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Kalter Sinn. Der medienarchäologische Blick, das ...

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KALTER SINN. DER MEDIENARCHÄOLOGISCHE BLICK, DASMEDIENARCHÄOLOGISCHE OHRDie vorliegenden Materialien bildeten nicht <strong>das</strong> wortgetreueSkript, aber die stoffliche Grundlage der Vorlesung „<strong>Der</strong> kalte<strong>Blick</strong>. Medien als Subjekt und Objekt von Kulturwissenschaft“im Rahmen einer Gastprofessur (Vertretung des LehrstuhlsÄsthetik und Geschichte der Medien) am Institut für KulturundKunstwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin,Wintersemester 2002/03.Die tatsächlich gehaltenen Vorlesungen waren Variationen;seitdem wurde der Stoff im Text punktuell aktualisiert.Zitierfähig sind diese Texte bestenfalls als Skripte. Formaleund sachliche Korrekturen, Kritiken und Ergänzungen von Seitender lesenden Nutzer dieses Typoskripts sind willkommen(wolfgang.ernst@culture.hu-berlin.de).Wolfgang Ernst, zur Jahreswende 2005/06Prof. Dr. Wolfgang ErnstLehrstuhl MedientheorienSeminar für MedienwissenschaftHumboldt-Universität zu Berlin- - -INHALTSVERZEICHNIS (nach Zwischenüberschriften):<strong>Blick</strong>, Technik und Erkenntnis<strong>Der</strong> kalte medienarchäologische <strong>Blick</strong>Diskursanalyse oder: Wer ist man, wenn man Foucault gelesenhat?<strong>Der</strong> anatomische und der klinische <strong>Blick</strong>Theater, theoría, AnatomiePhysiologische aisthesis und Ästhetik des Scanners<strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> zweiter Ordnung: KybernetikAnästhetik der Aufklärung: Monitor(ing)Mechanisation takes controlLogistik der VernichtungKrieg der <strong>Blick</strong>e, <strong>das</strong> Sublime der Bilder"Heiße und kalte Medien"Visionen, IkonenIm Kampf mit der Imagination: asketische Übungen


<strong>Der</strong> virtuelle <strong>Blick</strong> der Archäologie<strong>Der</strong> buchstäblich archäologische <strong>Blick</strong><strong>Der</strong> kunstarchäologische <strong>Blick</strong> (Winckelmann, Lessing)<strong>Der</strong> philologische <strong>Blick</strong>Prosopopöie im ArchivLiteratur kalkulierenLettern sehen / lesen (Mittelalter)<strong>Der</strong> dynamisierte <strong>Blick</strong>: Buchdruck und LesegeschwindigkeitVisuelle Kommunikation und Schreibmaschine: Verständigung oderDatenabgleich?<strong>Blick</strong>distanzierungsmaschinen, mathematisch (die Perspektive)Rück-<strong>Blick</strong>e: Sehstrahlen, Rilke, LacanPhotographie, schmerzlosMedium statt MalereiFilm / Kino-Auge<strong>Der</strong> Medusen-<strong>Blick</strong> des wissenschaftlichen Films<strong>Der</strong> zeitdiskrete <strong>Blick</strong> (Chronophotographie)Die mediale Dynamisierung des <strong>Blick</strong>s durch diebewegungsmessende Kamera (Muybridge, Marey, früher Film)Photo und System: IMAGO, Fischli / WeissSuchbilder, AbschiedeIm Dieseits von Musik: Akustik- - -<strong>Blick</strong>, Technik und Erkenntnis<strong>Der</strong> medienarchäologische <strong>Blick</strong> als Modus von Medientheoriedient nicht schlicht dem Versuch, visuelle Leidenschaftenunter Kontrolle zu halten, eine Strategie der Affektkontrolleund des Kalküls von Emotionalität. Er ist vielmehr auch eineTechnik der Neugierde, der Forschung schlechthin, dertheoretischen Einsicht von Medien.Es gilt der emotionalen Versuchung zu widerstehen, die mit<strong>Blick</strong> auf Medieninhalte die Fähigkeit zur Analyse derMedientechniken schmälert. Möglich ist dies, indemmenschlichen <strong>Blick</strong>e an ihre scheinbaren Extensionen (im <strong>Sinn</strong>eMarshall McLuhans und Ernst Kapps), nämlich Instrumente,deligiert werden. Francis Bacon schreibt in The Advancement ofLearning: „The mind of man is far from the nature of a clearand equal glass wherein the beams of things should reflectaccording to their true incidence; nay, it is rather like anenchanted glass, full of superstitution and imposture.“ 11Zitiert nach: Hankins / Silverman, xxx, 1995, 6


Medienarchäologie den Test von Medientheorien am Material, und<strong>das</strong> heißt: an den Materialitäten der Kultur, ihre Technikenund Hardware.Medientheorein ihrerseits meint einen dezidiertarchäologischen <strong>Blick</strong>. Was ist <strong>das</strong> Archäologische daran? Zumeinen der Moment des Reflexivwerdens der Medien selbst, alsohistorisch-kulturelle Ereignisse analog zu Giambattista VicosDefinition von selbsterzeugter Menschheitsgeschichte insymbolischen Systemen. Ferner meint Archäologisierung dieSuspendierung des Diskursiven für einen Moment, also derVersuch, den nüchternen <strong>Blick</strong> auf mediale Konstellationennicht vorschnell an kontextuale Einbettung zu koppeln. EinInnehalten also, um nicht etwa kulturwissenschaftlichFunktionen und Effekte des Archivs mit denen eines kollektivnebelhaften Gedächtnisbegriffs zu verwechseln. Es geht also umden passionslosen Einblick in sowohl apparative wiekulturtechnische Abläufe, die illusionslose Einsicht desMenschen in seiner medialen Verstricktheit, doch ebenso - ganzim <strong>Sinn</strong>e jener Disziplin Archäologie, die auch im hiesigenFakultätsinstitut vertreten ist - die materialnaheEinsichtnahme. Oder - um einen Begriff Ernst Jüngersaufzugreifen - es geht um ein „zweites Bewußtsein“ von Kultur- nämlich Medienkultur.Sehr konkret war dies für die Photographie definiert worden,als der französische Astronom Jules Janssen 1882 diephotographische Platte als die „eigentliche Netzhaut desGelehrten“ bezeichnete - eine naturwissenschaftliche Ästhetik.Hier tritt - im aktiven <strong>Sinn</strong>e - Medienarchäologie an dieStelle der Phänomenologie; aisthesis an die Stelle derÄsthetik. 4Walter Benjamin schreibt in seiner Kleinen Geschichte derPhotographie 1931: „Es ist ja eine andere Natur, welche zurKamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, <strong>das</strong>san die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirktenRaums ein unbewußt durchwirkter tritt.“ Sigmund Freudseinerseits glaubt, daß im psychischen Apparat dem Bewußtseinjene „Negative“ verbogen bleiben, welche nicht zum„Positivprozess zugelassen“ werden. Hier prägt ein Leitmediumdie Metaphorik des Bewußtseins, wie auch für den historischenDiskurs (ein Wissen der Vergangenheit, quasi archäologischverborgen, <strong>das</strong> erst vom Historiker entwickelt wird). ImUnterschied von “latent" und "manifest“ liegt auch dietechnische Differenz der photographischen Verfahren Daguerres(Daguerreotypie) und Talbots (Negativentwicklung).4Dazu Martin Stingelin (Rez.), Unvermutete Welten, über: Bernd Stiegler, Philologie des Auges. Diephotographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München (Fink) 2001, in: Basler Magazin Nr. 37 v. 14.september 2002, 10


Medienkultur bildet nicht länger nur ab, sie bildet ein„zweites Bewußtsein“ aus - analog zum Begriff der imagingsciences. „Wir aber stehen mitte im Experiment. Wir treibenDinge, die durch keine Erfahrung begründet sind“, schreibtErnst Jünger in Das abenteuerliche Herz, ca. 1930, und FrankSchirrmacher ergänzt: „als würden wir in den Maschinenraumblicken“ 5 . Im Anschluß, zugleich aber in Überbietung vonDiskursanalysen, deren blinder Fleck die Einsicht intechnische Medien darstellt, betont Medienarchäologie geradenicht <strong>das</strong> anthropologische tröstliche Beziehungsgefügezwischen einer technologischen Basis und ihrem wahrnehmungsundkulturgeschichtlichen Überbau, sondern derenDiskontinuitäten.Damit korrespondiert auch eine methodische Option, denn der„kalte <strong>Blick</strong>“ betrifft auch unser Verhältnis zum Modell derKulturgeschichte. <strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> schaut auf Historie aus derPerspektive des Archivs; er sieht also nicht die illusionäre,phantasmagorische Fülle vergangenen Lebens, sondern dieGegenwart dessen, was von ihr als Grundlage unseres Wissensübriggeblieben ist: die Spärlichkeit des Materials, dieLücken, diskrete Zustände, die mit dem korrespondieren, was inden digitalen Medien längst wirkungsmächtig geworden ist.Diskrete Medien vermögen also <strong>das</strong> auszudrücken, was wir nicht- oder nur stammelnd - aussprechen können, im Medium derSprache: diskrete Rarität der Daten als Aussage der Historie.Und was die Kamera in diskreten Serien von frames aufzeichnet,ist nicht auf Sichtbarkeit, sondern Speicher- undÜbertragbarkeit ausgerichtet.Das moderne Projekt der (philosophischen) Aufklärung war immerschon an die Metapher des <strong>Blick</strong>s gekoppelt - aber eben nur alsphilosophisch-archäologische Metapher; erst militärtechnischwurde Aufklärung real. Dem abendländischen Diskurs, der seitAlt-Griechenland die Evidenz des Wahren an <strong>das</strong> Organ desAuges, der Augenzeugenschaft gekoppelt hat und in der <strong>Blick</strong>-Metaphorik des Frontizpizes der Encyclopédie d´Alemberts undDiderots gipfelte, stand bald ein Zweifel an derUnmittelbarkeit optischer Eindrücke gegenüber (David Hume,John Locke); dies führt zu einer Abkehr von der Aufklärung undVerlagerung vom optischen zum kognitiven Pardigma (DeutscherIdealismus). Auf diese Krise antwortet die Photographie mitdem diskursiven Effekt der unverfälschten Einschreibungoptischer Eindrücke, und <strong>das</strong> Genre des Dokumentarfilms 6 - dermedienarchäologische <strong>Blick</strong> als apparative Funktion / Fiktion.„<strong>Der</strong> bergsonschen Genealogie des `Sehvermögens´ entsprechend,kommt man zur Hypothese, <strong>das</strong>s die Bildtechnologien nicht <strong>das</strong>5Frank Schirrmacher, Die große Angst. Im Maschinenraum der Kultur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 5v. 7. Januar 2003, 316Siehe <strong>das</strong> Kapitel über Video und Widerstand in Critical Art Ensemble, The Electronic Disturbance, New York1994; im Internet unter http://www.critical­art.net; dt. vonRobin Cackett und Carsten Does unterwww.hybridvideotracks.org


