repeatedly with great care, we were able to hear neither on with<br />

nor off, but only unitelligible noise. Thus depending on who listens to the line, the resulting gestalt is very<br />

different. <br />

Die Lage hat William Burroughs einmal treffend formuliert:<br />

"Nothing here now but the recordings." Zwischen Signal und<br />

Rauschen oszilliert nun die Option " ... in order got get on<br />

with / off / unclear / the coverup plan." Im digitalen Raum<br />

ist zusätzliche Sicherheit der Überlieferung durch den Error<br />

Correction Code (etwa beim Abspielen von CDs) garantiert; an<br />

die Stelle von "Tradition", die durch Übertragungsverluste<br />

84<br />

Slogan auf dem deutschen Filmplakat: „Er war der Mann, der den Code knacken sollte. Sie war die Frau, die er<br />

nicht entschlüsseln konnte.“<br />

27


charakterisiert ist, rückt die verlustfreie Kopie. Der Preis<br />

ist der Verlust des Ewigkeitsanspruchs des Speichers. "Wie<br />

groß darf die Verschiebung der Bedeutung eines Wortes sein,<br />

damit die von ihm transportierte Information mit seinen<br />

Ursprüngen noch `verwandt´ ist?" .<br />

Im Sinne des Signal-zu-Rauschen-Verhältnisses der<br />

Nachrichten(übertragungs)theorie ahnte auch der britische<br />

Historiker Lord Acton das Prinzip der Stillen Post(histoire)<br />

in einer Äußerung des Begründers der stochastischen<br />

Wahrscheinlichkeitsrechnung Laplace: „When a report passes<br />

from one person to another the probability of error increases<br />

every time, until finally one reaches the stage at which it is<br />

greater than the probability of truth“. 85 So schwierig ist es,<br />

der Nachwelt ein update der Gegenwart zu hinterlassen. Werden<br />

die Metadaten nicht in den digitalen files integriert, drohen<br />

sie im Prozeß der Datenmigration verlorenzugehen; somit wäre<br />

Katalogwissen und Kulturgut nicht mehr trennen. 86<br />

Die Wissenschaften der Vergangenheit sind also eine<br />

Briefkastenfirma, die zunächst an solchen Nachrichten im Namen<br />

der Geschichte interessiert sind, die sich performativ als<br />

postalische Sendungen zu erkennen geben, d. h. die sich dazu<br />

bekennen, daß die Übermittlung von Vergangenheit (sei es<br />

Tradition, sei es Geschick) immer schon ein Effekt von Medien<br />

und Mechanismen des Verzugs sind. 87<br />

Beim Medium Brief steht der Übermittlungsvorgang oder Transport im Zentrum: Konstitutiv für den Brief<br />

ist die räumliche (oder zeitliche, mentale usf.) Distanz. Peter Bürgel markiert das mit der Formel vom<br />

`brieftypischen Phasenverzug´ (1976, 288). Die spezifische Leistung des Briefes ist demnach die<br />

Distanzüberbrückung 88<br />

- die emphatische Überbrückung der Distanz als Ent-fernung;<br />

mithin ein Verzögerungsspeicher (Kanal). Das postalische<br />

Dispositiv der Tradition spricht sich schon im Begriff der<br />

Übertragung. Was aber geschieht, wenn nicht mehr die Dinge,<br />

sondern deren Information übertragen wird? Geopfert wird deren<br />

Materialität: Ein Teil der mittelalterlichen Urkunden und<br />

Dokumente des Alten deutschen Reiches wanderte nach ihrer<br />

typographischen Übersetzung in das Editionswerk Monumenta<br />

Germaniae Historica nach Beginn des 19. Jahrhunderts zum<br />

Recycling in Werkstätten, da mit der Konzentration auf den<br />

Schriftsinn des Überlieferten deren Materialität irrelevant<br />

wurde. 89 Für das Archiv des emergierenden Germanischen<br />

Nationalmuseums war daher Veranlassung geboten, durch Ankauf<br />

85<br />

Herbert Butterfield, Man on His Past: The Study of the History of Historical Scholarship, Cambridge<br />

(University Press) 1955, 75, unter Bezug auf Notizen im Acton-Nachlaß (Add. 4929,52)<br />

86<br />

Masur (Euroscan), auf der Tagung: Digitalisierung und Langzeitarchivierung von Kunst­ und Kulturgütern, 29.<br />

März 2001, Deutsches Zentrum für Luft­ und Raumfahrt, Berlin­Adlershof<br />

87<br />

Siehe dazu den Beitrag Marian Hobbsons, "History traces", in: Derek Attridge/Geoffrey Bennington/Robert<br />

Young (Hg.), Post­structuralism and and the question of history, Cambridge/London 1987<br />

88<br />

Werner Faulstich, Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike, Göttingen (Vandenhoeck &<br />

Ruprecht) 1997, 265<br />

28


eine größere Zahl Pergamenturkunden zu retten. 90 Hier wird der<br />

nachrichtentechnische Begriff des Kanals konkret, der von<br />

Verrauschung abzusehen sucht:<br />

Die Monumenta, romantische Gründung, positivistische Fabrik, sammeln die Quellen zur deutschen Geschichte<br />

des Mittelalters, die Schriftdenkmäler, und sich selbst ein einziges gewaltiges Denkmal der Schrift. Der Zweck<br />

der Monumentisten ist die Wiederherstellung des Wortlauts der Urkunde im Moment der Niederschrift.<br />

Auszuscheiden ist alles, was aus Gesprächen der Abschreiber in den Text eingeflossen sein könnte. Die<br />

Geschichte, der der Monumentist doch zuarbeitet, muß ihm als Verschmutzung der Reinheit der Quelle<br />

erscheinen. 91<br />

Womit wir erneut bei der Differenz zwischen einer<br />

Nachrichtentheorie, die gerade Rauschen auszufiltern trachtet,<br />

und einer Kommunikationwissenschaft angelangt wären, die in<br />

Veränderungen der Botschaften durch die Kanäle der Übertragung<br />

einen kulturellen Mehrwert entziffert.<br />

Buchstäblich postalisch wird Tradition als Übertragung im<br />

Spiel Stille Post, in der eine vorgelesene Geschichte von<br />

Person zu Person übertragen und dabei nacherzählt wird<br />

(serielle Reproduktion). "Bei diesem Verfahren der<br />

systematischen Rekursion in die bedeutunsgenerierende Dynamik<br />

verschiedener kognitiver Systeme können allgemeine, sich über<br />

die individualspezifische Dynamik hinweg durchsetzende<br />

Ordnungsprinzipien erkannt werden" - die Instistenz des<br />

Archivs 92 ; anstatt daß die Nachricht wie im Experiment der<br />

Rekopie von Kopien am Ende zu gleichverteilter Entropie<br />

verrauscht, insistieren semantische und syntaktische Muster -<br />

die ganze Differenz zwischen stochastischer und<br />

hermeneutischer Übertragung. Es bleibt - in der menschlichen<br />

Sprache - immer zuviel Sinn, als daß sie vollständigen<br />

verrauschen könnte (Roland Barthes 93 ). Dabei wird "die<br />

ursprünglich vielschichtige Handlung der Geschichte<br />

tendenziell einem einzigen Gedächtnisattraktor zugewiesen"<br />

- also ein Prozeß zunehmender Entropie, der auch<br />

auf das Gedächtnis visueller Strukturen übertragbar ist.<br />

Dem steht die Erzählgattung Sage nahe, die einerseits durch<br />

den Bezug auf eine historische Begebenheit definiert ist und<br />

von daher für Jacob und Wilhelm Grimm zur Bestimmung des<br />

deutschen Kulturerbes von Interesse war. „Im Laufe der<br />

89<br />

Wolfgang Struck, Geschichte als Bild und als Text. Historiographische Spurensicherung und Sinnerfahrung im<br />

19. Jahrhundert, in: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, hg. v. Susi Kotzinger / Gabriele Rippl, Amsterdam<br />

/ Atlanta, GA (Rodopi) 1994, 349­361<br />

90<br />

Zwanzigster Jahres­Bericht des germanischen Nationalmuseums, 1.1.1874<br />

91<br />

Patrick Bahners (Rez.), Ein Kapitel für sich, über: Horst Fuhrmann, Menschen und Meriten. Eine persönliche<br />

Portraitgalerie. Zusammengestellt und eingerichtet unter Mithilfe von Markus Wesche, München (Beck) 2001, in:<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 124 v. 1. Juni 2002, 58<br />

92<br />

Michael Stadler / Peter Kruse, Visuelles Gedächtnis für Formen und das Problem der Bedeutungszuweisung in<br />

kognitiven Systemen, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis: Probleme und Perspektiven der<br />

interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt/M. (Suhkamp) 1991, 250­266 (258), unter Bezug auf: F. C.<br />

Bartlett, Remembering, Cambridge (CUP) 1932<br />

93<br />

Siehe Roland Barthes, Le bruissement de la langue (= Essais critique IV), Paris(Sueil) 1984, 29-34<br />

29


mündlichen Überlieferung, d. h. in der wiederholten Weitergabe<br />

durch das `Sagen´, verändern sich über die Jahrhunderte<br />

Inhalte und Formen einer jeweiligen Erzählung.“ 94 Die<br />

Verrauschung im Prozeß der historischen Überlieferung, also<br />

der deterministische Zeitprozeß der Überlieferung (ihre<br />

Zeitbasiertheit) ist nicht umkehrbar - im Unterschied zu den<br />

räumlich-logischen, hypertextuellen (und eben nicht<br />

hyperzeitlichen) Programmen ihrer digitalen Darstellung. Die<br />

kritische Edition von überlieferten Texten folgt Lachmanns<br />

Regel: „denn die Überlieferung lügt“ 95 ; hinter der Eleganz der<br />

wirkungsgeschichtlich abgeschliffenen Texte muß der strenge<br />

Blick des Wissensarchäologen die unelegantere Echtheit des<br />

Urtexts als das „nie Gesehene“ zumindest asymptotisch<br />

freilegen - hier im<br />

Gegensatz zu Gadamers wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik.<br />

Analog zur historiographischen Ästhetik Leopold von Rankes<br />

sucht auch Lachmann nach der nackten Wahrheit ohne<br />

ornamentalen Glanz.<br />

Die epistemologische Voraussetzung für den Begriff der<br />

Tradition bleibt der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik: "Wir<br />

können keine Umkehrfunktion schreiben." 96 Weshalb ein<br />

Historiker aus der Überlieferung auch nicht auf die Welt des<br />

Überlieferten rückschließen kann - der alte Unterschied<br />

zwischen historischer und philologischer Edition. Lachmann<br />

schlägt sich auf die „hyperkritische“ Seite , d. h. er leistet eine Kritik der Überlieferung;<br />

