Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
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Übertragungstechniken als Diskontinuierung<br />
1948 kritisiert Ernst Robert Curtius den disziplinär<br />
zersplitterten Zustand der akademischen Literaturwissenschaft,<br />
deren Stand er mit dem Eisenbahnsystem von 1850 vergleicht:<br />
"Die Eisenbahn haben wir modernisiert, das System der<br />
Traditionsübermittlung nicht." 1<br />
Die systemtheoretische Übersetzung der kulturellen<br />
Gedächtnissemiotik nimmt wahr, daß sie sich nicht in<br />
geschichtsemphatischen Archivierungsfunktionen erschöpft,<br />
sondern sich in Prüfoperationen, also dem Abgleich von<br />
Traditionen im Licht neuer Information manifestiert, denn das<br />
Archiv ist eine Differenzmaschine, "ein semantischer Rechner"<br />
.<br />
Kultur ist eine unvollständige, ja mißverständliche Übersetzung des Vergangenen, wie Lotman sagt. Unter<br />
dem Deckmantel der Tradierung behindert sie die Übertragung. Denn was sie tradiert, tradiert sie nicht als<br />
Selbstverständliches, sondern, indem sie es tradiert, als schon nicht mehr Selbstverständliches. 2<br />
Womit das Archiv nur scheinbar Kontinuität sichert,<br />
tatsächlich aber auf einem Akt der Diskontinuierung beruht.<br />
Ein jahrhundertelang auf Archivierung fixierter<br />
abendländischer Kulturbegriff wird unter den Bedingung<br />
technisch beschleunigten Datentransfers mit dem Jenseits des<br />
Archivs konfrontiert: Tradition wandelt sich vom Speicher- zum<br />
Übertragungsbegriff. Aus dieser Erkenntnis resultiert eine<br />
Epistemologie der Diskontinuität.<br />
Die Epistemologie der Brüche paßt auf Beschleunigungsphasen in der Geschichte der Wissenschaften, auf<br />
Phasen, in denen das Jahr und sogar der Monat zur Maßeinheit der Veränderung werden. Die Epistemologie der<br />
Kontinuität findet in den Anfängen, im Erwachen eines Wissens seine bevorzugten Gegenstände. 3<br />
Canguilhems Schüler Michel Foucault zog daraus die Konsequenz<br />
für den Begriff der Tradition:<br />
Man muß sich von einem ganzen System von Begriffen befreien, die mit dem Postulat der Kontinuität verbunden<br />
sind. So etwa der Begriff der Tradition, der jede Neuheit in ein System von bleibenden Koordinaten<br />
einordnet und zugleich die Gesamtheit der konstanten Phänomene definiert. So auch der Begriff des Einflusses,<br />
der den Erscheinungen der Überlieferung und der Mitteilung eine eher magische als substantielle Stütze verleiht. 4<br />
Die erst rousseauistische, dann romantische Opposition gegen<br />
die Schrift als Medienkritik führte zur Hypostasierung des<br />
ursprünglichen Dichters (Homer) als Sänger, verkannte damit<br />
aber, daß (so der medienarchäologische Befund Barrys Powells)<br />
1<br />
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [*Bern 1948], 8. Aufl. Bern / München<br />
(Francke) 1973, 25<br />
2<br />
Dirk Baecker, Wozu Kultur? Berlin (Kadmos) 2000, 155160 (158). Siehe Jurij M. Lotman / B. A. Uspenskij,<br />
Zum semiotischen Mechanismus der Kultur [1971], in: Semiotica Sovietica, hg. v. Karl Eimermacher, Bd. 2,<br />
Aachen (Rader) 1986, 853880;, siehe<br />
3<br />
Georges Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, übers. v. Michael Bischoff / Walter Seitter,<br />
hg. v. Wolf Lepenies, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1979, 52<br />
4<br />
Michel Foucault, Zur Archäologie des Wissens [= Réponse au Cercle d´Épistemologie, in: Cahiers pour l<br />
´Analyse Nr. 9: Genéalogie des Sciences, Paris 1968; übers. v. Walter Seitter, Typoskript<br />
1
sich die Modifikation des phönizischen Konsonanten- zum<br />
altgriechischen Vokalalphabet höchstwahrscheinlich dem Wunsch<br />
nach Notation der homerischen Gesänge verdankt. Schriftkritik<br />
geriet damit in Paradoxien: "Die mündliche Poesie wurde in<br />
Büchern gesammelt und also durch die Aufzeichnung gleichzeitig<br />
gerettet und ausgelöscht" - die Ambivalenz<br />
von Tradition und/oder Archiv.<br />
Fritz Heiders Aufsatz von 1921 über "Ding und Medium" 5 kommt<br />
deshalb so vertraut vor, weil ein Teil seiner Argumente an die<br />
Lektüre von Aristoteles´ Text De anima erinnert. Der<br />
aristotelische protomediale Begriff des Dazwischen (to metaxy)<br />
taucht als Denkfigur in späteren Texten auch dann noch auf,<br />
wenn Autoren vergessen haben, worauf sie zurückgehen; erst<br />
Thomas von Aquin übersetzt ihn dann ausdrücklich mit medium.<br />
Gerade dann wird Überlieferung zur Tradition, wenn die Medien<br />
der Übertragung selbstverständlich oder vergessen werden. "Für<br />
die wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen, drängt<br />
sich die Ansicht auf, unser Leben sei die verworrene Antwort<br />
auf Fragen, von denen wir vergessen haben, wo sie gestellt<br />
wurden." 6<br />
Von dem Moment an, wo das Wissen um Kontexte als<br />
hypertextuelles Schreibverfahren technisch implementiert ist,<br />
lösen wir uns aus der Linearität von Schrift. Womit auch der<br />
Begriff der Tradition sich vom historiographischen zum<br />
archivischen Dispositiv ändert: "Das elementare Schema der<br />
Kommunikation wäre nicht mehr `A übermittelt etwas an B´,<br />
sondern `A modifiziert eine Konfiguration, die Ab, B., C, D<br />
usw. gemeinsam ist." 7 Der Unterschied zur räumlichen<br />
Konfiguration des Archivs ist jedoch die Zeitbindung des<br />
Begriffs der Tradition, der auf den ersten Blick mit dem 2.<br />
Hauptsatz der Thermodynamik kongruiert:<br />
Nur da, wo es ein "vorher" und ein "nachher" gibt, kann man von "tradere", von Überliefern sprechen: außerhalb<br />
der Zeit ist Tradition undenkbar. Es scheint allgemein, daß das, was "vorher" gewesen ist, daß die Vergangenheit,<br />
weil sie etwas Totes, endgültig Abgeschlossenes ist etwas Vorhandenes sei, und daß das Unbestimmte,<br />
Unsichere nur in der Zukunft, in dem was noch nicht ist, liegt. Tradition scheint somit die Übergabe dessen, was<br />
abgeschlossen und für jeden vorhanden daliegt. Bei einer näheren Betrachtung sehenwir aber, daß<br />
Vergangenheit ebenso wie Zukufnt nicht als etwas Vorhandenes zu betrachten sind. Das was nicht mehr ist <br />
Vergangenheit und das was noch nichtist Zukunft sind zwei Abgrenzungen, Ermessungen, die sich nur unter<br />
Voraussetzung eines Maßstabes erschließen und zwar auf Grund von etwas Bestehendem. 8<br />
Genau im Raum dazwischen siedelt Martin Heidegger in § 74 von<br />
Sein und Zeit den Begriff der Überlieferung an: Sie antwortet<br />
weniger auf vergangene Wirklichkeiten als vielmehr auf<br />
5<br />
In: Symposion, Heft 2 (1921), 109-157; Wiederabdruck (gekürzt) in: Claus Pias / Joseph Vogl / Lorenz Engell et<br />
al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart (DVA) 1999: 319-333<br />
6<br />
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus – die<br />
Elmauer Rede, in der vom Autor autorisierten Version in: Die Zeit v. 16. September 1999<br />
7<br />
Pierre Lévy über die "Metapher des Hypertext", in: Engell et al. (Hg.) 1999: 529<br />
8<br />
Ernesto Grassi, Politisches und begriffliches Denken in der italienischen Tradition [29. 11. 1938], in: Jahrbuch<br />
1939 der KaiserWilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, hg. durch den geschäftsführenden<br />
Vorstand, 109134 (110f)<br />
2
vergangene Möglichkeiten (parallel zu Leibniz´ „möglichen<br />
Welten“). „Die Anstrengung der Überlieferung richtet sich auf<br />
das, was seine Wirkung nicht ohnehin schon getan hat; genau<br />
dadurch wird sie zum „Widerruf dessen, was im Heute sich als<br />
Vergangenheit auswirkt“. Gerade das Interesse an Tradition<br />
widerstrebt einer bloßen Fortsetzung des Gewesenen als<br />
Wiederholung. 9 „Die Überlieferung liefert uns nicht einem Zwang<br />
des Vergangenen und Unwiderruflichen aus. Überliefern,<br />
délivrer, ist ein Befreien, nämlich in die Freiheit des<br />
Gespräches mit dem Gewesenen.“ 10<br />
Droysen formuliert in seiner Historik die<br />
Überlieferungsabsicht historischer Quellen und spricht vom<br />
"atmosphärischen Prozeß der aufsteigenden und sich<br />
niederschlagenden Dünste, aus denen die Quellen werden" -<br />
Rausch, nahe der thermodynamischen Gastheorie, aus welcher die<br />
Gesetze der Entropie abgeleitet werden. In welchem Verhältnis<br />
stehen dabei kulturelle Tradition und Redundanz?<br />
Ein verschlüsselter Text ohne jede Redundanz gilt als sicherer Übertragungscode. In der<br />
Informationstheorie ist Redundanz derjenige Teil einer Botschaft, der in einem technischen System nicht<br />
übertragen werden muß, ohne daß der Informationsgehalt der Nachricht verringert wird. 11<br />
Gilt das auch für die Relation von Signatur und Dokument in<br />
den nicht-technischen Systemen Archiv und Bibliothek und<br />
Museum, und ist die historische Narration demgegenüber<br />
redundant? „Einmal mehr taucht die Rätselfrage auf, in welchem<br />
Verhältnis bei Medien Programm und Narrativität stehen.“ 12<br />
Das Archiv ist eine reine Differenzmaschine, intern wie<br />
extern. Als Kulturtechnik zieht es, wie andere<br />
Speichertechnologien, seine "eigenen Demarkationslinien im<br />
Verhältnis von Sagbarem und Unsagbarem, Sichtbarem und<br />
Unsichtbarem, Ordnung und Differenzlosigkeit und damit jene<br />
Grenze, die den historsichen Stand eines Wissenszusammenhangs<br />
vom Außen seines Nicht-Wissens trennt." 13<br />
Auch Übertragungstechniken beruhen auf einem technorhetorischen<br />
Dispositiv:<br />
Nicht zufällig hat der Akt, durch den das Subjekt der Geschichte bestimmt und legitimiert wird, den Namen einer<br />
fundierenden rhetorischen Figur getragen als translatio imperii, "Übertragungen", metaphorische Funktionen<br />
spielen hier immer wieder eine wesentliche Rolle. Alexander ergreift seine historische Konzeption in der<br />
Umkehrung des XerxesZuges über den Hellespont. Der Gott des Alten Testaments überträgt seine<br />
Geschichtshoheit durch Vertrag. Je tiefer die Krise der Legitimität reicht, um so ausgeprägter wird der Griff<br />
nach der rhetorischen Metapher. <br />
9<br />
Jürgen Kaube, Einmal Davos und zurück, über eine Tagung zu Heidegger und Cassirer, in: Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung vom 29. September 1999, N5<br />
10<br />
Martin Heidegger, Was ist das - die Philosophie?, Vortrag August 1955 in Cerisy-la-Salle, Pfullingen (Neske)<br />
1956, 9. Aufl. 1988, 8<br />
11<br />
Axel Roch, Mendels Message. Genetik und Informationstheorie, TS 1996<br />
12<br />
Kittler, Drogen xxx, in: xxx, 249<br />
13<br />
Joseph Vogl in seiner Einleitung zum Kapitel "Formationen des Wissens", in: Claus Pias / ders. / Lorenz<br />
Engell u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart<br />
(DVA) 1999, 485488 (487)<br />
3
Diese Metapher aber wird materiell, wenn die Übersetzung etwa<br />
das italienische traslazione meint, das die Bewegung zwischen<br />
Orten bezeichnet, besonders das Leichenbegräbnis oder die<br />
Umbettung eines Grabs (translatio im Mittelalter, Überführung<br />
der Reliquien eines Heiligen von seinem Grab zu einer<br />
Kultstätte). 14 Plötzlich sitzt die Übersetzung auf einem<br />
materiellen Substrat, einer Spur des Realen.<br />
Tradition ist eine Funktion medialer Überlieferung. So „war<br />
die Traditionsbildung immer auch physisch fixiertes Ergebnis<br />
von Kommunikation“ 15 . Droysen trennt dabei bekanntlich Quellen<br />
und Überreste; letztere „werden nur durch die Art unserer<br />
Benutzung dazu, sie sind an sich und nach ihrer Bestimmung<br />
nicht Quellen“ .<br />
Überlieferungslücken antiker Texte (lacunae) haben ihre<br />
Ursache in willkürlichen und unwillkürlichen, medialen und<br />
hermeneutischen Funktionen. Die codices mutili der Rhetorik<br />
Quintilians etwa sind "nicht nur zufällig verloren" 16 ,<br />
sondern auch eine Taktik nachfolgender Generationen,<br />
Komplexität im Erlernen dieser Texte zu reduzieren. So daß<br />
Schweigen nicht zwangsläufig auf originäre Absenz, sondern<br />
ebenso auf ein bewußtes Verschweigen verweist.<br />
Flussers Kommunikologie zufolge ist die - zumindest -<br />
menschliche Kommunikation "ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit<br />
zum Tode" , ganz im Sinne von Foucaults Definition<br />
von Diskursen als Anreden gegenüber einer ungeheuren Leere,<br />
dem Schweigen (der medienarchäologischen Artefakte).<br />
Läßt sich kulturelle Übertragung in Begriffen der<br />
mathematischen Theorie der Information, als Operation mit<br />
syntaktischen Mitteln und technisch erklären? Demnach handelt<br />
es sich bei Tradition um einen zeitbasierten Prozeß aus den<br />
Komponenten Nachrichtenquelle, Sender, Kanal (mit<br />
Störeinflüssen), Empfänger, Nachrichtensenke. Indem<br />
Information an Signale gebunden ist, muß ihr Fluß durch eine<br />
materielle Kopplung, den Kanal (das eigentlich materielle und<br />
ausdrücklich benannte "Medium" der Nachrichtentheorie<br />
Shannons) übermittelt werden - als räumlicher wie als<br />
zeitlicher Kanal. Wenn der Sender zu einer definierten Zeit<br />
Signale erzeugt, die der Empfänger zu einer anderen Zeit<br />
entnehmen kann, ist der zeitliche Kanal durch<br />
Zwischenspeichereigenschaften definiert, welche sich von<br />
klassischen Archiven und Bibliotheken bis hin zu technischen<br />
14<br />
Nancy Kobrin, Die psychoanalytische Übertragung als historisches Symptom, in: Gumbrecht / Pfeiffer (Hg.),<br />
Materialität, 94-106 (101)<br />
15<br />
Joachim-Felix Leonhard, Medienkultur, Medien und Kultur: Audiovisuelle Dokumente, Kulturerbe und<br />
Gedächtnisbildung im 20. Jahrhundert, in: Kultur und Entwicklung. Zur Umsetzung des Stockholmer<br />
Aktionsplans, Deutsche UNESCO-Kommission xxx, off-print, 129-133 (129)<br />
16 Otto Seel, Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens, Stuttgart (Klett-Cotta) 1977, 256<br />
4
Speichern (Lochkarten, elektromagentische Bänder und digitale<br />
Datenträger) erstrecken.<br />
Menschliche Kommunikation aber stellt eine kompliziertere<br />
Ebene dar, da neben dem Nachrichtentausch Sender und Empfänger<br />
über gemeinsames Kontextwissen verstehen müssen; die Auswahl<br />
aus dem Zeichenvorrat als Maß von Information bemißt sich<br />
danach. Neben die syntaktischen Aspekte in der Kommunikation<br />
zwischen technischen Systemen kommt zwischen Menschen eine<br />
kulturelle Semantik hinzu.<br />
Die Effektivität beim Übertragungsakt liegt in der möglichst<br />
invarianten Umsetzung der Information in Signale (für den<br />
Kanal), unter Toleranz für Abweichungen, etwa in der Einlesung<br />
eines Buchstabens (optical character recognition) die<br />
verschiedenen Schreibweisen einer Letter.<br />
Mit dem Begriff Nachricht aber ist bereits eine<br />
Überlieferungsabsicht unterstellt, deren Ziel der Historiker<br />
ist. Der Begriff der Sendung ist zugleich postalischadressierend<br />
und im nachrichtentechnischen Gegensinn von<br />
Benjamins "historischem Index" zu verstehen; Bilder der<br />
Vergangenheit sind quasi mit einem - allerdings messianischen 17<br />
- Timecode versehen:<br />
The past "carries with it" a temporal index: the date of its emergence and of its expiration. The address of<br />
the past in all its power will have been if it is read by the present that it enables; it it is not, it disappears without a<br />
trace. Benjamin always thought the address of truth in historical (or at least temporal) terms; translatability,<br />
after all, comes about only in time and for a time, and translation is not a mere transcription. 18<br />
Benjamin zufolge zeichnet sich das Original durch seine<br />
Übersetzbarkeit aus; es besteht ein relationales Verhältnis<br />
zwischen Original und Übersetzung - innig, als ob es das<br />
Original seinem Wesen nach die Übersetzung verlange 19 . Wobei<br />
mit Relationsbegriff bei Benjamin gerade nicht ein<br />
interpretatives, sondern relational-formales Verhältnis<br />
zwischen Übersetzung und Original gemeint ist - ein<br />
Verhältnis, das damit auch im Sinne des technischen<br />
Übertragungsbegriffs formalisierbar wäre.<br />
The very notion of a Relationsbegriff is clearly proposed in order to differntiate the communication that occurs in<br />
the essence of language (where language communicates itself and not some signified content) from any act of<br />
signfication or communication effected by an intending consciousness or depending in any way on such a<br />
consciousness. 20<br />
17<br />
"Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen": Walter Benjamin, Theologisch-politisches<br />
Fragment, in: ders., G. S., Bd. II.1, 203<br />
18<br />
Christopher Fynsk, The Claims of History, in: diacritics vol. 22, fall/winter 1992, 115-126 (123ff); siehe Walter<br />
Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V.1, 577f<br />
19<br />
GS 4: 1.10/I 70, zitiert nach: "The Claims of History" Christopher Fynsk looks for references to Heidegger in<br />
Benjamin's text (diacritics vol. 22, fall/winter 1992, 115-126): 118<br />
20<br />
Fynsk 1992: 118, unter Bezug auf Benjamins Essay Der Übersetzer<br />
5
Tatsächlich stammen die Begriffe Sender und Empfänger aus der<br />
epistolarischen Kommunikation. Hier wird - im Unterschied zur<br />
face-to-face-Kommunikation - das Koninuierliche der<br />
gesprochenen Sprache (Gestik und Mimik, Sprechgeschwindigkeit,<br />
Betonung, Stimmhöhe etc.) als Para-Information ausgefiltert<br />
(wenn auch die Handschrift bleibt). 21 Die Kehrseite des<br />
Rauschens sind Signale, die zwar zu empfangen, aber nicht als<br />
Zeichen dekodierbar sind - ein<br />
klassischer Unfall der Hermeneutik. Medienarchäologie rechnet<br />
mit solchen kontextlosen Befunden. Die Speichermedien der<br />
Informationsgesellschaft sollen daher auch über die Option<br />
verfügen, Rauschen, also Unverstandenes vorzuhalten - auf eine<br />
künftige Entzifferung hin, und nicht vorschnell (wie im<br />
philologischen Verfahren der Emendation) gereinigte<br />
Information zu produzieren, indem durch Filter - etwa<br />
Datenkompression von Bildern - rauschfreie Datenmengen erzeugt<br />
werden.<br />
Für das menschliche Kommunikations- und Traditionssystem<br />
reicht die Strukturgleichheit von erzeugter und empfangener<br />
Nachricht als Signalfolge offenbar nicht aus, um dessen<br />
Leistung zu bestimmen. In Analogie zur Molekularbiologie<br />
entwirft Janich folgendes buchstäblich medienarchäologisches<br />
Szenario:<br />
Ein Archäologe findet einen Stein mit eingemeißelten Mustern, von denen er vermutet, sie seien Schriftzeichen.<br />
Er nimmt als eine Art von Codierung einen Gipsabdruck des Steins, um von diesem im Labor als Prozeß der<br />
Decodierung einen weiteren Gipsabdruck zu nehmen und so zu einer Kopie des ursprünglichen Steins zu<br />
kommen. Beim Codierungs wie beim Decodierungsprozeß können Störungen (Rauschen) auftreten .<br />
Angenommen, die vermutliche Schrift enthält Punkte, wie sie das Altarabische als Vokalisierung kennt, und die<br />
Störungen der Strukturübertragung bei der Herstellung einer Kopie bringen gerade solche "Punkte" hervor oder<br />
zum Verschwinden. Dann gibt es zwei Beschreibungsebenen solcher Störungen: zum einen die geometrisch<br />
räumliche, durch die im direkten Vergleich von Original und Kopie festgestellt werden kann, worin sie<br />
voneinander abweichen. Eine andere Beschreibungsebene steht dagegen nur dem verständigen Kenner der<br />
vermutlichen Schrift zur Verfügung: nur diese können entscheiden, ob in der Kopie hinzugekommene oder<br />
weggefallene Punkte die Bedeutung es geschriebenen Textes verändern oder nicht. <br />
Bei Flecken auf frühen Photographien war unentscheidbar, ob<br />
sie photochemisch arbiträr oder als Geistererscheinungen zu<br />
interpretieren waren. Janich nennt es "absurd , z. B. aus<br />
der geometrischen Form der Schallplattenrille, die abgespielt<br />
einen philosophischen Vortrag ergibt, die Bedeutung oder gar<br />
Geltung der gesprochenen Worte ableiten zu wollen" -<br />
doch der medienarchäologische Blick (die Ästhetik des<br />
Scanners) sucht genau diese Lesekultur zu erreichen. Der<br />
archäologische Blick läßt Strukturen sehen, nicht Bilder. So<br />
entdeckten amerikanische Forscher an einem versteinerten<br />
urzeitlichen Reptil "längliche Strukturen, die sie als Federn<br />
deuteten". 22<br />
21<br />
Dazu Peter Janich, Die Naturalisierung der Information, Stuttgart (Steiner) 1999, 23-54 (39ff)<br />
22<br />
Matthias Glaubrecht, Frühe Konkurrenz für den Urvogel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22. November<br />
2000, Nr. 272, N2<br />
6
Nicht von ungefähr greift Jules-Étienne Marey zu einer<br />
epigraphischen Metapher, um die Entzifferung der Schrift der<br />
Natur - die er mit seinen physiologischen Meßinstrumenten<br />
(appareils enregistreurs) erst in das Regime der Schrift<br />