Auge reproduzieren, sondern die sub-personalen (reineWahrnehmung) und supra-personalen (ontologisches Gedächtnis)Bedingungen, von denen aus wir Bilder, Gedächtnis und Verstandkonstruieren“ - also nicht schlicht mediale Prothesenmenschlicher <strong>Sinn</strong>e im <strong>Sinn</strong>e von Kapp / McLuhan .Entspricht dem medienarchäologischen <strong>Blick</strong> dermathematisierende, der kalkulierende und der kalkulierte<strong>Blick</strong>? Tatsächlich ist beispielsweise der durch Platonumdefinierte pythagoreische Begriff der Sphärenharmonieweniger mystisch denn Kalkül. Hier koppelt sich der Begriffder theoría unmittelbar mit dem der Zahl, was in einerMedientheorie des Computers gleich einem Möbius-Bandzurückkehrt. Iamblichos überliefert in seiner Vita desPythagoras in Absatz 162: "In knapper Form verschlüsseltspeicherte er so eine unübersehbareWeite und reiche Fülle geistiger Schau. So auch in dem Satz:`Die Zahl - es gleichet ihr alles´." 7Auch Michel Foucault hat bekanntlich mathematischeAussagenlogik und nicht - wie etwa Hegel -kulturwissenschaftliche Diskurse zur Begründung seiner Methodegewählt. Immanuel Kant spitzte die Frage noch zu: „Ob eineGeschichte der Philosophie mathematisch abgefaßt werden könne“. Hiermit schließt sich der mathematische Ansatzdes Lesart von Foucaults Archäologie kurz. So kommt einBegriff der Archäologie des Wissens ins Spiel, die entgegenanderslautender Deutungen nicht metaphorisch und auch nichtphilosophisch, sondern strikt mathematisch lesbar ist: AlsStudium von Aussagen (énoncés). Aussagen wiederumkonfrontieren uns mit einer enuntiativen Funktion, die Zeichenzu einem Objektfeld korreliert, in einem Raum, wo sie benutztund repetiert werden. „The natural way of rendering thispassage intelligible is, obviously, to take the notion of afunction at its mathematical face value.“ 8 Dieses Modell gehteinerseits eher auf Leibniz denn auf Kant zurück: Leibniz´Modell möglicher und je aktualisierbarer Welten und seine Entwicklung des logischen Kalküls. BeimProgrammieren schließlich werden die sogenannten „diskursivenFormationen“durch ein singuläres Set von Regelnzusammengehalten - mithin Algorithmen.Foucaults wissensarchäologischer Begriff der Aussage stehtandererseits der mathematischen Ästhetik der Bourbaki-Gruppein Paris nahe, jenem „Rechenzentrum der Avantgarde“ 9 , die mit7Zitiert nach: Bartels Leendert van der Waerden, Die Pythagoreer, Zürich / München (Artemis) 1979, 1108Martin Kusch, Discursive formations and possible worlds. A reconstruction of Foucault´s archeology, in:Science Studies 1/1989, 17-25 (17). Siehe auch ders., Foucault’s Strata and Fields. And Investigation intoArchaelogical and Genealogical Science Studies Dordrecht, Boston, London 19919Siehe Dietmar Dath, Das Rechenzentrum der Avantgarde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 89 v. 17.April 2002, 56


mengentheoretischen Begriffen operierte (algebraisch), alsonicht arithmetisch („mit Zahlen“).Damit eine Zeichenkette zurAussage werden kann, muß sie referentiell sein, d. h. sich aufein Gebiet materieller Objekte beziehen - <strong>das</strong> archäologischeFeld. Ein diskreter, medienarchäologischer <strong>Blick</strong> aufVergangenheit könnte diskrete Datenzustände anerkennen(cluster analysis) und mit ihren sprunghaftenZustandsänderungen buchstäblich digital rechnen:diskontinuierliche leaps im archäologischen Datenfeld (etwaTroja I-VIII). Solche materiellen Aussagen konfrontieren denarchäologischen <strong>Blick</strong> sehr konkret mit einer Korrelation vonObjektfeldern in einem wiederholten Gebrauchsraum.Diskursanalyse oder: wer ist man, wenn man Foucault gelesenhat?Hinter dem „kalten <strong>Blick</strong>“ der Medienarchäologie steht derWunsch, sich zumindest für Momente durch Technologien von dereigenen Subjektivität befreien oder suspendieren zu lassen."Wer ist man, wenn man Foucault gelesen hat?" 10 Foucaultsmethodische Reflexion Ordnung des Diskurses definiert denDiskurs als jene Gewalt, die Worte den Dingen antun. Er findetsich nicht vorab in der Welt vor, sondern ist eine kulturellePraxis, der sprachliche Teil der Vergesellschaftung der Dinge.Ein für alle verbindlicher Diskurs setzt sich zunächst als religiodurch, buchstäblich. Diskurse formierenWahrheitsbegriffe; ein Wort wird an ein Ding durch einenWahrheitsvektor gebunden. Hier zählt der Sprechakt, <strong>das</strong>tatsächlich Gesagte, doch nicht als anthropologischeKonstante, sondern als Funktion medialer Prozessierung. OhneTechnologien explizit zu benennen, beschreibt Foucault,daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert,organisiert und kanalisiertwird ­ und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Gefahren des Diskurses zu bändigen, seinunberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen" .Daran anknüpfend stellt sich die Frage: Wie hält es Foucaultmit der Materialität der Medien? In welchem Verhältnis stehenDiskurs und Materialitäten (als <strong>das</strong> Nicht-Diskursive)? DieEpisteme bringt ein Wort dazu, an die Stelle einer Sache zutreten. Kybernetische Maschinen steuern die Verbindung vonDenken und Welt und die Verknüpfung der Gegenstände. Wieerklärt sich die Diskontinuität von einer Episteme zuranderen? An dieser Stelle lassen sich Medienumbrücheeinsetzen, welche Formen und Inhalte neu verknüpfen - <strong>das</strong>Teleskop etwa für <strong>das</strong> heliozentristische Weltbild.10Eine Frage von Johanna Frohberg, Humboldt­Universität zu Berlin


Foucault fragt, "in welchen Formen, durch welche Kanäle undentlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in diewinzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen" 11. Hier fassen wir ein zentrales Kriterium für den Medien-Begriff: den Kanal (laut Shannon "merely the medium" allerSignalübertragung). Mit Foucault über Foucault hinaus gelangenwir damit vom raumzeitlichen Apriori Immanuel Kants über <strong>das</strong>diskursanalytisch konrektisierte historische Apriori Foucaultshin zum medienarchäologischen Apriori.Diskurse formieren sich ihrerseits zu einem Archiv, dem System oder allgemeinen Gesetz diskursiverRegelmäßigkeiten. Es bezeichnet <strong>das</strong> umfassende historische Apriori, die in einer bestimmten Epoche gegebeneGesamtheit der Bedingungen für die Formation von Aussagen und Diskursen. Kant denkt <strong>das</strong> Apriori rein, vom wahrnehmenden Subjekt her;Foucault dagegen beschreibt <strong>das</strong> Apriori als radikalhistorisches. Es ist der Einsatz des medienarchäologischen<strong>Blick</strong>s als Theorie, den Begriff des Apriori positiv zubesetzen: nämlich die Technologien selbst als technischesApriori zu behaupten. 12Da, wo Geschichte war, ist jetzt Foucault (frei nach AnnaFrohberg). Man muß sich vom geschichtlichen Subjekt selbstbefreien, d. h. zu einer Analyse gelangen, welche dieKonstitution des Subjekts im genealogischen Zusammenhang zuerklären vermag. Genau darauf zielt eine Darstellungsform,welche die Konstitution von Wissen, von Diskursen und vonGegenstandsfeldern berichtet, ohne sich auf ein emphatischesSubjekt beziehen zu müssen, welches <strong>das</strong> Feld der Ereignissetranszendiert "und es mit seiner leeren Identität die ganzeGeschichte hindurch besetzt" 13 . Ist diese Entlastung von derSubjektzentriertheit mit Hilfe des medienarchäologischen<strong>Blick</strong>s möglich? Das Individuum ist also nicht <strong>das</strong> Gegenüberder Macht; es ist vielmehr eine seiner ersten Wirkungen, ihrverbindendes Element. "Die Macht geht durch <strong>das</strong> Individuum <strong>das</strong>sie konstituiert hat, hindurch" . Beidieser Gelegenheit kommt die Differenz zwischen "Diskurs" und"Dispositiv" ins Spiel. In <strong>Der</strong> Wille zum Wissen heißt es ineiner Anmerkung des Übersetzers, daß der französische Begriffdispositif sich vornehmlich in juristischen, medizinischen undmilitärischen Kontexten findet; "er bezeichnet die(materiellen) Vorkehrungen, die eine strategische Operationdurchzuführen erlauben" .<strong>Der</strong> medienarchäologische <strong>Blick</strong> fokussiert dezidiert die Rollevon Materialitäten und Medien, sonst driftet die Theorie ineine philosophische Diskussion ab. <strong>Der</strong> "kalte <strong>Blick</strong>" vermagalso als Diskursanalyse fungieren; diese ist überhaupt nur als11Michel Foucault, <strong>Der</strong> Wille zum Wissen, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1983, 2112Siehe <strong>das</strong> programmatische "Editorial" zu: Friedrich Kittler, Samuel Weber und Manfred Schneider (Hg.),Diskursanalysen 1: Medien, Opladen (Westdeutscher Verl.), xxx13Michel Foucault, Dispositive der Macht, Berlin (Merve) 1978, 32