„hyper“kritisch meint die zeitliche Erstreckung. Eine Edition<br />

kann Aussagen über das formale Verhältnis zwischen der<br />

überlieferten Vergangenheit und den Informationsträgern<br />

machen, die sie beschreiben; sie kann über die<br />

Informationsstruktur einer Quelle informieren, ihre<br />

Informationsdichte beschreiben und ihre Überlieferungsstruktur<br />

transparent machen. Kann dem Zufall in der<br />

Überlieferungschance von Dokumenten als objektives Korrelat<br />

ihre Statistik entgegengesetzt werden? 97 Ist dieser Prozeß<br />

kybernetisch beschreibbar? Das archivische Gedächtnis der<br />

Kultur wird plausibler (auf)gezählt, nicht erzählt. 98 Ludwig<br />

Boltzmann entwickelte die kinetische Theorie der nur noch<br />

statistisch faßbaren, im konkreten Fall unvorhersagbaren<br />

Varianten des Zusammenstoßes von Gasmolekülen in den 90er<br />

94<br />

Eva Erdmann, Eintrag „Sage“, in: Pethes / Ruchatz (Hg.) 2001: 513, unter Bezug auf A. Jolles, Einfache<br />

Formen, 7. Aufl. Tübingen 1999, und J. u. W. Grimm, Artikel Sage, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Leipzig<br />

1893, Sp. 1644<br />

95<br />

Harald Weigel, „Nur was du nie gesehn wird ewig dauern“. Carl Lachmann und die Entstehung der<br />

wissenschaftlichen Edition, Freiburg (Rombach) 1989, 158, unter Bezug auf die praefatio der ersten Ausgabe<br />

Lachmanns 1815<br />

96<br />

Ingo H. Kropac, Theorien, Methoden und Strategien für multimediale Archive und Editionen, Vortrag auf der<br />

Tagung: Mediävistik & Neue Medien, Mittelalterzentrum Bamberg (Universität), Dezember 2001<br />

97<br />

In diesem Sinne Wilhelm Kurze, Ein echtes falsches Dokument des Erzbischofs Ubertus von Pisa. Ein Beitrag<br />

zum Fälschungsproblem, Typoskript (Deutsches Historisches Institut, Rom), 31f<br />

98<br />

Siehe Friedrich Thimme, Die Aktenpublikationen des Auswärtigen Amtes und ihre Gegner, in: Archiv für<br />

Politik und Geschichte, 2. Jg. Heft 4/5 (1924), 467-478 (475)<br />

30


Jahren des 19. Jahrhunderts zu ihrer klassischen Form: "Sie<br />

tendieren, so legt es Boltzmanns H-Theorem, die statistische<br />

Fassung des zweiten Satzes der Themodynamik, fest, von<br />

unwahrscheinlichen Zuständen der Ordnung zu wahrscheinlichen<br />

der Unordnung" - bis zum entropischen Maximum als spannungs-,<br />

energielose Gleichverteilung aller Elemente. 99 Insofern sind<br />

Archive als Versuch, geregelte Prozesse der Aktenübertragung<br />

auf die dauerhafte Ordnung eines Speichers zu stellen,<br />

prinzipiell katechontisch und wie alle Kultur unter hohem<br />

Energieaufwand negentropisch angelegt.<br />

Auch Michael Thompsons Abfalltheorie der Kultur argumentiert<br />

ansatzweise mathematisch und informationstheoretisch. 100 Die<br />

Rivalität zwischen Allmählichkeits- und<br />

Plötzlichkeitsstandpunkt läßt sich nur in Begriffen der<br />

Stochastik und der Entropie präzise formulieren. Thompson<br />

siedelt Abfall an der Grenze von Natur und Kultur an: „Natur<br />

ist von Grund auf chaotisch und durch fließende Übergänge<br />

gekennzeichnet; Kultur ist geordnet und in einzelne<br />

Teile unterteilt“ . Vilém Flusser faßte Müll<br />

darüber hinausgehend:<br />

Kultur ist ein Prozeß, welcher negativ entropisch Natur informiert und verwertet, also durch Erzeugung in<br />

Produkt verwandelt. Ein Teil dieses Produktes wird verbraucht, desinformiert, entwertet und der Natur<br />

zurückgegeben. <br />

Dieser Prozeß läßt sich - sobald negentropische Energie, also<br />

Intention im Spiel ist - als das identifizieren, was<br />

herkömmlich als Tradition bezeichnet wird. Ein Objekt nimmt<br />

mit der Zeit an Wert ab und kann in die Kategorie des Null-<br />

Werts, also des Abfalls hinübergleiten, der sich - übertragen<br />

auf den Prozeß der Tradition - nicht nur als Müll, sondern<br />

auch als Zeitloch manifestiert. Entsprechend definiert<br />

Thompson das probabilistische Kulturgesetz, daß ein Gegenstand<br />

zunäcsht in einem zeitlosen und wertfreien Raum<br />

weiterexistiert, bis daß er zu einem späteren Zeitpunkt (wenn<br />

er bis dahin nicht zu Staub geworden oder gemacht worden ist)<br />

die Chance hat, wiederentdeckt zu werden, um in die Kategorie<br />

der Dauerhaftigkeit transfertiert zu werden . Dieser Zwischenraum, von Thomson limbo benannt, ist ein<br />

Raum der Virtualität oder besser Latenz: „1. condition of<br />

being forgotten and unwanted“; beiseitegelegt. „2. place for<br />

forgotten and unwanted things“ - gleich dem dead letter office<br />

für unzustellbare Briefe. Oder ein heterotopischer Friedhof:<br />

„3. region for souls of unbaptized infants and pre-Christian<br />

righteous persons.“ 101<br />

99<br />

Albert Kümmel, Möglichkeitsdenken. Navigation im fraktalen Raum, in: Weimarer Beiträge, xxx. Vgl. ders.,<br />

Beitrag , in: Daniela Kloock / xxx (Hg.), Medientheorien, München (Fink / UTB) 199xxx, xxx<br />

100<br />

Siehe das Vorwort seines Doktorvaters, des Professors für Mathematik E. C. Zeenan, 7­10, und Thompson<br />

1981: 94f u. 314<br />

101<br />

Oxford Advance Learner´s Dictionary of Current English (A. S. Hornby), London (Oxford UP) 1974, Eintrag<br />

"limbo", 499<br />

31


Der Kanal - das Medium - der Tradition ist hier die Zeit. Und<br />

so erinnert ein Diagramm Thompsons nicht von ungefähr an die<br />

notorische Formel Shannons:<br />

Vergänglich - Abfall - Dauerhaft<br />

(Abnehmender Wert) (Kein Wert) (Zunehmender Wert)<br />

Eine Medientheorie der Tradition heißt also die Übertragung<br />

des mathematischen Nachrichtenmodells auf zeitbasierte<br />

Prozesse des Datentransfers; es gilt also die<br />

unwahrscheinlichsten Daten aus Speichern aufzuspüren, wenn wir<br />

Information über Kultur als zeitbasiertem Prozeß gewinnen<br />

wollen - die rauschende Alternative zum Begriff der<br />

historischen, also ordnungsversessenen „Tradition“.<br />

Respektieren wir den data trash. Die amerikanische<br />

Nuklearaufsichtsbehörde bat 1981 den Biosemiotiker Thomas A.<br />

Sebeok um die Entwicklung eines Zeichens, eines Signals,<br />

welches die Warnung des Schildes „Nicht betreten“ für atomare<br />

Endlagerstätten auch noch für Lebewesen nach 10000 Jahren<br />

erkennbar machen soll. Sebeok schlug dafür die Einrichtung<br />

einer Art Kaste vor, welche dieses Wissens gleich den<br />

ägyptischen Priestern in der alten Theorie der Hieroglyphen<br />

als Geheimwissen weitergibt - Tradition im prämedialen,<br />

aliteraten Sinn. Ältägyptischer Grab- und Totenkult sind ein<br />

Modell für Nachrichten an die Zukunft 102 , doch mit dem<br />

Zusammenbruch der priesterlichen Institution brach auch die<br />

Überlieferung ab. So setzen sich auch Ägyptologen ersatzweise<br />

an die Stelle der Adressaten jener hieroglyphischen<br />

Anweisungen, welche die Gräber schmücken. Im Unterschied zu<br />

den durchaus nicht „kulturfreien“ Bildsignalen auf der<br />

Plakette der amerikanischen Raumsonde Pioneer X, welche seit<br />

1972 fremde Welten ansteuert, um sie - allerdings ohne<br />

beigefügten Code - mit zwei Kreisen (für die Wasserstoff-<br />

Atome), Skizzen eines nackten Menschenpaars und einer<br />

sternförmigen Zeichnung (welche die Entfernung des<br />

Sonnensystems zu anderen Pulsaren angibt) zu adressieren,<br />

seetzen altägyptische Botschaften von einer eigenen, nicht<br />

fremden (Nach-)Welt voraus. Was, wenn Ägyptologen nicht von<br />

der hermeneutischen Verstehbarkeit, sondern von der Fremdheit<br />

altägyptischer Texte ausgingen? Doch nur das, was beständig<br />

interpretiert wird (wußte Sebeok vom Begriff des<br />

„Interpretanten“ seines Lehrers Charles S. Peirce), ist als<br />

medienarchäologisches Datum auch semiotisch-hermeneutisch<br />

aktiv. „Der Mensch ist ein Zeichen, glaubte Peirce; das<br />

Zeichen ist ein Verb, so ergänzt Sebeok. Und dieses Verb heißt<br />

interpretieren, deuten“ 103 - als verbaler ein zeitbasierter<br />

Prozeß: womit wir zugleich bei der Hochzeit von Tradition und<br />

102<br />

So der Titel des Vortrags von Stefan Grunert im Rahmen der Reihe Mediengesellschaft Antike. Information<br />

und Kommunikation vom Alten Ägypten bis Byzanz an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der<br />

Wissenschaften, 5. Februar 2002<br />

103<br />

Christoph Albrecht, Leben heißt Interpretieren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 3 v. 4. Januar 2002, 39<br />

32


Nachrichtentheorie angelangt wären, dem ultimativen Schlußwort<br />

von Medienkultur.<br />

Geistersignale, telepathisches Rauschen<br />

Sind aus dem Rauschen eines Kurzwellenradios zwischen den<br />

Frequenzen sphärenhafte Anrufe und Botschaften herauszuhören?<br />

Im Film First Contact gelingt es Jody Foster, auf der<br />

teleskopischen Suche nach Kommunikation mit Außerirdischen<br />

eine 1936 im damaligen Fernsehen übertragene Hitler-Rede zur<br />

Olympiade in Berlin per Satellitenschüssel aus dem Weltraum<br />

empfangen, wo die Signale zeitversetzt strahlen. 104<br />

Eine Szene in Homers Odyssee konfrontiert den Protagonisten<br />

mit den Toten im Hades, von denen er Auskunft über die<br />

Möglichkeit seiner Rückkehr in die Heimat zu erfahren hofft:<br />

Unentwirrbares Geschrei dröhnt ihm entgegen. Es genügt nicht, nur den Speicher einzuschalten. Odysseus<br />

benötigt eine Suchmaschine, mit der er den unstrukturierten Lärm dekodieren kann. Diese Suchmaschine ist das<br />

lineare Erzählen. Um überhaupt etwas verstehen zu können, zieht Odysseus sein Schwert . Er zwingt die<br />