zwingt - zu illustrieren:<br />
S´il fallait absolument une métaphore, j´aimerais mieux comparer l´étude des sciences naturelles au travail des<br />
archéologues qui déchiffrent des inscriptions écrites dans une langue inconnue; qui essayent tour à tour plusieurs<br />
sens à chaque signe, s´aidant à la fois des conditions dans lesquelles chaque inscription a été trouvée, et de l<br />
´analogie qu´elle présente avec des inscriptions déjà connues, et n´arrivent enfin qu´en dernier lieu à la<br />
connaissance des principes à l´aide desquels ils enseigneront à d´autres à déchiffrer cette langue. 23<br />
Diesem Schweigen gegenüber steht die Aufzeichnung der<br />
menschlichen Stimmlaute selbst, etwa durch Edouard Léon Scotts<br />
1857 patentierten Phon-Autographen ;<br />
hier schreibt sich die Natur als Stimme, und zwar analog zur<br />
Handschrift, so wie jedes Medium, McLuhan zufolge, ein anderes<br />
Medium zum Objekt hat: "Scotts Meßschreiber aber ließ sehen,<br />
was nur zu hören gewesen war und viel zu rasch für<br />
unbewaffnete Augen: hunderte von Schwingungen pro Sekunde"<br />
. Kittler erinnert an das<br />
experimentalphonetische Vorbild des modernen Pygmalion in<br />
George Bernhard Shaws Drama Pygmalion (1912), Professor<br />
Higgins. "Im modernen Pygmalion werden Spiegel oder Statuen<br />
unnötig; die Tonspeicherung ermöglicht einem jeden, daß er<br />
`seine eigene Stimme oder seinen eignen Vortrag in der Platte<br />
wie in einem Spiegel beobachten kann ´." 24<br />
Kanal / Übertragungswahrscheinlichkeit<br />
Wir treffen auf die unbeschriebenen Blätter im Buch der<br />
Geschichte; weißes Rauschen aber ist ein idealistischer<br />
Zustand, weil es ihn physikalisch nicht gibt. "Das Rauschen<br />
ist eine Störung, die im Kanal auftritt und die physische<br />
Struktur des Signals verändern kann" 25 - dem die Kodierung, d.<br />
h. die Übersetzung als Abstraktion in einen logischen Raum<br />
(Code, Zeichen) zu entrinnen sucht.<br />
Der Prozeß, der die Übertragungen von im Gedächtnis einer Generation enthaltenen Informationen in das<br />
Gedächtnis der nächsten erlaubt, kann als Kernfrage der menschlichen Kommunikation überhaupt angesehen<br />
werden. Beispielsweise werden "Geräusche" d. h. Elemente, die bei der Übertragung in die Botschaft<br />
eindringen, ohne im Repertoire der Codes enthalten zu sein im Fall der "natürlichen" Kommunikation zu<br />
23<br />
Étienne Jules Marey, Du Mouvement dans les Fonctions de la Vie, Paris (Baillière) 1868, 24<br />
24<br />
Kittler 1986: 45, unter Bezug auf: Rudolph Lothar, Die Sprechmaschine. Ein technisch-aesthetischer Versuch,<br />
Leipzig 1924: 48f<br />
25<br />
Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 5. Aufl. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1990, Kapitel „Offenheit, Information,<br />
Kommunikation“, 90-153 (93)<br />
7
sogenannten "Mutationen", während sie im Fall der "kulturellen Kommunikation" dem Kommunikationsprozeß<br />
überhaupt erst seine Berechtigung geben, ihn "fortschrittlich" machen. 26<br />
Stochastik statt Narration: Läßt sich das Modell der<br />
Geschichte durch eines der Übergangswahrscheinlichkeiten<br />
ersetzen? Leibniz spekulierte über die Apokatastasis Panton<br />
als Iterierbarkeit von Buchstabenfolgen; Norbert Wiener<br />
beschreibt die Unberechenbarkeit von Wolkenformationen im<br />
Unterschied zur Erfassung regelmäßiger Planetenumlaufbahnen<br />
. Laplace konnte<br />
davon träumen, die Zukunft vorauszusagen, indem er sich einen<br />
menschlichen Geist dachte, der im Stande wäre, alle<br />
vorhergehenden und alle folgenden Vorgänge und Ursachen zu<br />
übersehen, wie der Astronom die Bewegungen in dem unendlichen<br />
Himmelsraume das Zeitalter der Revolutionen. In der Menschwelt<br />
sah Laplace dieses Ziel aller Wissenschaft mehr und mehr sich<br />
nähern, ohne daß es je gänzlich zu erreichen wäre. Der Wert<br />
von Wissen ist hoch, wenn die Voraussagen, bezogen auf den<br />
Übertragungskanal korrekt sind, im Gegensatz zur Information,<br />
die possibilistisch ist, da die unwahrscheinlichsten Zeichen<br />
den höchsten Informationsgehalt tragen. "Um Mißverständnisse<br />
zu vermeiden sei angemerkt, daß die Voraussage einer<br />
Information natürlich auch eine Information aus der Geschichte<br />
sein kann, wenn wir beispielsweise aus unserem heutigen Wissen<br />
heraus Ereignisse der Frühzeit erklärbar machen." 27<br />
Tradition aber bricht sich am physikalischen<br />
Übertragungswiderstand. "Übertragen ließe sich hier auch von<br />
einer `Mitsprache´ der medialen Materialität von Speicherung,<br />
Übertragung und Intelligenz reden, ja der materiale Widerstand<br />
selbst als Zeitfaktor benennen" - wie schon Aristoteles am<br />
Zeitwiderstand des akustischen Echos das Medium Luft<br />
festmachte. "Am Rauschen der Medien erwächst der Wahrheit ihre<br />
Historizität." 28 Und so scheiden sich für Goethe die zwei<br />
Körper der Tradition:<br />
So sei nun Sprache, Dialekt, Eigentümlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Körper eines jeden geistigen Werks<br />
anzusehen; dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sei jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbnis<br />
ausgesetzt; wie denn überhaupt keine Überlieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben und, wenn sie auch rein<br />
gegeben würde, in der Folge jederzeit vollkommen verständlich sein könnte, jenes wegen Unzulänglichkeit der<br />
Organe, durch welche Überliefert wird, dieses wegen des Unterschiedes der Zeiten, der Orte, besonders aber<br />
wegen der Verschiedheit menschlicher Fähigkeiten und Denkweisen; weshalb denn ja auch die Ausleger sich<br />
niemals vergleichen werden. 29<br />
In diesem Sinne auch Friedrich Schiller:<br />
I. Unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder<br />
sie sind durch kein Zeichen festgehalten worden. <br />
26<br />
Vilém Flusser, Kommunikologie, Frankfurt/M. (Fischer) 1998, 309<br />
27<br />
Walter Umstätter, Die Messung von Wissen, in: nfd 49 (1998), 221-224 (223)<br />
28<br />
Michael Wetzel, Von der Einbildungskraft zur Nachrichtentechnik. Vorüberlegungen zu einer Archäologie der<br />
Medien, in: Mediendämmerung. Zur Archäoplogie der Medien, hg. v. Peter Klier / Jean-Luc Evard, Berlin<br />
(Tiamat) 1989, 16-39 (30)<br />
29<br />
J. W. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Frankfurt/M. 1975, 567<br />
8
II. Nachdem aber auch die Sprache erfunden und durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene Dinge<br />
auszudrücken und weiter mitzuteilen, so geschah diese Mitteilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren<br />
Weg der Sagen. Von Mund zu Mund planzte sich eine solche Begebenheit durch eine lange Folge von<br />
Geschlechtern fort, und da sie durch Media ging, die verändert werden und verändern, so mußte sie diese<br />
Veränderung miterleiden. 30<br />
Ignaz J. Gelb zufolge (A Study of Writing. The Foundations of<br />
Grammatology) wird das Wesen der Schrift durch die Sprache<br />
bestimmt, als Phonetisierung der Zeichen von Piktogramm zum<br />
Alphabet. J. G. Févriers Histoire de l´écriture (Paris 1948)<br />
definiert Schrift als ein Kommunikationssystem mit<br />
wohldefinierten Zeichen zwischen Menschen, als Sendung und<br />
Empfang. Doch<br />
Févriers Definition der Schrift als Kommunikations, genauer: Übertragungsmedium entspricht historisch und<br />
technisch streng gelesen einer sehr späten Etappe der Schriftentwicklung. Erst Morses Telegraphenalphabet<br />
beruhte auf einem Code, dessen Anwendung auf Senden und Empfangen beschränkt bleiben konnte. Die<br />
Definition übergeht eine der Übertragung bis dahin notwendig vorgängige Funktion: die der Speicherung.<br />
zur Datenspeicherung wird sie vorab durch eine der Sprache fremde Materialität bestimmt. <br />
Epische Überlieferung als Schrift ist eine Kulturtechnik.<br />
Vergils Aeneis tradierte sich vor allem als Schulübung; Reste<br />
der entsprechenden Papyri sind erhalten. 31 Mit der Schrift<br />
beginnt Kultur als Archiv (jene medienarchäologische Achse des<br />
Abendlandes). Von jener arché leitet sich Tradition ab:<br />
Überlieferung ist nicht bloße Weitergabe, sie ist Bewahrung des Anfänglichen, ist Verwahrung neuer<br />
Möglichkeiten der schon gesprochenen Sprache. Diese selbst enthält und schenkt das Ungesprochene. Die<br />
Überlieferung der Sprache wird durch die Sprache selbst vollzogen. 32<br />
Dabei gilt die Trennung von Ereignis und Nachricht:<br />
Nachrichten von Wundern sind nicht Wunder - daher die<br />
Kraftlosigkeit solcher Nachrichten. "Diese, die vor meinen<br />
Augen erfüllten Weissagungen, die vor meinen Augen geschehenen<br />
Wunder, wirken unmittelbar" - also unmediatisiert (es sei denn<br />
durch das Medium der Luft selbst, die Wellen des Lichts).<br />
"Jene aber, die Nachrichten von erfüllten Weissagungen und<br />
Wundern, sollen durch ein Medium wirken, das ihnen alle Kraft<br />
benimmt." 33 Lessing bezieht sich auf die Schriften des<br />
Origines, antiker Kirchenvater. Damit bekommt der Begriff des<br />
"Evangelisten" einen anderen Sinn: mediatisierte Botschaft,<br />
eu-angelein.<br />
30<br />
F. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, in: Werke Bd. II, München<br />
1966, 18<br />
31<br />
Dazu Richard Seider, Beiträge zur Geschichte und Paläographie der antiken Vergilhandschriften, in: Studien<br />
zum antiken Epos, hg. v. Herwig Görgemanns / Ernst A. Schmidt, Meisenheim am Glan (Anton Hain) 1976, 129<br />
172 (130)<br />
32<br />
Martin Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache [*Vortrag 1962], St. Gallen (Erker) 1989, 27<br />
33<br />
Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: ders., Werke 1774-1778, hg. v. Arno<br />
Schilson, Frankfurt/M. (Dt. Klassiker Verlag) 1989, 437-446<br />
9
Signal oder Rauschen? Informationstheorie der Tradition<br />
Meint Tradition eine Trennung von Signal und Rauschen, dem mit<br />
einem wave filter begegnet wird?<br />
Here, we have a message which has somehow become scrambled with another, unwanted message which we call<br />
noise. The problem of unscrambling these and restoring the original message with as little alteration as possible,<br />
except perhaps for a lag in time , is the problem of filtering. 34<br />
Hercule Poirot, der Detektiv in Agatha Christies Roman Der Tod<br />
auf dem Nil, deklariert in einem Moment seine Methode: Er habe<br />
sie während einer archäologischen Ausgrabung erlernt. Wird ein<br />
Objekt im Boden entdeckt, werden alle störenden Elemente umher<br />
beseitigt:<br />
Man nimmt die lose Erde weg, man kratzt hier und dort mit einem Messer, bis schließlich der Gegenstand<br />
hervorkommt, um ganz für sich gezeichnet und und fotografiert zu werden, ohne daß irgend etwas Umliegendes<br />
die Aufzeichnung verwirrt. das nicht Dazugehörige beiseite zu schaffen, so daß wir nichts als die<br />
nackte Wahrheit sehen können<br />
- das blanke Gegenteil von contextual archaeology. Objekte<br />
werden vom materiellen Rauschen der Überlieferung befreit,<br />
isoliert, geradezu digitalisiert. Doch selbst bei der Wandlung<br />
analoger Signale in binär kodierte Werte entsteht aufgrund der<br />
Nichtexistenz idealer Filter ein Quantisierungsrauschen.<br />
Gegenüber den Materialitäten der Tradition bleibt es letztlich<br />
der je eigenen Einstellung des Historikers überlassen, "ob er<br />
Rauschen als Störung empfindet oder nicht“ 35 . Als<br />
Medienarchäologie wird dieser Fall buchstäblich in der<br />
Diskussion um Rauschverminderung bei der Rekonstruktion<br />
historischer Schallaufnahmen. Hier wird das Rauschen<br />
phänomenologisch zum Geschichtszeichen (bzw. zum<br />
medienhistorischen Index), mit dem Hinweis auf die<br />
Zugehörigkeit des Rauschens zur eigentlichen Klanginformation,<br />
da es zum technischen Standard der Aufnahmezeit gehöre:<br />
Rauschen wird hier also als eine Codierung für Patina verstanden, vergleichbar der des vergilbten, brüchigen<br />
Papiers alter Manuskripte. Nach dieser Auffassung ist es Teil einer komplexen mehrschichtlichen Nachricht,<br />
dessen Entfernung eine Informationsverminderung zur Folge hätte. Auf diese Weise erhält ein Phänomen, das<br />
urprüngliche eine technische Übertragungsstörung war, einen ästhetischen Wert. <br />
So wird aus Rauschen plötzlich historische Information, und<br />
der Prozeß kultureller Überlieferung in Begriffen der<br />
Nachrichtentheorie faßbar.<br />
George Kubler greift in der Tat auf die Terminologie der<br />
Signaltechnik zurück, wenn er kulturelle Tradition beschreibt:<br />
Historische Kenntnis beruht auf Übermittlungen, bei denen Sender, Signal und Empfänger jeweils variable<br />
Elemente sind, die die Stabilität der Botschaft bewirken. Da der Empfänger eines Signals im weiteren Verlauf der<br />
34<br />
Norbert Wiener, Time, Communication, and the Nervous System, in: Annals of the New York Academy of<br />
Sciences, Bd. 50, 1948/50, 197-219 (205)<br />
35<br />
Martha Brech, Rauschen: Zwischen Störung und Information, in: Sanio / Scheib (Hg.) 1995, 99107 (106<br />
10
historischen Übermittlung dessen Sender wird, können wir Empfänger und Sender beide unter dem Oberbegriff<br />
„Relais“ oder Schaltstation fassen. Jedes Relais ist die Ursache für eine bestimmte Deformation des<br />
ursprünglichen Signals. 36<br />
Dies gilt für die Filiationskette in Kulturen mündlicher wie<br />
schriftlicher Überlieferung entgegen, als Logik der<br />
Traditionsbildung. Lassen wir uns jedoch auf das<br />
nachrichtentheoretische Modell der Beschreibung von Tradition<br />
ein, gelangen wir zu einer Art negativer Memetik. Michel<br />
Serres beschreibt kulturelle Tradition in Begriffen der<br />
memetischen Evolution und der Nachrichtentheorie Shannons<br />
anhand des Begriffs der Parasiten, die in der Tradition am<br />
Werk sind. Traditionsbildung ist negentropisch, also<br />
willkürlich:<br />
Das produktive Gedächtnis, für Hegel das Äquivalent der antiken mnemosyne, hat es überhaupt nur mit Zeichen<br />
zu tun (Enzyklopädie § 458). Dabei ist es wesentlich, daß das Zeichen einer freien, willkürlichen Tat des<br />
setzenden Geistes sein Dasein verdankt. 37<br />
Die abstrakt aufbewahrte Erinnerung bedarf der Zeichenwerdung,<br />
um aus ihrem nächtlichen Schacht aufsteigen zu können; so ist<br />
jede scheinbar äußerlich-apparative Speichertechnik im Akt der<br />
Erinnerung immer schon essentiell - als „Parasit für die wahre<br />
Mnemosyne, die lebendige Quelle aller Inspiration“ 38 .<br />
Serres definiert das spezifisch medienwissenschaftliche<br />
Projekt der Deutung kultureller Überlieferung: „Ein Parasit im<br />
Sinne der Informationstheorie“ - und das betrifft<br />
<strong>Medienwissenschaft</strong> - „vertreibt einen anderen Parasiten im<br />
Sinne der Anthropologie“ . Serres zielt auf<br />
den Parasiten im Sinne der Physik, der Akustik und der<br />
Informatik, im Sinne von Ordnung und Unordnung.<br />
Kommen wir an dieser Stelle auf die These vom postalischen<br />
Dispositiv der Tradition zurück. Auch Leibniz kam 1698 zu der<br />
Erkenntnis, daß die Übersendung von Briefen Zufällen<br />
ausgesetzt ist. Tradition ist als postalische<br />
Nachrichtenübermittlung mithin in einer zeitprozeßbezogenen<br />
Form der mathematischen Informationstheorie faßbar - nicht nur<br />
für den Transport von Information über räumliche, sondern auch<br />
zeitliche Distanz hinweg. 39<br />
Die Evolutionstheorie basiert auf zwei Begriffen: Mutation und Selektion. Es ist mehr als ein Bild, wenn<br />
man sagt, es handele sich um eine Botschaft, die auf einem Träger gespeichert ist. Ein Teil dieser Botschaft<br />
verändert sich durch Mutation, Abwesenheit, Substitution oder Verschiebung von Elementen. Es ist mehr als nur<br />
ein Bild, wenn man sagt, es handele sich um die Einwirkung eines Rauschens auf die Botschaft. Rauschen im<br />
Sinn von Unordnung, also Zufall, aber auch im Sinne von Störung, einer Störung, welche die Ordnung verändert,<br />
und mithin den Sinn . In jedem Falle aber verändert diese Störung die Ordnung. Die Störung ist ein Parasit<br />
36<br />
George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1982,<br />
57f<br />
37<br />
Hermann Schmitz, Hegels Begriff der Erinnerung, in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 9, Bonn (Bouvier)<br />
1964, 3744 (40)<br />
38<br />
Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, Wien (Passagen) 1986, 64<br />
39<br />
Siehe Martin Fontius, Post und Brief, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der<br />
Kommunikation, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 267-279 (267), unter Bezug auf: E. Vaillé, Histoire générale<br />
des postes françaises, 5 Bde, Paris 1947-1951 (Bd. 1, 1ff)<br />
11
. Die neue Ordnung erscheint durch den Parasiten, der die Nachricht stört. Er verwirrt die glatte Reihe, die<br />
Folge, die Botschaft, und er komponiert eine neue. <br />
Ersetzt die medienwissenschaftliche Nachrichtentheorie die<br />
historiographische Theorie des Archivs? Doch die<br />
Informationstheorie beachtet die semantische Seite der<br />
Nachricht ausdrücklich nicht“, welche auf Seiten der Kultur<br />
steht.<br />
Michel Foucault definiert als Archiv nicht die materielle<br />
Speicheragentur juristischer oder historischer Überlieferung,<br />
sondern die Ebene einer Praxis zwischen der Sprache und dem<br />
Korpus, das die gesprochenen Worte passiv aufnimmt (klassische<br />
Archive oder technische Aufnahmemedien). Zwischen der<br />
Tradition und dem Vergessen läßt seine Wissensarchäologie die<br />
Regeln einer Praxis erscheinen, die den Aussagen gestattet,<br />
fortzubestehen und zugleich sich regelmäßig zu modizifieren.<br />
Für ihn ist das Archiv "das allgemeine System der Formation<br />
und der Transformation der Aussagen" 40 . Läßt sich dieser<br />
diffuse Kanal von Tradition, diese Praxis im Element des<br />
Archivs positiv, konkret: medial benennen? "Das besondere<br />
Kennzeichen aller Kanäle ist, daß sie durchwegs in das Gebiet<br />
der Physik fallen." 41 Alle Tradition ist damit den<br />
Materialitäten verschrieben, in denen kulturelle Kodes<br />
übermittelt (oder verrauscht) werden - das, was an der Reibung<br />
mit Realien als das Reale (Geräusch) entsteht.<br />
Droysen illustriert Wahrscheinlichkeit von Geschichte anhang<br />
der Pigmente der Malerei:<br />
Die Farben, die Pinsel, die Leinwand, welche Raphael brauchte, waren aus Stoffen, die er nicht geschaffen; diese<br />
Materialien zeichnend und malend zu verwenden hatte er von den und den Meistern gelernt aber daß auf<br />
diesen Anlaß, aus diesen materiellen und technischen Bedingungen, auf Grund solcher Ueberlieferungen und<br />
Anschauungen die Sixtina wurde, das ist in der Formel A = a + x das Verdienst des verschwindend kleinen x<br />
Mag immerhin die Statistik zeigen, daß in dem bestimmten Lande so und so viele uneheliche Geburten<br />
vorkommen, mag in jener Formel A = a + x dieß a alle die Momente enthalten, die es `erklären´, daß unter<br />
tausend Mädchen 20, 30 unverheirathet gebären jeder einzelne Fall der Art hat seine Geschichte und wie<br />
oft eine rührende und erschütternde ; in den Gewissensqualen durchweinter Nächte wird sich manche von<br />
ihnen sehr gründlich überzeugen, daß in der Formel A = a + x das verschwindend kleine x von unermeßlicher<br />
Wucht ist. 42<br />
Damit ist das Menschliche am Menschenwerk als statistische<br />
Abweichung definiert. Die Differenz von statistischer<br />
Regelmäßigkeit, historischer Wahrscheinlichkeit und Gesetz<br />
definiert hier Geschichte.<br />
Die großen Werke der Antike sind allesamt überlieferte Werke, das heißt, dass es im Transskriptionsprozess über<br />
die Jahrhunderte hinweg zu einer Unzahl von Ungenauigkeiten und Varianten gekommen ist , aber auch zu<br />
Lücken. Was wäre wohl, wenn statt der zehn Komödien des Aristophanes alle vierzig erhalten<br />
40<br />
Michel Foucault, Das historische Apriori und das Archiv , hier zitiert nach dem<br />
Auszug in: Foucault 1999: 7784 (82)<br />
41<br />
Hans Titze, Ist Information ein Prinzip?, Meisenheim/Glan (Hain) 1971, 104<br />
42<br />
Johann Gustav Droysen, Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: Historische<br />
Zeitschrift Bd. 9 (München 1863), 122 (13f)<br />
12
geblieben wären? Müsste sich unser Bild der Antike ändern oder kann man darauf vertrauen, dass die kopierten<br />
Texte auch ein repräsentatives Bild der Literatur jener Zeit widergeben? 43<br />
Datentransfer über die Zeit geschieht als eine Art Sampling<br />
mit statistisch gleichverteilten Verlusten.<br />
Was wird in Zukunft bleiben von einem Menschen? Heute sind es einzelne, eher zufällige Momentaufnahmen. In<br />
Zukunft wird es bei manchen ein großer Datenberg sein, ein fast kontinuierliches Protokoll, das sie ein Stück<br />