asemiotischer Zugang möglich, als Korrelat zum Befund, daßsich Bedeutung erst in einem System konstituiert, dessenFunktionieren als Regelmechanismen dessen, was wie und wo zusagen <strong>Sinn</strong> macht, definiert ist.<strong>Der</strong> anatomische und der klinische <strong>Blick</strong>Michel Foucaults Buch zur Geburt der Klinik trägt den direktansprechenden Untertitel: Eine Archäologie des ärztlichen<strong>Blick</strong>s. Sein eigener Vater war Chirurg in Poitiers undAnatomieprofessor an der École de médicine. Begriffe wieMedienanatomie oder Medienchirurgie brillieren gegenüber demder Medienarchäologie, sehr (zu sehr vielleicht) am Begriffder Klassischen Archäologie als humanistischer,menschfixierter Kulturwissenschaft klebt. Im Unterschied zumMagier und zum praktischen Arzt "verzichtet der Chirurg imentscheidenden Augenblick darauf, dem Patienten als Menschsich gegenüberzustellen; "er dringt vielmehr operativ in ihnein. - Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler undKameramann. <strong>Der</strong> Maler beobachtet in seiner Arbeit einenatürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegendringt tief ins Gewebe der Gebenheiten ein" 14 - Datenchirurgie.In Die Geburt der Klinik (1963) ist "die Rede vom <strong>Blick</strong>“. 15Dieser <strong>Blick</strong> ist Subjekt und Objekt einer Archäologie, dieuntersucht, was in einer gegebenen Epoche sagbar und zu sehenmöglich ist. <strong>Der</strong> analytische und der anatomische <strong>Blick</strong> stehenim Bund. „Damit der ärztliche `<strong>Blick</strong>´ die Symptome in ihrertiefsten Tiefenschicht entziffern kann“ - hier verfälltFoucault dann doch einer grabungsarchäologischenMetaphorisierung - „muß er deren Quelle im Körperinnernaufsuchen können“, endoskopisch. Es ist diese Aufforderung vonBichat, der Foucault ihr ganzes Gewicht verleiht: "Öffnen Sieeinige Leichen: alsbald werden Sie die Dunkelheit schwindensehen, welche die bloße Beobachtung nicht vertreiben konnte“. Was für Leichname inKörperwelten gültig ist, gilt für die Sezierung vonMedienwelten zumal.Längst aber ist die Medizin vielmehr mit Körper aus Zahlenkonfrontiert. Digitale Bildgebung in der Medizin hat gelehrt,daß wissensbasiertes imaging in der Medizin Bilder vor allemGrauwertverteilungen meint. Die Praxis der Chirgurgie isthybrid, eine Koordination von menschlichem Auge undMaschinenoptik: ein optischer Cyborg. So daß auch diedokumentierende Kamera nicht wirklich außerhalb, sondernanalog zum Auge des Chirurgen operiert. 1614Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Zweite Fassung,in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Hermann Schweppenhäuser / xxx Tiedmann, Frankfurt/M. xxx, Bd. xxx,474- (496)15Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen <strong>Blick</strong>s, München 1973, 7


Nur die Methode selbst in sachlicher, knappster und anschaulicher Form; auch nicht mal als Zwischenschnitt,weil man keinen Übergang weiß, <strong>das</strong> Gesicht des Operateurs. Auch <strong>das</strong> nicht, <strong>das</strong> war verpönt bei uns in derCharité, und ist auch in sämtlichen Charitéfilmen nicht so. 17Es handelt sich bei diesem Kamerablick auf chirurgischeOperationen um die Ekstase jenes medizinisch-archäologischen<strong>Blick</strong>s, den Foucaults Archäologie des medizinischen <strong>Blick</strong>sbeschrieben hat. Nota bene: der Chirurg verbeugt sich am Endevor der Kamera, noch ganz in der Tradition des anatomischenTheaters. <strong>Der</strong> Raum der medizinischen Operation ist einvisueller. <strong>Der</strong> Kameramann, der hier - im Unterschied zurTheatralität des Chirurgen - anonym bleibt, ist niemand andersals Oskar Mester, der später die UFA gründen wird. Wir fassendie beiden Enden des Films als Medium: einmal Registrier-,einmal Darstellungsmedium; einmal Sekretär des Realen(Dokumentation), einmal Medium einer Erzählung.Korrigiert der ärztliche <strong>Blick</strong> die Computerbilder oderumgekehrt? Invasiv ist der technische <strong>Blick</strong> selbst gegenüberdem Körper des Patienten: Röntgenstrahlen verbrennen ihn. <strong>Der</strong>wissenschaftlich <strong>Blick</strong>, die curiositas der Neuzeit, gibt sichnon-invasiv. 1742 betont <strong>das</strong> Vorwort der französischenÜbersetzung von Cliftons Etat de la médicine ancienne etmoderne, daß Hippokrates sich „nur der Beobachtung gewidmet“habe. „<strong>Der</strong> <strong>Blick</strong>, der beobachtet, hütet sich vor demEingreifen“ . Dieser <strong>Blick</strong> ist anSchweigen gebunden; Corvisart schreibt es im Vorwort seinerÜbersetzung aus dem Lateinischen (Wien 1761) von AugenbruggersNouvelle méthode pour reconnaître les maladies de la poitrine(Paris 1808): „Am Bett des Kranken verstummt jede Theorie odersie verflüchtigt sich" .Aktiv müssen die Aussagen der Einbildungskraft unterdrücktwerden, denn Wissen und Sehen konvergieren, etymologisch. DieEtymologie weiß um die Verwandtschaft des gemeingermanischenVerbs (Präteritopräsenz) wissen (mittelhochdeutsch wizzen) mitanderen indogermanischen Sprachen in der indogermanischenWurzel *veid-, d. h. „erblicken, sehen“; dann auch „wissen“ im<strong>Sinn</strong>e von: „gesehen haben“; vgl. <strong>das</strong> Griechische idein „sehen,erkennen“, u. eidénai = Wissen“ und idéa als „Erscheinung,Urbild“, lat. vidére „Sehen“ (s. a. Vision). Zu dieserindogermanischen Wortgruppierung gehört ebenso weise undverweisen, womit der Anschluß an die medizinische Semiotikhergestellt wäre. 18 „<strong>Der</strong> Zwang, für Erkennen und alles, was inseiner Linie liegt, Metaphern aus dem Sehbereich zugebrauchen, ist bekannt“ - aber nichtphysiologisch, sondern kulturtechnisch begründet.Ästhesiologie also statt Ästhetik, als Erforschung der „durchdie Modalitäten bedingten Möglichkeiten des Menschen“. 19 Diese16Christoph Keller zitiert in seinem Video Retrograd die Oberschenkelamputation durch Professor Bergmann ander Berliner Charité um 1900.17Inge Fischer, Redakteurin zahlreicher Charité­Filme zwischen 1960 und 1980; Interview 1998 ebd.18Siehe Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1922


Modalitäten nicht im anthropologischen, sondern im medialenDispositiv zu suchen ist medienarchäologisches Programm.Verfolgen wir also den spezifische Konnex von kaltem <strong>Blick</strong> und(kultur-)technischen Medien. Dieser <strong>Blick</strong> steht im Verbund miteiner uralten Visualisierungstechnik von Wissen: dem Alphabet.Lesen und sehen konvergieren in diesem <strong>Blick</strong>. <strong>Der</strong>kalkulierende medizinische <strong>Blick</strong> um 1800 beruht auf einerkulturtechnischen Eintrainierung des Umgangs mit kleinstenEinheiten des Wissens, seiner Analyse, seiner Speicherung,seiner Kombinierbarkeit und seines Transfers: den Buchstaben,quadriert noch einmal in der Typographie des Buchdrucks, d. h.des Setzkastens.Das alphabetische Schema, <strong>das</strong> um 1800 als <strong>das</strong> ideale Schemazur Anlyse, d. h. Zerlegung von Sprache dient, ließ sich ohnewesentliche Modifikation in die Definition des klinischen<strong>Blick</strong>s einbringen. Die kleinstmögliche Beobachtungseinheit,also <strong>das</strong> Symptom, „bedeutet für sich allein gar nichts; abersie gewinnt ihre Bedeutung , wenn sie mit anderenElementen Verbindungen eingeht“ . Schon inder Antike war die Semiotik fest an den Diskurs der Medizingekoppelt 20 , und in seiner Séméiologie générale von 1811schreibt F.-J. Double sehr explizit (im Medium dessen, was erhier sagt): „Die einzelnen, isolierten Beobachtungen sind fürdie Wissenschaft <strong>das</strong>, was die Buchstaben und die Wörter fürden Diskurs sind“ .Ergänzend wäre in diesem Zusammenhang zu erinnern, daß geradeder Begriff „Schreiben“ im Corpus Hippocraticum auffallend oftbelegt ist; „die besonders häufig durch gráphein ausgedrücktenVor- und Rückverweise zeigen klar den bewußten und betontenGebrauch der Schrift“ 21 . Zettelkästen korrespondieren mit derModularität des Alphabets; in den ältesten Schriften desCorpus Hippocraticum wurde <strong>das</strong> Schema der Liste oder desKatalogs benutzt, „in dem die verschiedenen Krankheitstypenwie auf Karteikarten unter Anwendung von nahezu feststehendenMustern und Ausdrucksformeln aufgeführt sind.“ 22 <strong>Der</strong>registrierende medizinische <strong>Blick</strong> ist geradezu eine Funktiond(ies)es Alphabets: „Die aufmerksame Beobachtung undRegistrierung von Ursachen, Symptomen und Entwicklungen derverschiedenen Erkrankungen im Übergang von denarchaischen, magisch-religiösen Heilpraktiken zur rationalen(`klinischen´) Medizin“ . Gekoppelt analphabetische Aufschreibesysteme erkaltet der vormals heiße<strong>Blick</strong> der Medizinmänner.19Helmuth Plessner, Anthropologie der <strong>Sinn</strong>e [*1970], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux u. a.,Frankfurt/M. (Suhrkamp), Bd. 3: Anthropologie der <strong>Sinn</strong>e, 1980, 317-394 (322); vgl. seine Frühschrift DieEinheit der <strong>Sinn</strong>e. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), ebd., 7-31620Dazu Michael Franz, Von Gorgias bis Lukrez, xxx21Knut Usener, „Schreiben“ im Corpus Hippocraticum, in: Wolfgang Kullmann / Michael Reichel (Hg.), <strong>Der</strong>Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen (Narr) 1990, 291-299 (299)22Gian Franco Nieddu, Neue Wissensformen, Kommunikationstechniken und schriftliche Ausdrucksformen inGriechenland im sechsten und fünften Jh. v. Chr.: Einige Beobachtungen, in: Wolfgang Kullmann / G. Althoff(Hg.), Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur, Tübingen (Narr) 1993, 151-166 (156f)