Verstorbenen "in Ordnung und Reihenfolge, nötigt jede und jeden, sich zu identifizieren, und befragt auf diese<br />

für ihn sinnvoll werdende, ihn sinngewiss machende Weise alle. Wenn sich der weiße Lärm der Vergangenheit<br />

nicht in Farben und Konturen, in eine Reihe von Stimmen ordnet, die man Name für Name, Geschichte für<br />

Geschichte anhören kann, lösen die Bilder der Vergangenheit sich ineinander auf und verlieren die Form, in der<br />

das Ich sich an sie und sie an sich selbst zu erinnern vermag. 105<br />

Narration also ist das Medium, aus Rauschen Geschichte(n) zu<br />

machen - in diesem Falle eine von Odysseus gewaltsam<br />

durchgesetzte lineare Textstrategie, die auch von Alexander<br />

Kluge und Oskar Negt in Kapitel III von Geschichte und<br />

Eigensinn beschriebene "Gewalt des Zusammenhangs".<br />

Die Ethnologie kennt den Begriff des „Ahnenmediums“, welches<br />

zwischen Vergangenheit und Gegenwart medial (musikalisch etwa)<br />

vermittelt und somit Tradition herstellt. 1959 glaubt<br />

Friedrich Jürgensen beim Abhören von auf Tonmband<br />

aufgenommenen Vogelstimmen die zudem hörbaren überraschenden<br />

Geräusche, denen er Signalwert zuschreibt, als Sprechfunk mit<br />

Verstorbenen interpretieren zu dürfen (so der Titel seines<br />

Buches); Thomas Alva Edison hat mit solcher Kontaktaufnahme<br />

experimentiert.<br />

Im 19. Jahrhundert arbeitet die Photochemie am Bild,<br />

verrauscht es, ver- oder zerstört es. Hier handelt es sich<br />

104<br />

Siehe auch Jeffrey Sconce, The voice from the void. Wireless, modernity and the distant dead, in:<br />

International Journal of Cultural Studies Bd. 1, Heft 2 (1998), 211­232<br />

105<br />

Klaus Bartels, Erinnern, vergessen, entinnern. Das Gedächtnis des Internet, in: Lab. Jahrbuch 2000 für Künste<br />

und Apparate, hg. Kunsthochschule für Medien Köln gemeinsam mit dem Verein der Freunde der KHM, Köln<br />

(König) 2000, 7-16 (11), unter Bezug auf: Wolfram Malte Fues, Re-membering, Dis-membering: Fictionality and<br />

Hyperfiction, in: Thomas Wägenbauer (Hg.), The Poetics of Memory, Tübingen 1998, 391-398; Bartels zitiert<br />

hier nach dem deutsche unveröff. Typoskript: Erinnerung, Entinnerung, 4f<br />

33


nicht um irgendwie intendierte, kodiere Zeichen, sondern um<br />

Impule der Physik selbst, die originäre Störung - das, was<br />

Rechner nach wie vor nicht tatsächlich zu kalkulieren, nur zu<br />

simulieren vermögen. Rauschen im Unterschied zum Signal bildet<br />

nicht etwas ab, sondern schlicht ein, die photographische<br />

Inskription. Photographien zeichnen hier die Spuren ihrer<br />

eigenen Materialität auf (Peter Geimer), was dem<br />

hermeneutischen Blick zunächst unerträglich erscheint - so daß<br />

photographische Bewegungen gerne als spiritistische<br />

Botschaften entziffert wurden, analog zu den Operationen der<br />

Historiker, die sich als Adresse selbst unbeabsichtigter<br />

Überlieferung setzt, auch wenn er nie angesprochen war.<br />

Vorgeblich entstand auch Samuel Morses Idee getakteter Zeichen<br />

aus dem Vernehmen von Geisterklopfen. Hier werden Prozesse der<br />

medialen Übertragung, wie sie die Informationstheorie für<br />

räumliche Übertagung entwickelt hat, buchstäblich geisterhaft.<br />

Damit ist ein Raum eröffnet, der zugleich ein Zeitraum ist;<br />

der "Wunsch, mit den Toten zu sprechen" (Stephen Greenblatt)<br />

wird als Historikerphantasma in Geisterwissenschaften konkret.<br />

Übertragungsraten, Übertragungsverluste<br />

Am Anfang des Schicksals des Jüdischen Museums in Prag stand<br />

eine administrative Order:<br />

Irgendwann zu Beginn des Jahres 1942 schickte das Prager jüdische Rathaus, das zu einem eine jüdische<br />

Selbstverwaltung vortäuschenden Organ erhoben worden war, eines seiner vielen tausend Rundschreiben aus,<br />

und dieses enthielt die Aufforderung, daß alle ehemaligen jüdischen Kultusgemeinden in Böhmen und Mähren<br />

ihr gesamtes bewegliches Eigentum zu verpacken und an die Adresse "Das jüdische Zentralmuseum in<br />

Prag" zu senden haben. 106<br />

Bei dieser Sendung von Objekten aus geschlossenen Synagogen<br />

war das postalische Medium in der Tat schon die präzise<br />

Botschaft, eine Markierung des Museums als Paketstelle:<br />

Verpackt wurden Bücher und ausgepackt wieder Bücher. Doch verpackt wurden Kultgegenstände, ausgepackt<br />

und katalogisiert hingegen Objekte . Schon unterwegs hatte sich mit ihnen eine Wandlung vollzogen: aus<br />

Gegenständen des Gottesdienstes wurden Gegenstände aus einem bestimmten Material. <br />

In der Übertragung, also: Metaphorik der Objekte findet eine<br />

Transformation statt; die Kanalisierung ist nicht neutral,<br />

sondern führt - umgekehrt als sonst im Museum - zu einer<br />

Semiophorisierung 107 unter verkehrten Vorzeichen. Das Museum:<br />

eine paketlagernde Post?<br />

Museums may hold the stored material culture of the past, but this stored archive has not arrived in bland,<br />

sanitized form in, as it were, uniform storage boxes coming in at so many of the first of every month. Quite the<br />

contrary . It comes incomplete, imperfect, and with associated documentation and information, itself<br />

immensely variable in quality and quantity. Even the accession of a single object is perceived as part of a<br />

set, either in relationship to others of its kind or in relation to the other elements in the life history of the original<br />

106<br />

Hana Volavková, Schicksal xxx, 29<br />

107<br />

Dazu Krzysztof Pomian, Ursprung des Museums, Berlin: Wagenbach, 198xxx<br />

34


owner or collector. 108<br />

Neben der Logistik insistiert die Materialität der<br />

Kommunikation, da nach wie vor physisch reale Objekte zu<br />

überbringen und zu lagern sind. Doch wenn Übertragung als<br />

Information an das Internet delegiert wird, tritt das Prinzip<br />

einer generalisierten Post an die Stelle der emphatischen<br />

Lagerung:<br />

Mögen Archive im bibliothekarischen Sinn Foucaults für lange Zeit unsere historischen Aprioris abgeben und<br />

damit als ihr Anderes einen Schein nichtdiskursiver Wirklichkeiten erzeugt haben, so ist das Reale heute (und<br />

nicht erst seit Watergate) sehr anders registriert. Anstelle von Bibliothek und Archiv hätte also ein Begriff<br />

der generalisierten Post zu treten 109 ,<br />

worin der Begriff „Archiv“ nur noch als Metapher für jegliche<br />

Form von Datenbank figuriert. An die Stelle des emphatischen<br />

Gedächtnisses tritt die Ökonomie der kurzfristigen,<br />

signalkritischen Aufmerksamkeit 110 im World Wide Web als Theorie<br />

und Software. Gerade ein Hypermedium aber ist das<br />

Unspeicherbare, weil er prinzipiell unabgeschlossen ist und<br />

auf der elektronischen Ebene ständig aktualisiert werden muß -<br />

sich also gerade der Logik des Archivs beharrlich entzieht. 111<br />

"Memory is transitory" 112 ; Schrift und Archiv transformieren von<br />

einem stabilen Datenspeicher „zu einem dynamischen System der<br />

Selbstorganisation flüssiger Daten“ 113 .<br />

Lorenz Engell setzt diese Akzentverschiebung kulturtechnisch<br />

schon im signalgebenden Umbruch von der babylonischen Turm-<br />

Zentriertheit zur griechischen Feuertelegraphie an:<br />

Was in Babylon statisch war und einseitig aufs Speichern und Überdauern ausgerichet, wird nunmehr dynamisch<br />

konzipiert und auf das Übermitteln ausgerichtet. Insbesondere das Römische Reich knüpft an diesen Strang<br />

der Mediengeschichte an. 114<br />

Denn Rom installiert vor allem den cursus publicus, die<br />

medienarchäologisch originäre Verschränkung von Post und<br />

Imperium.<br />

Das "file fransfer protocol" (ftp) bezeichnet neben dem<br />

Übertragungsprotokoll auch den Internet-Dienst, der mit diesem<br />

Protokoll realisiert wird; er ermöglicht den Transfer von<br />

Daten und Dateien zwischen verschiedenen Computern respektive<br />

108<br />

Susan M. Pearce, Collecting Reconstructed, in: Gaynor Kavanagh (Hg.), Museum languages: objects and<br />

texts, 135-154 (138)<br />

109<br />

Friedrich A. Kittler / Manfred Schneider / Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen 1: Medien, Opladen<br />

(Westdeutscher Verlag) 1987, Editorial<br />

110<br />

Dazu xxx Franck, Ökonomie Aufmerksamkeit, xxx<br />

111<br />

Dazu Julika Griem, Speichern und Zerstören, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. Dezember 2000, Nr.<br />

284, N 6<br />

112<br />

Vannevar Bush, As We May Think [*1945], elektronisch zugänglich unter:<br />

http://www.isg.sfz.ca/~ duchier/misc/vbush/vbush-all.shtml, 6<br />

113<br />

Aleida Assmann, Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses, in: Georg Stanitzek /<br />

Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schnittstelle: Medien und kulturelle Kommunikation, Köln (DuMont) 2001, 268-281<br />

(280)<br />

114<br />

Lorenz Engell, Ausfahrt nach Babylon. Die Genese der Medienkultur aus Einheit und Vielheit, in: Engell<br />