unsterblich macht 44<br />
- Leben von Tag zu Tag, aufgeschrieben als digitales Tagebuch.<br />
Doch läßt sich symbolisches Überleben als Tradition<br />
programmieren?<br />
Schon um das eigene Archiv zu durchforsten, müsste man ja eigentlich zweimal leben. Die elektronische Vita<br />
von Prominenten wird eine Fundgrube für Historiker und Klatschreporter sein. Normalsterbliche hingegen<br />
könnten eher ihre Festplatte mit ins Grab nehmen. Ungelesen. <br />
Tatsächlich kommt das nachrichtentechnische Verhältnis von<br />
Redundanz und Klartext ins Spiel, wenn Foucault von<br />
Diskurskontrolle als "Verknappung diesmal der sprechenden<br />
Subjekte" schreibt. 45 Funktion von Archiven ist nicht Fülle,<br />
sondern Selektion (triage).<br />
Der Prozeß, der die Übertragungen von im Gedächtnis einer Generation enthaltenen Informationen in das<br />
Gedächtnis der nächsten erlaubt, kann als Kernfrage der menschlichen Kommunikation überhaupt angesehen<br />
werden. Beispielsweise werden "Geräusche" d. h. Elemente, die bei der Übertragung in die Botschaft<br />
eindringen, ohne im Repertoire der Codes enthalten zu sein im Fall der "natürlichen" Kommunikation zu<br />
sogenannten "Mutationen", während sie im Fall der "kulturellen Kommunikation" dem Kommunikationsprozeß<br />
überhaupt erst seine Berechtigung geben, ihn "fortschrittlich" machen. <br />
Aber was hat überhaupt die Chance, tradiert zu werden? Bislang<br />
nur das, was registriert, aufgeschrieben wird. Diesem Fakt<br />
widmet sich Foucault im Vorwort zu seiner geplanten Anthologie<br />
über Das Leben der infamen Menschen 46 . Der Rezensent weist<br />
darauf hin, daß erst die Störung Geschichte generiert:<br />
Diese Menschen haben eine tradierbare Präsenz, weil sie der Macht in die Quere kamen. Man weiß von ihnen<br />
überhapt nur, wenn zum Beispiel ihre "Exzesse des Weines und des Geschlechts" höheren Ortes missfielen. Es<br />
gibt Dokumente, in denen aufgezeichnet wurde, was man ihnen zur Last legte. Es gibt an die Macht gerichtete<br />
Texte, von denen nicht minder nichtige Existenzen Hilfe gegen die infamen Menschen zu erreichen hofften. 47<br />
Eine kontingente Existenz war Grund genug, in Foucaults Plan<br />
infamer Menschen aufgenommen zu werden, der gerade kein Buch<br />
der Geschichtswissenschaft schreiben wollte, sondern eine<br />
Skizzierung, die Historiograffiti von Leben, die nur in<br />
wenigen Zeilen oder wenigen Seiten überliefert sind:<br />
biographische Unglücke und Abenteuer, zusammengerafft in einer<br />
handvoll Wörter, auf die er zufällig in Büchern und Dokumenten<br />
43<br />
Moritz Schuller, Der Wille zur Einmischung, in: Der Tagesspiegel Nr. 17692 v. 1. März 2002, B3<br />
44<br />
Christoph Drösser, Leben auf der Platte, in: Die Zeit Nr. 2 vom 3. Januar 2002, 23f (24)<br />
45<br />
Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, in: ders. 1999: 68<br />
46<br />
Aus dem Frz. u. mit e. Nachwort versehen jetzt von Walter Seitter, Berlin (Merve) 2001<br />
47<br />
Franz Schuh, Die Rückkehr der infamen Menschen, in: Die Zeit Nr. 30 v. 19. Juli 2001<br />
13
traf. Die Kontingenzen einer Biographie sind das, was allen<br />
anderen Wahrscheinlichkeiten gegenüber unkalkulierbar ist und<br />
historische Information generiert. Was sendet die<br />
Überlieferung des Archivs als Grab der Signifikanten:<br />
"Botschaft oder Rauschen?" 48 Eine vergangene Wirklichkeit "wird<br />
im Zusammenhang der Zeichen und Zuschreibungen fixiert, deren<br />
`Grammatik´ die Geschichte ist" - auf der<br />
Ebene der symbolischen Ordnung also, dergegenüber nur selten<br />
eine Spur des Realen, als Rauschen oder als Störfall - und sei<br />
es im Stoff der Dokumente selbst - durchschießt. Genau in<br />
diesen Momenten aber wird ein Archiv informativ. Keine grossen<br />
gongschlaghaften Momente des Verstehens also, statt dessen<br />
kleinste zeitkritische Momente, so als ob ein Nervenpunkt<br />
getroffen wird. 49<br />
Paul de Man hatte im Zweiten Weltkrieg französische<br />
Widerstandskämpfer dabei unterstützt, in Belgien eine in<br />
Frankreich verbotene Zeitschrift zu verbreiten. Der Titel<br />
dieser Zeitschrift lautete Exercice du silence - Einübung<br />
(nicht etwa Stimme) der Stille. Nicht das Archiv, sondern ein<br />
technisches Übertragungsmedium spricht den Titel dieser<br />
Zeitschrift: „Das Ohr ganz dicht am Telephon, bin ich dennoch<br />
nicht sicher, richtig gehört zu haben : Exercice du<br />
silence.“ 50 Hier kommt sie zu sich, Derridas Metapher vom<br />
„Meeresrauschen“, in der Telefonmuschel: das Rauschen der<br />
Radiowellen, die nachrichtentechnische signal-to-noise-ratio<br />
aller Überlieferung zwischen Information und Entropie. „Auch<br />
so ein `actually happened´ stellt ja die Tonbandtranskription<br />
der Diskussionseinleitung vor.“ 51 Paul de Man ist also<br />
nicht nur ein Archiv-Fall für Literaturwissenschaft und<br />
Ideologiekritik, sondern auch für Medienarchäologie. Derrida<br />
zitiert sich an dieser Stelle selbst, aus der Transkription,<br />
also aus dem Medienarchiv seines Diskussionsbeitrags in<br />
Tuscaloosa - „eine Quelle, die ich in meine Erzählung<br />
aufnehmen zu sollen glaubte“ ; im französischen<br />
Original: „archive que je crois devoir inclure dans ma<br />
narration". Auf das „tatsächlich ereignet“ in Englisch<br />
angesprochen („actually happened“ 52 ), hat Derrida 1988 in einer<br />
Diskussion dieses Idiom spontan mit „avoir lieu“ (rück-)<br />
übersetzt, dem Ereignis also mnemotechnisch einen Platz<br />
zugewiesen - den Ort des Archivs (im Unterschied zum „actually<br />
happened“, das die historische Erzählung privilegiert, und zum<br />
„ce qui s´est passé effectivement“ als Ereignis). 53<br />
48<br />
Unter dem Titel »Message ou bruit?« hat Michel Foucault 1966 vor Medizinern in Paris vor-diskursive<br />
Körpersignale im Sinne der Nachrichtentheorie gedeutet; dt. in: ders. 1999, 140-144<br />
49<br />
Annette Bitsch, Eail vom 12. Oktober 2000<br />
50<br />
Schlußsatz von Derrida: 1988b (116) sein Telefongespräch mit dem belgischen Schriftsteller Georges<br />
Lambrichs<br />
51<br />
Rüdiger Campe (Essen), Brief v. 13. Juli 1988<br />
52<br />
„We have a lot of work before us if we are to know what actually happened“: So lautet es in der englischen<br />
Übersetzung: „Like the Sound of the Sea Deep within a Shell: Paul de Man´s War“, in: Critical Inquiry 14<br />
(Spring 1988), 590652 (635)<br />
53<br />
Diskussion des Autors mit Jacques Derrida aus Anlaß seines Seminars „Habermas / Heidegger / Paul de Man“<br />
am Graduiertenkolleg Kommunikationsformen als Lebensformen am Fachbereich 3 der<br />
Universität/Gesamthochschule Siegen, 5.7. Juli 1988<br />
14
Mais trop tard puisque la transcription circule, toujours le problème de l´archive, archive non maîtrisable, là pas<br />
plus que jamais, à cause de cette technique du recording . Cependant, l´archive légale saturant moins que<br />
jamais le tout de l´archive, celleci reste immaîtrisable et continue, en continuité avec l´anarchive . 54<br />
Archive, archäologische Lagen und Überlieferungschancen<br />
Stellen wir dem Gedächtnis kultureller Archiv eine rührige<br />
Variante gegenüber, nämlich die Archäologie dessen, was sie<br />
ausgrenzen. Notierte (schriftfixierte), dann kodierte (mit<br />
Signaturen versehene) Schriftstücke bilden als Archiv nicht<br />
vergangene Wirklichkeiten ab, es sei denn die Logistik von<br />
Verwaltung selbst. Vielmehr bilden sie - gleich Pixeln einer<br />
Bildmenge - die Grundlage für eine narrative Modellierung<br />
namens Geschichtsbild. Hier wird dann eine strikt serielle<br />
Ordnung von Daten in eine plausible Ordnung (Erzählung)<br />
transformiert; die historische Lesart ist dabei eine<br />
künstliche. Im Winter des Jahres 1903 macht der Fürstlich<br />
Pless´sche Archivar Ezechiel Zivier den Vorschlag, ein<br />
Allgemeines Archiv für die Juden Deutschlands zu begründen, um<br />
aus jüdischen Körperschaften „ältere Akten und Dokumente, die<br />
für die laufenden Geschäfte nicht mehr von Belang sind“, also<br />
entkoppelt von Wirklichkeit als Verwaltungsmacht (wie Droysen<br />
in seiner Historik die Transformation von Geschäften in<br />
Geschichte beschreibt), „zur weiteren Aufbewahrung und<br />
Nutzbarmachung für geschichtliche und andere Forschungen<br />
abgeben könnte.“ 55 Eine Inspektion der Dokumentenbestände<br />
süddeutscher jüdischer Gemeinden macht ihm deutlich, daß von<br />
Archiven dort keine Rede sein kann, sondern vielmehr von<br />
Überresten in Speichern. Die Abfassung einer kontinuierlichen<br />
Geschichte ist auf dieser Grundlage nicht möglich; wo die<br />
Kunde hebräischer Schrift verstummt ist, werden die<br />
entsprechenden Schriftstücke ausgesondert. Anders im Fall der<br />
Neuordnung der Hamburger Deutsch-Jüdischen Gemeinde im 19.<br />
Jahrhundert, als sich die konservativen Vertreter davon<br />
scheuen, „dieses Material, das in hebräischer, d. h. in der<br />
heiligen Schrift niedergeschrieben war, zu vernichten oder als<br />
Altpapier zu verkaufen. Man ließ es aber ungeordnet liegen und<br />
konnte auch nicht verhindern, daß einzelne Aktenstücke und<br />
Archivalien verschwanden.“ 56 Einmal aber in Unordnung und<br />
unregistriert, d. h. gedächtnissymbolisch unkodiert, liegt<br />
Ordnung allein in der diskreten Buchstabenfolge, also auf der<br />
wissensarchäologischen Ebene der Schriftstücke selbst. Nicht<br />
Geschichte, sondern ihr Mangel ist die ästhetische<br />
Voraussetzung des Studiums verbliebener Dokumente.<br />
54<br />
Jacques Derrida, Pour l'amour de Lacan, in: Collège International de Philosophie (Hg.), Lacan avec les<br />
philosophes, Paris 1991, 397420 (400 u. 419)<br />
55<br />
Ezechiel Zivier, Eine archivische Informationsreise, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des<br />
Judentums, 49. Jg. (= N. F. 13. Jg.) 1905, 209-254 (209)<br />
56<br />
Der ehemalige Archivar der Breslauer Synagogengemeinde Bernhard Brilling, Das jüdische Archivwesen in<br />
Deutschland, in: Der Archivar, 13. Jg., Heft 2/3 (1960), Sp. 271-290 (Sp. 285)<br />
15
Auch museale Sammler sammeln gerade das Unwahrscheinliche. Das<br />
Unwahrscheinliche als Überlieferungschance liegt in seiner<br />
Materialität: Die aus Knossos auf uns gekommenen Linear B-<br />
Täfelchen der minoischen Palastkultur um 1200 v. Chr. „sind<br />
zufällig erhalten geblieben, weil im betreffenden Jahr der<br />
Palast und damit das Schreib-Archiv in Flammen aufgingen und<br />
der Ton dadurch gehärtet wurden; die Namen geben also<br />
schlaglichtartig lediglich den Sachstand während eines<br />
einzigen bestimmten Jahres wieder“ .<br />
Ähnliches gilt für das hettitische Palastarchiv der Hauptstadt<br />
Hattusa. Und das antike Karthago war scheinbar ohne Literatur<br />
und Bibliothek; tatsächlich aber sind die zahlreich gefundenen<br />
Tonamulette wohl vielmehr Lehmsiegel ehemaliger Bücherrollen,<br />
die beim Brand Karthagos erhärteten und von den Büchern<br />
blieben.<br />
Erste Finder der Tontafeln von Hattusa haben nicht den genauen<br />
Fundort verzeichnet. Aber aus einer alt-hettitischen<br />
Abfallgrube läßt sich aus Splittern von Tontafeln jetzt<br />
teilweise die genaue Lokalisierung der Dokumente bestimmen,<br />
als sei die Abfalltheorie Michael Thompsons für Archäologen<br />
geschrieben: daß nämlich kulturelle Objekte zunächst eine<br />
Phase als Müll durchlaufen haben müssen, um als Werte<br />
wiederentdeckt zu werden. Dieses Gesetz galt bis zum Internet,<br />
das auf Übertragung, nicht Speicherung angelegt ist.<br />
Geschichte ist immer nur eine Funktion dessen, was uns<br />
überliefert ist; Historie = f(Tradition). Und so wäre die von<br />
Claude Shannon entwickelte mathematische Kalkulation der<br />
Übertragungswahrscheinlichkeit von Signalen als Information<br />
gegen potnetielle Verrauschung vom Raum (medialer Kanal) auf<br />
die Zeit ("Tradition", Überlieferung) zu übertragen und<br />
zeitbasiert (entropisch) zu berechnen. Die<br />
Überlieferungschancen von Daten läßt sich zählen:<br />
Schätzungsweise sind nicht einmal 0,001 % aller Urkunden der<br />
Merowinger-Zeit überliefert. 57 Mit Nachrichtentheorie wäre dort<br />
weiterzudenken, wo Geschichte aussetzt. Was aber, wenn der<br />
Historiker selbst der Auslesende ist, also der<br />
Überlieferungsbildner? Bei der Auswahl in der Aufbewahrung<br />
massenhafter einförmiger Akten ist sampling denkbar:<br />
ob in Form von `Specimina´, `typischen´ Akten, `repräsentativen´ Serien, oder aber in ganz mechanischer<br />
Auswahl, etwa: aus den massenhaften Akten einer Stadtverwaltung, z. B. bei den (alphabetisch nach<br />
Familiennamen geordneten) Registraturen der Sozialverwaltung nur die Akten des Anfangsbuchstabens H<br />
aufzubewahren. Solch mechanischer Zensus würde die künftige Forschung am wenigsten determinieren, ist<br />
gewissermaßen künstlich herbeigeführter Überlieferungszufall. Die Frage, wie verhältnismäßig<br />
Überlieferung sein müßte, läßt sich hier gewissermaßen experimentell durchspielen aber tun wir es lieber nicht,<br />
es könnte uns um den Verstand bringen. 58<br />
57<br />
Eberhard Holtz, Überlieferungs- und Verlustquoten spätmittelalterlicher Herrscherurkunden, in: Olaf B. Rader<br />
(Hg.), Turbata per aequora mundi. Dankesgabe an Eckhard Müllers-Mertens, Hannover (Hahn) 2001, 67-80 (67)<br />
58<br />
Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in:<br />
Historische Zeitschrift 240 (1985), 529-570 (567), unter Bezug auf: Hugo Stehkämper, Die massenhaften<br />
16
Aber mathematische Statistik behält hier kühlen Kopf, wenn<br />
Medienarchäologie an die Stelle von Historie tritt. Claude<br />
Shannon spielt Discrete Noiseless Systems am Beispiel von<br />
Buchstabenfolgen durch . An dieser<br />
Stelle kommt die mediensemiotische Differenz von Tradition als<br />
Übertragung und Übersetzung ins Spiel: bei der Übersetzung<br />
arabischer Texte zu Mathematik und Geometrie (selbst meist<br />
Übersetzung aus dem Griechischen, aus Syrien) ins Lateinische.<br />
„The literary defects of a literal translation are obvious,<br />
but if an interpretative translator does not understand the<br />
text, or does not understand it fully, the result can be<br />
worse.“ 59 Bei literarischen Texten herrscht hier eine große<br />
Fehlertoleranz, bei mathematischen Symbolen nicht, wie in der<br />
Welt der Programmierung: ein bug zerstört gleich den ganzen<br />
Sinn. Al-Kindi insistiert daher darauf, bei Überstzung aus dem<br />
Griechischen die Ordnung der Worte beizubehalten, selbst auf<br />
Kosten des Stils. „Even in the case of unambiguous translation<br />
there are problems. One is the existence of revisions,<br />
sometimes by the translator himself“ . Die<br />
Transformationsregeln solcher Übersetzungsverluste lassen sich<br />
formalisieren, ebenso wie sich Daten, wenn sie nicht als<br />
Signal an die Nachwelt gedacht und gesendet wurden, als<br />
unabsichtliche Überlieferung ebenfalls nachrichtentheoretisch<br />
berechnen lassen. „Information in der Kommunikationstheorie<br />
bezieht sich nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern<br />
mehr auf das, was gesagt werden könnte“ 60 - anders als die<br />
Diskurstheorie, die vom tatsächlich Gesagten (Foucault)<br />
ausgeht. Mithin aber lauert hier das Phantom der allegorischen<br />
Lesart des verborgenen Schriftsinns: Historiker lauschen den<br />
Geschäften einer vergangenen Gegenwart Information ab, die<br />
nicht intendiert, aber ausgesagt war. Der Empfänger führt in<br />
der Signalkette normalerweise den entgegengesetzten<br />
Arbeitsgang des Senders durch, indem er die Nachricht wieder<br />
aus dem Signal rekonstruiert. 61 Indem nun die Gegenwart sich<br />
nachträglich (und in einem Akt hermeneutischer<br />
Selbstermächtigung) an die Stelle des Nachrichtenziels setzt,<br />
liegt eine Bestimmung, eine Destination zweiter Ordnung vor;<br />
mithin muß die Nachrichtentheorie somit für die Übermittlung<br />
von Vorgängen über den Zwischenspeicher der Zeit reformuliert<br />
werden.<br />
gleichförmigen Einzelsachakten in einer heutigen Großstadtverwaltung. Dargestellt am Beispiel Kölns, in:<br />
Archivalische Zeitschrift Bd. 61 (1965), 98-127 (100f)<br />
59<br />
Richard Lorch, Greek-Arabis-Latin: The Transmission of Mathematical Texts in the Middle Ages, in: Max-<br />
Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 82 (International Workshop: Experience and Knowledge<br />
Structures in Arabic and Latin Sciences, Berlin, Dezember 1996), 3-6 (5)<br />
60<br />
Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Claude E. shannon<br />
/ ders., Mathematische Grundlagen der Informationstheorie [1949], übers. v. Helmut Dreßler, München<br />
(Oldenbourg) 1976, 11-40 (18)<br />
61<br />
Claude E. Shannon, Die mathematische Theorie der Kommunikation, in: ders. / Warren Weaver 1976: 41-143<br />
(44)<br />
17
Überlieferungschance und -zufall eines Datums unterliegen<br />
Wahrscheinlichkeiten, die von der Nachrichtentheorie auf<br />
berechenbare Maße gestellt wird. Arnold Esch untersucht die<br />
Überlieferungs-Massen (Notariats-Urkunden) im Archiv von Lucca<br />
unter dem Gesichtspunkt der Maßstäbe unserer historischen<br />
Erkenntnis - „seltsame Umverteilung der Wirklichkeit durch die<br />
Überlieferung!“; demgegenüber hat das ägyptische Wüstenklima<br />
die antiken Papyri von Fayum (Überreste im Sinne Droysens,<br />
ohne Überlieferungsabsicht) Schriftliches ohne Ansehen der<br />
Bedeutung überdauern lassen . Hier sind<br />
wir mit einer Physik der kulturellen Tradition konfrontiert.<br />
Bekanntlich trennt Gustav Droysen Quellen und Überreste;<br />
letztere „werden nur durch die Art unserer Benutzung zu<br />
Quellen, sind es aber „an sich und nach ihrer Bestimmung<br />
nicht“ . Droysen faßt die nachträgliche<br />
Modellbildung von Datenfluß als Signalmengen durch den<br />
Historiker avant la lettre in Begriffen der Nachrichten- und<br />
Medientheorie, als vektorgraphische Umgruppierung:<br />
Und als Geschäft in dem breiten und tausendfach bedingten und bedingenden Nebeneinander der<br />
Gegenwart vollziehen sich Dinge, die wir nachmals nach ihrem Nacheinander als Geschichte auffassen, also in<br />
ganz anderer Richtung auffassen, als die war, in der sie sich vollzogen, und die sie in dem Wollen und Tun derer<br />
hatten, durch welche sie sich vollzogen. So daß es nicht paradox ist zu fragen, wie aus den Geschäften<br />
Geschichte wird, und was mit dieser Übertragung gleichsam in ein anderes Medium teils hinzugetan wird,<br />
teils verlorengeht. <br />
Friedrich Jodl insistiert in seinem Aufsatz Der Begriff des<br />
Zufalls 1904, „nicht der feinste Beobachter, nicht der<br />
scharfsinnigste Rechner, aus den Antezedenzien eines Wurfes<br />
abzuleiten vermag, wie der Würfel fallen muß“ 62 - ein<br />
stochastischer Prozeß. Läßt sich aus der Buchstabenmenge von<br />
Archiven ein getreues Abbild der Historie erwürfeln?<br />
Wenn man alle denkbaren Memoires, Verhandlungen und Korrespondenzen der Napoleonischen Zeit<br />
zusammenstellte, so würde man noch nicht einmal ein photographisch richtiges Bild der Zeiten haben, in den<br />
Archiven liegt nicht etwa die Geschichte, sondern es liegen da die laufende Staats und Verwaltungsgeschäfte in<br />
ihrer ganzen unerquicklichen Breite, die sowenig Geschichte sind, wie die vielen Farbenkleckse auf einer Palette<br />
ein Gemälde. 63<br />
Doch längst gelten auch Farbenkleckse als Malerei - eine Frage<br />
der signal-to-noise-ratio, ihrerseits abhängig von der<br />
ästhetischen Perspektive einer gegebenen Epoche. Die<br />
statistische Moderne sieht dies anders als der historistische<br />
Blick Droysens, und auch Tintenkleckse wurden von Dichtern in<br />
den Rang poetischer Aufschreibesysteme erhoben .<br />
62<br />
Friedrich Jodl, Der Begriff des Zufalls. Seine theoretische und praktische Bedeutung [1904], in: ders., Zur<br />
neueren Philosophie und Seelenkunde. Aufsätze, ausgew. u. hg. v. Wilhelm Börner, Stuttgart / Berlin (Cotta)<br />
1917, 3-13 (12)<br />
63<br />
Johann Gustav Droysen, Historik: historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart / Bad-Cannstadt<br />
(frommann-holzboog) 1977, 11 (= Historik. Die Vorlesungen von 1857)<br />
18
Ein System, das eine Folge von Symbolen hervorbringt, die<br />
einer gewissen Wahrscheinlichkeit entsprechen, heißt<br />
stochastischer Prozeß. Der Unterschied zwischen der Rolle von<br />
Buchstaben in Bibliotheksordnungen und in der Literatur ist<br />
der zwischen stochastischem Prozeß und seinem Sonderfall, bei<br />
dem die Wahrscheinlichkeit einer Letternfolge von<br />
vorhergehenden statistischen oder semantischen Ereignissen<br />
abhängt (Markov-Ketten). 64 Hier kommt die Rolle der Bibliothek<br />