Die endliche Menge alphabetischer Zeichen aber wirdunterlaufen, wenn Bilder selbst aus graphischen Symbolenzusammengesetzt werden. Jonathan Crary spricht von "practicesin which visual images no longer have any reference to anobserver in a `real´, optically perceived world":If these images canbe said to refer to anything, it is to millions of bits of electronic mathematical data.Increasingly, visuality will be situated on a cybernetic and eletrcomagnetic terrain where abstract visual andlingutistic elements coincide and are consumed, circulated and exchanged globally. 23Am Ende zeigt <strong>das</strong> Human-Genome-Projekt an, daß <strong>das</strong> vorgeblichmultimediale Archiv des Lebens im Begriff ist, durch einstrikt numerisches Archiv ersetzt zu werden, in dem Leben eherkalkuliert denn erzählt wird.Theater, theoría, AnatomieZurück zum anatomischen Theater als medialem Dispositiv im<strong>Sinn</strong>e der französischen Apparatus-Theorie vonMedienformationen 24 , <strong>das</strong> auf den <strong>Blick</strong> ausgerichtet ist, odervielmehr: ihn architektonisch ausrichtet, in seinerKonzentration auf einen Schauplatz im Zentrum. Das alteUniversitätsgebäude in Uppsala (Schweden), <strong>das</strong> Gustavianum,enthielt nicht nur eine Buchdruckerei, sondern aufnachträgliche Initiative von Olof Rudbeck 1660 auch einanatomisches Theater für Unterrichtszwecke. Tageslicht fielvon oben hinein; die Architektur aber erinnert an einenTempel: „Gottes Größe sollte bewiesen werden anhand derKörper, die er geschaffen hatte.“ 25 Hier versichert sich derkalte anatomische <strong>Blick</strong>, noch unsicher seiner Radikalität, desreligiösen Diskurses, der ihn aufheizt.<strong>Der</strong> medizinische <strong>Blick</strong> aber schaltet auf Akustik um, wenn derAnblick unerträglich wird. <strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> ist zunächst eineDistanzierungstechnik: sich nicht von dem, was man sieht,affizieren lassen. Diese Distanz bricht im Moment des Ekelszusammen. So berichtet ein Arzt, daß er im Jahr 1816 wegen derFettleibigkeit einer Patientin keinen Durchblick auf ihrenKörper hatte. Da erinnert er sich an ein bekanntes akustischesPhänomen: „Wenn man <strong>das</strong> Ohr an <strong>das</strong> Ende eines Stabes anlegt,hört man ganz genau einen Nadelstich am anderen Ende“ 26 - <strong>das</strong>Prinzip des Stethoskops. Foucault übersetzt dieses Befund:„Als materialisierte Distanz überträgt <strong>das</strong> Stethoskop tiefeund unsichtbare Ereignisse auf einer halb haptischen, halbakustische Achse. Die instrumentelle Vermittlung „hält die von23Jonathan Crary, Techniques of the Oberserver, MIT­Press, 1990. Dazu Keller 200024Jean-Louis Baudry, Das Dispositiv, in: Lorenz Engell u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichenTexte von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart (DVA) 1999, xxx25Freie Übersetzung aus dem Schwedischen nach: http://info.uu.se/fakta.nsf/sidor/gustavianum.id74.html26R. Laennec, Traité de l´auscultation médiate, Bd. I, 7f


der Moral gebotene Distanz aufrecht“- also Mediation, denn <strong>das</strong>Wesen der Medien sind ihre Kanäle, die Informationsübertragungüber eine räumliche oder zeitliche Entfernung hinweg.Laënnec erfindet in Paris 1816 eine Vorform des Stethoskops:die akustische Leitung; sie „verdoppelt den ärztlichen <strong>Blick</strong>“(Foucault). „Das Verbot der körperlichen Berührung ermöglichtein virtuelles Bild von dem, was sich tief unter derKörperoberfläche abspielt“ . Das gilt fürMedizin wie für Psychoanalyse, für Körper- wie fürSeelenkunde: der Abstieg ins „optisch Unbewußte“, wie WalterBenjamin es nennt, durch bildgebende Medien:Medienarchäologie, buchstäblich. Erst Löwenhoek schreibt 1675von den Arcanae naturae detectae.„Sehen ist strukturell etwas - Sehen, direkt und ohneVermittlung“ , mithin transitiv. DasParadox der Ent-Fernung: Plessner schreibt von Fernnähe. Während der <strong>Blick</strong> im Museum <strong>das</strong> gebotene noli metangere („Nicht berühren“) konterkariert, wird er in derChirurgie selbst operativ, invasiv. „Den Gegenpol bildet <strong>das</strong>Tasten. Inbegriff der Nähe und Distanzlosigkeit“ . Jedersolche <strong>Blick</strong> aber verletzt. 1868 führt die starre Endoskopie(Kussmauls „Tubus für Schwertschlucker“) noch zu Verletzungenbei der Untersuchung am lebenden Objekt; am Ende steht dieKamera, die Glasfaserendoskopie (Hirschowitz 1956), <strong>das</strong>Fiberscope, die elektronisch supplementierte Tele-Medizin.Nun war schon Galileis Teleskop ein Kulturchoque, indem eseine Mondoberfläche sichtbar machte, deren Krater menschlicheAugen nie hatten sehen können. Ist deren Existenz also an dieSehtechnik des Teleskops gekoppelt? Im Streit darum, ob dieMondlandung von Apollo 11 eine Inszenierung der Truman-Showwar oder tatsächlich erfolgt ist, sollen nun hochauflösendeTeleskope Aufschluß geben, mit deren Hilfe man die Spuren derMondfähren und den amerikanischen Sternenbanner erkennenkönnte. Erneut wird die theoretische Einsicht des Mondes aufGedeih und Verderb optischen Medien ausgeliefert, ihrerPräzision oder Verzerrung. Nie Gesehenes wird so sichtbar: alsFiktion. Was hier makroskopisch vonstatten geht, praktiziertdie Urkundenwissenschaft mit mikroskopischerPalimpsestphotographie.Technische Medien selbst sind virtuelle Archäologen, wenn siein Medizin, kulturwissenschaftlicher Forschung und Militär alsimaging science Datenmengen als Bilder zu sehen geben, die nurals Einbildung des Rechners (im <strong>Sinn</strong>e der Definition VilémFlussers 27 ) existieren. <strong>Der</strong> Rechner ist also zur Entzifferungvon Bildern in der Lage, die Menschen nie sehen, gerade weil27Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, xxx; "wiedergelesen" von W. E. in: Bildwelten desWissens Bd. xxx, xxx


er den un-menschlichen <strong>Blick</strong> hat. Hier wird Medientheorie vomMedium selbst geleistet:Virilio konstatiert, daß nicht nur <strong>das</strong> Sehen, sondern auch bereits <strong>das</strong> Erkennen automatisiert wurde. "Jetztblicken die Dinge mich an", zitiert er den Maler Paul Klee. "Visionik" nennt Virlio ein solche "Automatisierungder Wahrnehmung", bei der der Computer nicht mehr für den Menschen, sondern für die Maschine die Fähigkeitübernommen hat, <strong>das</strong> Gesehene zu analysieren und zu verarbeiten 28- der medienarchäologische <strong>Blick</strong> (des Mediums), einetechnologische Armierung des <strong>Blick</strong>s jenseits von MarshallMcLuhans anthropozentristischer Prothesen-Medientheorie. Zwarliefert auch digitale Endoskopie, mit Chip versehen, keinegrundsätzlich anderen Bilder als die analogen Sichtverfahren -nämlich plastische Einblicke, eine photorealistischeOrientierung im Raum des Körpers. Die digitale Differenz liegtin ihren Optionen. Denn einmal errechnet, sind Bildergrundsätzlich rechenbar. Damit öffnet sich die „kybernetischeTür“ (Lacan) der Rückkoppelbarkeit, denn andere Formen derDatenpräsentation werden denkbar, jenseits der ikonischmimetischen:diagrammatische, geometrische, oder garZahlenketten selbst, aus deren Kombinatorik Differenzen (alsoKörper, Volumen) gesehen werden können. Zudem eröffent diedigitale Endoskopie die Möglichkeit des Bildabgleichs, einaugmentiertes Sehen. Automatischer Abgleich des aktualenDatenbild mit einer permutativen Datenbank etwa signalisierteine vom ärztlichen <strong>Blick</strong> übersehene Form. Die letzte,kritische Bildentscheidung liegt allerdings beim ärztlichen<strong>Blick</strong>. Sogenannte „intelligente“ Waffen mit eingebautemKamera-Bildabgleich aber erfordern eine Bildkritik im eigenenMedium. Harun Farockis zeigt es in seinem Essayfilm Auge /Maschine. Auf dem Seeberg in Klein-Machnow bei Berlin wurde inder Reichspostversuchsanstalt 1942 die "Tonne" getestet: einMonitor, von dem aus in einem Begleitflugzeug die Fernseh-Bombe eines ballistischen Flugkörpers gesteuert werden konnte.„Mit dieser Ausrüstung versehen umfaßt der <strong>Blick</strong> mehr,als <strong>das</strong> Wort `<strong>Blick</strong>´ vermuten läßt. Es vereinigt verschiedene<strong>Sinn</strong>esfelder zu einer einzigen Struktur“ .Die Ästhetik des ärztlichen <strong>Blick</strong>s stellt sich vor demHintergrund der Frage, ob die kulturtechnische Privilegierungdes <strong>Blick</strong>s im Rahmen einer Ästhesiologie der <strong>Sinn</strong>e, alsoanthropologisch zu fassen ist (Helmuth Plessner), odervielmehr eine Funktion der Emergenz optischer Medien ist.Womit auch der Unterschied zwischen Medien- und Nicht-Medienzeitalter deutlich wird: Wenn in der Antike dieSymptomatologie des Arztes, sein Schlußfolgern (eklogistesteinauf der Grundlage von empeiria) neben den anderen <strong>Sinn</strong>en (alsoetwa <strong>das</strong> Ertasten des Pulses der Patienten) den Sehsinnprivilegiert, so verdankt sich dies keinem optischen Gerät,28Wolfgang Kramer, Technokratie als Entmaterialisierung der Welt. Zur Aktualität der Philosophien von GüntherAnders und Jean Baudrillard, Münster u. a. (Waxmann) 1998, 80


sondern der spezifisch griechischen Assoziation von Wissen undSehen. 29<strong>Der</strong> spätantike Kirchenvater Augustin lehnt die Vivisektionebenso wie die Leichensektion ab und verlagerte die Erkenntnisauf die Ebene der Symptome. Das Mittelalter zeichnet den Mannnoch mit 10, die Frau mit 11 Rippen: Die Bibel als Autoritätsteht über der Autopsie, gerahmt von Text. Erst in derRenaissance wird die Natur selbst (Körper, Physis) zurBerufungsinstanz des Wissens (Versalius, Leonardo). Um jedochzu erklären, weshalb in der Neuzeit der ärztliche <strong>Blick</strong>erkaltet und zunehmend positivistisch wird, lohnt in der Tatder medienarchäologische Einsatz: die Frage, inwieweit hiernicht optische Medien mit im Spiel waren - bis zu dem Punkt,wo solche optischen Medien nicht mehr schlicht Prothesen,Ergänzungen, Bewaffnungen des Auges sind (Mikro- und Teleksop,Linsen und Brillen), sondern den menschlichen <strong>Blick</strong> selbstersetzen (die Filmprojektion). Antike Ärzte verfügten überkeine anderen Instrumente als ihre eigenen <strong>Sinn</strong>e; zwischenMultisensualität und technischen Medien liegt die ganzeDifferenz einer Welt.Die Erkaltung des <strong>Blick</strong>s ist dabei nicht auf die Emergenzoptischer Medien reduzierbar, sondern ebenso eine Funktion vonSchrift und Zahl. <strong>Der</strong> klinische <strong>Blick</strong>, der mit demwissenschaftlichen <strong>Blick</strong> selbst koinzidiert, indem erAnomalien entdeckt, sie mit vertrauten Daten abgleicht, unddies im Name der Institution des Klinik vollzieht, begnügtsich nicht mehr mit der reinen Feststellung, der sinnfälligenRegistrierung des unmittelbar Sichtbaren, sondern er wird „einkalkulierender <strong>Blick</strong>“ . Noch aberkalkuliert hier der Mensch; in bildgebenden Verfahren werdenBilder vom Rechner aus Daten kalkuliert.Galileo Galilei will zum Zweck der Entzifferung des Buches derNatur schon ihre mathematischen Zeichen erkennen. Ganz in derTradition der „kalten Philologie“, im <strong>Sinn</strong>e derformalistischen, statistischen Lektüren von Literatur (A. A.Markov), werden heute die Texte des Lebens im genetischen Codeentziffert - als Kodierung jenseits von vokalalphabetischenTexten, vielmehr von Texten, die in „Alphabeten“ geschriebensind, welche nicht mehr an den menschlichen Körper, nämlichals Symbolisierung seiner Stimme, gebunden sind. An die Stelledes klassischen medizinischen <strong>Blick</strong>s, dessen GenealogieFoucault beschrieben hat, rückt damit die Notwendigkeit einerMedienarchäologie dieser unsinnlichen, datengestütztenWahrnehmung.Gottfried Wilhelm Leibniz´ <strong>Blick</strong> auf die Welt schwanktezwischen ihrem mathematischen und ihrem opto-ikonischenBegriff als augmented reality. Leibniz ließ sich begeisternvon Brillen mit facettierten Gläsern, welche den <strong>Blick</strong>multipizieren; von dieser konkreten Sehapparatur her versteht29Siehe Hippokrates, De Arte, 12.1f, über die Funktion der Augen