2000: 263­303 (299f)<br />

35


speziellen file-Servern über das Netz. Middleware und<br />

Protokolle spielen die Hauptrolle im Internet, das - nota bene<br />

- erstmals in der Kulturgeschichte nicht für Kommunikation<br />

zwischen Menschen, sondern zwischen Rechnern konzipiert wurde.<br />

Datenpakete variabler Länge werden zwischen Netzelementen ausgetauscht, es gibt keine vorab einzurichtenden<br />

Pfade, das Netz organisiert sich weitgehend selbst. Da jedoch alle Datenpakete gleich behandelt werden, gibt es<br />

keinerlei Garantien in Bezug auf Verzögerungen oder gar Verlust. Das Grundprinzip heißt "Best Effort", es<br />

eignet sich bestens für den einfachen Datenverkehr, bei dem die Zustellung nicht zeitkritisch ist und verlorene<br />

Datenpakete durch Mechanismen in höheren Protokollschichten abgefangen werden können. Mechanismen zur<br />

Verringerung des Datendurchsatzes in Überlastsituationen wurden zwar entwickelt, sind jedoch für<br />

Anwendungen mit kontinuierlichem und ungestörten Informationsfluss, wie z.B. bei Sprach­ und Videodiensten,<br />

nicht sehr geeignet. 115<br />

Elektronische Rechner stellen nicht das ganz Neue dar, sondern<br />

- hinsichtlich der Speicherung, Datenprozessierung und<br />

Übertragung - vor allem eine elektronische Implementierung der<br />

Mechanik selbst. Technische Durchsetzung heißt Etablierung<br />

eines Standards; damit ist ein Kriterien der Definition von<br />

„Medium“ im nachrichtentechnischen Sinn erfüllt. „10 Millionen<br />

weltweit verkaufte Memory Stick-Produkte seit seiner Erfindung<br />

vor drei Jahren haben dieses Transfermedium als neuen Standard<br />

etabliert“, äußert ein Sony-Werbeprospekt von 2001. Doch der<br />

Unterschied zwischen Dokumentation und Informatik ist der<br />

Modus der Berechnung von Daten im Zeitpuffer des<br />

Übertragungsprozesses.<br />

Was kulturhermeneutisch traditionell "Überlieferung" heißt,<br />

hat ihr Äquivalenz im terminus technicus der<br />

Übertragungsraten. Informationen werden schnellstmöglich in<br />

Form von Laserimpulsen in einer optischen Glasfaser<br />

transportiert. Johann Wolfgang von Goethe prägte den Begriff<br />

veluziferisch. Enthalten sind hier die Geschwindigkeit (vel-)<br />

und Erzengel Luzifer, der "Lichtbringer". Gekoppelt an<br />

Elektrizität, wird tatsächlich Licht zum Träger von<br />

Information, so daß die Metapher hier real wirksam wird wie<br />

das Beamen. Entscheidend ist die Rate von Laserimpulsen pro<br />

Zeiteinheit (time-based) und damit der Typus von Schalter, der<br />

den Strahl abwechselnd unterbrechen und durchlassen kann<br />

bislang anorganische Kristalle, demnächst elektrisch<br />

leitfähige Polymere. Dieser Kunststoff aber neigt, nach<br />

wiederholter Schaltung, zum vorzeitigen Zerfall - die<br />

physikalisch, nicht logisch inhärente Grenze der Übertragung. 116<br />

Die klassische Telekommunikation antwortete auf<br />

Übertragungsfehler in verrauschten Datenleitungen dadurch, daß<br />

Botschaften digitalisiert und damit mathematisch in eine<br />

solche Form gebracht werden, daß Störungen in automatisierter<br />

Rückkopplung korrigiert werden können. Auf einer Compact Disk<br />

115<br />

Bundesministerium für Bildung und Forschung, IT­Forschung 2006: Förderprogramm Informations­ und<br />

Kommunikationstechnik = http://www.it2006.de/kapitel4_4_1.html<br />

116<br />

Dazu , Optische Schaler aus Polymeren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. Juli 1997<br />

36


ist die Information so kodiert, daß durch Staub verursachte<br />

Lesefehler selbstkorrigierend herausgefiltert werden.<br />

Doch an der Bruchstelle zwischen analog und digital treten<br />

beim Kopien von Daten Störungen auf, gegen den Mythos von der<br />

verlustfreien Kopie, die erst im internen digitalen Raum gilt:<br />

Durch regelmäßige Kopien können auch Fehler entstehen. Hundertprozentig identisch sind das digitale<br />

Original und seine Kopie nicht. Denn um die Nullen und Einsen der digitalen Sprache zu speichern, verwendet<br />

man ein elektrisches Signal, das durchaus störungsanfällig ist. Eine durchgängige, wellige Stromkurve muß<br />

genau in zwei Werte geteilt werden. Jeder Impuls oberhalb eines bestimmten Niveaus wird zur Null, jeder<br />

darunter zur Eins. Da das Stromsignal schwankt, kann durchaus statt einer Eins eine Null oder umgekehrt<br />

gespeichert werden. 117<br />

Glasfaserkabel im Dienst der Deutschen Telekom steigern die<br />

Übertragungsgeschwindigkeit bis an die Grenze des Lichts, also<br />

der Zeit: „Ein Terabit - das sind eintausend Milliarden<br />

Zeichen oder der gesamte Textbestand einer großen Bibliothek -<br />

ist in jeder Sekunde in den Kabeln unterwegs.“ 118 So<br />

manifestiert sich die Akzentverschiebung von der residenten<br />

Speicherung (Bibliothek) zur dynamischen Übertragung.<br />

Satellitenübertragung involviert noch eine Zeitverzögerung von<br />

einer Viertelsekunde, welche der Internetverkehr nicht<br />

verkraftet. Licht und Information aber werden im<br />

Glasfaserkabel identisch. Gesteigerte Übertragungsraten sind<br />

Kinder des Krieges: Das Glasfasernetz wurde in Europa seit<br />

1980 aufgrund eines NATO-Beschlusses verlegt, da die<br />

Kupferkabel für einen elektromagnetischen Impuls infolge eines<br />

eventuellen atomaren Schlages zu empfindlich waren. Im<br />

Unterschied zu elektromagnetischen Schwingungen in<br />

Kupferkabeln sind photonische Lichtblitze in dick ummantelten<br />

Glasfasern nicht festzustellen ; fiber optics<br />

schützt also nicht nur gegen Datenverlust, sondern auch gegen<br />

Interzeption. Prinzipiell verlustfrei operieren Supraleiter<br />

der Datenübertragung: Kabel mit einem theoretischen<br />

Leitungswiderstand von Null. 119<br />

Sind physikalische Übertragungsverluste digital reversibel?<br />

Die Spuren der Verwesung und Verwitterung, die an musealen<br />

Objekten die Arbeit der Zeit (wenn nicht Historie) nachweisen,<br />

sind im digitalen Raum nur als Simulation (als symbolisches<br />

re-entry) möglich. 3-D-Rekonstruktionen historischer Bauten<br />

glänzen durch ihre ahistorische Glätte. Ganze Kapitel der<br />

Geschichte werden so reversibel - wie die Folgen des Zweiten<br />

Weltkriegs für Dresden (der IBM-computergestützte<br />

„archäologische Wiederaufbau“ der Frauenkirche) oder eben auch<br />

die mediale Erinnerung selbst, die von Verrotung oder<br />

Verrauschung bedrohten Videobänder, die 1961 den Eichmann-<br />

Prozeß in Jerusalem dokumentierten. Durch digitale Technik<br />

117<br />

Hendrik Kafsack, Eine digitale Zeitbombe. Ein Kampf gegen das Vergessen: Auch elektronische Datenträger<br />

sind nicht für die Ewigkeit gemacht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 174 v. 30. Juli 2001, 9<br />

118<br />

Dirk Asendorf, Neue Kabel und viel Meer, in: Die Zeit Nr. 27 v. 28. Juni 2001, 25<br />

119<br />

Dazu Burkhard Strassmann, Widerstand zwecklos, in: Die Zeit v. 31. Oktober 2001, 38<br />

37


konnten Archivschäden wie Kontrastarmut und Videorauschen<br />

sowie Ungenauigkeiten in der Bildschärfe im nachhinein<br />

korrigiert werden.<br />

Digitale Bildverarbeitung ist eine Funktion der<br />

Speicherökonomie:<br />

Bei rein bildpunktorientierten Verfahren wird jeweils eine Bildzeile eingelesen, während es bei<br />

anderenVerfahren durchau sinnvoll sein kann, das gesamte Bild in den Hauptspeicher einzulesen . Hier wird<br />

die Programmierung bei Betriebssystemen mit virtuellem Speicherkonzept vereinfacht. Bei diesen<br />

Speicherungstechniken wird die bei der Digitalisierung anfallende Datenmenge unverändert übernommen.<br />

<br />

Dem gegenüber steht die Reduktion der Grauwerte, die aus<br />

Gründen der Datenreduktion notwendig ist. Ein Bild sagt mehr<br />

als tausend Worte, heißt es; zur Evidenz kommt dieser Satz<br />

aber erst im digitalen Speicher, denn ein Bild verlangt<br />

dementsprechend auch mehr Speicherplatz als jeder Text.<br />

Bei der Datenreduktion werden Bestandteile des originalen Datenmaterials, die im jeweiligen Anwendungsfall<br />

nicht relevant sind, weggelassen. Aus dem reduzierten Datenbestand kann dann der Originaldatenbestand nicht<br />

mehr rekonstruiert werden. Als Beispiel der Datenkompression kann die Berechnung und Speicherung der<br />

Differenzen zum Nachbarbildpunkt oder die Darstellung eines Binärbildes als Baumstruktur aufgeführt werden.<br />

<br />

Eine Erhöhung der Speicherungsdichte kann erreicht werden,<br />

wenn man geringe Informationsverluste zuläßt, welche den<br />

visuellen Eindruck der Bilder nicht beeinflussen. Doch<br />

Unschärfe bei der Speicherung digitalisierter Bilder ist<br />

allein an der Schnittstelle zum Menschen, nicht aber in der<br />

zielgenauen Ballistik erlaubt. Sogenannte Kollateralschäden<br />

bei technischem Versehen in der elektronischen Kriegsführung<br />

erinnern es.<br />

Sogenannte „ballistische“ Transistoren (Ein-Elektron-<br />

Transistoren) tragen schon im Namen die Akzentverschiebung von<br />

der Speicherung zur Übertragung an sich. Photonische Kristalle<br />

können allein durch Bestrahlung mit Licht zwischen zwei<br />

verschiedenen optischen Zuständen hin- und hergeschaltet<br />

werden, ohne jede verlangsamende Elektronik. 120 Ziel ist es, mit<br />

reinem Licht Daten zu verarbeiten - die Fusion von Licht,<br />

Hardware und Information.<br />

Übertragung und Echtzeit(ung)<br />

Charakteristisch für das Nachrichtenübertragungsmedium Zeitung<br />

ist der zeitnahe Druck von Geschehen (von daher ihr Name).<br />

Zuvor schon bezeichnet der Begriff die mündlich oder<br />

schriftliche überlieferte Kunde oder Botschaft. "Das<br />

Überliefern ist dabei nicht nur einfaches Weitergeben ,<br />

sondern Festhalten über den Tag hinaus." 121 Im Synonym<br />

120<br />

, Licht mit Licht gesteuert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 295 v. 19. Dezember 2001, N2<br />