als negentropischer Katechont gegenüber dem Tanz der<br />
Signifikanten ins Spiel. Markov der Ältere wandte seine<br />
Mathematik analytisch auf die Literatur von Puschkin an und<br />
hat sich in eine Auseinandersetzung mit theologisch<br />
eingestellten Mathematikern über die Frage verstrickt, ob auch<br />
Authenzität und Zeugenschaft mit Methoden der<br />
Wahrscheinlichkeit zu<br />
erbringen ist sei. 65<br />
Der Diskurs des Nationalen ist nicht im Realen, sondern im<br />
Symbolischen, dem Schriftarchiv der Sagbarkeit, verankert. Die<br />
Sammlung deutscher Drucke 1450 bis 1912 sucht einen Ausgleich<br />
zu schaffen für das Fehlen einer historisch gewachsenen<br />
Nationalbibliothek zu schaffen - um den Preis allerdings, daß<br />
sich die digitale Verzeichnung von der Realität des gedruckten<br />
Textes löst. 66 Nach dieser Loslösung stellt die Frage, "ob<br />
unsere Buchkultur eine permanente Kultur bleiben wird"; nach<br />
dem von Roland Barthes verkündeten "Tod des Autors" wird - in<br />
Kopplung an den Medienwechsel zur elektronischen Schrift -<br />
"auch das Buch als distinkte und fixierte Texteinheit in Frage<br />
gestellt. Antithetisch tritt dem gedruckten der elektronische<br />
Text gegenüber, auf Fluidität und Veränderbarkeit angelegt"<br />
. Stellt die Bibliothek demgegenüber einen<br />
Ort der Remanenz dar, wie das Museum gegenüber dem Streaming<br />
elektronischer Bilder? "Wo die Gesellschaft sich verändert<br />
, muß der Staat die Ordnungen fixieren, in denen sie<br />
fortbestehen kann" . Längst aber fixiert nicht mehr der<br />
Staat, sondern der Stand der Medientechnologien diese Ordnung<br />
des Sagbaren von Kultur. Daraus ergibt sich die Option eines<br />
medienarchäologischen, nicht länger historisch-narrativen<br />
Modells von kultureller Tradition als Übertragung: Es gibt<br />
diskrete Zustände kleinster Informationseinheiten, deren<br />
Wahrscheinlichkeit aber in Kenntnis der vorherigen Zustände<br />
gefaßt werden kann, im Unterschied zu kontingenten<br />
Ereignissen.<br />
Stochastische Prozesse liegen der Mechanik kultureller<br />
Tradition zugrunde. Gedächtnis wird hier im Wortsinn zur<br />
Metapher:<br />
64<br />
Siehe Leonard B. Meyer, Meaning in Music and Information Theory, in: Journal of Aesthetics and Art<br />
Criticism, Juni 1957, zitiert in: Eco 1990: 143f. Ebenso definiert in: Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur<br />
mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Shannon / ders. 1976: 1140 (21)<br />
65<br />
Information Philipp v. Hilgers, 11. Februar 2002<br />
66<br />
Bernhard Fabian, Der Staat als Sammler des nationalen Schrifttums, in: ders. (Hg.), Buchhandel - Bibliothek -<br />
Nationalbibliothek, Wiesbaden (Harrassowitz) 1997, 21-52 (39 u. 44)<br />
19
Die Theorie gilt auch für sehr komplizierte Sender und Empfänger, z. B. solche mit „Gedächtnis“, so daß die Art,<br />
wie ein bestimmtes Nachrichtenzeichen codiert wird, nicht nur von dem Zeichen selbst abhängt, sondern auch<br />
von den vorhergegangenen Nachrichtenzeichen und davon, wie diese codiert worden sind. 67<br />
Ist "Geschichte" damit eine idealisierende, narrative,<br />
ordnungs- und sinnstiftende Fehlbezeichnung stochastischer<br />
Prozesse? "So fehlen häufig Übergangsformen, Brüche und<br />
Bifurkationen scheinen ziemlich plötzlich zu geschehen" 68 , wie<br />
auch in der Katastrophentheorie René Thoms dargelegt. Scheiden<br />
sich hier Natur- und Geisteswissenschaften?<br />
Auf einem solchem Modell hätte ein Begriff zeitlicher Dynamik<br />
zu bauen, der nicht mehr historisch ist, sondern Niklas<br />
Luhmanns Selektionsmodell auf die zeitliche Erstreckung<br />
(Tradition) faltet. Ihm zufolge erzwingt Komplexität die<br />
Notwendigkeit zur Selektion - zugleich als Chance zur Freiheit<br />
der Auswahl, der ("kritischen") Ent-scheidung. Eine Markov-<br />
Kette:<br />
Die Stabilität (= Erwartbarkeit) von Handlungen bestimmter Art ist somit Resultat eines kombinatorischen<br />
Spiels, eines mixedmotive game. Evolution filtert das heraus, was sowohl psychisch als auch sozial akzeptabel<br />
ist . Man stelle sich nur vor, ein "Bauherr" von 1883 würde heute versuchen, ein Haus zu bauen: Es würden<br />
ihm fast alle Anschlüsse für seine Erwartungen fehlen, nicht nur im technischen, sondern gerade im sozialen<br />
Bereich. <br />
Was kulturell tradiert wird, erhebt nicht den flächendeckenden<br />
Anspruch auf Repräsentativität. Tradition als systematische<br />
Auswahl erweist sich, medienarchäologisch nüchtern betrachtet,<br />
als eine Serie gestreuter Archiv- und Bibliothekbefunde, und<br />
deren Einspielung geschieht im Vertrauen darauf, daß auch<br />
partikulares Wissen in seiner Zufälligkeit, also auch das<br />
Kontingente ein Wissen um epistemologische Verhältnisse hat<br />
und verrät. Prähistorie muß in diesem Sinne<br />
medienarchäologisch, nämlich von den Übertragungsmedien ihrer<br />
Signifikanten her begriffen werden, die jedes Signifikat erst<br />
konstituieren und dabei immer schon verschieben. Die<br />
kartographische Feststellung der Verteilung von Funden auf<br />
verschiedene Nationen sagt nichts vorweg über deren<br />
Nationalität; Überlieferung von Daten ist eine Funktion von<br />
Kommunikation, Transport und Verkehr:<br />
Gemeinsame Alterthümer müssen in bewegliche und unbewegliche getheilt werden. Die transportablen<br />
Alterthümerunterliegen immerhin ohne Weiteres der Möglichkeit, als Handelsartikel, Tauschmittel oder<br />
Kriegsbeute in die Hände wilder Völker gerathen zu sein, wie denn die ganze Indianerwelt heutzutage mit<br />
englischen und französischen Stahl und Feuergewehren versehen ist. Was aber die unbeweglichen Monumente<br />
anbelangt, so glauben wir, diese Alterthümer könnten dem ursprünglichen, noch reinerhaltenen Geschlechte<br />
angehören. <br />
Für die Archive der Historie gilt ebenso wie für die der<br />
prähistorischen Archäologie:<br />
67<br />
Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Shannon / ders.<br />
1976: 1140 (27)<br />
68<br />
Rötzer 1998: 129, unter Bezug auf Stephen Hay Gould, Zufall Mensch, München 1991<br />
20
Der Vor und Frühhistoriker, dem sich das Problem eher in einer Gemengelage von ÜberlieferungsChance und<br />
FundChance darbietet, wird sich angesichts einer Fundkarte von Gräberfeldern immer fragen, ob ein<br />
weittragender Streifen von Gräbern gleichen Typs nun wirklich einen (sagen wir:) alemannischen<br />
Siedlungskorridor abbilde, oder ob er nicht einzig der Tatsache verdankt wird, daß der Bau einer Autobahnlinie<br />
hier, und vorerst nur hier, Gräber zutage förderte ob der kartierte Streifen also Völkerwanderung abbilde oder<br />
nur den massierten Zufall von Fundumständen. <br />
Ob Autobahnbau oder die Furchungen der Ackerbauern: Die<br />
Dynamik von Infrastruktur wird hier selbst zum archäologischen<br />
Suchschnitt, jenseits humanistischer Hermeneutik - eine<br />
Archäologie des kulturellen Unbewußten als genitivus<br />
subiectivus und obiectivus. So auch am 2. November 1993 im<br />
griechischen Theben, als bei der Verlegung von<br />
Wasserleitungsröhren im Stadtzentrum ein ganzer Komplex von<br />
Linear B-Täfelchen gefunden wurde <br />
und einen neuen Blick auf die mykenische Kultur ermöglichte,<br />
weil die flüchtigen Tontafeln nach einem Brand im Palast-<br />
Archiv der Kadmeia gehärtet wurden und damit aus<br />
kommunikativer Software Hardware wurde. Nicht nur<br />
Archivöffnungen, sondern auch archäologische Funde triggern<br />
die Memoria von Geschichte. Die neuentdeckten Linear B-<br />
Täfelchen nämlich bestätigen nicht nur die geographischen<br />
Namen im sogenannten Schiffskatalog der Ilias Homers, sondern<br />
erklären zugleich, weshalb derselbe mit Theben einsetzt: Um<br />
1200 (auf diese Zeit läßt sich der Fund datieren) ist Theben<br />
der Sitz des Herrschers von Ahhijawa. Kadmos, der Bruder von<br />
Europé, hat den Griechen angeblich die Schrift übermittelt:<br />
das archaische Griechenland hat ein präzises Gedächtnis daran,<br />
daß im Zentrum der mykenischen Macht einmal mit Schrift<br />
operiert wurde. Nichts anderes sagt der Fund vom November<br />
1993, als daß die Signifikanten insistieren, allerdings im<br />
Unbewußten von Linear B gegenüber dem Leuchten des späteren<br />
Vokalalphabets.<br />
Er wird sich auch fragen, inwieweit beigabenlose Gräber (und noch fataler:<br />
Gräber aus beigabenloser Zeit!) nicht prinzipiell unterdokumentiert sind einfach deshalb, weil sie bei<br />
Aufdeckung die geringere Chance haben, erkannt, gemeldet und damit von der Wissenschaft registriert zu<br />
werden. <br />
Denn das Gedädchtnis des Realen differiert eklatant von dem<br />
des Symbolischen (also des Aufgezeichneten). Die<br />
Maßstäblichkeit dessen zu erkennen, was die Kanäle der<br />
Überlieferung sortieren, „und das heißt: die auslesende<br />
Überlieferung zu entzerren“, ist nicht nur eine Frage von<br />
Vergangenheit, sondern der Nachrichtenlagen schon jeder<br />
Gegenwart (Zeitungen etwa: „Was aber mag dann das Maß dieser<br />
Wahrheit sein?“); es gilt also, das (aus der Geographie<br />
vertraute) Verzerrungsgitter zu zeichnen . Genau<br />
an dieser Stelle, an der Eschs Fragestellung mit dem<br />
Schlußsatz aussetzt („Lassen wir uns nicht entmutigen, in das<br />
21
Dunkel hineinzufragen“) 69 , setzt die mathematische<br />
Informationstheorie (und der Historiker als semantic receiver)<br />
ein und fragt: „How does noise affect information? after<br />
the signal is received there remains some undesirable (noise)<br />
uncertainty about what the message was“? 70 Die Differenz von<br />
Nachrichtenpraxis und historischer Forschung liegt darin, daß<br />
der Historiker gegebene Daten als Botschaft einer Vor- an die<br />
Nachwelt lediglich als Modell unterstellt, „und wenn der<br />
Empfänger die Zeichen entschlüsselt, kann es ihm schließlich<br />
egal sein, welche Nachricht ursprünglich gesendet wurde“<br />
. Bedeutungsverschiebungen: „Somit gleichen<br />
Quellen in Bezug auf die von ihnen repräsentierten Handlungen<br />
Telegrammen, die auf dem Übermittlungsweg gestört wurden“<br />
wie die notorische Emser Depesche,<br />
deren Lesart durch Bismarck 1870 einen Krieg auslöste. Solche<br />
Nachrichtenverarbeitung gilt auch auf neurologischer Ebene:<br />
"Ebenso nimmt das ganze Organ des Bewusstseins die Nachrichten<br />
entgegen, die zunächst in dem sensorischen Sprachcentrum <br />
gleichsam der Empfangsstation der acustischen Depeschen<br />
anlangen" . Die Syntax der Sprache vermag<br />
selbst bei gänzlicher Zerstörung der Begriffsregionen und<br />
einem hieraus resultierende „tiefste thierische<br />
Blödsinn“ vollständig erhalten zu bleiben, und auch hier kommt<br />
es wieder zu einer Formulierung, welche Nachrichtentechnik<br />
modelliert: „Der Telegraphenapparat ist in Ordnung, nur das<br />
aufgebene Telegramm ist unsinnig“ .<br />
Präzisieren wir diese Metaphorik:<br />
We may assume the reveived signal E to be a function of the transmitted signal S and a second variable, the noise<br />
N. The noise is considered to be a chance variable just as the message . In general it may be<br />
represented by a suitable stochastic process 71 ;<br />
mithin läßt sich das, was Esch hermeneutisch<br />
(kulturgESCHichtlich) als Überlieferungs-Chance zu fassen<br />
sucht, mathematisch so formulieren: E = f(S, N). Ergänzen wir<br />
die temporale Dimension, welche dem medialen Kanal zur Seite<br />
steht, als Oxymoron des stummen Geräuschs: E = f(S, N, t).<br />
Zeit ist jene diachrone Dimension, mit der ein semiotisches<br />
Nachrichtenübertragungsmodell Schwierigkeiten hat; „Semiologie<br />
kann also Veränderung nicht von Geräusch unterscheiden“<br />
. Ein Kanal muß so beschaffen sein, daß<br />
durch Einwirkung des Sender S auf den Kanaleingang Signale<br />
erzeugt werden können, die im Kanalausgang vom Empfänger E<br />
gemessen bzw. beobachtet werden können.<br />
69<br />
Siehe auch Esch 1999: 134; dort weist er auf „das Problem, ob historische Überlieferung frühere Wirklichkeit<br />
maßstäblich abbildet oder aber verzerrt“ und „die schwer berechenbaren Verluste“ - eine eher stochastisch denn<br />
ontologisch beantwortbare Frage.<br />
70<br />
Warren Weaver, Recent Contributions to the Mathematical Theory of Communication [1949], in: Claude E.<br />
Shannon / ders., The mathematical theory of communication, Urbana, Ill. (University of Illinois Press), 1963, 1-<br />
28 (18, 21)<br />
71<br />
Claude E. Shannon, The Mathematical Theory of Communication [1948], in: ders. / Warren Weaver 1963: 29-<br />
125 (65)<br />
22
Dieser Typ dient der Übertragung von Signalen von einem Ort zu einem anderen (räumlicher Kanal) .<br />
Man spricht jedoch auch dann von einem Kanal, wenn es möglich ist, durch S zur Zeit t 1 im Kanal Signale zu<br />
erzeugen und durch E zur Zeit t 2 aus dem Kanal zu entnehmen (zeitlicher Kanal, → Speicher → Gedächtnis). In<br />
diesem Sinne sind auch Bücher, Tonbänder usw. "Kanäle". Treffen die angegebenen möglichen Bedingungen<br />
beide zu, so spricht man von einem raumzeitlichen Kanal. Mathematisch ist ein Kanal dann festgelegt, wenn eine<br />
statistische Verteilung für S und E gegebene ist, und wenn außerdem für jedes Paar die<br />
Wahrscheinlichkeit p dafür festgelegt ist, mit der ein ausgesandtes Signal empfangen wird. 72<br />
Von daher lassen sich Verzerrungen in der Überlieferung<br />
archäologischer Objekte an den Stellen ihrer medialen Kanäle,<br />
mithin den stochastischen Streuungen des Marktes und den<br />
Zwischenspeichern Museen ausmachen; nicht die Normalserie,<br />
sondern das Abweichende wird registriert:<br />
Die irrtümliche Ansicht nordischer Alterthumsforscher, als seien die Geräthe und Waffen von Stein in<br />
Süddeutschland, namentlich den Rheingegenden seltener, beruht wahrscheinlich auf dem Umstande, dass in den<br />
Museen zum Theil nur die ungewöhnlichen Formen oder nur ausgezeichnete Exemplare aufbewahrt<br />
werden. Die Steinwaffen hiesiger Gegend, obgleich durch den Antiquitätenhandel massenweise ins Ausland<br />
verkauft, finden sich doch noch zu Dutzenden in jeder selbst kleineren Privatsammlung. <br />
Hier kommt eine Differenz zwischen Nachrichtentheorie und<br />
Historie ins Spiel, die schon in der Replik Arnaldo<br />
Momiglianos auf Hayden Whites Metahistory eine Rolle spielt:<br />
The mathematical theory of Shannon and Weaver, so far from being universally applicable, takes no account of<br />
activities such as those of the historian. For the study of history, as distinguished from the writing of the same, is<br />
not an act of transmission but one of retrieval. Furthermore, to the historian the absence of data is frequently as<br />
significant as its presence, the hidden context as important as the evident. In other words the historian can be as<br />
interested in what is not being mediated by a communications system as in what is. He can also be very<br />
interested in noise, or what has been mediated in distorted form. 73<br />
Historie ist an starre Designatoren, mithin Namen und Begriffe<br />
(als Ereignisse) gebunden; Vorgeschichte ist anonym, also nur<br />
in anderen Formen adressierbar. Als Ende des 19. Jahrhunderts<br />
die erste Beschreibung der Konfiguration des<br />
landesgeschichtlichen Franzens-Museums im ehemaligen Brünn<br />
erscheint, kann ihr Verfasser, der seit dem 7. März 1836 als<br />
Kustos amtierende Albin Heinrich, ledigliche einige wenige<br />
Altertümer der vorgeschichtlichen Zeit seines Landes namhaft<br />
machen:<br />
Die Bronzegegenstände wurden damals consequent als `römische´, die Thongefäße einfach als `heidnische´<br />
Alterthümer bezeichnet. Der Gegenstand an sich erschien als das Wertvollste, während die Fundverhältnisse, auf<br />
welche die moderne Forschung mit Recht ein großes Gewicht legt, gar nicht berücksichtigt wurden; ja in der<br />
Mehrzahl der Fälle erschien sogar der Fundort nebensächlich. 74<br />
Chaotische Lagerhaltung: Den Beginn der Tätigkeit Heinrichs<br />
bildete die Katalogisierung der Sammlungen, „eine<br />
72<br />
Georg Klaus (Hg.), Wörterbuch der Kybernetik, Bd. 1, Frankfurt/M. (Fischer) 1969, 294f<br />
73<br />
Graeme H. Patterson, History and Communications, Toronto et a. (University of Toronto Press) 1990, 100f.<br />
Vgl. Arnaldo Momigliano, , xxx<br />
74<br />
Karl Hucke, Wie das Mährische Landesmuseum entstand, in: Zeitschrift des Mährischen Landesmuseums, N.<br />
F., III. Bd., Brünn 1943, 5-15 (12f), unter Bezug auf: A. Heinrich, Mährens und k. k. Schlesiens Fische, Reptilien<br />
und Vögel, Brünn 1856, Einleitung<br />
23
Sisyphusarbiet angesichts des chaotischen Zustandes, in dem<br />
sich der größte Teil der Bestände befand“ . Heinrich<br />
selbst schreibt, daß bei der Übergabe und Übernahme der<br />
Museumsinventarien und der dazu gehörigen Sammlungen „die<br />
verschiedenen Gegenstände alle chaotisch durch-, über- und<br />
untereinander als rudis indigestaque moles in mehreren<br />
Gemächern aufgeschichtet lagen“ . In kurzer Zeit<br />
kann er dieses Übelstandes Herr werden und dem Trägerverein<br />
des Hauses, der mährischen Ackerbaugesellschaft, ausführliche<br />
Kataloge der Sammlungen vorlegen; Hucke wählt hier Worte, mit<br />
denen Friedrich Nietzsche philologische Hermeneutik als Wille<br />
zur Macht (über Wissen) identifiziert hat.<br />
Archäologisches Rauschen, kulturelle Signale<br />
Reines Speichergedächtnis liegt vor, wenn die Daten<br />
buchstäblich in Fächern (-thek) lagern wie bits in den arrays<br />
von computer memory; keine (narrative) Ordnung der Historie,<br />
sondern die Kompartmentalisierung von Gedächtnis.<br />
Übertragungsverluste sind materialiter eine Funktion ihrer<br />
Container: "Der Zufall vernichtet gerne gattungsweise :<br />
Nicht einzelne Bände, sondern Hunderte von Kisten (und das<br />
heißt eben: ganze Fonds) gingen bei der Rückführung des<br />
Vatikanischen Archivs von Paris nach Rom verloren." 75 Doch erst<br />
ein Verzerrungsgitter (Esch) läßt die Lücken bemessen.<br />
Tatsächlich bedarf der Transport von Gedächtnis nicht nur der<br />
medialen Trägermedien (Papier, Papyrus), sondern auch der<br />
Übertragungsmedien (Container). So wurden etwa Dokumente der<br />
Gemeindearchive in der frühen Neuzeit "im günstigen Fall in<br />
einer Truhe aufbewahrt, aber wer jeweils die Truhe in seiner<br />
Obhut hatte, ist nicht sicher“ 76 . Régis Debray betont in seiner<br />
Mediologie, daß die Übertragung von Inhalten nicht an das<br />
gleichzeitige Existieren von Sender und Emfänger gebunden ist,<br />
sondern auch über Generationen hinweg, also diachron erfolgen<br />
kann; Shannons Nachrichtenübertragungsmodell wird hier timebased,<br />
zum Prozess einer différance. 77 Zum medium wird für<br />
Debray eine Art Black Box des Komplexes von Milieu und<br />
Technologie, das Dazwischen von Input und Output: die<br />
"Transmission" ist es, die aus Ideen (Wörter, Buchstaben,<br />
Photonen) Ideologien (Gesetze, Institutionen) werden läßt. 78<br />
Neurobiologie arbeitet mit einem Gedächtnisbegriff, der den<br />
Akzent auf das Prozedurale setzt, um zu erklären, was<br />
75<br />
Esch 1985: 549, unter Bezug auf: Remigius Ritzler, Die Verschleppung der päpstlichen Archive unter<br />
Napoleon I, in: Römische Historische Mitteilungen VI-VII (1962-64), 144-190<br />
76<br />
Wolfgang Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit: ein deutschfranzösisches<br />
Paradigma, München (Oldenbourg) 1997, 355<br />
77<br />
Régis Debray, Für eine Mediologie, in: Lorenz Engell u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen<br />
Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart (DVA) 1999, xxx<br />
78<br />
www.wired.com/archive/3.01/debray.html (Zugriff: März 2001)<br />
24
passiert, wenn die Speicherungsprozesse des Gehirn jäh gestört<br />
werden:<br />
Denn Erinnerungen werden nicht einfach passiv nach Art des Videorecorders abgespeichert. Wenn Eindrücke im<br />
Gedächtnis haften sollen, müssen sie zunächst analysiert werden. Geschieht dies nur oberflächlich, erinnert man<br />
sich später nicht einmal an einfach Details von tausendmal gesehenen Dingen. Deshalb können sich die meisten<br />
Menschen kaumentsinnen, was die Münzen zeigen, mit denen sie jeden Tag hantieren. Ebenso viele komplizierte<br />
Prozesse verbergen sich hinter dem scheinbar einfachen Abrufen von Erinnerungen. Das Gedächtnis nimmt<br />
gespeicherte Inforationen an eine bestimmte Episode, ergänzt sie um weitere aus vielleicht ganz anderen Quellen<br />
und rekonstruiert so ein vermeintlich originalgetreues Bild. „Aus ein paar eingespeicherten Knochenstücken“,<br />
zitiert Schacter seinen Psychologenkollegen Ulrich Neisser, „erinnern wir einen Dinosaurier“ 79<br />
- Erinnerung an eine Vergangenheit, die (so) nie Gegenwart<br />
