Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
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eine größere Zahl Pergamenturkunden zu retten. 90 Hier wird der<br />
nachrichtentechnische Begriff des Kanals konkret, der von<br />
Verrauschung abzusehen sucht:<br />
Die Monumenta, romantische Gründung, positivistische Fabrik, sammeln die Quellen zur deutschen Geschichte<br />
des Mittelalters, die Schriftdenkmäler, und sich selbst ein einziges gewaltiges Denkmal der Schrift. Der Zweck<br />
der Monumentisten ist die Wiederherstellung des Wortlauts der Urkunde im Moment der Niederschrift.<br />
Auszuscheiden ist alles, was aus Gesprächen der Abschreiber in den Text eingeflossen sein könnte. Die<br />
Geschichte, der der Monumentist doch zuarbeitet, muß ihm als Verschmutzung der Reinheit der Quelle<br />
erscheinen. 91<br />
Womit wir erneut bei der Differenz zwischen einer<br />
Nachrichtentheorie, die gerade Rauschen auszufiltern trachtet,<br />
und einer Kommunikationwissenschaft angelangt wären, die in<br />
Veränderungen der Botschaften durch die Kanäle der Übertragung<br />
einen kulturellen Mehrwert entziffert.<br />
Buchstäblich postalisch wird Tradition als Übertragung im<br />
Spiel Stille Post, in der eine vorgelesene Geschichte von<br />
Person zu Person übertragen und dabei nacherzählt wird<br />
(serielle Reproduktion). "Bei diesem Verfahren der<br />
systematischen Rekursion in die bedeutunsgenerierende Dynamik<br />
verschiedener kognitiver Systeme können allgemeine, sich über<br />
die individualspezifische Dynamik hinweg durchsetzende<br />
Ordnungsprinzipien erkannt werden" - die Instistenz des<br />
Archivs 92 ; anstatt daß die Nachricht wie im Experiment der<br />
Rekopie von Kopien am Ende zu gleichverteilter Entropie<br />
verrauscht, insistieren semantische und syntaktische Muster -<br />
die ganze Differenz zwischen stochastischer und<br />
hermeneutischer Übertragung. Es bleibt - in der menschlichen<br />
Sprache - immer zuviel Sinn, als daß sie vollständigen<br />
verrauschen könnte (Roland Barthes 93 ). Dabei wird "die<br />
ursprünglich vielschichtige Handlung der Geschichte<br />
tendenziell einem einzigen Gedächtnisattraktor zugewiesen"<br />
- also ein Prozeß zunehmender Entropie, der auch<br />
auf das Gedächtnis visueller Strukturen übertragbar ist.<br />
Dem steht die Erzählgattung Sage nahe, die einerseits durch<br />
den Bezug auf eine historische Begebenheit definiert ist und<br />
von daher für Jacob und Wilhelm Grimm zur Bestimmung des<br />
deutschen Kulturerbes von Interesse war. „Im Laufe der<br />
89<br />
Wolfgang Struck, Geschichte als Bild und als Text. Historiographische Spurensicherung und Sinnerfahrung im<br />
19. Jahrhundert, in: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, hg. v. Susi Kotzinger / Gabriele Rippl, Amsterdam<br />
/ Atlanta, GA (Rodopi) 1994, 349361<br />
90<br />
Zwanzigster JahresBericht des germanischen Nationalmuseums, 1.1.1874<br />
91<br />
Patrick Bahners (Rez.), Ein Kapitel für sich, über: Horst Fuhrmann, Menschen und Meriten. Eine persönliche<br />
Portraitgalerie. Zusammengestellt und eingerichtet unter Mithilfe von Markus Wesche, München (Beck) 2001, in:<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 124 v. 1. Juni 2002, 58<br />
92<br />
Michael Stadler / Peter Kruse, Visuelles Gedächtnis für Formen und das Problem der Bedeutungszuweisung in<br />
kognitiven Systemen, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis: Probleme und Perspektiven der<br />
interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt/M. (Suhkamp) 1991, 250266 (258), unter Bezug auf: F. C.<br />
Bartlett, Remembering, Cambridge (CUP) 1932<br />
93<br />
Siehe Roland Barthes, Le bruissement de la langue (= Essais critique IV), Paris(Sueil) 1984, 29-34<br />
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