Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
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Auch museale Sammler sammeln gerade das Unwahrscheinliche. Das<br />
Unwahrscheinliche als Überlieferungschance liegt in seiner<br />
Materialität: Die aus Knossos auf uns gekommenen Linear B-<br />
Täfelchen der minoischen Palastkultur um 1200 v. Chr. „sind<br />
zufällig erhalten geblieben, weil im betreffenden Jahr der<br />
Palast und damit das Schreib-Archiv in Flammen aufgingen und<br />
der Ton dadurch gehärtet wurden; die Namen geben also<br />
schlaglichtartig lediglich den Sachstand während eines<br />
einzigen bestimmten Jahres wieder“ .<br />
Ähnliches gilt für das hettitische Palastarchiv der Hauptstadt<br />
Hattusa. Und das antike Karthago war scheinbar ohne Literatur<br />
und Bibliothek; tatsächlich aber sind die zahlreich gefundenen<br />
Tonamulette wohl vielmehr Lehmsiegel ehemaliger Bücherrollen,<br />
die beim Brand Karthagos erhärteten und von den Büchern<br />
blieben.<br />
Erste Finder der Tontafeln von Hattusa haben nicht den genauen<br />
Fundort verzeichnet. Aber aus einer alt-hettitischen<br />
Abfallgrube läßt sich aus Splittern von Tontafeln jetzt<br />
teilweise die genaue Lokalisierung der Dokumente bestimmen,<br />
als sei die Abfalltheorie Michael Thompsons für Archäologen<br />
geschrieben: daß nämlich kulturelle Objekte zunächst eine<br />
Phase als Müll durchlaufen haben müssen, um als Werte<br />
wiederentdeckt zu werden. Dieses Gesetz galt bis zum Internet,<br />
das auf Übertragung, nicht Speicherung angelegt ist.<br />
Geschichte ist immer nur eine Funktion dessen, was uns<br />
überliefert ist; Historie = f(Tradition). Und so wäre die von<br />
Claude Shannon entwickelte mathematische Kalkulation der<br />
Übertragungswahrscheinlichkeit von Signalen als Information<br />
gegen potnetielle Verrauschung vom Raum (medialer Kanal) auf<br />
die Zeit ("Tradition", Überlieferung) zu übertragen und<br />
zeitbasiert (entropisch) zu berechnen. Die<br />
Überlieferungschancen von Daten läßt sich zählen:<br />
Schätzungsweise sind nicht einmal 0,001 % aller Urkunden der<br />
Merowinger-Zeit überliefert. 57 Mit Nachrichtentheorie wäre dort<br />
weiterzudenken, wo Geschichte aussetzt. Was aber, wenn der<br />
Historiker selbst der Auslesende ist, also der<br />
Überlieferungsbildner? Bei der Auswahl in der Aufbewahrung<br />
massenhafter einförmiger Akten ist sampling denkbar:<br />
ob in Form von `Specimina´, `typischen´ Akten, `repräsentativen´ Serien, oder aber in ganz mechanischer<br />
Auswahl, etwa: aus den massenhaften Akten einer Stadtverwaltung, z. B. bei den (alphabetisch nach<br />
Familiennamen geordneten) Registraturen der Sozialverwaltung nur die Akten des Anfangsbuchstabens H<br />
aufzubewahren. Solch mechanischer Zensus würde die künftige Forschung am wenigsten determinieren, ist<br />
gewissermaßen künstlich herbeigeführter Überlieferungszufall. Die Frage, wie verhältnismäßig<br />
Überlieferung sein müßte, läßt sich hier gewissermaßen experimentell durchspielen aber tun wir es lieber nicht,<br />
es könnte uns um den Verstand bringen. 58<br />
57<br />
Eberhard Holtz, Überlieferungs- und Verlustquoten spätmittelalterlicher Herrscherurkunden, in: Olaf B. Rader<br />
(Hg.), Turbata per aequora mundi. Dankesgabe an Eckhard Müllers-Mertens, Hannover (Hahn) 2001, 67-80 (67)<br />
58<br />
Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in:<br />
Historische Zeitschrift 240 (1985), 529-570 (567), unter Bezug auf: Hugo Stehkämper, Die massenhaften<br />
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