Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
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geblieben wären? Müsste sich unser Bild der Antike ändern oder kann man darauf vertrauen, dass die kopierten<br />
Texte auch ein repräsentatives Bild der Literatur jener Zeit widergeben? 43<br />
Datentransfer über die Zeit geschieht als eine Art Sampling<br />
mit statistisch gleichverteilten Verlusten.<br />
Was wird in Zukunft bleiben von einem Menschen? Heute sind es einzelne, eher zufällige Momentaufnahmen. In<br />
Zukunft wird es bei manchen ein großer Datenberg sein, ein fast kontinuierliches Protokoll, das sie ein Stück<br />
unsterblich macht 44<br />
- Leben von Tag zu Tag, aufgeschrieben als digitales Tagebuch.<br />
Doch läßt sich symbolisches Überleben als Tradition<br />
programmieren?<br />
Schon um das eigene Archiv zu durchforsten, müsste man ja eigentlich zweimal leben. Die elektronische Vita<br />
von Prominenten wird eine Fundgrube für Historiker und Klatschreporter sein. Normalsterbliche hingegen<br />
könnten eher ihre Festplatte mit ins Grab nehmen. Ungelesen. <br />
Tatsächlich kommt das nachrichtentechnische Verhältnis von<br />
Redundanz und Klartext ins Spiel, wenn Foucault von<br />
Diskurskontrolle als "Verknappung diesmal der sprechenden<br />
Subjekte" schreibt. 45 Funktion von Archiven ist nicht Fülle,<br />
sondern Selektion (triage).<br />
Der Prozeß, der die Übertragungen von im Gedächtnis einer Generation enthaltenen Informationen in das<br />
Gedächtnis der nächsten erlaubt, kann als Kernfrage der menschlichen Kommunikation überhaupt angesehen<br />
werden. Beispielsweise werden "Geräusche" d. h. Elemente, die bei der Übertragung in die Botschaft<br />
eindringen, ohne im Repertoire der Codes enthalten zu sein im Fall der "natürlichen" Kommunikation zu<br />
sogenannten "Mutationen", während sie im Fall der "kulturellen Kommunikation" dem Kommunikationsprozeß<br />
überhaupt erst seine Berechtigung geben, ihn "fortschrittlich" machen. <br />
Aber was hat überhaupt die Chance, tradiert zu werden? Bislang<br />
nur das, was registriert, aufgeschrieben wird. Diesem Fakt<br />
widmet sich Foucault im Vorwort zu seiner geplanten Anthologie<br />
über Das Leben der infamen Menschen 46 . Der Rezensent weist<br />
darauf hin, daß erst die Störung Geschichte generiert:<br />
Diese Menschen haben eine tradierbare Präsenz, weil sie der Macht in die Quere kamen. Man weiß von ihnen<br />
überhapt nur, wenn zum Beispiel ihre "Exzesse des Weines und des Geschlechts" höheren Ortes missfielen. Es<br />
gibt Dokumente, in denen aufgezeichnet wurde, was man ihnen zur Last legte. Es gibt an die Macht gerichtete<br />
Texte, von denen nicht minder nichtige Existenzen Hilfe gegen die infamen Menschen zu erreichen hofften. 47<br />
Eine kontingente Existenz war Grund genug, in Foucaults Plan<br />
infamer Menschen aufgenommen zu werden, der gerade kein Buch<br />
der Geschichtswissenschaft schreiben wollte, sondern eine<br />
Skizzierung, die Historiograffiti von Leben, die nur in<br />
wenigen Zeilen oder wenigen Seiten überliefert sind:<br />
biographische Unglücke und Abenteuer, zusammengerafft in einer<br />
handvoll Wörter, auf die er zufällig in Büchern und Dokumenten<br />
43<br />
Moritz Schuller, Der Wille zur Einmischung, in: Der Tagesspiegel Nr. 17692 v. 1. März 2002, B3<br />
44<br />
Christoph Drösser, Leben auf der Platte, in: Die Zeit Nr. 2 vom 3. Januar 2002, 23f (24)<br />
45<br />
Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, in: ders. 1999: 68<br />
46<br />
Aus dem Frz. u. mit e. Nachwort versehen jetzt von Walter Seitter, Berlin (Merve) 2001<br />
47<br />
Franz Schuh, Die Rückkehr der infamen Menschen, in: Die Zeit Nr. 30 v. 19. Juli 2001<br />
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