121<br />

Paul C. Martin, Auf reinem Acker ist gut pflügen. Die Entstehung der Zeitung in der Luther-Zeit, in: "Aus<br />

saget man warlich ...": Von der ersten "Zeytung" bis zur Gegenwart: Ein Medium wurde zum reißenden Strom,<br />

38


Nachrichten enthüllt sich das Vektorielle, die Ausrichtung der<br />

Information durch das Medium ihrer Übermittlung.<br />

Dem steht die Kombination aus Nachricht (Software) und Dauer<br />

(Hardware) gegenüber, also ein anderes Trägermedium als das<br />

Papier, die Inschrift statt flüchtiger Inskription. Mitte des<br />

19. Jahrhunderts durchsetzte E. Littfaß die Stadt Berlin mit<br />

einem (bezüglich der Zeitung) neuen Nachrichtenmedium. Nicht<br />

die Information, sondern ihr Träger wird hier zum Monument -<br />

das, was bleibt. Noch bedarf die Nachricht der ornamentalen<br />

Flankierung, um ästhetisch transportiert werden zu können. Die<br />

Zeit schreibt am 15. April 1855 über diese aus „künstlicher<br />

Steinmasse“ angefertigten Säulen: „Die Dauerhaftigkeit<br />

derselben dürfte außer allem Zweifel sein.“ 122<br />

Das konkrete Wort zidung verbreitet sich zunächst in einem<br />

merkantilen Horizont. Kaufleute lassen sich vor allem<br />

Wechselkurse und Weltereignisse übermitteln; die älteste<br />

gedruckte Zeitung, die Copia, ist solch eine Handelskunde in<br />

knapper Form (Brief von lat. brevis). Hier wird, wie im<br />

Börsenticker, der parallel zu allen Botschaften im<br />

Nachrichtenkanal ntv über den Bildschirm flimmert, mit<br />

Nachrichten buchstäblich kalkuliert. Nicht Übertragung, aber<br />

Übertrag ist der Name für eine diskrete Operation in den<br />

ersten Rechenmaschinen. Übertrag hieß das Problem, den<br />

mathematischen Zehnerübertrag umzusetzen. Die legendäre<br />

Rechenmaschine des Philosophen Pascal scheiterte an der Form<br />

der damaligen Zahnräder, die nur einen begrenzten fehlerfreien<br />

Übertrag erlaubten, so daß er ein anderes System erfinden<br />

mußte, das Energie durch Gewichte in diskrete Einheiten<br />

spaltet und so den Übertrag als mechanische Übertragung<br />

möglicht macht. Die Mechanisierung von Mathematik ist nicht<br />

nur eine Frage des Kalküle und Programme, sondern auch der<br />

Hardware - das große Thema der Medienarchäologie als<br />

Strukturgeschichte des Verhältnisses von Logik und Maschinen.<br />

Film- und Fernsehübertragung<br />

In der Epoche technologischer Signalverarbeitung konvergieren<br />

Ereignis und Übertragung:<br />

Die Fähigkeit, ein Ereignis live zu übertragen, d. h. das Zeitintervall der Übertragung gegen Null konvergieren zu<br />

lassen, zeichnet das Fernsehen gegenüber anderen Medien aus. Wenn es keine Differenz zwischen der Zeit der<br />

Produktion und der Zeit der Reproduktion gibt, erlangen Ereignisse Autonomie gegenüber den sie definierenden<br />

Zeit­ und Raumkoordinaten. Sie werden ubiquitär und entbunden von ihrer Übertragungszeit, spaltet sich die<br />

Gegenwart in eine Fläche paralleler also gleichzeitiger Ereignisse. Die Minimierung der Übertragungszeit ist<br />

verantwortlich für die Beschleunigung der Ereignisse. Von der Postkutsche zum Fernseher entfaltet sich die<br />

Ausstellungskatalog Axel Springer Verlag, Berlin Mai-Juni 1996, 5-7 (5)<br />

122<br />

Zitiert in: Ernst Litfaß (1816­1874). Bestandskatalog des Nachlasses, Katalog einer Sonderausstellung<br />

anläßlich des 150. Geschäfts­ und Bürgerjubiläums von Ernst Litfaß im Märkischen Museum, Stadtmuseum<br />

Berlin 1996, 38<br />

39


Zeitverarbeitung von der Dopplung bis hin zum Verschwinden von (Übertragungs)Zeit. Diese Tendenz übte<br />

einen solchen Druck auf die Ereignisse aus, daß sie zu rasen begannen und es zu einer Verschiebung des<br />

Schwerpunktes von der Speicherung zur Übertragung der Ereignisse kam. Geschehnisse gehen nur nochdurchs<br />

Fernsehen hindurch und unterbrechen, so sie denn einen Informationswert haben, das Bildkontinuum. Da, laut<br />

Informationstheorie, der Informationswert eines Ereignisses sich indirekt proportional zur Wahrscheinlichkeit<br />

des Ereigniseintritts verhält, hat die Störung einen enorm hohen Informationswert und ist nicht redundant. Ein<br />

hochgradig unwahrscheinliches Ereignis hat „Störcharakter“, der im Falle des Ceaucescuschen<br />

Bildzusammenbruchs am 21. 12. 1989 die produktive und eigendynamische Kraft eines Prager Fenstersturzes<br />

hatte. 123<br />

TV ist ursprünglich kein Speicher-, sondern ein<br />

Übertragungsmedium, doch allein der filmischen<br />

Zwischenspeicherung verdankt sich sein massenhafter Erfolg. Im<br />

Begriff der Aufzeichnung wird das Oszillieren zwischen<br />

Speichern und Übertragen manifest. „Der Weg durch Entwicklerund<br />

Fixierbäder kostete lange Minuten: Live ist nicht live“. 124<br />

Was entfällt, ist die Zeit zur kritischen Redaktion der<br />

Nachrichten.<br />

Charakteristisch für digitale und elektronische Medienzeit ist, daß Aufzeichnung, Speicherung, Klassifizierung,<br />

Redaktion und Re­Inszenierung für einen sekundären Gebrauch schlicht zusammenfallen können, also jegliche<br />

bisher für televisuelle Dramaturgie notwendige Zeit­Differenzierung aufgehoben ist; z. B. subjektive anwählbare<br />

Kamera­Einstellungen auf ein Fußballspiel; Zeitlupe, die ins aktuelle Geschehen eingeschnitten wird. 125<br />

Genau diese Differenz wurde am Vergleich zwischen der<br />

Ausstrahlung von Big Brother als TV-Format (täglicher<br />

Zusammenschnitt um 20.15 Uhr) und als Internet-<br />

Direktübertragung manifest. Der Betrachter sehnt sich nach<br />

Redaktion, die nämlich Selektion und Zeitraffung, mithin<br />

investierte Arbeitszeit darstellt, dergegenüber die<br />

Betrachtung in Echtzeit erheblich redundant ist. Dem<br />

entsprechen die 19 Minuten, auf die der Medienkünstler Bill<br />

Viola 1983 die Videoaufzeichnung des dreitätigen Events<br />

Reasons for Knocking at an Empty House zusammenschnitt, wo<br />

eine fest installierte Kamera das monitoring einer<br />

eingeschlossenen, anonymen Person vollzog. Hier wird, jenseits<br />

von dramatisch inszenierter Narration, die Zeitmutation allein<br />

in den sich stetig verändernden Lichtverhältnissen faßbar<br />

. Allerdings fand auch bei der<br />

Übertragung von Big Brother im Internet, wo permanent fünf<br />

Streams aus dem Container live gesendet wurden, eine Form von<br />

Selektion statt: die Auswahl der übertragenden Webcams, deren<br />

Veränderung durch Bewegung oder Zoomen, ferner die Tatsache,<br />

123<br />

Elisa Barth, Referatausarbeitung: Wie die Zeitlichkeit das Fernsehen macht: damals in Rumänien, im Rahmen<br />

des Seminars Was bedeutet der Begriff der zeitbasierten Medien? , Bauhaus-Universität Weimar, Fakultät<br />

Medien, Diplomstudiengang Medienkultur, WS 2001/2002, unter Bezug auf: Eckhart Hammel, xxx, in: Mike<br />

Sandbothe / Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Zeit - Medien - Wahrnehmung, Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1994, xxx,<br />

und Shannon / Weaver 1976<br />

124<br />

Friedrich Küppersbusch, A wie Aufzeichnung (Küppersbuschs Fernsehlexikon), in: Die Zeit v. 4. Mai 2000,<br />

46<br />

125<br />

Hans Ulrich Reck, Metamorphosen der Archive / Probleme digitaler Erinnerung, in: Götz-Lothar Darsow<br />

(Hg.), Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog)<br />

2000, 195-237 (221, Anm. 50)<br />

40


daß ein Stream eine bereits in Echtzeit von den Redakteuren<br />

zusammengestellte Bilderfolge darstellte. 126<br />

An die Stelle der speicherbasierten Überwachung (Staat<br />

und Archiv) ist inzwischen das übertragungsorientierte<br />

monitoring getreten. Ernst Jünger diagnostizierte 1934<br />

angesichts medialer Blitzlichter:<br />

In vielen Fällen tritt das Ereignis selbst ganz hinter der „Übertragung“ zurück; es wird also in hohem Maße zum<br />

Objekt. So kennen wir bereits politische Prozesse , deren eigentlicher Sinn darin besteht, Gegenstand einer<br />

planetarischen Übertragung zu sein. 127<br />

Mit der Photo- und Filmtechnik kommt eine Entwicklung der<br />

Bilderzeugung- -speicherung und -übertragung ans Ende; mit den<br />

Rundfunkmedien beginnt eine neue Epistemé, die auf<br />

Elektrizität basiert, dem Strömen. 128 Dazwischen steht das<br />

Magnetband, ein Aufzeichnungsverfahren, das "alle Vorteile des<br />

Films besitzt, ohne dass fotochemische Behandlungen nötig<br />

wären“ 129 . Analoges Video operiert noch zeitbasiert, im<br />

Unterschied zur digitalen Übertragung. Video ist<br />

„Zwischenmedium“ der audiovisuellen Mediengeschichte insofern,<br />

als es zwischen Fernsehen und Computer steht. Video steht noch<br />

für Zeitverzug, ist also genuin time-based. Dieser Verzug<br />

schrumpft gegen Null, sobald die physikalische Zeit von der<br />

logischen Zeit des Rechners ersetzt wird. So machen es<br />

Hochgeschwindigkeitsnetze möglich, das extrem zeitkritische<br />

3D-Rendering verteilt zu realisieren, also genuin internetbased:<br />

Dazu wird die Grafikhardware der beteiligten Workstations über ATM­Verbindungen eng gekoppelt. Verteilt<br />

generierte Bildanteile werden direkt im Binärformat der Grafikhardware unkomprimiert übertragen und im<br />

