Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
historischen Übermittlung dessen Sender wird, können wir Empfänger und Sender beide unter dem Oberbegriff<br />
„Relais“ oder Schaltstation fassen. Jedes Relais ist die Ursache für eine bestimmte Deformation des<br />
ursprünglichen Signals. 36<br />
Dies gilt für die Filiationskette in Kulturen mündlicher wie<br />
schriftlicher Überlieferung entgegen, als Logik der<br />
Traditionsbildung. Lassen wir uns jedoch auf das<br />
nachrichtentheoretische Modell der Beschreibung von Tradition<br />
ein, gelangen wir zu einer Art negativer Memetik. Michel<br />
Serres beschreibt kulturelle Tradition in Begriffen der<br />
memetischen Evolution und der Nachrichtentheorie Shannons<br />
anhand des Begriffs der Parasiten, die in der Tradition am<br />
Werk sind. Traditionsbildung ist negentropisch, also<br />
willkürlich:<br />
Das produktive Gedächtnis, für Hegel das Äquivalent der antiken mnemosyne, hat es überhaupt nur mit Zeichen<br />
zu tun (Enzyklopädie § 458). Dabei ist es wesentlich, daß das Zeichen einer freien, willkürlichen Tat des<br />
setzenden Geistes sein Dasein verdankt. 37<br />
Die abstrakt aufbewahrte Erinnerung bedarf der Zeichenwerdung,<br />
um aus ihrem nächtlichen Schacht aufsteigen zu können; so ist<br />
jede scheinbar äußerlich-apparative Speichertechnik im Akt der<br />
Erinnerung immer schon essentiell - als „Parasit für die wahre<br />
Mnemosyne, die lebendige Quelle aller Inspiration“ 38 .<br />
Serres definiert das spezifisch medienwissenschaftliche<br />
Projekt der Deutung kultureller Überlieferung: „Ein Parasit im<br />
Sinne der Informationstheorie“ - und das betrifft<br />
<strong>Medienwissenschaft</strong> - „vertreibt einen anderen Parasiten im<br />
Sinne der Anthropologie“ . Serres zielt auf<br />
den Parasiten im Sinne der Physik, der Akustik und der<br />
Informatik, im Sinne von Ordnung und Unordnung.<br />
Kommen wir an dieser Stelle auf die These vom postalischen<br />
Dispositiv der Tradition zurück. Auch Leibniz kam 1698 zu der<br />
Erkenntnis, daß die Übersendung von Briefen Zufällen<br />
ausgesetzt ist. Tradition ist als postalische<br />
Nachrichtenübermittlung mithin in einer zeitprozeßbezogenen<br />
Form der mathematischen Informationstheorie faßbar - nicht nur<br />
für den Transport von Information über räumliche, sondern auch<br />
zeitliche Distanz hinweg. 39<br />
Die Evolutionstheorie basiert auf zwei Begriffen: Mutation und Selektion. Es ist mehr als ein Bild, wenn<br />
man sagt, es handele sich um eine Botschaft, die auf einem Träger gespeichert ist. Ein Teil dieser Botschaft<br />
verändert sich durch Mutation, Abwesenheit, Substitution oder Verschiebung von Elementen. Es ist mehr als nur<br />
ein Bild, wenn man sagt, es handele sich um die Einwirkung eines Rauschens auf die Botschaft. Rauschen im<br />
Sinn von Unordnung, also Zufall, aber auch im Sinne von Störung, einer Störung, welche die Ordnung verändert,<br />
und mithin den Sinn . In jedem Falle aber verändert diese Störung die Ordnung. Die Störung ist ein Parasit<br />
36<br />
George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1982,<br />
57f<br />
37<br />
Hermann Schmitz, Hegels Begriff der Erinnerung, in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 9, Bonn (Bouvier)<br />
1964, 3744 (40)<br />
38<br />
Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, Wien (Passagen) 1986, 64<br />
39<br />
Siehe Martin Fontius, Post und Brief, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der<br />
Kommunikation, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 267-279 (267), unter Bezug auf: E. Vaillé, Histoire générale<br />
des postes françaises, 5 Bde, Paris 1947-1951 (Bd. 1, 1ff)<br />
11