war. Archäologische Imagination ist nicht Erinnerung, sondern<br />
Modell. „And if there are gaps within the signal, we can<br />
usually organize the incoming signals into a meaningful<br />
pattern, or a complete gestalt, by filling in those gaps“ 80 ,<br />
heißt es über das Rauschen auditiver Archivdaten; Joseph<br />
Jastrow hat dies um 1900 für visuelle Ambiguität (die<br />
Kaninchen / Ente - Kippwahrnehmung) untersucht. Kulturell<br />
erworbene Assimilationsschemata generieren<br />
Wahrscheinlichkeiten im Sinne von Markov-Ketten. 81 Die Muster<br />
dieser Assimilationsschemata sind keine quasi-natürlichen<br />
Gegebenheiten, sondern Funktionen einer kulturtechnischen,<br />
mithin dann auch medialen Kodierung, eine Kombination aus<br />
Repertoire und Regeln:<br />
Der Kodex stellt ein System von Wahrscheinlichkeiten dar, das der Gleichwahrscheinlichkeit des<br />
Ausgangssystems überlagert wird, um es kommunikativ zu beherrschen. Es ist also nicht der statistische Wert<br />
„Information“, der dieses Ordnungselements bedarf, sondern nur deren Übertragbarkeit. <br />
Damit ist der Akzent kultureller Kommunikation auf den Kanal,<br />
also die Tradition gelegt. Nicht von ungefähr ist Ecos<br />
Beispiel die Schreibmaschinentastatur. In welchem Maße läßt<br />
sich nun das nachrichtentheoretische Modell der Kommunikation<br />
auf Prozesse der Tradition übertragen?<br />
Social scientists in search of a metaphor to explain human communication unproblematically adapted the CMR<br />
model [sc. the linear CommunicatorMediumReponse equation] from Shannon and Weaver original which was<br />
never intended to explain anything more than the conduction of signals through telephone wires. 82<br />
Auf Empfängerseite (Geschichtsforschung) wird die<br />
„Kommunikation“ mit Vergangenheit erst durch Selektion<br />
generiert: „Der Empfangsapparat kann dann so eingerichtet<br />
werden, daß er auf die vorgesehenen Kombinationen<br />
antwortet und die nicht vorgesehenen Kombinationen als<br />
Rauschen außer acht läßt“ ; der hermeneutische<br />
Zirkel schließt sich. Die Information der Quelle wird vom Code<br />
79<br />
Jochen Paulus, Die Knochenreste des Dinosauriers, über: Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung. Gedächtnis<br />
und Persönlichkeit, a. d. Amerikanischen v. Hainer Kober, Reinbek (Rowohlt) 1999, in: Die Zeit v. 20. Januar<br />
2000, 42<br />
80<br />
Helmut Esau, The „smoking gun“ tape: Analysis of the information structure in the Nixon tapes, in: Text. An<br />
interdisciplinary journal for the study of discourse, vol. 2 (4), New York / Amsterdam (Mouton) 1982, 293322<br />
(306)<br />
81<br />
Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 5. Aufl. 1990 [*ital. 1962], 142<br />
82<br />
Keyan G. Tomaselli, The Marxist Legacy in Media and Cultural Studies: Implications for Africa, in: Africa<br />
Media Review 9, Heft 3/1995, 1-31, unter Bezug auf: D. Sless, In Search of Semiotics, London (Croom Helm)<br />
1986, 21; im Internet unter: www.und.ac.za/und/ccms/media/commstudies/amr.htm<br />
25
korrigiert, der ein Wahrscheinlichkeitssystem festlegt und die<br />
Signale so erst zur Botschaft uminterpretiert. An der Stelle<br />
macht es eine Differenz, ob es sich um Maschine-zu-Maschine-<br />
Kommunikation handelt oder um menschliche Augen und Ohren als<br />
Empfänger:<br />
Wenn der Empfänger ein Apparat ist, geschieht nichts, er hat keine dementsprechenden Instruktionen erhalten<br />
und betrachtet die Botschaft als Rauschen. Ist die Quelle ein Apparat, so darf ein menschlicher Empfänger an<br />
Rauschen denken. Wenn sie aber ein mensch ist, wird der Empfänger eine Absicht in der Formulierung der<br />
Botschaft vermuten und sich überlegen, welche das sein könnte. <br />
Beim Menschen kommt also die Sinnvermutung ins Spiel, die von<br />
der Information der Daten ablenkt. Diese Ablenkung sucht der<br />
medienarchäologische (im Unterschied zum<br />
medienanthropologischen) Blick zu parieren.<br />
Was einmal diskret kodiert wurde, läßt sich auch diskret<br />
wieder zurückrechnen - jenseits der Fragen des semantischen<br />
Sinns oder Unsinns. Der Spielfilm Enigma. Das Geheimnis (R:<br />
Michael Apted, 2001) läßt an einer Stelle eine englische<br />
Aufschreiberin der abgehörten deutschen Funksprüche, die<br />
Buchstabenketten notiert, an den begabten Kollegen<br />
Mathematiker (alias Turing) aus den Baracken von Bletchley<br />
Park fragen, ob er daraus Sinn zu machen verstehe:<br />
Diese gespenstische Vorstellung, wie da Tausende in den Äther hinauslauschten, um unverständliche<br />
Bucshtabenfolgen aufzuschnappen, fängt Apted in einer Szene auf, wo der Mathematiker von einer der fleißigen<br />
Abhörbienen gefragt wird, ob ihre Arbeit auch wirklich wichtig sei. Da tut sich plötzlich ein gähnendner<br />
Abgrund vom Irrwitz des Projekts auf, der flüchtigen Buchstabensuppe eine Form zu geben. 83<br />
In diesem Moment stehen Abhörpraxis und Tradition im<br />
nachrichtentechnischen Bund: Der Entzifferer der kretischmykenischen<br />
Schrift Linear B, Michael Ventris, war im Zweiten<br />
Weltkrieg als Navigator bei der Royal Air Force mit<br />
Decodierung befaßt, bevor er im Juni 1952 seine Hypothese<br />
verkünden konnte, daß die mit dieser Schrift verbundene<br />
Sprache das Altgriechische ist - eine aus dem Geist der<br />
Kryptologie.<br />
Bletchley Park nördlich von London war der Ort, an dem im<br />
Zweiten Weltkrieg Tausende von Menschen mit dem Auffangen,<br />
Archivieren und Entschlüsseln von deutschen Funksprüchen<br />
beschäftigt waren und damit einen Medienverbund formierten,<br />
ein Medium im nachrichtentechnischen Sinne. Tatsächlich aber<br />
hat erst das Meta-Medium Computer (der auf Turings<br />
Berechenbarkeits-These beruhende Colossus) die automatisierte<br />
Dechiffrierung einer Maschine, welche bei jeder Einstellung<br />
ihren Code änderte, ermöglicht, weil er sie in begrenzter Zeit<br />
berechenbar machte. Ein Moment im Film zeigt die Kodeknackerin<br />
Kate vor dem Exemplar der deutschen Enigma, der<br />
Chiffriermaschine, der sie abgefangene Funksprüche eingibt, um<br />
ihre Dekodierung herauszufinden. In einem solchen Moment sitzt<br />
83<br />
Filmrezension Michael Althen, Im Krieg ist ein Kuß nicht ein Kuß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 22<br />
v. 26. Januar 2002, 42<br />
26
sie nicht mehr schlicht vor der Chiffriermaschine, sondern<br />
wird als Denkprozeß an sie gekoppelt, damit selbst zur<br />
Maschine (human-computer-interface). Genau diese Loslösung vom<br />
menschlichen (historisch meist weiblichen) „computer“ aber<br />
dissimuliert der Spielfilm, indem er eine Liebesgeschichte zum<br />
eigentlichen Geheimnis von Bletchley Park macht - und damit<br />
zugleich die Anfälligkeit der menschlichen Mathematiker für<br />
Störungen namens Liebe nachweist 84 (weshalb dieser Faktor dann<br />
auch durch elektronische Rechner ersetzt wurde). Hier dient<br />
die Form der story als das eigentliche (diskursive) Interface<br />
zwischen Mensch und Maschine, wie schon die Funktion der<br />
Helena in Homers Ilias - am Ende eine photographische<br />
Halluzination Heinrich Schliemanns, der seine junge<br />
griechische Gattin mit dem für den Schatz des Priamos<br />
fehlgedeuteten Goldschmuck behängt. Aufklärung heißt<br />
demgegenüber, die Sachlage des Wissens von Bletchley Park aus<br />
der narrativen Umklammerung zu befreien und einer<br />
wissensarchäologischen Beschreibung zugänglich zu machen -<br />
durch Umschneiden des Films etwa.<br />
Womöglich liegt ein Hauptgrund für die Hochkonjunktur der Mathematiker im Weltkino darin, daß wir uns in<br />
Zeiten befinden, in denen der Datenaustausch zwischen Maschinen ein Ausmaß<br />
angenommen hat, das nach Helden verlangt, die den Anschein vermitteln, sie könnten die abstrakte Materie vom<br />
Kopf wieder auf die Füße stellen. Der Wahnsinn ist die Strafe, die sie für uns auf sich nehmen, Ausdruck unsrer<br />
Paranoia, in dem ganzen Datenschrott seien irgendwelche Geheimbotschaften versteckt, für die wir blind sind.<br />
<br />
Daß Musterbildung Vergangenheit nicht abbildet, sondern als<br />
Bildmuster erst konstruktivistisch generiert, wird an John<br />
Dean, einem Berater des mit ihm in die Watergate-Affäre<br />
verstrickten Richard Nixon, deutlich:<br />
In seiner Aussage erinnerte er sich anscheinend wörtlich an Gespräche mit dem Expräsidenten. Erst als später die<br />
Tonbandmitschnitte aus dem Weißen Haus veröffentlicht wurden, zeigte sich, dass Deans Gedächnis die Szenen<br />
neu geschrieben hatte. Er gab nur die Punkte richtig wieder, die immer wieder erörtert worden waren, und<br />
verband sie mit erfundenen Einzelheiten zu einem Gesprächsablauf. <br />
Und weiter heißt es bezüglich eines der Nixon-Tonbänder, denen<br />
Oliver Stone in seinem Film Nixon - Der Untergang eines<br />
Präsidenten (USA 1995) ein Denkmal gesetzt hat:<br />
Although my assistant and I listened to the line repeatedly with great care, we were able to hear neither on with<br />
nor off, but only unitelligible noise. Thus depending on who listens to the line, the resulting gestalt is very<br />
different. <br />
Die Lage hat William Burroughs einmal treffend formuliert:<br />
"Nothing here now but the recordings." Zwischen Signal und<br />
Rauschen oszilliert nun die Option " ... in order got get on<br />
with / off / unclear / the coverup plan." Im digitalen Raum<br />
ist zusätzliche Sicherheit der Überlieferung durch den Error<br />
Correction Code (etwa beim Abspielen von CDs) garantiert; an<br />
die Stelle von "Tradition", die durch Übertragungsverluste<br />
84<br />
Slogan auf dem deutschen Filmplakat: „Er war der Mann, der den Code knacken sollte. Sie war die Frau, die er<br />
nicht entschlüsseln konnte.“<br />
27
charakterisiert ist, rückt die verlustfreie Kopie. Der Preis<br />
ist der Verlust des Ewigkeitsanspruchs des Speichers. "Wie<br />
groß darf die Verschiebung der Bedeutung eines Wortes sein,<br />
damit die von ihm transportierte Information mit seinen<br />
Ursprüngen noch `verwandt´ ist?" .<br />
Im Sinne des Signal-zu-Rauschen-Verhältnisses der<br />
Nachrichten(übertragungs)theorie ahnte auch der britische<br />
Historiker Lord Acton das Prinzip der Stillen Post(histoire)<br />
in einer Äußerung des Begründers der stochastischen<br />
Wahrscheinlichkeitsrechnung Laplace: „When a report passes<br />
from one person to another the probability of error increases<br />
every time, until finally one reaches the stage at which it is<br />
greater than the probability of truth“. 85 So schwierig ist es,<br />
der Nachwelt ein update der Gegenwart zu hinterlassen. Werden<br />
die Metadaten nicht in den digitalen files integriert, drohen<br />
sie im Prozeß der Datenmigration verlorenzugehen; somit wäre<br />
Katalogwissen und Kulturgut nicht mehr trennen. 86<br />
Die Wissenschaften der Vergangenheit sind also eine<br />
Briefkastenfirma, die zunächst an solchen Nachrichten im Namen<br />
der Geschichte interessiert sind, die sich performativ als<br />
postalische Sendungen zu erkennen geben, d. h. die sich dazu<br />
bekennen, daß die Übermittlung von Vergangenheit (sei es<br />
Tradition, sei es Geschick) immer schon ein Effekt von Medien<br />
und Mechanismen des Verzugs sind. 87<br />
Beim Medium Brief steht der Übermittlungsvorgang oder Transport im Zentrum: Konstitutiv für den Brief<br />
ist die räumliche (oder zeitliche, mentale usf.) Distanz. Peter Bürgel markiert das mit der Formel vom<br />
`brieftypischen Phasenverzug´ (1976, 288). Die spezifische Leistung des Briefes ist demnach die<br />
Distanzüberbrückung 88<br />
- die emphatische Überbrückung der Distanz als Ent-fernung;<br />
mithin ein Verzögerungsspeicher (Kanal). Das postalische<br />
Dispositiv der Tradition spricht sich schon im Begriff der<br />
Übertragung. Was aber geschieht, wenn nicht mehr die Dinge,<br />
sondern deren Information übertragen wird? Geopfert wird deren<br />
Materialität: Ein Teil der mittelalterlichen Urkunden und<br />
Dokumente des Alten deutschen Reiches wanderte nach ihrer<br />
typographischen Übersetzung in das Editionswerk Monumenta<br />
Germaniae Historica nach Beginn des 19. Jahrhunderts zum<br />
Recycling in Werkstätten, da mit der Konzentration auf den<br />
Schriftsinn des Überlieferten deren Materialität irrelevant<br />
wurde. 89 Für das Archiv des emergierenden Germanischen<br />
Nationalmuseums war daher Veranlassung geboten, durch Ankauf<br />
85<br />
Herbert Butterfield, Man on His Past: The Study of the History of Historical Scholarship, Cambridge<br />
(University Press) 1955, 75, unter Bezug auf Notizen im Acton-Nachlaß (Add. 4929,52)<br />
86<br />
Masur (Euroscan), auf der Tagung: Digitalisierung und Langzeitarchivierung von Kunst und Kulturgütern, 29.<br />
März 2001, Deutsches Zentrum für Luft und Raumfahrt, BerlinAdlershof<br />
87<br />
Siehe dazu den Beitrag Marian Hobbsons, "History traces", in: Derek Attridge/Geoffrey Bennington/Robert<br />
Young (Hg.), Poststructuralism and and the question of history, Cambridge/London 1987<br />
88<br />
Werner Faulstich, Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike, Göttingen (Vandenhoeck &<br />
Ruprecht) 1997, 265<br />
28
eine größere Zahl Pergamenturkunden zu retten. 90 Hier wird der<br />
nachrichtentechnische Begriff des Kanals konkret, der von<br />
Verrauschung abzusehen sucht:<br />
Die Monumenta, romantische Gründung, positivistische Fabrik, sammeln die Quellen zur deutschen Geschichte<br />
des Mittelalters, die Schriftdenkmäler, und sich selbst ein einziges gewaltiges Denkmal der Schrift. Der Zweck<br />
der Monumentisten ist die Wiederherstellung des Wortlauts der Urkunde im Moment der Niederschrift.<br />
Auszuscheiden ist alles, was aus Gesprächen der Abschreiber in den Text eingeflossen sein könnte. Die<br />
Geschichte, der der Monumentist doch zuarbeitet, muß ihm als Verschmutzung der Reinheit der Quelle<br />
erscheinen. 91<br />
Womit wir erneut bei der Differenz zwischen einer<br />
Nachrichtentheorie, die gerade Rauschen auszufiltern trachtet,<br />
und einer Kommunikationwissenschaft angelangt wären, die in<br />
Veränderungen der Botschaften durch die Kanäle der Übertragung<br />
einen kulturellen Mehrwert entziffert.<br />
Buchstäblich postalisch wird Tradition als Übertragung im<br />
Spiel Stille Post, in der eine vorgelesene Geschichte von<br />
Person zu Person übertragen und dabei nacherzählt wird<br />
(serielle Reproduktion). "Bei diesem Verfahren der<br />
systematischen Rekursion in die bedeutunsgenerierende Dynamik<br />
verschiedener kognitiver Systeme können allgemeine, sich über<br />
die individualspezifische Dynamik hinweg durchsetzende<br />
Ordnungsprinzipien erkannt werden" - die Instistenz des<br />
Archivs 92 ; anstatt daß die Nachricht wie im Experiment der<br />
Rekopie von Kopien am Ende zu gleichverteilter Entropie<br />
verrauscht, insistieren semantische und syntaktische Muster -<br />
die ganze Differenz zwischen stochastischer und<br />
hermeneutischer Übertragung. Es bleibt - in der menschlichen<br />
Sprache - immer zuviel Sinn, als daß sie vollständigen<br />
verrauschen könnte (Roland Barthes 93 ). Dabei wird "die<br />
ursprünglich vielschichtige Handlung der Geschichte<br />
tendenziell einem einzigen Gedächtnisattraktor zugewiesen"<br />
- also ein Prozeß zunehmender Entropie, der auch<br />
auf das Gedächtnis visueller Strukturen übertragbar ist.<br />
Dem steht die Erzählgattung Sage nahe, die einerseits durch<br />
den Bezug auf eine historische Begebenheit definiert ist und<br />
von daher für Jacob und Wilhelm Grimm zur Bestimmung des<br />
deutschen Kulturerbes von Interesse war. „Im Laufe der<br />
89<br />
Wolfgang Struck, Geschichte als Bild und als Text. Historiographische Spurensicherung und Sinnerfahrung im<br />
19. Jahrhundert, in: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, hg. v. Susi Kotzinger / Gabriele Rippl, Amsterdam<br />
/ Atlanta, GA (Rodopi) 1994, 349361<br />
90<br />
Zwanzigster JahresBericht des germanischen Nationalmuseums, 1.1.1874<br />
91<br />
Patrick Bahners (Rez.), Ein Kapitel für sich, über: Horst Fuhrmann, Menschen und Meriten. Eine persönliche<br />
Portraitgalerie. Zusammengestellt und eingerichtet unter Mithilfe von Markus Wesche, München (Beck) 2001, in:<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 124 v. 1. Juni 2002, 58<br />
92<br />
Michael Stadler / Peter Kruse, Visuelles Gedächtnis für Formen und das Problem der Bedeutungszuweisung in<br />
kognitiven Systemen, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis: Probleme und Perspektiven der<br />
interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt/M. (Suhkamp) 1991, 250266 (258), unter Bezug auf: F. C.<br />
Bartlett, Remembering, Cambridge (CUP) 1932<br />
93<br />
Siehe Roland Barthes, Le bruissement de la langue (= Essais critique IV), Paris(Sueil) 1984, 29-34<br />
29
mündlichen Überlieferung, d. h. in der wiederholten Weitergabe<br />
durch das `Sagen´, verändern sich über die Jahrhunderte<br />
Inhalte und Formen einer jeweiligen Erzählung.“ 94 Die<br />
Verrauschung im Prozeß der historischen Überlieferung, also<br />
der deterministische Zeitprozeß der Überlieferung (ihre<br />
Zeitbasiertheit) ist nicht umkehrbar - im Unterschied zu den<br />
räumlich-logischen, hypertextuellen (und eben nicht<br />
hyperzeitlichen) Programmen ihrer digitalen Darstellung. Die<br />
kritische Edition von überlieferten Texten folgt Lachmanns<br />
Regel: „denn die Überlieferung lügt“ 95 ; hinter der Eleganz der<br />
wirkungsgeschichtlich abgeschliffenen Texte muß der strenge<br />
Blick des Wissensarchäologen die unelegantere Echtheit des<br />
Urtexts als das „nie Gesehene“ zumindest asymptotisch<br />
freilegen - hier im<br />
Gegensatz zu Gadamers wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik.<br />
Analog zur historiographischen Ästhetik Leopold von Rankes<br />
sucht auch Lachmann nach der nackten Wahrheit ohne<br />
ornamentalen Glanz.<br />
Die epistemologische Voraussetzung für den Begriff der<br />
Tradition bleibt der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik: "Wir<br />
können keine Umkehrfunktion schreiben." 96 Weshalb ein<br />
Historiker aus der Überlieferung auch nicht auf die Welt des<br />
Überlieferten rückschließen kann - der alte Unterschied<br />
zwischen historischer und philologischer Edition. Lachmann<br />
schlägt sich auf die „hyperkritische“ Seite , d. h. er leistet eine Kritik der Überlieferung;<br />
„hyper“kritisch meint die zeitliche Erstreckung. Eine Edition<br />
kann Aussagen über das formale Verhältnis zwischen der<br />
überlieferten Vergangenheit und den Informationsträgern<br />
machen, die sie beschreiben; sie kann über die<br />
Informationsstruktur einer Quelle informieren, ihre<br />
Informationsdichte beschreiben und ihre Überlieferungsstruktur<br />
transparent machen. Kann dem Zufall in der<br />
Überlieferungschance von Dokumenten als objektives Korrelat<br />
ihre Statistik entgegengesetzt werden? 97 Ist dieser Prozeß<br />
kybernetisch beschreibbar? Das archivische Gedächtnis der<br />
Kultur wird plausibler (auf)gezählt, nicht erzählt. 98 Ludwig<br />
Boltzmann entwickelte die kinetische Theorie der nur noch<br />
statistisch faßbaren, im konkreten Fall unvorhersagbaren<br />
Varianten des Zusammenstoßes von Gasmolekülen in den 90er<br />
94<br />
Eva Erdmann, Eintrag „Sage“, in: Pethes / Ruchatz (Hg.) 2001: 513, unter Bezug auf A. Jolles, Einfache<br />
Formen, 7. Aufl. Tübingen 1999, und J. u. W. Grimm, Artikel Sage, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Leipzig<br />
1893, Sp. 1644<br />
95<br />
Harald Weigel, „Nur was du nie gesehn wird ewig dauern“. Carl Lachmann und die Entstehung der<br />
wissenschaftlichen Edition, Freiburg (Rombach) 1989, 158, unter Bezug auf die praefatio der ersten Ausgabe<br />
Lachmanns 1815<br />
96<br />
Ingo H. Kropac, Theorien, Methoden und Strategien für multimediale Archive und Editionen, Vortrag auf der<br />
Tagung: Mediävistik & Neue Medien, Mittelalterzentrum Bamberg (Universität), Dezember 2001<br />
97<br />
In diesem Sinne Wilhelm Kurze, Ein echtes falsches Dokument des Erzbischofs Ubertus von Pisa. Ein Beitrag<br />
zum Fälschungsproblem, Typoskript (Deutsches Historisches Institut, Rom), 31f<br />
98<br />
Siehe Friedrich Thimme, Die Aktenpublikationen des Auswärtigen Amtes und ihre Gegner, in: Archiv für<br />
Politik und Geschichte, 2. Jg. Heft 4/5 (1924), 467-478 (475)<br />
30
Jahren des 19. Jahrhunderts zu ihrer klassischen Form: "Sie<br />
tendieren, so legt es Boltzmanns H-Theorem, die statistische<br />
Fassung des zweiten Satzes der Themodynamik, fest, von<br />
unwahrscheinlichen Zuständen der Ordnung zu wahrscheinlichen<br />
der Unordnung" - bis zum entropischen Maximum als spannungs-,<br />