Zielrechner zum Endbild zusammengefügt. Diese geschwindigkeitsoptimierte und rendertechnisch vielseitigere<br />

Kopplung ist mit den klassischen Videocodes, die auf reine Videosignale beschränkt sind und Signalverzögerung<br />

erzeugen, nicht realisierbar. 130<br />

Daß die Übertragung kein immaterieller Akt ist, sondern höchst<br />

materiell Medium ist, daran erinnert nicht nur die<br />

Nachrichtentheorie, sondern auch der ökonomische Kampf um den<br />

Fernsehmarkt: Hier macht es nämlich einen unterschied, ob über<br />

Antenne, über Satellit oder über Kabel empfangen wird, etwa<br />

für die Option des Rückkanals, der das Fernsehkabel telefonund<br />

internetfähig macht. 131 Meint Medienkonvergenz im digitalen<br />

126<br />

Dazu die Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des Grades einer Bakkalaurea Artium von Annette Degering<br />

an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum, Big Brother: Die Einführung eines neuen<br />

Fernsehformats in Deutschland, Sommer 2000<br />

127<br />

Ernst Jünger, Über den Schmerz, in: Blätter und Steine, Hamburg 1934, Ziffer 14, 203<br />

128<br />

In diesem Sinne das abstract zum Vortrag von Knut Hickethier, „Das Wunder der Technik“ - die<br />

Technisierung von Zeit und Raum im Rundfunk, zur Jahrestagung der Gesellschaft für <strong>Medienwissenschaft</strong> in<br />

Hamburg: Die Medien und ihre Geschichte. Theorien, Modelle, Geschichte, 4.-6. Oktober 2001<br />

129<br />

Hans Joachim von Braunmühl, Das Magnetofon im Rundfunkbetrieb, in: Reichsrundfunk 1941, 185f<br />

130<br />

Georg Trogemann, Einrichten im Dazwischen, in: Karl Friedrich Reimers / Gabriele Mehling (Hg.), und<br />

Medienhochschulen und Wissenschaft: Strukturen - Profile - Positionen, Konstanz (UVK) 2001, 102-114 (107)<br />

131<br />

Dazu Götz Hamann und Gunhild Lütge, High Noon auf allen Kanälen, in: Die Zeit Nr. 35 v. 23. August 2001,<br />

15<br />

41


Zeitalter die Fusion von TV, Radio und Internet, oder wird<br />

dies noch zu sehr aus der Perspektive der Fernsehkultur<br />

diskutiert? Vielmehr wird ein generalisiertes Internet den<br />

Begriff und die Praxis des Fernsehens selbst absorbieren. Dies<br />

ist keine Frage, die mit Rückgriffen auf Kultur- und<br />

Freizeitverhalten allein beantwortet werden kann, sondern<br />

vielmehr auch eine Funktion der Hardware von Datenübertragung<br />

- je nachdem, ob TV-Kabelnetze ausgebaut werden oder vielmehr<br />

das Internet-Kabelnetz. Bleibt von Fernsehen vielleicht nur<br />

sein übertragungstechnisches Dispositiv zu Diensten<br />

allgemeiner Telekommunikation.<br />

In der Fernsehübertragung als zeitbasiertem Prozeß liegt die<br />

umgekehrte Akzentsetzung zu dem angelegt, was Alberti in<br />

seiner Maschine zur verlustfreien Tradierung des Stadtplans<br />

von Rom konzipierte; hier nämlich diente die Diskretisierung<br />

der Karte in einzelne meßbare und wieder zusammensetzbare<br />

Bildpunkte nicht dem Wahrnehmungsbetrug des<br />

unterscheidungsarmen Auges, sondern der sicheren Übertragung.<br />

Alberti ging es primär um den Speicher, nicht die scheinbare<br />

Auslöschung des Speichers durch Direktübertragung. Tatsächlich<br />

ist die verlustfreie Kopie, also Speicher- und Übertragbarkeit<br />

von Daten, allen Gesetzen der Historik zum Trotz, das<br />

kulturtechnisch unerhört Neue im digitalen Raum.<br />

Leon Battista Alberti strebte nicht nur neue Verfahren der<br />

Geheimkodierung zu politischen Zwecken, sondern in seiner<br />

Descriptio Urbis Romae mit seiner Bildrastermethode auch eine<br />

Methode für die verlustfreie Tradierung visuellen Wissens an.<br />

Hier wird die Karte Roms nicht als graphischer Druck, sondern<br />

als Sequenz alphanumerischer Lettern, mithin als Datei<br />

überliefert, nach dem von Ptolemäus in seinem Buch über<br />

Geographie aus der Antike vertrauten Modell. Diesbezüglich ist<br />

der Begriff Information im technischen Sinn auch auf Bilder<br />

anwendbar . Ptolemäus hat dieses virtuelle<br />

Verfahren mit der Fehleranfälligkeit manueller Kartenkopien<br />

begründet:<br />

Ptolemy´s atlas of the world is handed down to posterity in digital format. Ptolemy lists 8000 locations, and<br />

of each place he indicates the geographic coordinates . Then he insists that each reader has to redraw one of<br />

more maps on the basis of the numerical data exclusively, and he emphasizes that no map, once drawn,<br />

should ever be copied again. Each map has to be generated each time anew from Ptolemy´s lists of coordinates,<br />

and in the absence of any other transmitted picture or image.. The text was a map­generating programme.<br />

Each map, or each image, was conceived as the occasional and ephemeral epiphany of the text that<br />

contained its encryption ­ together with the software that was necessary to decipher it and recreate the image<br />

itself. 132<br />

132<br />

Mario Carpo, Alberti´s Media Lab. Alberti on reproduction and reproducibility of text, pictures, and numbers,<br />

vorgetragen im Seminar Between Graphics, Instruments, and Fiction. Tools of Power in Early Modern Europe,<br />

Zentrum für Literaturforschung Berlin, Forschungsgruppe "Europa", 11./12. Mai 2001. Siehe ders., "Descriptio<br />

urbis Romae". Ekphrasis geografica e cultura visuale all´alba della rivoluzione tipografica, in: Albertiana,<br />

Florenz (Olschki) 1, 1 (1998), 111-132<br />

42


Am Ende seines Lebens beschreibt Alberti tatsächlich noch eine<br />

Kodierungsmaschine, "presumably destined to the Vatican secret<br />

services" , die mit ihrem Räderwerk der deutschen<br />

Wehrmachts-Enigma zustrebt. Hier wird ein nachrichtentechnisch<br />

entscheidender Akt - die Codierung, also Diskretisierung<br />

analoger Gegebenheiten zu Daten zum Zweck ihrer<br />

Verschickbarkeit - zu einem zeitlich intendierten Prozeß der<br />

Tradition. Was geschieht, wenn Tradition nicht mehr Transfer<br />

von Daten über die Zeit von Mensch zu Mensch adressiert,<br />

sondern inter-maschinell gemeint ist?<br />

Klassische Kinematographie - etwa der Film Kurische Nehrung<br />

von Volker Koepp (D 2001) - macht Lebensbilder durch Rahmung,<br />

Ausschnitt und Positionierung, dann durch Speicherung auf<br />

Zelluloid übertragbar und latent wiederaktivierbar - eine<br />

Weitergabe in Raum und Zeit.<br />

Heute sind Bilder übertragbar, im Lauf der gesamten Geschichte dagegen waren Bilder, wenigstens im Prinzip,<br />

nur speicherbar. Ein Bild hatte seinen Ort, zunächst im Tempel, dann in der Kirche und schließlich im Museum.<br />

Die Schrift dagegen, seit sie sich durch Papier und Pergament von der Inschrift auf Mauern oder<br />

Denkmälern abgelöst hatte, bildete nicht nur ein Speichermedium für gesprochene Alltagssprachen, sondern<br />

zugleich deren Übertragungsmedium. Sie war nicht bloß Literatur, sondern immer auch schon Post. Und<br />

alles spricht für die Vermutung von Harold Innis, dem medienwissenschaftlichen Vorgänger McLuhans, daß<br />

genau diese Tragbarkeit oder Übertragbarkeit der Schriftrollen es war, die zwei Nomadenvölker, zunächst die<br />

Juden und später die Araber, dazu brachte, anstelle der weithin üblichen Götterbilder ein gottgegebenes oder gar<br />

gottgeschriebenes Buch zu verehren . Die Schrift, weil sie Speicherung und Übertragung von Information<br />

auf einmalige Weise kombinierte, hat ihr Monopol wirklich solange halten können, wie die optischen Medien<br />

noch nicht technisch mobil machten, also bis zur Wende unseres Jahrhunderts.<br />