sich seine Erkenntnismetapher von den multiplen Perspektivenauf die eine Stadt. <strong>Der</strong> von ihm adaptierte Begriff destheatrum naturae impliziert erneut <strong>das</strong> theorein als diemediale Operation dieser Einsicht, meint allerdings zunächsteinmal sehr konkret <strong>das</strong> Sichtbare:Zum theatro naturae gehören ganze Grotten, darin allerhand Sorten der Mineralien und Muschelwerke zu sehen,Garten, darin ungemeine Sorten von Bäumen, Stauden, Wurzeln, Kräuter, Blumen und Früchte zu finden undendliche Thiergarten und vivaria, darin lebende vierfüssige Thiere, Vögel und Fische zu sehen, samt einemtheatro Anatomico, darin der Thiere Sceleta zu zeigen. 30In der Vorrede seines Foliobandes Theatrum Naturae von 1615begründet der Nürnberger Arzt und Humanist Michael Rötenbeckden Titel seines Werks ebenfalls als Theorie-Theater:weil darin, wie in einem offenen Schauplatz, mancherlei Kreaturen Gottes jederman gleichsam lebendig vorAugen gestellt werden, und die Betrachter und Liebhaber der Kunst sollten durch dieses Theatro Naturaeangereizt werden, Gott aus seinen Wunderwercken zu erkennen und ihn auch weiterhin umso mehr zu loben undzu preisen. Physiologische aisthesis und Ästhetik des ScannersHatte Chladenius in der Aufklärungshistoriographie noch <strong>das</strong>Theorem vom standortgebundenen „Sehepunkt“ entwickelt,differenziert Wundts Physiologie in Leipzig zwischen einemoptischen <strong>Blick</strong>feld der Wahrnehmung und einem fokussierten<strong>Blick</strong>punkt - die Perspektive Albertis in Bewegung. So wird der<strong>Blick</strong> zeitkritisch, und dem Raum-Paradigma enthoben,apperzeptiv:Students in Wundt´s laboratory worked for several decades quantifying the differences in the time it took asubject to perceive the entrance of a stimulus into the general vague field of awareness and the time it took forthe same stimulus to become an object of active attention. Charles Féré, Assistent Charcots in der NervenklinikSalpêtrière, nutzte zur graphischen Messung vonNervenreaktionen zwischen Aufmerksamkeit und Muskelkontraktion(Reaktionsgeschwindigkeit) den sogenannten Dynamographen, derbis ins 18. Jh. zurückreicht - picturing time (Marta Braun),also eine mediale Sichtbarmachung (buchstäblichTheoretisierung) energetischer Prozesse. 31 An die Stelle derHegelschen „Arbeit des Begriffs“ 32 treten auch bei FriedrichNietzsche lieber „dynamische Quanta in einemSpannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten“


13: 259>. Damit findet eine Mathematisierung der Schrift statt- der kalte <strong>Blick</strong>: „Mathematik als <strong>das</strong> `Messen´ jedwederTextproduktionen `vermöge des Dynamometers´“ . Das Dynamometerverweist auf den medienepistemischen <strong>Blick</strong> in der EpocheNietzsches. „Epistemische Dinge“ (frei nach Hans-JörgRheinberger) sind variable Problembündel, die durch einenbestimmten Forschungsgegenstand erzeugt werden, also erst imLabor zur Sichtbarkeit kommen. 33Nietzsche schaut mit kaltem medienarchäologischem <strong>Blick</strong> aufÄsthetik, wenn er sich eines Meßmediums bedient, desDynamometers. Denn hier gilt es, nicht Buchstaben literarisch,d. h. als Schrift kontinuierlich lesen, sondern Zahlenwertediskontinuierlich abzulesen. Mit einem Dynamometer lassen sichästhetische Empfindungen objektivieren: Wo die Kraft nachläßt,wirkt Häßliches, wo sie ansteigt, wirkt Schönes. Von daherNietzsches Annahme, daß „eine wissenschaftliche Ordnung derWerthe einfach auf eine Zahl-und Maßscala der Kraft aufzubauenwäre" . Nietzsches Wertschätzungbezieht sich auf Quantitäten, nicht auf Qualitäten: „Alles,wofür nur <strong>das</strong> Wort ›Erkenntniß‹ <strong>Sinn</strong> hat, bezieht sich auf <strong>das</strong>Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf dieQuantität“ . 341808 aber definiert Friedrich Ast „<strong>das</strong> wahre Ziel desPhilologen“. Hier prallt die systemtheoretische Medium/Form-Differenz (Niklas Luhmann mit Fritz Heider) und dermedienarchäologische Materialismus von Kulturtechnik-Analysenauf die klassische Hermeneutik (und Schriftkritik Platos unddes Johannes-Evangeliums):Er soll nicht bloßer Sprachmeister oder Antiquar seyn; sondern auch Philosoph und Aesthetiker; er soll ja denihm gegebenen Buchstaben nicht bloß in seine Bestandtheile zerlegen können, sondern auch den Geisterforschen, welcher den Buchstaben bildete, um die höhere Bedeutung der Buchstaben zu ergründen; und dieForm zu würdigen wissen, in welcher der Buchstabe zur Offenbarung sich dargestellt hat. Ohne dieses höherewissenschaftliche Leben ist die Philologie entweder bloßer Formalismus oder bloßer Materialismus; jenes, alseinseitiges Sprachstudium betrachtet, dieses, als bloße antiquarische Gelehrsamkeit. / Die Form, vom Inhalt oderStoffe getrennt, ist ein leeres, gehalt­ und bedeutungsloses Wesen, der Stoff aber ohne Form ein regelloses,chaotisches Unding. 35Auf diese hermeneutische Ästhetik des Lesens antwortet derstreng analytische <strong>Blick</strong>: scanning. Aisthetische Nervenimpulsesind für Hermann Helmholtz „Zeichen“ ihrer Verursachung; siegeben Information über ihre externe Stimulation, aber ebennicht als Bild. „For one requires from an image some sort ofsimilarity with the object imaged . A sign, however, need33Hans-Jörg Rheinberger, Experiment - Differenz - Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992,69-7234Christof Windgätter, „...mit mathematischer Schärfe“. Zu Funktion und Geschichte des Dynamometers,Typoskript, pdf­Version, 2035Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik, Kritik, Landshut 1808, iv f.


not have any type of similarity with what it is a sign for.“ 36<strong>Der</strong> medienarchäologische <strong>Blick</strong> reflektiert seine eigenenBrechungen. "Daß die Sehmaschinen, Kameraaugen und ihreÜberführung in entäugte Signalanlagen, Superrealitäthervorbringen, <strong>das</strong> ist der Schein, der nicht einmal mehrtrügt." 37 Steht der Bildscanner auf Seiten der tierischenWahrnehmung?Je nach den Anforderungen, welche eine Umwelt an den Organismus stellt, wird er sich mit Signalen mehr oderweniger ausgeprägter Struktur begnügen können . Offenbar erschöpft sich die Bedeutung der <strong>Sinn</strong>e für denMenschen aber nicht in ihrer Information. Hier kommt die Differenz von senso-motorischer (transitiver)und ikonologischer Verarbeitung von Bildsignalen ins Spiel;dazwischen schwebt, oszillierend, <strong>das</strong> Schema. Erst aus derBeobachterperspektive des Menschen macht es <strong>Sinn</strong>, den Signaldurchden signifikanten Zeichenbegriff zu ersetzen:Auf der Ebene der Maschine waren wir noch im Bereich der Kybernetik, die sich für <strong>das</strong> Signal interessiert.Durch die Einführung des Menschen sind wir zur Welt des <strong>Sinn</strong>es übergegangen. Es hat sich einSignifikationsprozeß eröffent, weil <strong>das</strong> Signal nicht mehr eine Reihe von diskreten Einheiten ist, die in bitInformationen berechenbar sind, sondern eine signifikante Form, die der menschliche Empfänger mit Bedeutungfüllen muß. 38"Muß"? Dem gegenüber steht der medienarchäologische <strong>Blick</strong>, derdie Wahrnehmung des Scanners selbst zum Archäologen einesBild-Wissens macht, <strong>das</strong> menschlichen, (be)deutungsfixiertenAugen entgeht und gerade die Leere, die Verständnislosigkeit,die "Blödigkeit der Signifikanten" (Lacans alphabêtise) zurChance erklärt und damit auf andere, denk- und sichtbareZusammenhänge, etwa die strikt formalen Ähnlichkeiten zwischenden Bildern, lenkt - die Realität elektronischerÜberwachungssysteme im Kriegs-, Wirtschafts- und Polizeiwesen,in denen nicht mehr Menschen mit Maschinen, sondern Maschinenuntereinander kommunizieren. <strong>Der</strong> informationstheoretischgesättigte Kommunikationsbegriff macht die kybernetischinformierte, also schaltbare Semiotik (Bense, Eco, aber auchSaussures "circuit de la parole") zu ihrem Spezialfall. 39<strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> zweiter Ordnung: Kybernetik36Helmholtz, Science and Culture. Popular and Philosophical Essays, Chicago 1995, 347; dazu Hans GüntherDosch, The Concept of Sign and Symbol in the Work of Hermann Helmholtuz and Heinrich Hertz, in: Etudes delettres 1-2 (1997), 47-61, und Laura Otis, The Metaphorical Circuit. Organic and Technological Communicationin the Ninetenth Century, in: Journal of the History of Ideas, January 200237Erwin Reiss / Siegfried Zielinski, An die Passagiere, in: dies. (Hg.), Grenzüberschreitungen. Eine Reise durchdie globale Filmlandschaft, Berlin (Spiess) 1992, 7-24 (14 u. 20)38Umberto Eco, Vom Signal zum <strong>Sinn</strong> (1968), in: Engell u. a. (Hg.) 1999: 192-195 (192)39Zum uneindeutigen Verhältnis von Signal- und Zeichenbegriff siehe Jürgen Trabant, Zeichen des Menschen.Elemente der Semiotik, Frankfurt/M. (Fischer) 1989, bes. Kapitel 6: Informationstheorie und Semiotik:"Kommunikationswissenschaft", 69-74