energielose Gleichverteilung aller Elemente. 99 Insofern sind<br />
Archive als Versuch, geregelte Prozesse der Aktenübertragung<br />
auf die dauerhafte Ordnung eines Speichers zu stellen,<br />
prinzipiell katechontisch und wie alle Kultur unter hohem<br />
Energieaufwand negentropisch angelegt.<br />
Auch Michael Thompsons Abfalltheorie der Kultur argumentiert<br />
ansatzweise mathematisch und informationstheoretisch. 100 Die<br />
Rivalität zwischen Allmählichkeits- und<br />
Plötzlichkeitsstandpunkt läßt sich nur in Begriffen der<br />
Stochastik und der Entropie präzise formulieren. Thompson<br />
siedelt Abfall an der Grenze von Natur und Kultur an: „Natur<br />
ist von Grund auf chaotisch und durch fließende Übergänge<br />
gekennzeichnet; Kultur ist geordnet und in einzelne<br />
Teile unterteilt“ . Vilém Flusser faßte Müll<br />
darüber hinausgehend:<br />
Kultur ist ein Prozeß, welcher negativ entropisch Natur informiert und verwertet, also durch Erzeugung in<br />
Produkt verwandelt. Ein Teil dieses Produktes wird verbraucht, desinformiert, entwertet und der Natur<br />
zurückgegeben. <br />
Dieser Prozeß läßt sich - sobald negentropische Energie, also<br />
Intention im Spiel ist - als das identifizieren, was<br />
herkömmlich als Tradition bezeichnet wird. Ein Objekt nimmt<br />
mit der Zeit an Wert ab und kann in die Kategorie des Null-<br />
Werts, also des Abfalls hinübergleiten, der sich - übertragen<br />
auf den Prozeß der Tradition - nicht nur als Müll, sondern<br />
auch als Zeitloch manifestiert. Entsprechend definiert<br />
Thompson das probabilistische Kulturgesetz, daß ein Gegenstand<br />
zunäcsht in einem zeitlosen und wertfreien Raum<br />
weiterexistiert, bis daß er zu einem späteren Zeitpunkt (wenn<br />
er bis dahin nicht zu Staub geworden oder gemacht worden ist)<br />
die Chance hat, wiederentdeckt zu werden, um in die Kategorie<br />
der Dauerhaftigkeit transfertiert zu werden . Dieser Zwischenraum, von Thomson limbo benannt, ist ein<br />
Raum der Virtualität oder besser Latenz: „1. condition of<br />
being forgotten and unwanted“; beiseitegelegt. „2. place for<br />
forgotten and unwanted things“ - gleich dem dead letter office<br />
für unzustellbare Briefe. Oder ein heterotopischer Friedhof:<br />
„3. region for souls of unbaptized infants and pre-Christian<br />
righteous persons.“ 101<br />
99<br />
Albert Kümmel, Möglichkeitsdenken. Navigation im fraktalen Raum, in: Weimarer Beiträge, xxx. Vgl. ders.,<br />
Beitrag , in: Daniela Kloock / xxx (Hg.), Medientheorien, München (Fink / UTB) 199xxx, xxx<br />
100<br />
Siehe das Vorwort seines Doktorvaters, des Professors für Mathematik E. C. Zeenan, 710, und Thompson<br />
1981: 94f u. 314<br />
101<br />
Oxford Advance Learner´s Dictionary of Current English (A. S. Hornby), London (Oxford UP) 1974, Eintrag<br />
"limbo", 499<br />
31
Der Kanal - das Medium - der Tradition ist hier die Zeit. Und<br />
so erinnert ein Diagramm Thompsons nicht von ungefähr an die<br />
notorische Formel Shannons:<br />
Vergänglich - Abfall - Dauerhaft<br />
(Abnehmender Wert) (Kein Wert) (Zunehmender Wert)<br />
Eine Medientheorie der Tradition heißt also die Übertragung<br />
des mathematischen Nachrichtenmodells auf zeitbasierte<br />
Prozesse des Datentransfers; es gilt also die<br />
unwahrscheinlichsten Daten aus Speichern aufzuspüren, wenn wir<br />
Information über Kultur als zeitbasiertem Prozeß gewinnen<br />
wollen - die rauschende Alternative zum Begriff der<br />
historischen, also ordnungsversessenen „Tradition“.<br />
Respektieren wir den data trash. Die amerikanische<br />
Nuklearaufsichtsbehörde bat 1981 den Biosemiotiker Thomas A.<br />
Sebeok um die Entwicklung eines Zeichens, eines Signals,<br />
welches die Warnung des Schildes „Nicht betreten“ für atomare<br />
Endlagerstätten auch noch für Lebewesen nach 10000 Jahren<br />
erkennbar machen soll. Sebeok schlug dafür die Einrichtung<br />
einer Art Kaste vor, welche dieses Wissens gleich den<br />
ägyptischen Priestern in der alten Theorie der Hieroglyphen<br />
als Geheimwissen weitergibt - Tradition im prämedialen,<br />
aliteraten Sinn. Ältägyptischer Grab- und Totenkult sind ein<br />
Modell für Nachrichten an die Zukunft 102 , doch mit dem<br />
Zusammenbruch der priesterlichen Institution brach auch die<br />
Überlieferung ab. So setzen sich auch Ägyptologen ersatzweise<br />
an die Stelle der Adressaten jener hieroglyphischen<br />
Anweisungen, welche die Gräber schmücken. Im Unterschied zu<br />
den durchaus nicht „kulturfreien“ Bildsignalen auf der<br />
Plakette der amerikanischen Raumsonde Pioneer X, welche seit<br />
1972 fremde Welten ansteuert, um sie - allerdings ohne<br />
beigefügten Code - mit zwei Kreisen (für die Wasserstoff-<br />
Atome), Skizzen eines nackten Menschenpaars und einer<br />
sternförmigen Zeichnung (welche die Entfernung des<br />
Sonnensystems zu anderen Pulsaren angibt) zu adressieren,<br />
seetzen altägyptische Botschaften von einer eigenen, nicht<br />
fremden (Nach-)Welt voraus. Was, wenn Ägyptologen nicht von<br />
der hermeneutischen Verstehbarkeit, sondern von der Fremdheit<br />
altägyptischer Texte ausgingen? Doch nur das, was beständig<br />
interpretiert wird (wußte Sebeok vom Begriff des<br />
„Interpretanten“ seines Lehrers Charles S. Peirce), ist als<br />
medienarchäologisches Datum auch semiotisch-hermeneutisch<br />
aktiv. „Der Mensch ist ein Zeichen, glaubte Peirce; das<br />
Zeichen ist ein Verb, so ergänzt Sebeok. Und dieses Verb heißt<br />
interpretieren, deuten“ 103 - als verbaler ein zeitbasierter<br />
Prozeß: womit wir zugleich bei der Hochzeit von Tradition und<br />
102<br />
So der Titel des Vortrags von Stefan Grunert im Rahmen der Reihe Mediengesellschaft Antike. Information<br />
und Kommunikation vom Alten Ägypten bis Byzanz an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der<br />
Wissenschaften, 5. Februar 2002<br />
103<br />
Christoph Albrecht, Leben heißt Interpretieren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 3 v. 4. Januar 2002, 39<br />
32
Nachrichtentheorie angelangt wären, dem ultimativen Schlußwort<br />
von Medienkultur.<br />
Geistersignale, telepathisches Rauschen<br />
Sind aus dem Rauschen eines Kurzwellenradios zwischen den<br />
Frequenzen sphärenhafte Anrufe und Botschaften herauszuhören?<br />
Im Film First Contact gelingt es Jody Foster, auf der<br />
teleskopischen Suche nach Kommunikation mit Außerirdischen<br />
eine 1936 im damaligen Fernsehen übertragene Hitler-Rede zur<br />
Olympiade in Berlin per Satellitenschüssel aus dem Weltraum<br />
empfangen, wo die Signale zeitversetzt strahlen. 104<br />
Eine Szene in Homers Odyssee konfrontiert den Protagonisten<br />
mit den Toten im Hades, von denen er Auskunft über die<br />
Möglichkeit seiner Rückkehr in die Heimat zu erfahren hofft:<br />
Unentwirrbares Geschrei dröhnt ihm entgegen. Es genügt nicht, nur den Speicher einzuschalten. Odysseus<br />
benötigt eine Suchmaschine, mit der er den unstrukturierten Lärm dekodieren kann. Diese Suchmaschine ist das<br />
lineare Erzählen. Um überhaupt etwas verstehen zu können, zieht Odysseus sein Schwert . Er zwingt die<br />
Verstorbenen "in Ordnung und Reihenfolge, nötigt jede und jeden, sich zu identifizieren, und befragt auf diese<br />
für ihn sinnvoll werdende, ihn sinngewiss machende Weise alle. Wenn sich der weiße Lärm der Vergangenheit<br />
nicht in Farben und Konturen, in eine Reihe von Stimmen ordnet, die man Name für Name, Geschichte für<br />
Geschichte anhören kann, lösen die Bilder der Vergangenheit sich ineinander auf und verlieren die Form, in der<br />
das Ich sich an sie und sie an sich selbst zu erinnern vermag. 105<br />
Narration also ist das Medium, aus Rauschen Geschichte(n) zu<br />
machen - in diesem Falle eine von Odysseus gewaltsam<br />
durchgesetzte lineare Textstrategie, die auch von Alexander<br />
Kluge und Oskar Negt in Kapitel III von Geschichte und<br />
Eigensinn beschriebene "Gewalt des Zusammenhangs".<br />
Die Ethnologie kennt den Begriff des „Ahnenmediums“, welches<br />
zwischen Vergangenheit und Gegenwart medial (musikalisch etwa)<br />
vermittelt und somit Tradition herstellt. 1959 glaubt<br />
Friedrich Jürgensen beim Abhören von auf Tonmband<br />
aufgenommenen Vogelstimmen die zudem hörbaren überraschenden<br />
Geräusche, denen er Signalwert zuschreibt, als Sprechfunk mit<br />
Verstorbenen interpretieren zu dürfen (so der Titel seines<br />
Buches); Thomas Alva Edison hat mit solcher Kontaktaufnahme<br />
experimentiert.<br />
Im 19. Jahrhundert arbeitet die Photochemie am Bild,<br />
verrauscht es, ver- oder zerstört es. Hier handelt es sich<br />
104<br />
Siehe auch Jeffrey Sconce, The voice from the void. Wireless, modernity and the distant dead, in:<br />
International Journal of Cultural Studies Bd. 1, Heft 2 (1998), 211232<br />
105<br />
Klaus Bartels, Erinnern, vergessen, entinnern. Das Gedächtnis des Internet, in: Lab. Jahrbuch 2000 für Künste<br />
und Apparate, hg. Kunsthochschule für Medien Köln gemeinsam mit dem Verein der Freunde der KHM, Köln<br />
(König) 2000, 7-16 (11), unter Bezug auf: Wolfram Malte Fues, Re-membering, Dis-membering: Fictionality and<br />
Hyperfiction, in: Thomas Wägenbauer (Hg.), The Poetics of Memory, Tübingen 1998, 391-398; Bartels zitiert<br />
hier nach dem deutsche unveröff. Typoskript: Erinnerung, Entinnerung, 4f<br />
33
nicht um irgendwie intendierte, kodiere Zeichen, sondern um<br />
Impule der Physik selbst, die originäre Störung - das, was<br />
Rechner nach wie vor nicht tatsächlich zu kalkulieren, nur zu<br />
simulieren vermögen. Rauschen im Unterschied zum Signal bildet<br />
nicht etwas ab, sondern schlicht ein, die photographische<br />
Inskription. Photographien zeichnen hier die Spuren ihrer<br />
eigenen Materialität auf (Peter Geimer), was dem<br />
hermeneutischen Blick zunächst unerträglich erscheint - so daß<br />
photographische Bewegungen gerne als spiritistische<br />
Botschaften entziffert wurden, analog zu den Operationen der<br />
Historiker, die sich als Adresse selbst unbeabsichtigter<br />
Überlieferung setzt, auch wenn er nie angesprochen war.<br />
Vorgeblich entstand auch Samuel Morses Idee getakteter Zeichen<br />
aus dem Vernehmen von Geisterklopfen. Hier werden Prozesse der<br />
medialen Übertragung, wie sie die Informationstheorie für<br />
räumliche Übertagung entwickelt hat, buchstäblich geisterhaft.<br />
Damit ist ein Raum eröffnet, der zugleich ein Zeitraum ist;<br />
der "Wunsch, mit den Toten zu sprechen" (Stephen Greenblatt)<br />
wird als Historikerphantasma in Geisterwissenschaften konkret.<br />
Übertragungsraten, Übertragungsverluste<br />
Am Anfang des Schicksals des Jüdischen Museums in Prag stand<br />
eine administrative Order:<br />
Irgendwann zu Beginn des Jahres 1942 schickte das Prager jüdische Rathaus, das zu einem eine jüdische<br />
Selbstverwaltung vortäuschenden Organ erhoben worden war, eines seiner vielen tausend Rundschreiben aus,<br />
und dieses enthielt die Aufforderung, daß alle ehemaligen jüdischen Kultusgemeinden in Böhmen und Mähren<br />
ihr gesamtes bewegliches Eigentum zu verpacken und an die Adresse "Das jüdische Zentralmuseum in<br />
Prag" zu senden haben. 106<br />
Bei dieser Sendung von Objekten aus geschlossenen Synagogen<br />
war das postalische Medium in der Tat schon die präzise<br />
Botschaft, eine Markierung des Museums als Paketstelle:<br />
Verpackt wurden Bücher und ausgepackt wieder Bücher. Doch verpackt wurden Kultgegenstände, ausgepackt<br />
und katalogisiert hingegen Objekte . Schon unterwegs hatte sich mit ihnen eine Wandlung vollzogen: aus<br />
Gegenständen des Gottesdienstes wurden Gegenstände aus einem bestimmten Material. <br />
In der Übertragung, also: Metaphorik der Objekte findet eine<br />
Transformation statt; die Kanalisierung ist nicht neutral,<br />
sondern führt - umgekehrt als sonst im Museum - zu einer<br />
Semiophorisierung 107 unter verkehrten Vorzeichen. Das Museum:<br />
eine paketlagernde Post?<br />
Museums may hold the stored material culture of the past, but this stored archive has not arrived in bland,<br />
sanitized form in, as it were, uniform storage boxes coming in at so many of the first of every month. Quite the<br />
contrary . It comes incomplete, imperfect, and with associated documentation and information, itself<br />
immensely variable in quality and quantity. Even the accession of a single object is perceived as part of a<br />
set, either in relationship to others of its kind or in relation to the other elements in the life history of the original<br />
106<br />
Hana Volavková, Schicksal xxx, 29<br />
107<br />
Dazu Krzysztof Pomian, Ursprung des Museums, Berlin: Wagenbach, 198xxx<br />
34
owner or collector. 108<br />
Neben der Logistik insistiert die Materialität der<br />
Kommunikation, da nach wie vor physisch reale Objekte zu<br />
überbringen und zu lagern sind. Doch wenn Übertragung als<br />
Information an das Internet delegiert wird, tritt das Prinzip<br />
einer generalisierten Post an die Stelle der emphatischen<br />
Lagerung:<br />
Mögen Archive im bibliothekarischen Sinn Foucaults für lange Zeit unsere historischen Aprioris abgeben und<br />
damit als ihr Anderes einen Schein nichtdiskursiver Wirklichkeiten erzeugt haben, so ist das Reale heute (und<br />
nicht erst seit Watergate) sehr anders registriert. Anstelle von Bibliothek und Archiv hätte also ein Begriff<br />
der generalisierten Post zu treten 109 ,<br />
worin der Begriff „Archiv“ nur noch als Metapher für jegliche<br />
Form von Datenbank figuriert. An die Stelle des emphatischen<br />
Gedächtnisses tritt die Ökonomie der kurzfristigen,<br />
signalkritischen Aufmerksamkeit 110 im World Wide Web als Theorie<br />
und Software. Gerade ein Hypermedium aber ist das<br />
Unspeicherbare, weil er prinzipiell unabgeschlossen ist und<br />
auf der elektronischen Ebene ständig aktualisiert werden muß -<br />
sich also gerade der Logik des Archivs beharrlich entzieht. 111<br />
"Memory is transitory" 112 ; Schrift und Archiv transformieren von<br />
einem stabilen Datenspeicher „zu einem dynamischen System der<br />
Selbstorganisation flüssiger Daten“ 113 .<br />
Lorenz Engell setzt diese Akzentverschiebung kulturtechnisch<br />
schon im signalgebenden Umbruch von der babylonischen Turm-<br />
Zentriertheit zur griechischen Feuertelegraphie an:<br />
Was in Babylon statisch war und einseitig aufs Speichern und Überdauern ausgerichet, wird nunmehr dynamisch<br />
konzipiert und auf das Übermitteln ausgerichtet. Insbesondere das Römische Reich knüpft an diesen Strang<br />
der Mediengeschichte an. 114<br />
Denn Rom installiert vor allem den cursus publicus, die<br />
medienarchäologisch originäre Verschränkung von Post und<br />
Imperium.<br />
Das "file fransfer protocol" (ftp) bezeichnet neben dem<br />
Übertragungsprotokoll auch den Internet-Dienst, der mit diesem<br />
Protokoll realisiert wird; er ermöglicht den Transfer von<br />
Daten und Dateien zwischen verschiedenen Computern respektive<br />
108<br />
Susan M. Pearce, Collecting Reconstructed, in: Gaynor Kavanagh (Hg.), Museum languages: objects and<br />
texts, 135-154 (138)<br />
109<br />
Friedrich A. Kittler / Manfred Schneider / Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen 1: Medien, Opladen<br />
(Westdeutscher Verlag) 1987, Editorial<br />
110<br />
Dazu xxx Franck, Ökonomie Aufmerksamkeit, xxx<br />
111<br />
Dazu Julika Griem, Speichern und Zerstören, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. Dezember 2000, Nr.<br />
284, N 6<br />
112<br />
Vannevar Bush, As We May Think [*1945], elektronisch zugänglich unter:<br />
http://www.isg.sfz.ca/~ duchier/misc/vbush/vbush-all.shtml, 6<br />
113<br />
Aleida Assmann, Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses, in: Georg Stanitzek /<br />
Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schnittstelle: Medien und kulturelle Kommunikation, Köln (DuMont) 2001, 268-281<br />
(280)<br />
114<br />
Lorenz Engell, Ausfahrt nach Babylon. Die Genese der Medienkultur aus Einheit und Vielheit, in: Engell<br />
2000: 263303 (299f)<br />
35
speziellen file-Servern über das Netz. Middleware und<br />
Protokolle spielen die Hauptrolle im Internet, das - nota bene<br />
- erstmals in der Kulturgeschichte nicht für Kommunikation<br />
zwischen Menschen, sondern zwischen Rechnern konzipiert wurde.<br />
Datenpakete variabler Länge werden zwischen Netzelementen ausgetauscht, es gibt keine vorab einzurichtenden<br />
Pfade, das Netz organisiert sich weitgehend selbst. Da jedoch alle Datenpakete gleich behandelt werden, gibt es<br />
keinerlei Garantien in Bezug auf Verzögerungen oder gar Verlust. Das Grundprinzip heißt "Best Effort", es<br />
eignet sich bestens für den einfachen Datenverkehr, bei dem die Zustellung nicht zeitkritisch ist und verlorene<br />
Datenpakete durch Mechanismen in höheren Protokollschichten abgefangen werden können. Mechanismen zur<br />
Verringerung des Datendurchsatzes in Überlastsituationen wurden zwar entwickelt, sind jedoch für<br />
Anwendungen mit kontinuierlichem und ungestörten Informationsfluss, wie z.B. bei Sprach und Videodiensten,<br />
nicht sehr geeignet. 115<br />
Elektronische Rechner stellen nicht das ganz Neue dar, sondern<br />
- hinsichtlich der Speicherung, Datenprozessierung und<br />
Übertragung - vor allem eine elektronische Implementierung der<br />
Mechanik selbst. Technische Durchsetzung heißt Etablierung<br />
eines Standards; damit ist ein Kriterien der Definition von<br />
„Medium“ im nachrichtentechnischen Sinn erfüllt. „10 Millionen<br />
weltweit verkaufte Memory Stick-Produkte seit seiner Erfindung<br />
vor drei Jahren haben dieses Transfermedium als neuen Standard<br />
etabliert“, äußert ein Sony-Werbeprospekt von 2001. Doch der<br />
Unterschied zwischen Dokumentation und Informatik ist der<br />
Modus der Berechnung von Daten im Zeitpuffer des<br />
Übertragungsprozesses.<br />
Was kulturhermeneutisch traditionell "Überlieferung" heißt,<br />
hat ihr Äquivalenz im terminus technicus der<br />
Übertragungsraten. Informationen werden schnellstmöglich in<br />
Form von Laserimpulsen in einer optischen Glasfaser<br />
transportiert. Johann Wolfgang von Goethe prägte den Begriff<br />
veluziferisch. Enthalten sind hier die Geschwindigkeit (vel-)<br />
und Erzengel Luzifer, der "Lichtbringer". Gekoppelt an<br />
Elektrizität, wird tatsächlich Licht zum Träger von<br />
Information, so daß die Metapher hier real wirksam wird wie<br />
das Beamen. Entscheidend ist die Rate von Laserimpulsen pro<br />
Zeiteinheit (time-based) und damit der Typus von Schalter, der<br />
den Strahl abwechselnd unterbrechen und durchlassen kann<br />
bislang anorganische Kristalle, demnächst elektrisch<br />
leitfähige Polymere. Dieser Kunststoff aber neigt, nach<br />
wiederholter Schaltung, zum vorzeitigen Zerfall - die<br />
physikalisch, nicht logisch inhärente Grenze der Übertragung. 116<br />
Die klassische Telekommunikation antwortete auf<br />
Übertragungsfehler in verrauschten Datenleitungen dadurch, daß<br />
Botschaften digitalisiert und damit mathematisch in eine<br />
solche Form gebracht werden, daß Störungen in automatisierter<br />
Rückkopplung korrigiert werden können. Auf einer Compact Disk<br />
115<br />
Bundesministerium für Bildung und Forschung, ITForschung 2006: Förderprogramm Informations und<br />
Kommunikationstechnik = http://www.it2006.de/kapitel4_4_1.html<br />
116<br />
Dazu , Optische Schaler aus Polymeren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. Juli 1997<br />
36
ist die Information so kodiert, daß durch Staub verursachte<br />
Lesefehler selbstkorrigierend herausgefiltert werden.<br />
Doch an der Bruchstelle zwischen analog und digital treten<br />
beim Kopien von Daten Störungen auf, gegen den Mythos von der<br />
verlustfreien Kopie, die erst im internen digitalen Raum gilt:<br />
Durch regelmäßige Kopien können auch Fehler entstehen. Hundertprozentig identisch sind das digitale<br />
Original und seine Kopie nicht. Denn um die Nullen und Einsen der digitalen Sprache zu speichern, verwendet<br />
man ein elektrisches Signal, das durchaus störungsanfällig ist. Eine durchgängige, wellige Stromkurve muß<br />
genau in zwei Werte geteilt werden. Jeder Impuls oberhalb eines bestimmten Niveaus wird zur Null, jeder<br />
darunter zur Eins. Da das Stromsignal schwankt, kann durchaus statt einer Eins eine Null oder umgekehrt<br />
gespeichert werden. 117<br />
Glasfaserkabel im Dienst der Deutschen Telekom steigern die<br />
Übertragungsgeschwindigkeit bis an die Grenze des Lichts, also<br />
der Zeit: „Ein Terabit - das sind eintausend Milliarden<br />
Zeichen oder der gesamte Textbestand einer großen Bibliothek -<br />
ist in jeder Sekunde in den Kabeln unterwegs.“ 118 So<br />
manifestiert sich die Akzentverschiebung von der residenten<br />
Speicherung (Bibliothek) zur dynamischen Übertragung.<br />