Und aus diesem Grunde wurden die elektrischen<br />

Bildübertragungsmedien seit dem 19. Jahrhundert prompt nach<br />

dem Vorbild der Post, also der Buchstabenübertragung<br />

modelliert. Einsicht der Bildtelegraphie: „Die Übertragung<br />

analoger optischer und akustischer Information im modernen<br />

Sinn gelingt erst mit ihrer Konvertierung in elektrische<br />

Signale.“ 133<br />

Waren Bibel und Koran vor allem ihrer Übertragbarkeit wegen<br />

zum primären Kommunikationsmedium mit dem Abwesenden (Gott)<br />

geworden, stellte sich im 20. Jahrhundert, mit der TV-<br />

Bildübertragbarkeit religiöser Zeremonien, erneut die Frage<br />

der kirchlichen Verkündigung als buchstäblicher Sendung. Das<br />

Jahr 1953 steht nicht allein für den Durchbruch des<br />

Massenmediums Fernsehens aufgrund der weltweiten live-<br />

Übertragung der Krönung von Elisabeth II. in London; für die<br />

gegenseitige Übertragung zwischen den Kontinenten zählte die<br />

Zeitverschiebung - die ganze Differenz von Europa und Amerika<br />

als techno-kalendarische différance. In Deutschland steht<br />

dieses Jahr auch für die erste Aufzeichnung einer Messfeier<br />

durch die ARD in der Kirche St. Gereon zu Köln am 25. März.<br />

Anhand der Diskussion um die Übertragung sakralen Geschehens,<br />

nämlich der Gottesdienstübertragung, wird die Sendung elektrospirituell,<br />

zur Mission. Denn in diesem Moment transportiert<br />

133<br />

xxx Hiebel (Hg.) 1997, Kleine Medienchronik, 33<br />

43


die scheinbare Unmittelbarkeit von Fernsehen nicht mehr nur<br />

veritas in nomine, sondern auch veritas in re – ansonsten die<br />

Differenz zwischen kommunikativem, körperlichem Dabeisein und<br />

der live-Übertragung durch Fernsehen. 134 Erst Papst Johannes<br />

Paul II. setzt die Gültigkeit von televisuell übertragenem<br />

Segen (Urbi et Orbi) durch. gegen das biblische<br />

Schriftmonopol. Die Differenz zwischen inhaltlicher<br />

("Tradition") und technischer Übertragung wird im Begriff der<br />

Sendung deutlich, oder frei nach Martin Heidegger: die<br />

Differenz von Sendung und Geschick.<br />

Vom Speichern zum Übertragen<br />

"Die Informationsgesellschaft ist nachtraditional." 135 Liegt das<br />

Wesen der Information in seiner Immaterialität, jenseits der<br />

klassischen materiellen Bindung von Tradition? Denken wir das<br />

Read Only Memory unmetaphorisch als Gedächtnisform des<br />

elektronischen Zeitalters und Herausforderung an die<br />

klassische Weise, Tradition zu begreifen. „Im Unterschied zu<br />

tradierten Kulturtechniken ersetzen technologische Maschinen<br />

die Primärfunktion der Aufbewahrung durch schnelle<br />

Übertragung" (Michel Serres). Wenn Archiv und recycling sich<br />

kurzschließen, fällt der Augenblick des Entstehens (live) mit<br />

dem Augenblick des Sendens zusammen. Die Macht des Archivs lag<br />

einmal in seiner aufschiebenden Struktur. Doch was, wenn sein<br />

Abruf immediat geschieht? Mit dem Internet, also der<br />

unverzüglichen Aktualisierbarkeit von Speichern, wird diese<br />

Nachträglichkeit als Bedingung jeder emphatischen<br />

Geschichtsphilosopie gegen Null verkürzt. Gegenüber der<br />

Echzeit von Datenverarbeitung und -speicherung bringt das<br />

insistente Archiv den Begriff der Nachhaltigkeit ins Spiel,<br />

die Wiedereinführung einer Blockade namens Archivsperre als<br />

Schutz von Ressourcen, als Blockage von Information oder als<br />

Nachrichtensperre - die katechontische Macht des Archivs, die<br />

mit dem psychoanalytischen Begriff der Verdrängung selbst<br />

korrespondiert.<br />

Doch das Archiv als Gedächtniskapital gerät in Bewegung.<br />

Analog zur Beschleunigung, ja Auflösung klassischer<br />

Geldanlageformen wie dem Bankkonto samt seinen Zinsen durch<br />

dynamische Direktinvestition von Aktien und Börsenkurse, die<br />

ständig im Fluß sind, wandelt sich auch die<br />

Konsumentenhaltung: nicht mehr dauerhafte Anschaffungen,<br />

sondern ein Trend zum temporären Konsum von Luxusgütern; wenn<br />

eine Anschaffung auf Dauer, dann als Akt ständiger<br />

134<br />

Dazu die Magisterarbeit von Daniel Harbecke, Fernsehen und Kirche. Das Problem religiöser (Selbst­)<br />

Darstellung im virtuellen Raum des Mediums am Beispiel konkreter Sendeformen, eingereicht an der Fakultät<br />

für Philologie der Ruhr­Universität Bochum (Film­ und Fernsehwissenschaften), Juni 2000, 67, unter Bezug auf:<br />

Horst Albrecht, Die Religion der Massenmedien, Stuttgart / Berlin / Köln 1993<br />

135<br />

Beat Wyss, Der notwendige Anachronismus der Kunst. Kulturarbeit und Öffentlichkeit, in: Claus Pias (Hg.),<br />

Medien. Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar (VDG) 1999, 297-313 (310)<br />

44


Optimierung. 136 Drastisch wurde die Kopplung von Gedächtnis und<br />

Kapital im Streit um die Auszahlung deutscher Stiftungsgelder<br />

an ehemalige polnische Zwangsarbeiter im III. Reich, Sommer<br />

2001: Zum Zeitpunkt des realen Geldtransfers und der<br />

Auszahlung hatte die Inflation des polnischen Sloti (die<br />

Auszahlungwährung) bereits einen Teil der Summe (des Wert ins<br />

deutscher Mark) zunichte gemacht. So eng gekoppelt ist der<br />

Diskurs von Gedächtnis an Übertragung.<br />

Die Metapher ist die rhetorische Figur der Übertragung.<br />

Schiffe bilden Metaphern der Übertragung und Speicherung<br />

zugleich: "Sie sind Mittel zum Aussenden wie zum Einsammeln<br />

, metaphorisch naturgemäß, denn metaphora, translatio<br />

oder Übertragung bedeuten allesamt das Schiff." 137 An eine<br />

neue Funktion der Arche Noah erinnern die Medienarchive der<br />

Gegenwart, die nicht mehr primär speichern, sondern als<br />

Produktionsarchive der Sendeananstalten ihrer permanenten<br />

Reaktivierung harren. In der textfixierten Kultursemiotik wird<br />

Kultur - zumal die europäische, abendländische – als Funktion<br />

ihres Gedächtnisses definiert. Demgegenüber war das 20.<br />

Jahrhunderts zunehmend von audiovisuellen Medien bestimmt,<br />

deren Wesen – technisch und ästhetisch - nicht mehr primär in<br />

der Speicherung, sondern in der Übertragung liegt - ein neuer<br />

Begriff von Tradition. Zwar entdeckten gerade die vormals<br />

flüchtigen Medien Fernsehen und Radio zur Jahrtausendwende das<br />

Kapital ihrer Produktionsarchive; der Computer aber und seine<br />

kommunikative Infrastruktur, das Internet, lassen die<br />

traditionellen Speicher-Metaphern obsolet erscheinen. Am Ende<br />

steht das Plädoyer für einen Begriff von Medienkultur, deren<br />

Akzent sich von der Speicherung hin zu einer Ästhetik, Technik<br />

und Politik der Übertragung verschiebt.<br />

Man denke nur an Ernst Jüngers hypermediennahe Theoriefiktion des Phonophor. Der Phonophor ist ja ein<br />

Allsprecher, der jeden mit jedem verbindet und damit das alte Ideal des pausenlosen Forums, der permanenten<br />

Tagung technisch implementiert; er ermöglicht die planetarische Volksversammlung genauso wie die instantane<br />

Volksbefragung. Der Phonophor ersetzt Identitätskarte, Uhr und Kompaß; er vermittelt die Programme aller<br />

Sender und Nachrichtenagenturen und gibt über ein Zentralarchiv Einblick in alle elektromagnetisch<br />

gespeicherten Texte. 138<br />

Übertragung wird zu immediater Induktion verkürzt. Niklas<br />

Luhmanns Kommunikationstheorie weist die energetische<br />

Übertragungsmetapher energisch zurück, um Kommunikation<br />

vielmehr kybernetisch als Emergenz der wechselseitigen<br />

Kopplung von Strukturen darzustellen. Erich Jantsch hat<br />

Kommunikation nach der physikalischen Analogie des<br />

Resonanzphänomens beschrieben: Schwingungen in einem Spektrum<br />

136<br />

In diesem Sinne der Beitrag von Torsten Meyer (be2act GmbH, eine<br />

TV/iTV/Internetdienstleistungsgesellschaft in Hamburg) zur Fachveranstaltung Medienkonvergenz im digitalen<br />

Zeitalter im Rahmen der IFA Convention (Internationale Funkausstellung Berlin), ICC Berlin, 28. August 2001<br />

137<br />

Bojan Budisavljevic, Die Überfahrt, ein Dichtertod: Hart Crane, in: Aufbrechen Amerika. Der Katalog, hg. v.<br />

d. Stadt Bochum 1992, 235. Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 209ff<br />

138<br />

Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg Galaxis: die neuen Kommunkationsverhältnisse, München (Fink)<br />

1993, 227<br />

45


verwandter Frequenzen werden (nahezu) ohne Übertragung von<br />

Energie induziert. 139 Solche Übertragungsmedien aber<br />

hinterlassen kaum Spuren. Sofern es von Übertragungsakten kaum<br />

archivische Aufzeichnungen gibt, zeitigen sie auch kaum<br />

Historiographie. Es stellt sich die Frage nach einem dritten<br />

Term jenseits von Speichern und Übertragen. 140 In seiner<br />

Tektonik nennt Schinkel als das Wesentliche eines Bauwerks die<br />

Korrespondenz der physischen mit den optischen Qualitäten, des<br />

Materials mit der Konstruktion. Diese Korrespondenz ist heute<br />

nicht mehr im „Lasten“ und „Tragen“ zu suchen, „sondern<br />

vielmehr in der Beherrschung von Spannung und Bewegung“ 141 -<br />

eine Akzentverschiebung.<br />

Provokation der Übertragung? Quantentheorie und Teleportation<br />

Seit dem 20. Jahrhundert wird die klare Trennung von Raum und<br />

Zeit im Begriff kulturtechnischer Tradition epistemologisch<br />

unterlaufen. Mag sein, daß der Begriff der klassischen<br />

Raumzeit im Quantenbereich seinen Sinn verliert; resultiert<br />

die Aufgabe, Tradition entsprechend anders zu definieren.<br />

Eine Antwort auf Überlieferungschancen von Daten aus der<br />

Vergangenheit gibt die quantentheoretisch informierte<br />

Systemtheorie. Evolution transformiert geringe Entstehungs- in<br />

hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit. "Dies ist nur eine andere<br />

Formulierung der geläufigeren Frage, wie aus Entropie (trotz<br />

des Entropiesatzes) Negentropie entstehen kann." 142 Auch in der<br />

Quantenmechanik wird Wissen gegen Entropie verrechnet<br />

(Wolfgang Hagen).<br />

Hinsichtlich der kryptographischen Verschlüsselung von<br />

Informationsübertragung wird das quantenmechanische Theorem<br />

der "spukhaften Fernwirkung" (wie Albert Einstein es kritisch<br />

nannte) verschränkter Teilchen konkret. Der Schlüssel wird<br />

nicht von A nach B transportiert, sondern entsteht an beiden<br />

Orten (Sender / Empfänger) gleichzeitig. Der Kanal wird unter<br />

verkehrten Vorzeichen wieder ins Werk gesetzt - als ein<br />

virtueller, denn bei Gleichkenntnis des Schlüssels auf Senderund<br />

Empfängerseite wird jede Interzeption der Nachricht<br />

unverzüglich identifizierbar - sie macht sich sofort beim<br />

Empfänger als Änderung der (Meß)Werte bemerkbar. In diesem<br />

Moment wird der Kanal konkret. So fallen der messende und der<br />

operative Blick ineins - eine Sehstrahltheorie auf neuen<br />

Grundlagen. Doch auch die von Anton Zeilinger beschriebene<br />

139<br />

Bolz 1993: 41, unter Bezug auf E. Jantsch, Erkenntnistheoretische Aspekte, in: xxx, 171<br />

