Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
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Ein System, das eine Folge von Symbolen hervorbringt, die<br />
einer gewissen Wahrscheinlichkeit entsprechen, heißt<br />
stochastischer Prozeß. Der Unterschied zwischen der Rolle von<br />
Buchstaben in Bibliotheksordnungen und in der Literatur ist<br />
der zwischen stochastischem Prozeß und seinem Sonderfall, bei<br />
dem die Wahrscheinlichkeit einer Letternfolge von<br />
vorhergehenden statistischen oder semantischen Ereignissen<br />
abhängt (Markov-Ketten). 64 Hier kommt die Rolle der Bibliothek<br />
als negentropischer Katechont gegenüber dem Tanz der<br />
Signifikanten ins Spiel. Markov der Ältere wandte seine<br />
Mathematik analytisch auf die Literatur von Puschkin an und<br />
hat sich in eine Auseinandersetzung mit theologisch<br />
eingestellten Mathematikern über die Frage verstrickt, ob auch<br />
Authenzität und Zeugenschaft mit Methoden der<br />
Wahrscheinlichkeit zu<br />
erbringen ist sei. 65<br />
Der Diskurs des Nationalen ist nicht im Realen, sondern im<br />
Symbolischen, dem Schriftarchiv der Sagbarkeit, verankert. Die<br />
Sammlung deutscher Drucke 1450 bis 1912 sucht einen Ausgleich<br />
zu schaffen für das Fehlen einer historisch gewachsenen<br />
Nationalbibliothek zu schaffen - um den Preis allerdings, daß<br />
sich die digitale Verzeichnung von der Realität des gedruckten<br />
Textes löst. 66 Nach dieser Loslösung stellt die Frage, "ob<br />
unsere Buchkultur eine permanente Kultur bleiben wird"; nach<br />
dem von Roland Barthes verkündeten "Tod des Autors" wird - in<br />
Kopplung an den Medienwechsel zur elektronischen Schrift -<br />
"auch das Buch als distinkte und fixierte Texteinheit in Frage<br />
gestellt. Antithetisch tritt dem gedruckten der elektronische<br />
Text gegenüber, auf Fluidität und Veränderbarkeit angelegt"<br />
. Stellt die Bibliothek demgegenüber einen<br />
Ort der Remanenz dar, wie das Museum gegenüber dem Streaming<br />
elektronischer Bilder? "Wo die Gesellschaft sich verändert<br />
, muß der Staat die Ordnungen fixieren, in denen sie<br />
fortbestehen kann" . Längst aber fixiert nicht mehr der<br />
Staat, sondern der Stand der Medientechnologien diese Ordnung<br />
des Sagbaren von Kultur. Daraus ergibt sich die Option eines<br />
medienarchäologischen, nicht länger historisch-narrativen<br />
Modells von kultureller Tradition als Übertragung: Es gibt<br />
diskrete Zustände kleinster Informationseinheiten, deren<br />
Wahrscheinlichkeit aber in Kenntnis der vorherigen Zustände<br />
gefaßt werden kann, im Unterschied zu kontingenten<br />
Ereignissen.<br />
Stochastische Prozesse liegen der Mechanik kultureller<br />
Tradition zugrunde. Gedächtnis wird hier im Wortsinn zur<br />
Metapher:<br />
64<br />
Siehe Leonard B. Meyer, Meaning in Music and Information Theory, in: Journal of Aesthetics and Art<br />
Criticism, Juni 1957, zitiert in: Eco 1990: 143f. Ebenso definiert in: Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur<br />
mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Shannon / ders. 1976: 1140 (21)<br />
65<br />
Information Philipp v. Hilgers, 11. Februar 2002<br />
66<br />
Bernhard Fabian, Der Staat als Sammler des nationalen Schrifttums, in: ders. (Hg.), Buchhandel - Bibliothek -<br />
Nationalbibliothek, Wiesbaden (Harrassowitz) 1997, 21-52 (39 u. 44)<br />
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