Satellitenübertragung involviert noch eine Zeitverzögerung von<br />
einer Viertelsekunde, welche der Internetverkehr nicht<br />
verkraftet. Licht und Information aber werden im<br />
Glasfaserkabel identisch. Gesteigerte Übertragungsraten sind<br />
Kinder des Krieges: Das Glasfasernetz wurde in Europa seit<br />
1980 aufgrund eines NATO-Beschlusses verlegt, da die<br />
Kupferkabel für einen elektromagnetischen Impuls infolge eines<br />
eventuellen atomaren Schlages zu empfindlich waren. Im<br />
Unterschied zu elektromagnetischen Schwingungen in<br />
Kupferkabeln sind photonische Lichtblitze in dick ummantelten<br />
Glasfasern nicht festzustellen ; fiber optics<br />
schützt also nicht nur gegen Datenverlust, sondern auch gegen<br />
Interzeption. Prinzipiell verlustfrei operieren Supraleiter<br />
der Datenübertragung: Kabel mit einem theoretischen<br />
Leitungswiderstand von Null. 119<br />
Sind physikalische Übertragungsverluste digital reversibel?<br />
Die Spuren der Verwesung und Verwitterung, die an musealen<br />
Objekten die Arbeit der Zeit (wenn nicht Historie) nachweisen,<br />
sind im digitalen Raum nur als Simulation (als symbolisches<br />
re-entry) möglich. 3-D-Rekonstruktionen historischer Bauten<br />
glänzen durch ihre ahistorische Glätte. Ganze Kapitel der<br />
Geschichte werden so reversibel - wie die Folgen des Zweiten<br />
Weltkriegs für Dresden (der IBM-computergestützte<br />
„archäologische Wiederaufbau“ der Frauenkirche) oder eben auch<br />
die mediale Erinnerung selbst, die von Verrotung oder<br />
Verrauschung bedrohten Videobänder, die 1961 den Eichmann-<br />
Prozeß in Jerusalem dokumentierten. Durch digitale Technik<br />
117<br />
Hendrik Kafsack, Eine digitale Zeitbombe. Ein Kampf gegen das Vergessen: Auch elektronische Datenträger<br />
sind nicht für die Ewigkeit gemacht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 174 v. 30. Juli 2001, 9<br />
118<br />
Dirk Asendorf, Neue Kabel und viel Meer, in: Die Zeit Nr. 27 v. 28. Juni 2001, 25<br />
119<br />
Dazu Burkhard Strassmann, Widerstand zwecklos, in: Die Zeit v. 31. Oktober 2001, 38<br />
37
konnten Archivschäden wie Kontrastarmut und Videorauschen<br />
sowie Ungenauigkeiten in der Bildschärfe im nachhinein<br />
korrigiert werden.<br />
Digitale Bildverarbeitung ist eine Funktion der<br />
Speicherökonomie:<br />
Bei rein bildpunktorientierten Verfahren wird jeweils eine Bildzeile eingelesen, während es bei<br />
anderenVerfahren durchau sinnvoll sein kann, das gesamte Bild in den Hauptspeicher einzulesen . Hier wird<br />
die Programmierung bei Betriebssystemen mit virtuellem Speicherkonzept vereinfacht. Bei diesen<br />
Speicherungstechniken wird die bei der Digitalisierung anfallende Datenmenge unverändert übernommen.<br />
<br />
Dem gegenüber steht die Reduktion der Grauwerte, die aus<br />
Gründen der Datenreduktion notwendig ist. Ein Bild sagt mehr<br />
als tausend Worte, heißt es; zur Evidenz kommt dieser Satz<br />
aber erst im digitalen Speicher, denn ein Bild verlangt<br />
dementsprechend auch mehr Speicherplatz als jeder Text.<br />
Bei der Datenreduktion werden Bestandteile des originalen Datenmaterials, die im jeweiligen Anwendungsfall<br />
nicht relevant sind, weggelassen. Aus dem reduzierten Datenbestand kann dann der Originaldatenbestand nicht<br />
mehr rekonstruiert werden. Als Beispiel der Datenkompression kann die Berechnung und Speicherung der<br />
Differenzen zum Nachbarbildpunkt oder die Darstellung eines Binärbildes als Baumstruktur aufgeführt werden.<br />
<br />
Eine Erhöhung der Speicherungsdichte kann erreicht werden,<br />
wenn man geringe Informationsverluste zuläßt, welche den<br />
visuellen Eindruck der Bilder nicht beeinflussen. Doch<br />
Unschärfe bei der Speicherung digitalisierter Bilder ist<br />
allein an der Schnittstelle zum Menschen, nicht aber in der<br />
zielgenauen Ballistik erlaubt. Sogenannte Kollateralschäden<br />
bei technischem Versehen in der elektronischen Kriegsführung<br />
erinnern es.<br />
Sogenannte „ballistische“ Transistoren (Ein-Elektron-<br />
Transistoren) tragen schon im Namen die Akzentverschiebung von<br />
der Speicherung zur Übertragung an sich. Photonische Kristalle<br />
können allein durch Bestrahlung mit Licht zwischen zwei<br />
verschiedenen optischen Zuständen hin- und hergeschaltet<br />
werden, ohne jede verlangsamende Elektronik. 120 Ziel ist es, mit<br />
reinem Licht Daten zu verarbeiten - die Fusion von Licht,<br />
Hardware und Information.<br />
Übertragung und Echtzeit(ung)<br />
Charakteristisch für das Nachrichtenübertragungsmedium Zeitung<br />
ist der zeitnahe Druck von Geschehen (von daher ihr Name).<br />
Zuvor schon bezeichnet der Begriff die mündlich oder<br />
schriftliche überlieferte Kunde oder Botschaft. "Das<br />
Überliefern ist dabei nicht nur einfaches Weitergeben ,<br />
sondern Festhalten über den Tag hinaus." 121 Im Synonym<br />
120<br />
, Licht mit Licht gesteuert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 295 v. 19. Dezember 2001, N2<br />
121<br />
Paul C. Martin, Auf reinem Acker ist gut pflügen. Die Entstehung der Zeitung in der Luther-Zeit, in: "Aus<br />
saget man warlich ...": Von der ersten "Zeytung" bis zur Gegenwart: Ein Medium wurde zum reißenden Strom,<br />
38
Nachrichten enthüllt sich das Vektorielle, die Ausrichtung der<br />
Information durch das Medium ihrer Übermittlung.<br />
Dem steht die Kombination aus Nachricht (Software) und Dauer<br />
(Hardware) gegenüber, also ein anderes Trägermedium als das<br />
Papier, die Inschrift statt flüchtiger Inskription. Mitte des<br />
19. Jahrhunderts durchsetzte E. Littfaß die Stadt Berlin mit<br />
einem (bezüglich der Zeitung) neuen Nachrichtenmedium. Nicht<br />
die Information, sondern ihr Träger wird hier zum Monument -<br />
das, was bleibt. Noch bedarf die Nachricht der ornamentalen<br />
Flankierung, um ästhetisch transportiert werden zu können. Die<br />
Zeit schreibt am 15. April 1855 über diese aus „künstlicher<br />
Steinmasse“ angefertigten Säulen: „Die Dauerhaftigkeit<br />
derselben dürfte außer allem Zweifel sein.“ 122<br />
Das konkrete Wort zidung verbreitet sich zunächst in einem<br />
merkantilen Horizont. Kaufleute lassen sich vor allem<br />
Wechselkurse und Weltereignisse übermitteln; die älteste<br />
gedruckte Zeitung, die Copia, ist solch eine Handelskunde in<br />
knapper Form (Brief von lat. brevis). Hier wird, wie im<br />
Börsenticker, der parallel zu allen Botschaften im<br />
Nachrichtenkanal ntv über den Bildschirm flimmert, mit<br />
Nachrichten buchstäblich kalkuliert. Nicht Übertragung, aber<br />
Übertrag ist der Name für eine diskrete Operation in den<br />
ersten Rechenmaschinen. Übertrag hieß das Problem, den<br />
mathematischen Zehnerübertrag umzusetzen. Die legendäre<br />
Rechenmaschine des Philosophen Pascal scheiterte an der Form<br />
der damaligen Zahnräder, die nur einen begrenzten fehlerfreien<br />
Übertrag erlaubten, so daß er ein anderes System erfinden<br />
mußte, das Energie durch Gewichte in diskrete Einheiten<br />
spaltet und so den Übertrag als mechanische Übertragung<br />
möglicht macht. Die Mechanisierung von Mathematik ist nicht<br />
nur eine Frage des Kalküle und Programme, sondern auch der<br />
Hardware - das große Thema der Medienarchäologie als<br />
Strukturgeschichte des Verhältnisses von Logik und Maschinen.<br />
Film- und Fernsehübertragung<br />
In der Epoche technologischer Signalverarbeitung konvergieren<br />
Ereignis und Übertragung:<br />
Die Fähigkeit, ein Ereignis live zu übertragen, d. h. das Zeitintervall der Übertragung gegen Null konvergieren zu<br />
lassen, zeichnet das Fernsehen gegenüber anderen Medien aus. Wenn es keine Differenz zwischen der Zeit der<br />
Produktion und der Zeit der Reproduktion gibt, erlangen Ereignisse Autonomie gegenüber den sie definierenden<br />
Zeit und Raumkoordinaten. Sie werden ubiquitär und entbunden von ihrer Übertragungszeit, spaltet sich die<br />
Gegenwart in eine Fläche paralleler also gleichzeitiger Ereignisse. Die Minimierung der Übertragungszeit ist<br />
verantwortlich für die Beschleunigung der Ereignisse. Von der Postkutsche zum Fernseher entfaltet sich die<br />
Ausstellungskatalog Axel Springer Verlag, Berlin Mai-Juni 1996, 5-7 (5)<br />
122<br />
Zitiert in: Ernst Litfaß (18161874). Bestandskatalog des Nachlasses, Katalog einer Sonderausstellung<br />
anläßlich des 150. Geschäfts und Bürgerjubiläums von Ernst Litfaß im Märkischen Museum, Stadtmuseum<br />
Berlin 1996, 38<br />
39
Zeitverarbeitung von der Dopplung bis hin zum Verschwinden von (Übertragungs)Zeit. Diese Tendenz übte<br />
einen solchen Druck auf die Ereignisse aus, daß sie zu rasen begannen und es zu einer Verschiebung des<br />
Schwerpunktes von der Speicherung zur Übertragung der Ereignisse kam. Geschehnisse gehen nur nochdurchs<br />
Fernsehen hindurch und unterbrechen, so sie denn einen Informationswert haben, das Bildkontinuum. Da, laut<br />
Informationstheorie, der Informationswert eines Ereignisses sich indirekt proportional zur Wahrscheinlichkeit<br />
des Ereigniseintritts verhält, hat die Störung einen enorm hohen Informationswert und ist nicht redundant. Ein<br />
hochgradig unwahrscheinliches Ereignis hat „Störcharakter“, der im Falle des Ceaucescuschen<br />
Bildzusammenbruchs am 21. 12. 1989 die produktive und eigendynamische Kraft eines Prager Fenstersturzes<br />
hatte. 123<br />
TV ist ursprünglich kein Speicher-, sondern ein<br />
Übertragungsmedium, doch allein der filmischen<br />
Zwischenspeicherung verdankt sich sein massenhafter Erfolg. Im<br />
Begriff der Aufzeichnung wird das Oszillieren zwischen<br />
Speichern und Übertragen manifest. „Der Weg durch Entwicklerund<br />
Fixierbäder kostete lange Minuten: Live ist nicht live“. 124<br />
Was entfällt, ist die Zeit zur kritischen Redaktion der<br />
Nachrichten.<br />
Charakteristisch für digitale und elektronische Medienzeit ist, daß Aufzeichnung, Speicherung, Klassifizierung,<br />
Redaktion und ReInszenierung für einen sekundären Gebrauch schlicht zusammenfallen können, also jegliche<br />
bisher für televisuelle Dramaturgie notwendige ZeitDifferenzierung aufgehoben ist; z. B. subjektive anwählbare<br />
KameraEinstellungen auf ein Fußballspiel; Zeitlupe, die ins aktuelle Geschehen eingeschnitten wird. 125<br />
Genau diese Differenz wurde am Vergleich zwischen der<br />
Ausstrahlung von Big Brother als TV-Format (täglicher<br />
Zusammenschnitt um 20.15 Uhr) und als Internet-<br />
Direktübertragung manifest. Der Betrachter sehnt sich nach<br />
Redaktion, die nämlich Selektion und Zeitraffung, mithin<br />
investierte Arbeitszeit darstellt, dergegenüber die<br />
Betrachtung in Echtzeit erheblich redundant ist. Dem<br />
entsprechen die 19 Minuten, auf die der Medienkünstler Bill<br />
Viola 1983 die Videoaufzeichnung des dreitätigen Events<br />
Reasons for Knocking at an Empty House zusammenschnitt, wo<br />
eine fest installierte Kamera das monitoring einer<br />
eingeschlossenen, anonymen Person vollzog. Hier wird, jenseits<br />
von dramatisch inszenierter Narration, die Zeitmutation allein<br />
in den sich stetig verändernden Lichtverhältnissen faßbar<br />
. Allerdings fand auch bei der<br />
Übertragung von Big Brother im Internet, wo permanent fünf<br />
Streams aus dem Container live gesendet wurden, eine Form von<br />
Selektion statt: die Auswahl der übertragenden Webcams, deren<br />
Veränderung durch Bewegung oder Zoomen, ferner die Tatsache,<br />
123<br />
Elisa Barth, Referatausarbeitung: Wie die Zeitlichkeit das Fernsehen macht: damals in Rumänien, im Rahmen<br />
des Seminars Was bedeutet der Begriff der zeitbasierten Medien? , Bauhaus-Universität Weimar, Fakultät<br />
Medien, Diplomstudiengang Medienkultur, WS 2001/2002, unter Bezug auf: Eckhart Hammel, xxx, in: Mike<br />
Sandbothe / Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Zeit - Medien - Wahrnehmung, Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1994, xxx,<br />
und Shannon / Weaver 1976<br />
124<br />
Friedrich Küppersbusch, A wie Aufzeichnung (Küppersbuschs Fernsehlexikon), in: Die Zeit v. 4. Mai 2000,<br />
46<br />
125<br />
Hans Ulrich Reck, Metamorphosen der Archive / Probleme digitaler Erinnerung, in: Götz-Lothar Darsow<br />
(Hg.), Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog)<br />
2000, 195-237 (221, Anm. 50)<br />
40
daß ein Stream eine bereits in Echtzeit von den Redakteuren<br />
zusammengestellte Bilderfolge darstellte. 126<br />
An die Stelle der speicherbasierten Überwachung (Staat<br />
und Archiv) ist inzwischen das übertragungsorientierte<br />
monitoring getreten. Ernst Jünger diagnostizierte 1934<br />
angesichts medialer Blitzlichter:<br />
In vielen Fällen tritt das Ereignis selbst ganz hinter der „Übertragung“ zurück; es wird also in hohem Maße zum<br />
Objekt. So kennen wir bereits politische Prozesse , deren eigentlicher Sinn darin besteht, Gegenstand einer<br />
planetarischen Übertragung zu sein. 127<br />
Mit der Photo- und Filmtechnik kommt eine Entwicklung der<br />
Bilderzeugung- -speicherung und -übertragung ans Ende; mit den<br />
Rundfunkmedien beginnt eine neue Epistemé, die auf<br />
Elektrizität basiert, dem Strömen. 128 Dazwischen steht das<br />
Magnetband, ein Aufzeichnungsverfahren, das "alle Vorteile des<br />
Films besitzt, ohne dass fotochemische Behandlungen nötig<br />
wären“ 129 . Analoges Video operiert noch zeitbasiert, im<br />
Unterschied zur digitalen Übertragung. Video ist<br />
„Zwischenmedium“ der audiovisuellen Mediengeschichte insofern,<br />
als es zwischen Fernsehen und Computer steht. Video steht noch<br />
für Zeitverzug, ist also genuin time-based. Dieser Verzug<br />
schrumpft gegen Null, sobald die physikalische Zeit von der<br />
logischen Zeit des Rechners ersetzt wird. So machen es<br />
Hochgeschwindigkeitsnetze möglich, das extrem zeitkritische<br />
3D-Rendering verteilt zu realisieren, also genuin internetbased:<br />
Dazu wird die Grafikhardware der beteiligten Workstations über ATMVerbindungen eng gekoppelt. Verteilt<br />
generierte Bildanteile werden direkt im Binärformat der Grafikhardware unkomprimiert übertragen und im<br />
Zielrechner zum Endbild zusammengefügt. Diese geschwindigkeitsoptimierte und rendertechnisch vielseitigere<br />
Kopplung ist mit den klassischen Videocodes, die auf reine Videosignale beschränkt sind und Signalverzögerung<br />
erzeugen, nicht realisierbar. 130<br />
Daß die Übertragung kein immaterieller Akt ist, sondern höchst<br />
materiell Medium ist, daran erinnert nicht nur die<br />
Nachrichtentheorie, sondern auch der ökonomische Kampf um den<br />
Fernsehmarkt: Hier macht es nämlich einen unterschied, ob über<br />
Antenne, über Satellit oder über Kabel empfangen wird, etwa<br />
für die Option des Rückkanals, der das Fernsehkabel telefonund<br />
internetfähig macht. 131 Meint Medienkonvergenz im digitalen<br />
126<br />
Dazu die Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des Grades einer Bakkalaurea Artium von Annette Degering<br />
an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum, Big Brother: Die Einführung eines neuen<br />
Fernsehformats in Deutschland, Sommer 2000<br />
127<br />
Ernst Jünger, Über den Schmerz, in: Blätter und Steine, Hamburg 1934, Ziffer 14, 203<br />
128<br />
In diesem Sinne das abstract zum Vortrag von Knut Hickethier, „Das Wunder der Technik“ - die<br />
Technisierung von Zeit und Raum im Rundfunk, zur Jahrestagung der Gesellschaft für <strong>Medienwissenschaft</strong> in<br />
Hamburg: Die Medien und ihre Geschichte. Theorien, Modelle, Geschichte, 4.-6. Oktober 2001<br />
129<br />
Hans Joachim von Braunmühl, Das Magnetofon im Rundfunkbetrieb, in: Reichsrundfunk 1941, 185f<br />
130<br />
Georg Trogemann, Einrichten im Dazwischen, in: Karl Friedrich Reimers / Gabriele Mehling (Hg.), und<br />
Medienhochschulen und Wissenschaft: Strukturen - Profile - Positionen, Konstanz (UVK) 2001, 102-114 (107)<br />
131<br />
Dazu Götz Hamann und Gunhild Lütge, High Noon auf allen Kanälen, in: Die Zeit Nr. 35 v. 23. August 2001,<br />
15<br />
41
Zeitalter die Fusion von TV, Radio und Internet, oder wird<br />
dies noch zu sehr aus der Perspektive der Fernsehkultur<br />
diskutiert? Vielmehr wird ein generalisiertes Internet den<br />
Begriff und die Praxis des Fernsehens selbst absorbieren. Dies<br />
ist keine Frage, die mit Rückgriffen auf Kultur- und<br />
Freizeitverhalten allein beantwortet werden kann, sondern<br />
vielmehr auch eine Funktion der Hardware von Datenübertragung<br />
- je nachdem, ob TV-Kabelnetze ausgebaut werden oder vielmehr<br />
das Internet-Kabelnetz. Bleibt von Fernsehen vielleicht nur<br />
sein übertragungstechnisches Dispositiv zu Diensten<br />
allgemeiner Telekommunikation.<br />
In der Fernsehübertragung als zeitbasiertem Prozeß liegt die<br />
umgekehrte Akzentsetzung zu dem angelegt, was Alberti in<br />
seiner Maschine zur verlustfreien Tradierung des Stadtplans<br />
von Rom konzipierte; hier nämlich diente die Diskretisierung<br />
der Karte in einzelne meßbare und wieder zusammensetzbare<br />
Bildpunkte nicht dem Wahrnehmungsbetrug des<br />
unterscheidungsarmen Auges, sondern der sicheren Übertragung.<br />
Alberti ging es primär um den Speicher, nicht die scheinbare<br />
Auslöschung des Speichers durch Direktübertragung. Tatsächlich<br />
ist die verlustfreie Kopie, also Speicher- und Übertragbarkeit<br />
von Daten, allen Gesetzen der Historik zum Trotz, das<br />
kulturtechnisch unerhört Neue im digitalen Raum.<br />
Leon Battista Alberti strebte nicht nur neue Verfahren der<br />
Geheimkodierung zu politischen Zwecken, sondern in seiner<br />
Descriptio Urbis Romae mit seiner Bildrastermethode auch eine<br />
Methode für die verlustfreie Tradierung visuellen Wissens an.<br />
Hier wird die Karte Roms nicht als graphischer Druck, sondern<br />
als Sequenz alphanumerischer Lettern, mithin als Datei<br />
überliefert, nach dem von Ptolemäus in seinem Buch über<br />
Geographie aus der Antike vertrauten Modell. Diesbezüglich ist<br />
der Begriff Information im technischen Sinn auch auf Bilder<br />
anwendbar . Ptolemäus hat dieses virtuelle<br />
Verfahren mit der Fehleranfälligkeit manueller Kartenkopien<br />
begründet:<br />
Ptolemy´s atlas of the world is handed down to posterity in digital format. Ptolemy lists 8000 locations, and<br />
of each place he indicates the geographic coordinates . Then he insists that each reader has to redraw one of<br />
more maps on the basis of the numerical data exclusively, and he emphasizes that no map, once drawn,<br />
should ever be copied again. Each map has to be generated each time anew from Ptolemy´s lists of coordinates,<br />
and in the absence of any other transmitted picture or image.. The text was a mapgenerating programme.<br />
Each map, or each image, was conceived as the occasional and ephemeral epiphany of the text that<br />
contained its encryption together with the software that was necessary to decipher it and recreate the image<br />
itself. 132<br />
132<br />
Mario Carpo, Alberti´s Media Lab. Alberti on reproduction and reproducibility of text, pictures, and numbers,<br />
vorgetragen im Seminar Between Graphics, Instruments, and Fiction. Tools of Power in Early Modern Europe,<br />
Zentrum für Literaturforschung Berlin, Forschungsgruppe "Europa", 11./12. Mai 2001. Siehe ders., "Descriptio<br />
urbis Romae". Ekphrasis geografica e cultura visuale all´alba della rivoluzione tipografica, in: Albertiana,<br />
Florenz (Olschki) 1, 1 (1998), 111-132<br />
42
Am Ende seines Lebens beschreibt Alberti tatsächlich noch eine<br />
Kodierungsmaschine, "presumably destined to the Vatican secret<br />
services" , die mit ihrem Räderwerk der deutschen<br />
Wehrmachts-Enigma zustrebt. Hier wird ein nachrichtentechnisch<br />
entscheidender Akt - die Codierung, also Diskretisierung<br />
analoger Gegebenheiten zu Daten zum Zweck ihrer<br />
Verschickbarkeit - zu einem zeitlich intendierten Prozeß der<br />
Tradition. Was geschieht, wenn Tradition nicht mehr Transfer<br />
von Daten über die Zeit von Mensch zu Mensch adressiert,<br />
sondern inter-maschinell gemeint ist?<br />
Klassische Kinematographie - etwa der Film Kurische Nehrung<br />
von Volker Koepp (D 2001) - macht Lebensbilder durch Rahmung,<br />
Ausschnitt und Positionierung, dann durch Speicherung auf<br />
Zelluloid übertragbar und latent wiederaktivierbar - eine<br />
Weitergabe in Raum und Zeit.<br />
Heute sind Bilder übertragbar, im Lauf der gesamten Geschichte dagegen waren Bilder, wenigstens im Prinzip,<br />
nur speicherbar. Ein Bild hatte seinen Ort, zunächst im Tempel, dann in der Kirche und schließlich im Museum.<br />
Die Schrift dagegen, seit sie sich durch Papier und Pergament von der Inschrift auf Mauern oder<br />
Denkmälern abgelöst hatte, bildete nicht nur ein Speichermedium für gesprochene Alltagssprachen, sondern<br />
