Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
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Der Vor und Frühhistoriker, dem sich das Problem eher in einer Gemengelage von ÜberlieferungsChance und<br />
FundChance darbietet, wird sich angesichts einer Fundkarte von Gräberfeldern immer fragen, ob ein<br />
weittragender Streifen von Gräbern gleichen Typs nun wirklich einen (sagen wir:) alemannischen<br />
Siedlungskorridor abbilde, oder ob er nicht einzig der Tatsache verdankt wird, daß der Bau einer Autobahnlinie<br />
hier, und vorerst nur hier, Gräber zutage förderte ob der kartierte Streifen also Völkerwanderung abbilde oder<br />
nur den massierten Zufall von Fundumständen. <br />
Ob Autobahnbau oder die Furchungen der Ackerbauern: Die<br />
Dynamik von Infrastruktur wird hier selbst zum archäologischen<br />
Suchschnitt, jenseits humanistischer Hermeneutik - eine<br />
Archäologie des kulturellen Unbewußten als genitivus<br />
subiectivus und obiectivus. So auch am 2. November 1993 im<br />
griechischen Theben, als bei der Verlegung von<br />
Wasserleitungsröhren im Stadtzentrum ein ganzer Komplex von<br />
Linear B-Täfelchen gefunden wurde <br />
und einen neuen Blick auf die mykenische Kultur ermöglichte,<br />
weil die flüchtigen Tontafeln nach einem Brand im Palast-<br />
Archiv der Kadmeia gehärtet wurden und damit aus<br />
kommunikativer Software Hardware wurde. Nicht nur<br />
Archivöffnungen, sondern auch archäologische Funde triggern<br />
die Memoria von Geschichte. Die neuentdeckten Linear B-<br />
Täfelchen nämlich bestätigen nicht nur die geographischen<br />
Namen im sogenannten Schiffskatalog der Ilias Homers, sondern<br />
erklären zugleich, weshalb derselbe mit Theben einsetzt: Um<br />
1200 (auf diese Zeit läßt sich der Fund datieren) ist Theben<br />
der Sitz des Herrschers von Ahhijawa. Kadmos, der Bruder von<br />
Europé, hat den Griechen angeblich die Schrift übermittelt:<br />
das archaische Griechenland hat ein präzises Gedächtnis daran,<br />
daß im Zentrum der mykenischen Macht einmal mit Schrift<br />
operiert wurde. Nichts anderes sagt der Fund vom November<br />
1993, als daß die Signifikanten insistieren, allerdings im<br />
Unbewußten von Linear B gegenüber dem Leuchten des späteren<br />
Vokalalphabets.<br />
Er wird sich auch fragen, inwieweit beigabenlose Gräber (und noch fataler:<br />
Gräber aus beigabenloser Zeit!) nicht prinzipiell unterdokumentiert sind einfach deshalb, weil sie bei<br />
Aufdeckung die geringere Chance haben, erkannt, gemeldet und damit von der Wissenschaft registriert zu<br />
werden. <br />
Denn das Gedädchtnis des Realen differiert eklatant von dem<br />
des Symbolischen (also des Aufgezeichneten). Die<br />
Maßstäblichkeit dessen zu erkennen, was die Kanäle der<br />
Überlieferung sortieren, „und das heißt: die auslesende<br />
Überlieferung zu entzerren“, ist nicht nur eine Frage von<br />
Vergangenheit, sondern der Nachrichtenlagen schon jeder<br />
Gegenwart (Zeitungen etwa: „Was aber mag dann das Maß dieser<br />
Wahrheit sein?“); es gilt also, das (aus der Geographie<br />
vertraute) Verzerrungsgitter zu zeichnen . Genau<br />
an dieser Stelle, an der Eschs Fragestellung mit dem<br />
Schlußsatz aussetzt („Lassen wir uns nicht entmutigen, in das<br />
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