Wahrgenommen wird seit zwei Weltkriegen „ein mechanisiertesfeindliches Gegenüber, <strong>das</strong> in den laborgestütztenWissenschaftskriegen des Massachusetts Institute of Technology erzeugt wurde 40 - <strong>das</strong> kybernetisch erfaßte Gegenüber alsServo-Mechanismus, der geschlossene Kreislauf der beidenGegenüber, ob Mensch-Maschine oder Maschine-Maschine. <strong>Der</strong>kalte <strong>Blick</strong> der Kybernetik - und die Kybernetisierung des<strong>Blick</strong>s (militärische Aufklärung) selbst. „The theory of thecontrol mechanism involves communication to an effectormachine and often from it, although the machine may not bewachted by any human agent.“ 411946 ging es darum, diesen militärisch-aufklärenden <strong>Blick</strong>unter anderen Namen in Friedenszeiten weiter praktizieren zudürfen. In Mexiko sucht Wiener gemeinsam mit Dr. Rosenblueth,ein nervliches Problem direkt mit dem Begriff der Rückkopplung zu behandeln und zu sehen, was wirexperimentell dabei tun können. Wir wählten die Katze zu unserem Versuchttier, den quadriceps extensorfemoris als Versuchsmuskel. Wir schnitten die Haltung des Muskels durch, befesetigen ihn an einem hebel mitbekannter Zugspannung undzeichneten seine Kontraktionen isometrisch oder isotonisch auf. Wir benutzten aucheinen Oszillographen, um die gleichzeitigen elektrischen Veränderungen im Muskel selbst aufzuzeichen - womit die sogenannten selbstschreibenden Maschinen seit dem19. Jahrhundert den kalten <strong>Blick</strong> selbst parktizieren, jenseitsvon rein visueller Optik, vielmehr graphisch oder besserdiagrammatisch, also als mathematische Visualistik.<strong>Der</strong> Oszillograph zeichnet auf; <strong>das</strong> Oszilloskop gibt zu sehen;im aktustischen Kompositionsprogramm SuperCollider etwa istdiese Funktion auf den Befehl „scope“ kondensiert. Hier wirdder kalte <strong>Blick</strong> eine Funktion elektronischer Signale. Was hierhörbare Mathematik ist, <strong>das</strong> „kalte Ohr“ der Kybernetik,steht im genealogischen Verbund mit der experimentellen PraxisWieners:Wir arbeiteten hauptsächlich mit Katzen, die zuerst durch Äther betäubt wurden und später durch eineTransektion des Rückenmarks in Brusthöhe gelähmt wurden. In vielen Fällen wurde Strychnin benutzt, um dieReflexbewegungen zu vergrößern. Wir beobachteten dieses Kontraktionsmodell, indem wir derphysiologischen Kondition der Katze, der Spannung des Muskels, die Frequenz der Schwingung, dem Mittelwertder Schwingung und seiner / <strong>Der</strong> kybernetische <strong>Blick</strong> der Beobachtung sieht die Katze selbstals Apparat wie Mary Shelleys Frankenstein <strong>das</strong> von ihmzusammenmontierte Monster. Vielleicht erschreckt uns heute„die Kühle , mit der Wiener über die dafür notwendigerachteten Tierversuche referiert“. 42 Schon derTitel von Wieners Buch schreibt die Gleichung40Peter Galison, Die Ontologie des Feindes. Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik, in: Hans-JörgRheinberger u. a. (Hg.), Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin (Akademie) 1997, 281-324(283)41Norbert Wiener, Time, Communication, and the Nervous System, in: Annals of the New York Academy ofSciences, Bd. 50, 1948/50, 197-219 (202)


unmißverständlich: Cybernetics or control and communication inthe animal and the machine (1948). Dies manifestiert sich inWieners Begriff der von Menschen erbauten lernenden Maschinennamens Automaten. Denn er sei umgekehrt „auch auf die lebendenMaschinen anwendbar, die wir Tiere nennen, so daß wir dieMöglichkeit haben, die biologische Kybernetik in einem neuenLicht zu sehen“ 43 . So sah es bereits La Mettrie in L´Homme-Machine und Vaucanson mit seiner mechanischen, verdauendenEnte.Tatsächlich aber ist diese Kühle auch von Franz Kafkavertraut, von seiner in der Prosa eines Tatsachenberichtsabgefaßten Erzählung In der Strafkolonie von 1914.Protagonistin ist darin eine Maschine, genauer: „DemVerurteilten wird <strong>das</strong> Gebot, <strong>das</strong> er übertreten hat, mit derEgge auf den Leib geschrieben.“ 44 Kafkas Erzählung läßt denausführenden Offizier den Apparat (schreibt Kafka mehrmals)erklären, gegenüber einem Beobachter, der metonymisch für denkalten <strong>Blick</strong> selbst steht: ein reisender Forscher, der sichnur für den Apparat interessiert. <strong>Der</strong> Offizier erklärt: „WieSie sehen, entspricht die Egge der Form des Menschen; hier istdie Egge für den Oberkörper, hier sind die Eggen für dieBeine“ - eine besondere Form von Cyborg, die den Menschenselbst als Rezeptor für Inschriften beschreibt.Die Erzählung beginnt mit den Worten: „Es ist ein eigentümlicher Apparat.“ man ist an Homer erinnert, der inden ersten Sätzen der Iliade und der Odyssee gleich sagt, wovon <strong>das</strong> Epos berichten wird. Daß dabei die Museund die Göttin angerufen werden, steht auf einem anderen Blatt. <strong>Der</strong> Offizier sieht nur den Apparat. 45Weiter der Offizier: „Für den Kopf ist nur dieser kleineStichel bestimmt“ - eine Erinnerung an den PragerGolem des Rabbi Löw, Programmierung als Inschrift.„Um es nun jedem zu ermöglichen, die Ausührung des Urteils zu überprüfen, wurde die Egge aus Glas gemacht.Es hat einige technische Schwierigkeiten verursacht, die Nadeln darin zu befestigen, es ist aber nach vielenVersuchen gelungen. Und nun kann jeder durch <strong>das</strong> Glas sehen, wie sich die Inschrift im Körper vollzieht“- monitoring, und im Unterschied zur Kinoleinwand keineProjektionsfläche mehr, sondern der transparente screen. AmEnde aber legt sich der Offizier selbst in die Maschine undwird von ihr getötet. <strong>Der</strong> Forscher sieht <strong>das</strong> Haupt der Leiche:„die Augen waren offen, hatten den Ausdruck des Lebens, der<strong>Blick</strong> war ruhig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitzedes großen eisernen Stachels“ .42Norbert Wiener, zitiert im Vorwort Alexander von Cubes zur N>euauflage von: ders., Kybernetik. Regelungund Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, *1948 (MIT), Düsseldorf / Wien ( New York(Econ) 1992, 7; siehe Wiener ebd., 4943Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine,*1948 (MIT), Düsseldorf / Wien ( New York (Econ) 1992, 20, unter Bezug auf: D. Stanley-Jones / K. Stanley-Jones, Kybernectics of Natural Systems. A Study in Patterns of Control, London (Pergamon Press) 196044Franz Kafka, In der Strafkolonie, in: ders., Sämtliche Erzählungen, hg. v. Paul Raabe, Frankfurt/M. 1977, 10345xxx, in: Distanz und Nähe. Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart, hg v. Petra Jaeger / RudolfLütke, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1983, 125


<strong>Der</strong> Schreibstichel, hier dem Skalpell des Anatomen ebenso nahewie dem Schreibgerät des Schriftstellers (stilus), steht fürdie Verschränkung von Distanz(ierung) und Nähe zugleich. DemVerurteilten wird <strong>das</strong> Urteil nicht verkündet, sondern ererfährt es in dem Moment, wo es ihm auf den Leib geschriebenwird: „Achte Deinen Vorgesetzten“. Augen und Ohren, Lesen undHören werden ausgeschaltet zugunsten einer Immedialität derGedächtnisschrift gleich Engrammen (Richard Semon / AbyWarburg); kein sensuelles Dazwischen. So wie Drakon in Athenseine Gesetze noch mit Blut schrieb: buchstäblich drakonischeStrafen. Dann Solon: verlegt Gesetz auf die Ebene des neuenMediums Alphabet. In Sparta Lykurg: gar keine schriftlicheNiederlegung.Michel Foucault beschrieb in Überwachen und Strafen inAnlehnung an Ernst Kantorowicz den „Körper des Verurteilten“.Zunächst operieren vom Mittelalter bis zur Neuzeit Folter undöffentliche Zurschaustellung derselben im Raum derGleichzeitigkeit; diese Epoche wird abgelöst durch dieUnsichtbarkeit der modernen Machtausübung, jenseits des kalten<strong>Blick</strong>s, des panoptischen Dispositivs, des Regimes derSichtbarkeit von Macht. Diese Verschiebung generiert eine neueBeobachtungsebene. Heinz von Foerster ersetzt im BiologicalComputer Laboratory der University of Illinois (seit 1958) dieKybernetik erster Ordnung, für die der Beobachter eine externeund kontrollierende Figur ist, durch den Beobachter zweiterOrdnung, der zum Teil des Systems und damit mitverantwortlichfür dessen Reproduktion wird. "Nichts entläßt uns aus derVerantwortung für die Einschränkungen, die wir setzen, um demRauschen der Welt einen <strong>Sinn</strong> abzugewinnen." 46Anästhetik der Aufklärung: Monitor(ing)Foucault schreibt im französischen Original von Naissance duClinique (Paris 1963) den Epochenbegriff dessen, was Franzosenansonsten als „âge des illuminés“ bezeichnen, ausdrücklich aufdeutsch: „Aufklärung“. Harun Farocki weist im Text zu seinemFilm Bilder der Welt und Inschrift des Krieges auf denDoppelsinn des Begriffs „Aufklärung“ in der deutschen Sprachehin. Mit dem kalten <strong>Blick</strong> der Aufklärung im Bund steht etwaLavaters Physiognomik: die Vermessung des menschlichenCharakters, bis hin zu Cesare Lombroso und Bertillonsphotographische Erfassung des Typus „Verbrecher“.Kritiker des Computerbildes bemängeln vor allem die fehlende<strong>Sinn</strong>lichkeit der Produkte, führen die kalte Atmosphäre (keinAtelier) und den glatten Bildschirm an, der einem den direkten46Dirk Baecker, Die Sonnendusche macht mich berühmt , in: FrankfurterAllgemeine Zeitung Nr. 230 v. 4. Oktober 2002, 32