zugleich deren Übertragungsmedium. Sie war nicht bloß Literatur, sondern immer auch schon Post. Und<br />
alles spricht für die Vermutung von Harold Innis, dem medienwissenschaftlichen Vorgänger McLuhans, daß<br />
genau diese Tragbarkeit oder Übertragbarkeit der Schriftrollen es war, die zwei Nomadenvölker, zunächst die<br />
Juden und später die Araber, dazu brachte, anstelle der weithin üblichen Götterbilder ein gottgegebenes oder gar<br />
gottgeschriebenes Buch zu verehren . Die Schrift, weil sie Speicherung und Übertragung von Information<br />
auf einmalige Weise kombinierte, hat ihr Monopol wirklich solange halten können, wie die optischen Medien<br />
noch nicht technisch mobil machten, also bis zur Wende unseres Jahrhunderts.<br />
Und aus diesem Grunde wurden die elektrischen<br />
Bildübertragungsmedien seit dem 19. Jahrhundert prompt nach<br />
dem Vorbild der Post, also der Buchstabenübertragung<br />
modelliert. Einsicht der Bildtelegraphie: „Die Übertragung<br />
analoger optischer und akustischer Information im modernen<br />
Sinn gelingt erst mit ihrer Konvertierung in elektrische<br />
Signale.“ 133<br />
Waren Bibel und Koran vor allem ihrer Übertragbarkeit wegen<br />
zum primären Kommunikationsmedium mit dem Abwesenden (Gott)<br />
geworden, stellte sich im 20. Jahrhundert, mit der TV-<br />
Bildübertragbarkeit religiöser Zeremonien, erneut die Frage<br />
der kirchlichen Verkündigung als buchstäblicher Sendung. Das<br />
Jahr 1953 steht nicht allein für den Durchbruch des<br />
Massenmediums Fernsehens aufgrund der weltweiten live-<br />
Übertragung der Krönung von Elisabeth II. in London; für die<br />
gegenseitige Übertragung zwischen den Kontinenten zählte die<br />
Zeitverschiebung - die ganze Differenz von Europa und Amerika<br />
als techno-kalendarische différance. In Deutschland steht<br />
dieses Jahr auch für die erste Aufzeichnung einer Messfeier<br />
durch die ARD in der Kirche St. Gereon zu Köln am 25. März.<br />
Anhand der Diskussion um die Übertragung sakralen Geschehens,<br />
nämlich der Gottesdienstübertragung, wird die Sendung elektrospirituell,<br />
zur Mission. Denn in diesem Moment transportiert<br />
133<br />
xxx Hiebel (Hg.) 1997, Kleine Medienchronik, 33<br />
43
die scheinbare Unmittelbarkeit von Fernsehen nicht mehr nur<br />
veritas in nomine, sondern auch veritas in re – ansonsten die<br />
Differenz zwischen kommunikativem, körperlichem Dabeisein und<br />
der live-Übertragung durch Fernsehen. 134 Erst Papst Johannes<br />
Paul II. setzt die Gültigkeit von televisuell übertragenem<br />
Segen (Urbi et Orbi) durch. gegen das biblische<br />
Schriftmonopol. Die Differenz zwischen inhaltlicher<br />
("Tradition") und technischer Übertragung wird im Begriff der<br />
Sendung deutlich, oder frei nach Martin Heidegger: die<br />
Differenz von Sendung und Geschick.<br />
Vom Speichern zum Übertragen<br />
"Die Informationsgesellschaft ist nachtraditional." 135 Liegt das<br />
Wesen der Information in seiner Immaterialität, jenseits der<br />
klassischen materiellen Bindung von Tradition? Denken wir das<br />
Read Only Memory unmetaphorisch als Gedächtnisform des<br />
elektronischen Zeitalters und Herausforderung an die<br />
klassische Weise, Tradition zu begreifen. „Im Unterschied zu<br />
tradierten Kulturtechniken ersetzen technologische Maschinen<br />
die Primärfunktion der Aufbewahrung durch schnelle<br />
Übertragung" (Michel Serres). Wenn Archiv und recycling sich<br />
kurzschließen, fällt der Augenblick des Entstehens (live) mit<br />
dem Augenblick des Sendens zusammen. Die Macht des Archivs lag<br />
einmal in seiner aufschiebenden Struktur. Doch was, wenn sein<br />
Abruf immediat geschieht? Mit dem Internet, also der<br />
unverzüglichen Aktualisierbarkeit von Speichern, wird diese<br />
Nachträglichkeit als Bedingung jeder emphatischen<br />
Geschichtsphilosopie gegen Null verkürzt. Gegenüber der<br />
Echzeit von Datenverarbeitung und -speicherung bringt das<br />
insistente Archiv den Begriff der Nachhaltigkeit ins Spiel,<br />
die Wiedereinführung einer Blockade namens Archivsperre als<br />
Schutz von Ressourcen, als Blockage von Information oder als<br />
Nachrichtensperre - die katechontische Macht des Archivs, die<br />
mit dem psychoanalytischen Begriff der Verdrängung selbst<br />
korrespondiert.<br />
Doch das Archiv als Gedächtniskapital gerät in Bewegung.<br />
Analog zur Beschleunigung, ja Auflösung klassischer<br />
Geldanlageformen wie dem Bankkonto samt seinen Zinsen durch<br />
dynamische Direktinvestition von Aktien und Börsenkurse, die<br />
ständig im Fluß sind, wandelt sich auch die<br />
Konsumentenhaltung: nicht mehr dauerhafte Anschaffungen,<br />
sondern ein Trend zum temporären Konsum von Luxusgütern; wenn<br />
eine Anschaffung auf Dauer, dann als Akt ständiger<br />
134<br />
Dazu die Magisterarbeit von Daniel Harbecke, Fernsehen und Kirche. Das Problem religiöser (Selbst)<br />
Darstellung im virtuellen Raum des Mediums am Beispiel konkreter Sendeformen, eingereicht an der Fakultät<br />
für Philologie der RuhrUniversität Bochum (Film und Fernsehwissenschaften), Juni 2000, 67, unter Bezug auf:<br />
Horst Albrecht, Die Religion der Massenmedien, Stuttgart / Berlin / Köln 1993<br />
135<br />
Beat Wyss, Der notwendige Anachronismus der Kunst. Kulturarbeit und Öffentlichkeit, in: Claus Pias (Hg.),<br />
Medien. Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar (VDG) 1999, 297-313 (310)<br />
44
Optimierung. 136 Drastisch wurde die Kopplung von Gedächtnis und<br />
Kapital im Streit um die Auszahlung deutscher Stiftungsgelder<br />
an ehemalige polnische Zwangsarbeiter im III. Reich, Sommer<br />
2001: Zum Zeitpunkt des realen Geldtransfers und der<br />
Auszahlung hatte die Inflation des polnischen Sloti (die<br />
Auszahlungwährung) bereits einen Teil der Summe (des Wert ins<br />
deutscher Mark) zunichte gemacht. So eng gekoppelt ist der<br />
Diskurs von Gedächtnis an Übertragung.<br />
Die Metapher ist die rhetorische Figur der Übertragung.<br />
Schiffe bilden Metaphern der Übertragung und Speicherung<br />
zugleich: "Sie sind Mittel zum Aussenden wie zum Einsammeln<br />
, metaphorisch naturgemäß, denn metaphora, translatio<br />
oder Übertragung bedeuten allesamt das Schiff." 137 An eine<br />
neue Funktion der Arche Noah erinnern die Medienarchive der<br />
Gegenwart, die nicht mehr primär speichern, sondern als<br />
Produktionsarchive der Sendeananstalten ihrer permanenten<br />
Reaktivierung harren. In der textfixierten Kultursemiotik wird<br />
Kultur - zumal die europäische, abendländische – als Funktion<br />
ihres Gedächtnisses definiert. Demgegenüber war das 20.<br />
Jahrhunderts zunehmend von audiovisuellen Medien bestimmt,<br />
deren Wesen – technisch und ästhetisch - nicht mehr primär in<br />
der Speicherung, sondern in der Übertragung liegt - ein neuer<br />
Begriff von Tradition. Zwar entdeckten gerade die vormals<br />
flüchtigen Medien Fernsehen und Radio zur Jahrtausendwende das<br />
Kapital ihrer Produktionsarchive; der Computer aber und seine<br />
kommunikative Infrastruktur, das Internet, lassen die<br />
traditionellen Speicher-Metaphern obsolet erscheinen. Am Ende<br />
steht das Plädoyer für einen Begriff von Medienkultur, deren<br />
Akzent sich von der Speicherung hin zu einer Ästhetik, Technik<br />
und Politik der Übertragung verschiebt.<br />
Man denke nur an Ernst Jüngers hypermediennahe Theoriefiktion des Phonophor. Der Phonophor ist ja ein<br />
Allsprecher, der jeden mit jedem verbindet und damit das alte Ideal des pausenlosen Forums, der permanenten<br />
Tagung technisch implementiert; er ermöglicht die planetarische Volksversammlung genauso wie die instantane<br />
Volksbefragung. Der Phonophor ersetzt Identitätskarte, Uhr und Kompaß; er vermittelt die Programme aller<br />
Sender und Nachrichtenagenturen und gibt über ein Zentralarchiv Einblick in alle elektromagnetisch<br />
gespeicherten Texte. 138<br />
Übertragung wird zu immediater Induktion verkürzt. Niklas<br />
Luhmanns Kommunikationstheorie weist die energetische<br />
Übertragungsmetapher energisch zurück, um Kommunikation<br />
vielmehr kybernetisch als Emergenz der wechselseitigen<br />
Kopplung von Strukturen darzustellen. Erich Jantsch hat<br />
Kommunikation nach der physikalischen Analogie des<br />
Resonanzphänomens beschrieben: Schwingungen in einem Spektrum<br />
136<br />
In diesem Sinne der Beitrag von Torsten Meyer (be2act GmbH, eine<br />
TV/iTV/Internetdienstleistungsgesellschaft in Hamburg) zur Fachveranstaltung Medienkonvergenz im digitalen<br />
Zeitalter im Rahmen der IFA Convention (Internationale Funkausstellung Berlin), ICC Berlin, 28. August 2001<br />
137<br />
Bojan Budisavljevic, Die Überfahrt, ein Dichtertod: Hart Crane, in: Aufbrechen Amerika. Der Katalog, hg. v.<br />
d. Stadt Bochum 1992, 235. Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 209ff<br />
138<br />
Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg Galaxis: die neuen Kommunkationsverhältnisse, München (Fink)<br />
1993, 227<br />
45
verwandter Frequenzen werden (nahezu) ohne Übertragung von<br />
Energie induziert. 139 Solche Übertragungsmedien aber<br />
hinterlassen kaum Spuren. Sofern es von Übertragungsakten kaum<br />
archivische Aufzeichnungen gibt, zeitigen sie auch kaum<br />
Historiographie. Es stellt sich die Frage nach einem dritten<br />
Term jenseits von Speichern und Übertragen. 140 In seiner<br />
Tektonik nennt Schinkel als das Wesentliche eines Bauwerks die<br />
Korrespondenz der physischen mit den optischen Qualitäten, des<br />
Materials mit der Konstruktion. Diese Korrespondenz ist heute<br />
nicht mehr im „Lasten“ und „Tragen“ zu suchen, „sondern<br />
vielmehr in der Beherrschung von Spannung und Bewegung“ 141 -<br />
eine Akzentverschiebung.<br />
Provokation der Übertragung? Quantentheorie und Teleportation<br />
Seit dem 20. Jahrhundert wird die klare Trennung von Raum und<br />
Zeit im Begriff kulturtechnischer Tradition epistemologisch<br />
unterlaufen. Mag sein, daß der Begriff der klassischen<br />
Raumzeit im Quantenbereich seinen Sinn verliert; resultiert<br />
die Aufgabe, Tradition entsprechend anders zu definieren.<br />
Eine Antwort auf Überlieferungschancen von Daten aus der<br />
Vergangenheit gibt die quantentheoretisch informierte<br />
Systemtheorie. Evolution transformiert geringe Entstehungs- in<br />
hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit. "Dies ist nur eine andere<br />
Formulierung der geläufigeren Frage, wie aus Entropie (trotz<br />
des Entropiesatzes) Negentropie entstehen kann." 142 Auch in der<br />
Quantenmechanik wird Wissen gegen Entropie verrechnet<br />
(Wolfgang Hagen).<br />
Hinsichtlich der kryptographischen Verschlüsselung von<br />
Informationsübertragung wird das quantenmechanische Theorem<br />
der "spukhaften Fernwirkung" (wie Albert Einstein es kritisch<br />
nannte) verschränkter Teilchen konkret. Der Schlüssel wird<br />
nicht von A nach B transportiert, sondern entsteht an beiden<br />
Orten (Sender / Empfänger) gleichzeitig. Der Kanal wird unter<br />
verkehrten Vorzeichen wieder ins Werk gesetzt - als ein<br />
virtueller, denn bei Gleichkenntnis des Schlüssels auf Senderund<br />
Empfängerseite wird jede Interzeption der Nachricht<br />
unverzüglich identifizierbar - sie macht sich sofort beim<br />
Empfänger als Änderung der (Meß)Werte bemerkbar. In diesem<br />
Moment wird der Kanal konkret. So fallen der messende und der<br />
operative Blick ineins - eine Sehstrahltheorie auf neuen<br />
Grundlagen. Doch auch die von Anton Zeilinger beschriebene<br />
139<br />
Bolz 1993: 41, unter Bezug auf E. Jantsch, Erkenntnistheoretische Aspekte, in: xxx, 171<br />
140<br />
In diesem Sinne die Vorgedanken zu einem bislang nicht realisierten Workshop im Rahmen des DFGProjekts<br />
Geschichte der analogen und digitalen Medien, Protokoll eines Projekttreffens vom 1. Februar 1997 (Peter Berz)<br />
141<br />
Andreas Kahlow, Vom Gewölbe der Renaissance zur Netzschale aus Stahl und Glas, in: VDINachrichten,<br />
März 2002, 7<br />
142<br />
Niklas Luhmann, Gesellschaft xxx, 1997, 415f<br />
46
Versuchsanordnung zur Quantenkryptographie bedarf noch eines<br />
parallelen klassischen Nachrichtenkanals, etwa einer<br />
Telephonleitung zur Verifizierung der Übertragung von Seiten<br />
des Empfängers an den Absender.<br />
Jede technische Übertragung bedarf traditionell des Dazwischen<br />
als Trennung von Botschaft und Inhalt, Medium und Botschaft -<br />
nicht semantisch, sondern zeitverzögert. Doch was geschieht<br />
mit dem Ereignis der Speicherung in Fast-Echtzeit, in<br />
buchstäblicher Lichtgeschwindigkeit, wenn das Licht (im Sinne<br />
McLuhans) selbst Information und das, was übertragen werden<br />
soll, zugleich speicherbar wird wird?<br />
So könnten beispielsweise die Photonen ohne Information zu günstigen Tarifen verschickt und die eigentlichen<br />
Inhalte der Botschaften zu Stoßzeiten schnell nachgereicht werden. Da Photonen bisher nicht gespeichert werden<br />
können, ist das aber noch Zukunftsmusik. 143<br />
Im 21. Jahrhundert ersetzt die Photonik die elektronischen<br />
Komponenten in Rechnern. Eröffnen nun glasfaseroptische<br />
Kommunikationsplattformen und Quantenmechanik das<br />
ultraschnelle Zeitalter der reinen Übertragung?<br />
Quantenmechanische Teleportation beschrieb Albert Einstein als<br />
„spukhafte Fernwirkung“; Sigmund Freud faßte sie als Gedanken<br />
zur Telepathie. Im Gegensatz zur Alltagswahrnehmung von<br />
Gegenständen können räumliche getrennte Quantensysteme eng<br />
zusammenhängen; wird ein verschränktes Photonenpaar räumlich<br />
getrennt, kann jeder beliebige Quantenzustand von einem<br />
Teilchen zum anderen teleportiert werden. Doch jede kleine<br />
Störung beim Transport von der gmeinsamen Quelle zu den<br />
Stationen entkoppelt die Teilchen weiter, so daß Peter Zoller<br />
„Quantenrepeater“ vorschlägt, welche die Verschränkung diskret<br />
auffrischt, nach Zwischenspeicherung. Widerstand gegen die<br />
Parasiten (im Sinne von Serres), denn Quantenkommunikation<br />
schafft einen völlig abhörsicheren Kommunikationskanal: „Ein<br />
Lauscher stört das System so stark, daß er sofort entdeckt<br />
wird“ 144 - die Heisenbergsche Unschärferelation beim Meßvorgang,<br />
denn eine Messung an einem System legt unmittebar das Ergebnis<br />
einer entsprechenden Messung am andren System fest.<br />
Das Human genome project verwandelt den Körper durch<br />
Dekodierung seiner kleinsten Informationen in ein Totalarchiv.<br />
Damit korrespondiert der quanteninformatische Akt der reinen<br />
Körper-Übertragung. Beamen ist ein Begriff für die Utopie des<br />
körperlosen Transports, der aus der TV-Welt von Gene<br />
Roddenberrys Raumschiff Enterprise (nach einem Vorspiel im<br />
Horrorklassiker The Fly von 1954) inzwischen aus dem Reich der<br />
Fiktion in das der physikalischen Denkbarkeiten gewandert ist.<br />
Bereits Norbert Wiener hat spielerisch behauptet, ein Mensch<br />
lasse sich zwar nicht als Masse, aber als Information durch<br />
143<br />
Rainer Stoll, "Trits" statt Bits erhöhen Übertragungsrate, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21. August<br />
1996<br />
144<br />
Tobias Hürtler, Quantensprung in der Quantenkommunikation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 7 v. 9.<br />
Januar 2002, N2, unter Bezug auf Peter Zoller et al., in: Nature Bd. 414, 413<br />
47
Telefonleitung übertragen. Um einen Menschen in seinen<br />
subatomaren Bestandteilen zu bestimmen, braucht es zwar rund<br />
20.000 Milliarden Jahre aktueller Rechnerzeit, und zudem wird<br />
„der in Quarkgröße zerlegte Reisende am Bestimmungsort zwar<br />
vollständig ankommen, aber auch mausetot“ sein 145 ; andererseits<br />
haben Wissenschaftler 1998 tatsächlich ein Lichtteilchen an<br />
einem Ort verschwinden und woanders wieder auftauchen lassen,<br />
ohne daß es sich dazwischen bewegt hätte – eine<br />
Rematerialisierung von Photonen einer Quantenverstrickung. Auf<br />
der Ebene der Photonen aber ist das elektronische Bildmedium<br />
Fernsehen selbst betroffen, das solche Nachrichten sendet.<br />
Zeilinger gelang es in seinem Wiener Laborexperiment 1997,<br />
Lichtteilchen wenige Meter durch eine Apparatur zu<br />
transportieren, also die teleportative Übertragung von<br />
Informationen von Lichtteilchen über deren Quantenzustand auf<br />
andere solche Teilchen. Mißt man den Quantenzustand des einen<br />
Teilchens, legt man damit den Zustand des anderen fest,<br />
unabhängig von dessen Entfernung. Zwei verschränkte Photonen<br />
zeitigen bei der Messung an einer Seite diegleichen Meßwerte<br />
auf der anderen. Damit wird der nachrichtentechnische<br />
Übertragungsbegriff nicht außer Kraft gesetzt, sondern<br />
affirmiert: Übertragung von Information ist so möglich,<br />
wenngleich nicht mehr von der Medienrealität des Raum- und<br />
Zeitkanals her gedacht. Kassiert hier der (mit Norbert Wiener)<br />
fortgeschriebene Informationsbegriff das nachrichtentechnische<br />
Dispositiv Claude Shannons? Trotz Unschärferelation läßt sich<br />
Information teleportieren. 146 Damit aber geht es nicht mehr um<br />
Übertragung im Sinne des Transportwesens, sondern der<br />
Quanteninformatik. So sieht Zeilinger die Quantenmechanik<br />
nicht als Theorie der Wirklichkeit, sondern als Theorie der<br />
Information, in der Quanten zu Bits werden. Nur so kommt er<br />
dem Dilemma bei, daß die Beobachtung eines Teilchens zum<br />
Kollaps einer Wellengleichung führt - wobei sich das Teilchen<br />
gleichsam entscheidet, welchen Zustand es einnimmt. Die<br />
Heisenbergsche Unschärferelation, derzufolge sich nicht alle<br />
Eigenschaften eines Teilchens gleichzeitig (synchron) präzise<br />
messen lassen, ist also zeitkritisch. Aus diesem Grunde kann<br />
man die in einem Objekt enthaltene Information auch nicht<br />
vollständig scannen und an einen anderen Ort übertragen - ein<br />
aus der elektronischen Bildübertragung vertrautes Phänomen.<br />
Quantum dense coding heißt die Möglichkeit, die<br />
Übertragungsrate von Nachrichten unter Ausnutzung<br />
quantenphysikalischer Mischzustände zu erhöhen. 147 Doch auch<br />
hier wird der von der klassischen Informationstheorie<br />
vorgeschriebene Maximalwert für die Übertragungskapazität von<br />
145<br />
Die Zeit v. 6. Juli 2000, 35<br />
146<br />
Thomas Vasek, Popstar wider Willen, in: Die Zeit Nr. 41 v. 4. Oktober 2001, 34<br />
147<br />
Vortrag "Quantum Dense Coding" von Anton Zeilinger auf der 15. Internationalen Konferenz für Atomphysik;<br />
dazu der Bericht von Rainer Stoll, "Trits" statt Bits erhöhen Übertragungsrate, in: Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung v. 21. August 1996<br />
48
einem Bit pro Kanal nicht überschritten. 148 In einem<br />
Quantenzustand wird ein Bit durch einen Quantenzustand<br />
dargestellt, das Qubit. Damit sind nicht nur die binären<br />
Zustände 0 und 1, sondern n-fache quantenmechanische<br />
Zwischenzustände möglich, welche mathematische Aufgaben in<br />
Teilaufgaben zerlegen und parallel bearbeiten können. Die<br />
Kunst ist, Quantenzustände für die Dauer einer Rechenoperation<br />
stabil zu halten, eine Art Fließgleichgewicht oder<br />
organizational memory, um Informationen für einen Moment in<br />
einer Kette zu speichern und dann weiterzuübertragen. Die<br />
Überlagerungszustände können nicht gemessen werden, ohne daß<br />
Information verlorengeht; jeder Einblick aus der Welt<br />
manipuliert immer schon die Quantenzustände. Daher ist es auch<br />
nicht möglich, Zwischenzustände zu speichern und zur<br />
Fehlerkorrektur zu verwenden. Am Ende bleibt die Welt im<br />
Spiel, wie sie der Tradition vertraut ist:<br />
Gefahr droht den miteinander verschränkten Teilchen durch elektromagnetische Streufelder,<br />
Temperaturschwankungen oder kleinste Erschütterungen. Die Folge ist eine Störung der quantenmechanischen<br />
Zustände die sogenannte "Dekohärenz" , wodurch sich Rechenfehler einschleichen können. 149<br />
Beamen im großen Stil ist aus quantenphysikalischer Sicht<br />
schon deshalb nicht realistisch, weil ein Ding, gar<br />
Organismus, kaum in einem wohldefinierten Quantenzustand<br />
gehalten werden kann, also vollkommen abgeschlossen und ohne<br />
Interaktion mit der Außenwelt. Es bleibt, vorläufig, bei der<br />
Übertragung.<br />
148<br />
Vortrag "Quantum Dense Coding" von Anton Zeilinger auf der 15. Internationalen Konferenz für Atomphysik;<br />
dazu der Bericht von Rainer Stoll, "Trits" statt Bits erhöhen Übertragungsrate, in: Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung v. 21. August 1996<br />
149<br />
Vasco Schmidt, Quantencomputer entschlüsseln Geheimcodes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung xxx<br />
49