140<br />

In diesem Sinne die Vorgedanken zu einem bislang nicht realisierten Workshop im Rahmen des DFG­Projekts<br />

Geschichte der analogen und digitalen Medien, Protokoll eines Projekttreffens vom 1. Februar 1997 (Peter Berz)<br />

141<br />

Andreas Kahlow, Vom Gewölbe der Renaissance zur Netzschale aus Stahl und Glas, in: VDI­Nachrichten,<br />

März 2002, 7<br />

142<br />

Niklas Luhmann, Gesellschaft xxx, 1997, 415f<br />

46


Versuchsanordnung zur Quantenkryptographie bedarf noch eines<br />

parallelen klassischen Nachrichtenkanals, etwa einer<br />

Telephonleitung zur Verifizierung der Übertragung von Seiten<br />

des Empfängers an den Absender.<br />

Jede technische Übertragung bedarf traditionell des Dazwischen<br />

als Trennung von Botschaft und Inhalt, Medium und Botschaft -<br />

nicht semantisch, sondern zeitverzögert. Doch was geschieht<br />

mit dem Ereignis der Speicherung in Fast-Echtzeit, in<br />

buchstäblicher Lichtgeschwindigkeit, wenn das Licht (im Sinne<br />

McLuhans) selbst Information und das, was übertragen werden<br />

soll, zugleich speicherbar wird wird?<br />

So könnten beispielsweise die Photonen ohne Information zu günstigen Tarifen verschickt und die eigentlichen<br />

Inhalte der Botschaften zu Stoßzeiten schnell nachgereicht werden. Da Photonen bisher nicht gespeichert werden<br />

können, ist das aber noch Zukunftsmusik. 143<br />

Im 21. Jahrhundert ersetzt die Photonik die elektronischen<br />

Komponenten in Rechnern. Eröffnen nun glasfaseroptische<br />

Kommunikationsplattformen und Quantenmechanik das<br />

ultraschnelle Zeitalter der reinen Übertragung?<br />

Quantenmechanische Teleportation beschrieb Albert Einstein als<br />

„spukhafte Fernwirkung“; Sigmund Freud faßte sie als Gedanken<br />

zur Telepathie. Im Gegensatz zur Alltagswahrnehmung von<br />

Gegenständen können räumliche getrennte Quantensysteme eng<br />

zusammenhängen; wird ein verschränktes Photonenpaar räumlich<br />

getrennt, kann jeder beliebige Quantenzustand von einem<br />

Teilchen zum anderen teleportiert werden. Doch jede kleine<br />

Störung beim Transport von der gmeinsamen Quelle zu den<br />

Stationen entkoppelt die Teilchen weiter, so daß Peter Zoller<br />

„Quantenrepeater“ vorschlägt, welche die Verschränkung diskret<br />

auffrischt, nach Zwischenspeicherung. Widerstand gegen die<br />

Parasiten (im Sinne von Serres), denn Quantenkommunikation<br />

schafft einen völlig abhörsicheren Kommunikationskanal: „Ein<br />

Lauscher stört das System so stark, daß er sofort entdeckt<br />

wird“ 144 - die Heisenbergsche Unschärferelation beim Meßvorgang,<br />

denn eine Messung an einem System legt unmittebar das Ergebnis<br />

einer entsprechenden Messung am andren System fest.<br />

Das Human genome project verwandelt den Körper durch<br />

Dekodierung seiner kleinsten Informationen in ein Totalarchiv.<br />

Damit korrespondiert der quanteninformatische Akt der reinen<br />

Körper-Übertragung. Beamen ist ein Begriff für die Utopie des<br />

körperlosen Transports, der aus der TV-Welt von Gene<br />

Roddenberrys Raumschiff Enterprise (nach einem Vorspiel im<br />

Horrorklassiker The Fly von 1954) inzwischen aus dem Reich der<br />

Fiktion in das der physikalischen Denkbarkeiten gewandert ist.<br />

Bereits Norbert Wiener hat spielerisch behauptet, ein Mensch<br />

lasse sich zwar nicht als Masse, aber als Information durch<br />

143<br />

Rainer Stoll, "Trits" statt Bits erhöhen Übertragungsrate, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21. August<br />

1996<br />

144<br />

Tobias Hürtler, Quantensprung in der Quantenkommunikation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 7 v. 9.<br />

Januar 2002, N2, unter Bezug auf Peter Zoller et al., in: Nature Bd. 414, 413<br />

47


Telefonleitung übertragen. Um einen Menschen in seinen<br />

subatomaren Bestandteilen zu bestimmen, braucht es zwar rund<br />

20.000 Milliarden Jahre aktueller Rechnerzeit, und zudem wird<br />

„der in Quarkgröße zerlegte Reisende am Bestimmungsort zwar<br />

vollständig ankommen, aber auch mausetot“ sein 145 ; andererseits<br />

haben Wissenschaftler 1998 tatsächlich ein Lichtteilchen an<br />

einem Ort verschwinden und woanders wieder auftauchen lassen,<br />

ohne daß es sich dazwischen bewegt hätte – eine<br />

Rematerialisierung von Photonen einer Quantenverstrickung. Auf<br />

der Ebene der Photonen aber ist das elektronische Bildmedium<br />

Fernsehen selbst betroffen, das solche Nachrichten sendet.<br />

Zeilinger gelang es in seinem Wiener Laborexperiment 1997,<br />

Lichtteilchen wenige Meter durch eine Apparatur zu<br />

transportieren, also die teleportative Übertragung von<br />

Informationen von Lichtteilchen über deren Quantenzustand auf<br />

andere solche Teilchen. Mißt man den Quantenzustand des einen<br />

Teilchens, legt man damit den Zustand des anderen fest,<br />

unabhängig von dessen Entfernung. Zwei verschränkte Photonen<br />

zeitigen bei der Messung an einer Seite diegleichen Meßwerte<br />

auf der anderen. Damit wird der nachrichtentechnische<br />

Übertragungsbegriff nicht außer Kraft gesetzt, sondern<br />

affirmiert: Übertragung von Information ist so möglich,<br />

wenngleich nicht mehr von der Medienrealität des Raum- und<br />

Zeitkanals her gedacht. Kassiert hier der (mit Norbert Wiener)<br />

fortgeschriebene Informationsbegriff das nachrichtentechnische<br />

Dispositiv Claude Shannons? Trotz Unschärferelation läßt sich<br />

Information teleportieren. 146 Damit aber geht es nicht mehr um<br />

Übertragung im Sinne des Transportwesens, sondern der<br />

Quanteninformatik. So sieht Zeilinger die Quantenmechanik<br />

nicht als Theorie der Wirklichkeit, sondern als Theorie der<br />

Information, in der Quanten zu Bits werden. Nur so kommt er<br />

dem Dilemma bei, daß die Beobachtung eines Teilchens zum<br />

Kollaps einer Wellengleichung führt - wobei sich das Teilchen<br />

gleichsam entscheidet, welchen Zustand es einnimmt. Die<br />

Heisenbergsche Unschärferelation, derzufolge sich nicht alle<br />

Eigenschaften eines Teilchens gleichzeitig (synchron) präzise<br />

messen lassen, ist also zeitkritisch. Aus diesem Grunde kann<br />

man die in einem Objekt enthaltene Information auch nicht<br />

vollständig scannen und an einen anderen Ort übertragen - ein<br />

aus der elektronischen Bildübertragung vertrautes Phänomen.<br />

Quantum dense coding heißt die Möglichkeit, die<br />

Übertragungsrate von Nachrichten unter Ausnutzung<br />

quantenphysikalischer Mischzustände zu erhöhen. 147 Doch auch<br />

hier wird der von der klassischen Informationstheorie<br />

vorgeschriebene Maximalwert für die Übertragungskapazität von<br />

145<br />

Die Zeit v. 6. Juli 2000, 35<br />

146<br />

Thomas Vasek, Popstar wider Willen, in: Die Zeit Nr. 41 v. 4. Oktober 2001, 34<br />

147<br />

Vortrag "Quantum Dense Coding" von Anton Zeilinger auf der 15. Internationalen Konferenz für Atomphysik;<br />

dazu der Bericht von Rainer Stoll, "Trits" statt Bits erhöhen Übertragungsrate, in: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung v. 21. August 1996<br />

48


einem Bit pro Kanal nicht überschritten. 148 In einem<br />

Quantenzustand wird ein Bit durch einen Quantenzustand<br />

dargestellt, das Qubit. Damit sind nicht nur die binären<br />

Zustände 0 und 1, sondern n-fache quantenmechanische<br />

Zwischenzustände möglich, welche mathematische Aufgaben in<br />

Teilaufgaben zerlegen und parallel bearbeiten können. Die<br />

Kunst ist, Quantenzustände für die Dauer einer Rechenoperation<br />

stabil zu halten, eine Art Fließgleichgewicht oder<br />

organizational memory, um Informationen für einen Moment in<br />

einer Kette zu speichern und dann weiterzuübertragen. Die<br />

Überlagerungszustände können nicht gemessen werden, ohne daß<br />

Information verlorengeht; jeder Einblick aus der Welt<br />

manipuliert immer schon die Quantenzustände. Daher ist es auch<br />

nicht möglich, Zwischenzustände zu speichern und zur<br />

Fehlerkorrektur zu verwenden. Am Ende bleibt die Welt im<br />

Spiel, wie sie der Tradition vertraut ist:<br />

Gefahr droht den miteinander verschränkten Teilchen durch elektromagnetische Streufelder,<br />

Temperaturschwankungen oder kleinste Erschütterungen. Die Folge ist eine Störung der quantenmechanischen<br />

Zustände ­ die sogenannte "Dekohärenz" ­, wodurch sich Rechenfehler einschleichen können. 149<br />

Beamen im großen Stil ist aus quantenphysikalischer Sicht<br />

schon deshalb nicht realistisch, weil ein Ding, gar<br />

Organismus, kaum in einem wohldefinierten Quantenzustand<br />

gehalten werden kann, also vollkommen abgeschlossen und ohne<br />

Interaktion mit der Außenwelt. Es bleibt, vorläufig, bei der<br />

Übertragung.<br />

148<br />

Vortrag "Quantum Dense Coding" von Anton Zeilinger auf der 15. Internationalen Konferenz für Atomphysik;<br />

dazu der Bericht von Rainer Stoll, "Trits" statt Bits erhöhen Übertragungsrate, in: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung v. 21. August 1996<br />

149<br />

Vasco Schmidt, Quantencomputer entschlüsseln Geheimcodes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung xxx<br />

49

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