Bezug zum Objekt verweigert, im Gegensatz zum vielseitigen,sinnlich erfahrbaren Material (Papier, Leinwand, Holz, usw.)des Malers. Die Kälte des Monitors aber liegt gerade nicht aufseiner ästhetischen Seite. Computeroberflächen, einst Abbilderdes eckigen Kamerablicks, emanzipieren sich von der filmischenÄsthetik. De-monitoring: In ikonisierten Desktop-Oberflächenist eine Strategie am Werk, die immer mehr von denQuellprogramen wegführt und somit ein neuers Arkanwissenschafft. "Das Bild, <strong>das</strong> der Computer zeigt, ist Lüge, weil esall <strong>das</strong> verdeckt, was <strong>das</strong> Gerät tatsächlich kann." 47 <strong>Der</strong> kalte<strong>Blick</strong> ist der paranoide: nur er gibt, frei nach Lacan, zusehen, und ist damit eine Grundvoraussetzung für kritischemedienarchäologische Forschung. Technische Medien sind einReservoir von Formgebung, gerade weil ihre Elemente nur loseverknüpft vorliegen (etwa Buchstaben). Das Medium kommt hinterder Form zum Verschwinden, doch abhängig von derAufmerksamkeit ist auch schon ein einzelner Buchstabe, zurAussage erhoben, als Form betrachtbar. Was an einem Mediumselbstverständlich ist, wird erst sichtbar, wenn es in einemanderen Medium zur Evidenz kommt.Mechanisation takes controllautet ein Buchtitel Siegfried Giedions im unmittelbarenAnschluß an den Zweiten Weltkrieg. Noch expliziter ist derUntertitel; er setzt an die Stelle emphatischer,personengesteuerter Historie eine „anonyme Geschichte“.Dieser kalte medienarchäologische <strong>Blick</strong> auf die Kultur derGegenwart war bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegenaufgekommen. <strong>Der</strong> von Karl Wittfogel geprägte Begriff desRadar-Typs steht dafür: <strong>das</strong> Subjekt, <strong>das</strong> von einemKreiselkompaß gesteuert wird. 48 Medientheorie geht dertechnischen Realität solcher Metaphern nach: <strong>Der</strong> Kreiselkompaßerlaubte die Rückkopplung, die Selbssteuerung einesgeschlossenen Regelkreises. Zum Einsatz kam sie in derRaketenversuchsreihe auf Usedom, bei der V2 im Flug selbst.„Die Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in einemoralische Idee“ (Osip Mandelstam). 49 <strong>Der</strong> Unterschied unsererEpoche zur stoischen Haltung liegt also in den technischenMedien, gekoppelt an Mathematik.Bis dahin war die buchstäblich kybernetische Steuerungskunstnicht in mathematischer Strenge gedacht worden, sondern bliebim Denkhorizont des Maschinischen. Die Theorie vonAktenkreisläufen in Behörden kam der systemtheoretischen47Andreas Platthaus (Rez.), Alle vergreifen sich an Heeresgeut, über: Friedrich Kittler, Optische Medien.Berliner Vorlesungen, Berlin (Merve) 2002, in: FAZ Nr. 281 v. 3. Dezember 281, L1748Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, xxx 1994, 235ff49Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, in: ders., Gesammelte Essays 1925-1935, 160


Kybernetik noch am Nächsten. „Die Behördeneinheit, die wir`Regierung´ nennen, ist nur der Rahmen für einen unaufhörlichsich umgestaltenden Inhalt“. 50 Max Weber aber beschreibt nochdie moderne Vergötzung staatlicher Mechanismen 51 und dieMaschinenartigkeit einer effizienten Bürokratie. 52 An diesenMechanismus des Staatsapparats sind reale Maschinenanschließbar; „<strong>das</strong> Schreiben mit der Maschine verdrängt in denBehördenkanzleien <strong>das</strong> Schreiben mit der Hand ; damitdringt in <strong>das</strong> Aktenwesen an einer entscheidenden Stelle <strong>das</strong>mechanische Prinzip ein“, <strong>das</strong> Standardisierung (Formularwesen)und den Verlust urkundlicher Einmaligkeit (Vervielfältigungvon Schriftstücken) erzwingt . DieMechanisierung dringt bis auf die Ebene der Buchstaben durch,wie die Verteidiger der typographischen „deutschen“ Antiquagegenüber der Schreibmaschine reklamieren. 53 Das Maschinaleschreibt sich auch im Verständnis vom Staatsgedächtnis weiter,in seinen Archiven: "<strong>Der</strong> Staat selbst, darf man sagen, lebt inihnen fort“ 54 , wobei die Funktion von Archiven zunächst nicht<strong>das</strong> historische, sondern <strong>das</strong> juridische Gedächtnis ist. 55 Dasgilt zumal für die Archive Preußens, worin die Vorgänge desStaates mit ihrem Aufzeichnungssystem aktenkybernetischzusammenfallen; hier gibt es kein Nacheinander von System undGedächtnis, sondern deren unmittelbaren Anschluß - eineHerausforderung an die für alle Historiographie notwendigeBeobachterdifferenz. 56 Das kalte medienarchäologische Ohr aberhört in Archiven kein Gemurmel vergangener Diskurse, sondern<strong>das</strong> Schweigen des Speichergestells.Logistik der VernichtungRaul Hilberg hat mit seinem voluminösen Werk über DieVernichtung der europäischen Juden die Maschinerie des50Wilhelm Rohr, Das Aktenwesen der Preußischen Regierungen, in: Archivalische Zeitschrift Jg. 1939, 52-63(52)51Ernst H. Kantorowicz, Christus-Fiscus, in: Synopsis Festgabe für Alfred Weber, Heidelber 1948, 223-235;Wiederabdruck in: ders., Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, hg. v.Eckhart Grünewald / Ulrich Raulff, Stuttgart (Klett-Cotta) 1998, 297-305 (302)52Dazu Alfred Kieser (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart / Berlin / Köln (Kohlhammer) 1993, 4853Peter Rück erinnert an Carl Ernst Poeschels Aufruf vom April 1933 „Gegen Mechanisierung - fürPersönlichkeit“, in: ders., Die Sprache der Schrift. Zur Geschichte des Frakturverbots von 1941, in: Homoscribens, Tübingen 1993, 231-272 (250; s. a. 252, zur Entwicklung einer klecksfreien Frakturtype für dieSchreibmaschine)54L. Bittner, Die zwischenstaatlichen Verhandlungen über <strong>das</strong> Schicksal der österreichischen Archive nach demZusammenbruch Österreichs-Ungarns, in: Archiv für Politik und Geschichte 3 (1925) 4, Teil 1, 58-9655Siehe auch Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, hg. v. Walter Seitter, Berlin(Merve) 1986. Zur rhetorischen Figur der enargeia siehe Carlo Ginzburg, Veranschaulichung und Zitat. DieWahrheit der Geschichte, in: Fernand Braudel u. a., <strong>Der</strong> Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf desGeschichtsschreibers, Berlin (Wagenbach) 1990, 85-10256In diesem <strong>Sinn</strong>e paraphrasiert Hans-Joachim Neubauer den Beitrag der Historikerin Irina Scherbakowa(Moskau) über den archivischen Zugang zur Stalin-Epoche (Tagung Die Enden von Geschichten und dieGeschichte des Endens, Society for Intellectual History, Berlin Juni 1998), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v.24. Juni 1998, N5


Genozids vor allem aus der Perspektive des Archivsgeschrieben: <strong>das</strong> Archiv blickt zurück. So wird die Logistikder Vernichtung als Routine transparent. Dies zu dekodieren,wählte Hilberg eine „Methode, die der Struktur seinesGegenstandes angemessen ist“ und stilbildend für Holocaust-Forschung geworden ist. Ist der Kalte <strong>Blick</strong> im <strong>Sinn</strong>e TheodorW. Adornos Mimesis an den Gegenstand?Hilberg beschreibt buchstäblich <strong>das</strong> Programm des Genozids alsVerwaltungsakt: „Die Idee einer Problemlösung zieht sich wieein roter Faden durch die Akten der Bürokratie. Die Judenbehandelt man schon grundsätzlich als ein `Problem´, und diegegen sie ergriffenen Maßnahmen waren dementsprechend`Lösungen´.“ 57 Ein Algorithmus? Wir grenzen an die Ästhetik derProgrammierung.Ein direkter Weg führt vom Pathos der Sachlichkeit (so einBuchtitel von Karin Hirdina, 1981) - wie von Helmut Lethen undKarl-Heinz Bohrer anhand der Literatur von Figuren wie ErnstJünger beschrieben - zum kalten <strong>Blick</strong> der menschenverachtendenAdministration im selbsternannten Dritten Reich einerseits,aber eben auch zum techno-affizierten <strong>Blick</strong> der Medienandererseits.Dem Oxymoron des Hirdina-Titels (eine Art Poetologie deskalten <strong>Blick</strong>s) folgend aber ist der kalte <strong>Blick</strong> erst kalt inOpposition einer demonstrativen, also aufgeheizten Abgrenzung.„Kalt“ ist also kalt nur zum Schein; tatsächlich wird damiteine Funktion strategischer Differenz zur Ästhetik derImagination, zur Poesie, bezeichnet.Krieg der <strong>Blick</strong>e, <strong>das</strong> Sublime der BilderHarun Farocki zeigt in seinem Essayfilm Bilder der Welt undInschrift des Krieges die nicht mehr schlicht kulturelle,sondern technische Verstrickung von <strong>Blick</strong> und Krieg. Und diesschon in der Kadrierung, der Anordnung von Bildern zueinander.Kritik am Repräsentationsmodell der Bilder resultiert imZweifel an der Wahrheit von Bildern, auch wenn siephotographische "Emanationen des Referenten" sind (so RolandBarthes in Die helle Kammer). <strong>Der</strong> Mechanik der Bilder muß eineTheorie-Mechanik entsprechen.Wie lesbar sind heute noch technische Bilder? Seit der Epocheder Kinematographie täuschen Bilder uns über ihre eigeneTechnizität hinweg, anders als mittelalterliche Fresken oderTeppich von Bayeux. Die Antwort darauf ist ein weiterer57Raul Hilberg, Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Frankfurt/M. (Fischer) 2002.Zitiert hier nach der Rezension von Klaus-Dietmar Henke, Herrenmenschenwüten, in: FAZ Nr. 233 v. 8. Oktober2002, L 46


