Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
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Überlieferungschance und -zufall eines Datums unterliegen<br />
Wahrscheinlichkeiten, die von der Nachrichtentheorie auf<br />
berechenbare Maße gestellt wird. Arnold Esch untersucht die<br />
Überlieferungs-Massen (Notariats-Urkunden) im Archiv von Lucca<br />
unter dem Gesichtspunkt der Maßstäbe unserer historischen<br />
Erkenntnis - „seltsame Umverteilung der Wirklichkeit durch die<br />
Überlieferung!“; demgegenüber hat das ägyptische Wüstenklima<br />
die antiken Papyri von Fayum (Überreste im Sinne Droysens,<br />
ohne Überlieferungsabsicht) Schriftliches ohne Ansehen der<br />
Bedeutung überdauern lassen . Hier sind<br />
wir mit einer Physik der kulturellen Tradition konfrontiert.<br />
Bekanntlich trennt Gustav Droysen Quellen und Überreste;<br />
letztere „werden nur durch die Art unserer Benutzung zu<br />
Quellen, sind es aber „an sich und nach ihrer Bestimmung<br />
nicht“ . Droysen faßt die nachträgliche<br />
Modellbildung von Datenfluß als Signalmengen durch den<br />
Historiker avant la lettre in Begriffen der Nachrichten- und<br />
Medientheorie, als vektorgraphische Umgruppierung:<br />
Und als Geschäft in dem breiten und tausendfach bedingten und bedingenden Nebeneinander der<br />
Gegenwart vollziehen sich Dinge, die wir nachmals nach ihrem Nacheinander als Geschichte auffassen, also in<br />
ganz anderer Richtung auffassen, als die war, in der sie sich vollzogen, und die sie in dem Wollen und Tun derer<br />
hatten, durch welche sie sich vollzogen. So daß es nicht paradox ist zu fragen, wie aus den Geschäften<br />
Geschichte wird, und was mit dieser Übertragung gleichsam in ein anderes Medium teils hinzugetan wird,<br />
teils verlorengeht. <br />
Friedrich Jodl insistiert in seinem Aufsatz Der Begriff des<br />
Zufalls 1904, „nicht der feinste Beobachter, nicht der<br />
scharfsinnigste Rechner, aus den Antezedenzien eines Wurfes<br />
abzuleiten vermag, wie der Würfel fallen muß“ 62 - ein<br />
stochastischer Prozeß. Läßt sich aus der Buchstabenmenge von<br />
Archiven ein getreues Abbild der Historie erwürfeln?<br />
Wenn man alle denkbaren Memoires, Verhandlungen und Korrespondenzen der Napoleonischen Zeit<br />
zusammenstellte, so würde man noch nicht einmal ein photographisch richtiges Bild der Zeiten haben, in den<br />
Archiven liegt nicht etwa die Geschichte, sondern es liegen da die laufende Staats und Verwaltungsgeschäfte in<br />
ihrer ganzen unerquicklichen Breite, die sowenig Geschichte sind, wie die vielen Farbenkleckse auf einer Palette<br />
ein Gemälde. 63<br />
Doch längst gelten auch Farbenkleckse als Malerei - eine Frage<br />
der signal-to-noise-ratio, ihrerseits abhängig von der<br />
ästhetischen Perspektive einer gegebenen Epoche. Die<br />
statistische Moderne sieht dies anders als der historistische<br />
Blick Droysens, und auch Tintenkleckse wurden von Dichtern in<br />
den Rang poetischer Aufschreibesysteme erhoben .<br />
62<br />
Friedrich Jodl, Der Begriff des Zufalls. Seine theoretische und praktische Bedeutung [1904], in: ders., Zur<br />
neueren Philosophie und Seelenkunde. Aufsätze, ausgew. u. hg. v. Wilhelm Börner, Stuttgart / Berlin (Cotta)<br />
1917, 3-13 (12)<br />
63<br />
Johann Gustav Droysen, Historik: historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart / Bad-Cannstadt<br />
(frommann-holzboog) 1977, 11 (= Historik. Die Vorlesungen von 1857)<br />
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