Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
Tradition2.pdf (Download) - Medienwissenschaft
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
mündlichen Überlieferung, d. h. in der wiederholten Weitergabe<br />
durch das `Sagen´, verändern sich über die Jahrhunderte<br />
Inhalte und Formen einer jeweiligen Erzählung.“ 94 Die<br />
Verrauschung im Prozeß der historischen Überlieferung, also<br />
der deterministische Zeitprozeß der Überlieferung (ihre<br />
Zeitbasiertheit) ist nicht umkehrbar - im Unterschied zu den<br />
räumlich-logischen, hypertextuellen (und eben nicht<br />
hyperzeitlichen) Programmen ihrer digitalen Darstellung. Die<br />
kritische Edition von überlieferten Texten folgt Lachmanns<br />
Regel: „denn die Überlieferung lügt“ 95 ; hinter der Eleganz der<br />
wirkungsgeschichtlich abgeschliffenen Texte muß der strenge<br />
Blick des Wissensarchäologen die unelegantere Echtheit des<br />
Urtexts als das „nie Gesehene“ zumindest asymptotisch<br />
freilegen - hier im<br />
Gegensatz zu Gadamers wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik.<br />
Analog zur historiographischen Ästhetik Leopold von Rankes<br />
sucht auch Lachmann nach der nackten Wahrheit ohne<br />
ornamentalen Glanz.<br />
Die epistemologische Voraussetzung für den Begriff der<br />
Tradition bleibt der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik: "Wir<br />
können keine Umkehrfunktion schreiben." 96 Weshalb ein<br />
Historiker aus der Überlieferung auch nicht auf die Welt des<br />
Überlieferten rückschließen kann - der alte Unterschied<br />
zwischen historischer und philologischer Edition. Lachmann<br />
schlägt sich auf die „hyperkritische“ Seite , d. h. er leistet eine Kritik der Überlieferung;<br />
„hyper“kritisch meint die zeitliche Erstreckung. Eine Edition<br />
kann Aussagen über das formale Verhältnis zwischen der<br />
überlieferten Vergangenheit und den Informationsträgern<br />
machen, die sie beschreiben; sie kann über die<br />
Informationsstruktur einer Quelle informieren, ihre<br />
Informationsdichte beschreiben und ihre Überlieferungsstruktur<br />
transparent machen. Kann dem Zufall in der<br />
Überlieferungschance von Dokumenten als objektives Korrelat<br />
ihre Statistik entgegengesetzt werden? 97 Ist dieser Prozeß<br />
kybernetisch beschreibbar? Das archivische Gedächtnis der<br />
Kultur wird plausibler (auf)gezählt, nicht erzählt. 98 Ludwig<br />
Boltzmann entwickelte die kinetische Theorie der nur noch<br />
statistisch faßbaren, im konkreten Fall unvorhersagbaren<br />
Varianten des Zusammenstoßes von Gasmolekülen in den 90er<br />
94<br />
Eva Erdmann, Eintrag „Sage“, in: Pethes / Ruchatz (Hg.) 2001: 513, unter Bezug auf A. Jolles, Einfache<br />
Formen, 7. Aufl. Tübingen 1999, und J. u. W. Grimm, Artikel Sage, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Leipzig<br />
1893, Sp. 1644<br />
95<br />
Harald Weigel, „Nur was du nie gesehn wird ewig dauern“. Carl Lachmann und die Entstehung der<br />
wissenschaftlichen Edition, Freiburg (Rombach) 1989, 158, unter Bezug auf die praefatio der ersten Ausgabe<br />
Lachmanns 1815<br />
96<br />
Ingo H. Kropac, Theorien, Methoden und Strategien für multimediale Archive und Editionen, Vortrag auf der<br />
Tagung: Mediävistik & Neue Medien, Mittelalterzentrum Bamberg (Universität), Dezember 2001<br />
97<br />
In diesem Sinne Wilhelm Kurze, Ein echtes falsches Dokument des Erzbischofs Ubertus von Pisa. Ein Beitrag<br />
zum Fälschungsproblem, Typoskript (Deutsches Historisches Institut, Rom), 31f<br />
98<br />
Siehe Friedrich Thimme, Die Aktenpublikationen des Auswärtigen Amtes und ihre Gegner, in: Archiv für<br />
Politik und Geschichte, 2. Jg. Heft 4/5 (1924), 467-478 (475)<br />
30