Essayfilm von Farocki unter dem Titel Auge / Maschine (D2000), der den cut schon im Titel sagt.Selbststeuernde Marschflugkörper hängen vom <strong>Blick</strong> der sieleitenden Kamera ab - die metonymische Übertragung von Menschauf Maschine auf allen Ebenen, auch als Differenz vonmenschlicher Bilderinnerung und technischem Bildgedächtnis ausDatenbanken. Eine spätere Version von Auge / Maschine (D 2002)zeigt Originalaufnahmen aus der ehemaligenHeeresversuchsanstalt Peenemünde, wo ballistische Waffen alsRaketen im Begriff des „Suchkopfs“ kulminierten. Am Ende isthier plausiblerweise gar keine Rede vom <strong>Blick</strong> mehr, denn derBegriff des „<strong>Blick</strong>s“ selbst wird metaphorisch, wenn technischeSysteme untereinander kommunizieren, indem sie optischeSignale abgleichen; dazu bedarf es keines „Auges“ mehr. ImGlobal Positioning System schließlich werden überhaupt keineBilddaten mehr abgeglichen, sondern Koordinaten im nichteinmal mehr kartesischen Raum.Bilder aus dem amerikanisch-irakischen Golfkrieg zeigen nochdie „Ich-Perspektive“ der Bombe; Cruise Missiles lenken sichauf ihre Ziele mit internem Bildabgleich zur Überprüfung einerzuvor determinierten Operation, zurecht „operative Bilder“benannt (Farocki). Hier erwachen die Projektile zu quasiintelligentem,weil kybernetischem Verhalten; <strong>das</strong>bildinformierte Projektil wird selbst wird zum „Subjektil".Gerade weil hier noch mit Bildern operiert wird, eigneten sichdieselben auch zur Ausstrahlung in TV-Medien. Farocki alsFilmemacher aber muß damit an den Bildgrenzen seines eigenenMeidums scheitern: sein eigenes Aufkärungmedium (im anderen<strong>Sinn</strong>e) ist <strong>das</strong> Filmbild. So untrennbar sind kritischAufklärung und militärische reconnaissance. Solche Bilderwerben bereits für die nächst Phase industriellerBildverarbeitung.Die C3I-Technologien (command, control, communications undintelligence) schreiben den Untertitel von Norbert Wieners1948er Kybernetik fort: "Kontrolle und Nachrichtenverarbeitungin Menschen und Maschinen".Paul Virilio braucht in Krieg und Kino nur noch daraufhinzuweisen, daß für Militärs die Funktion des Auges immerschon eine Ästhetik der Waffen ist. Am Beispiel deutscherSturzkampf-Bomber im Zweiten Weltkrieg wurde diese PoesieRealität: Wenn ein solches Flugzeug hinab auf eineSoldatenmenge zustürzt, zersteubt sie „wie eine aufblühendeRose“ - oder wie ein Text, wieder in seine Buchstabenzersprengt. Kurz darauf aber bleibt den Bewohnern Londonskeine Chance, vor einer V2-Rakete zu fliehen, derenEinschlagmoment noch vor der akustischen Vorwarnzeit liegt.Die kybernetisierte Informationstheorie begann in dieserEpoche des Weltkriegs die Zeit zu berechnen, die benötigt


wird, um Unerwartetes signaltechnisch zu verarbeiten (NorbertWiener). Heute firmiert der Begriff dieses Zeitfensters derWahrnehmbarkeit bei der Verarbeitung elektronischer undmikrophysikalischer Ereignisse unter Echtzeit.Die Bilder vom 11. September 2001 zeigten die verwundetenZwillingstürme des World Trade Center in New York; tatsächlichaber sah die Welt keine Volumen, sondern Formen auf einerzweidimensionalen Fläche, die sich (aus medienarchäologischerPerspektive) als Bilder der Zerstörung in Staub und Wolken,also Lichtbildpartikel auflösten - Ground Zero der Ästhetik.Am Ende steht die Vermischung von Grauwerten der Bilder mitdem Grau der Staubwolken selbst; Signifikant und Signifikatder Katastrophe fallen - buchstäblich - zusammen, implodierenmedientechnisch. 58Karlheinz Stockhausen verglich in den damaligen Tagen <strong>das</strong>Ereignis vom 11. September mit Luzifer, dem Lichtträger.Licht-Transfer wird operativ auf TV-Bildschirmen, und Luzifermithin eine mediale Synekdoche des Begriffs der Übertragungvon Bilddaten. Seine Figur kehrt also in Form von Licht-Bildern zurück. Stockhausen deutete den terroristischenAnschlag als solchen, der auf die Matrix der westlichenBildästhetik abgestimmt war. Sein Begriff „<strong>das</strong> größteKunstwerk aller Zeiten“ aber verwechselt <strong>das</strong> Reale und <strong>das</strong>Imaginäre, <strong>das</strong> physikalische Ereignis und seine medialeÜbertragung. Die Rhetorik kennt seit der Antike dafür einenBegriff: <strong>das</strong> Erhabene, <strong>das</strong> von Psudo-Longinus über Kant undSchiller als Oszillieren zwischen Lust und Unlust gedeutetwird, bevor es Lyotard zur ästhetischen Figur der Avantardeselbst erhob. Unsichtbar bleiben dabei die Ereignisketten, diezu den Bildern führen, die wir sehen - jene medialeOperativität, die eine bestimmte Semantik der Bilder ersterzeugt.„Heiße und kalte Medien“Entspricht der kalte <strong>Blick</strong> der Differenzierung MarshallMcLuhans? Unter verkehrten Vorzeichen sind „heiße Medien“ <strong>das</strong>,was unsere Imagination erkalten macht:Ein „heißes“ Medium ist eines, <strong>das</strong> nur einen der <strong>Sinn</strong>e allein erweitert, und zwar bis etwas „detailreich“ ist.Detailreichtum ist der Zustand, viele Daten oder Einzelheiten aufzuweisen. Eine Fotografie ist optisch58Ein Gedanke von Sylvia Möbus, Humboldt-Universität zu Berlin


„detailreich“. Heiße Medien verlangen daher nur in geringem Maße persönliche Beteiligung. Für Marshall McLuhan sind "heiße" Medien mit hoher Auflösung"niedrig in der Beteiligung und kalte Medien hoch in derBeteiligung oder Ausfüllung durch die Zuhörer". 59 Ist McLuhansUnterscheidung zwischen heißen Medien (darunter <strong>das</strong>phonetische Alphabet, Papier, Buch, Bedeutung, visuell,intensiv gefüllte Städte: 29, sukzessiv, linear (25), Radio(22), Foto (22), Film (22) und kalten Medien (Sprechen (23),Mythos (25), Dialog, Stein (23f), Mosaik (333f), Hieroglyphen,zufällig angelegte Städte (29), taktil-auditiv, Elektrizität,simultan, Telefon (22), Cartoon (22), Fernsehen (29) brauchbarfür eine Analyse mittelalterlicher Multimedialität? 60 <strong>Der</strong>Buchdruck erfaßt als heißes Medium den Leser weniger als esbei der Handschrift der Fall war . "Die Aufheizung eineseinzigen <strong>Sinn</strong>es führt tendenziell zur Hypnose und dieAbkühlung aller <strong>Sinn</strong>e tendiert zur Halluzination" . Durch die phonetische Schrift, durchgesetzt durchderen repetitive Wiederholung im Buchdruck, wird derGesichtssinn zum dominierenden <strong>Sinn</strong> "aufgeheizt" .Die phonetische Schrift visualisiert <strong>das</strong> Sprechen ,gesteigert im typographischen Druck zum linearen, endlosen,homogenen Raum . <strong>Der</strong> lesende <strong>Blick</strong> wird abgekühlt:Einmal akkulturiert, „spricht“ <strong>das</strong> Alphabet nicht mehr denLeser an. „Die Zeichen der Dinge haben solche Kraft, daß sieuns die Rede der Abwesenden ohne Stimme zu Gehör bringen“,schreibt Isidor von Sevilla in seiner Etymologia unter demStichwort „Buchstabe“. 61 Womit wir beim stummen Lesen sind.Hatte die scriptura continua der Spätantike (gleich denDatenstrings in flat files auf digitalen Speichern) lautesLesen erfordert, um die Unterteilung der bedeutungstragendenElemente durch (buchstäblich) Artikulation zu vergegenwärtigen(Diskretisierung), und war damit nicht nur auf <strong>das</strong> Auge,sondern auch <strong>das</strong> Ohr verwiesen, so fördert die Interpunktionseit den mittelalterlichen Scholastikern (Notwendigkeiten derLogik und des aristotelischen Syllogismus) <strong>das</strong> Verstummen derLektüre. Im Unterschied zur Tora-als-Tradition: „Denn dieInterpretation, an welcher Stelle die Zäsuren im Kontinuum derSprache zu setzen sind, ging vom Leser und Kopisten an denAutor über“ 62 - analog zur Differenz von Konsonanten- undVokalalphabet in der Antike.59Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extension of Man, Cambridge / London [*1964] 1994, 22f; dt.:Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf / Wien (Econ) 196860Dazu Walter Seitter, Die Macht der Dinge (McLuhan), in: ders., Physik des Daseins, Wien (Sonderzahl) 1997,143-159 (bes. 152f)61Zitiert nach: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1973, 32662Jürgen Kaube, Zwischen den Worten. Die Entstehung des modernen Lesers: Oralität und Schriftbild, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16. Dezember 1998, unter Bezug auf: Paul Saenger, Space Between Words.The Origins of Silent Reading, Stanford UP 1998


Alte Holzschnitte wie moderne Comic-Strips liefern "wenigTatsachenmaterial über irgendeinen bestimmten Augenblick inder Zeit oder Gesichtspunkt im Raum von Gegenständen", bedarfalso der aktiven Mitwirkung des Betrachters / Lesers - gleichdem Fernsehbild "mit seinem sehr geringen Ausmaß vonEinzelheiten über Gegenstände und dem sich daraus ergebendenhohen Grad von aktiver Mitwirkung von seiten des Zuschauers,um alles zu ergänzen, was im mosaikartigen Maschennetz vonhellen und dunklen Punkten nur angedeutet ist." 63 Weshalb <strong>das</strong>Fernsehbild mit seiner geringen Bildpunktauflösung bislangauch weiter die Nahaufnahme gegenüber der Totale (wie imSpielfilm) gestattet .Visionen, IkonenDas religiöse Bild oszilliert zwischen Glauben und Sehen.Tatsächlich ist die religiöse Schau so etwas wie <strong>das</strong> Gegenteildes kalten medialen <strong>Blick</strong>s: „Die Bedeutung einer Ikone istdarin zu sehen, daß auch der Gott, den sie darstellt, sieanblickt“ . Ikonen verkörpern <strong>das</strong> Eigentlichedes Bildes, die heilige Gegenwart. "Die Sichtbarkeit selbstweist nur auf eine sich hinter dieser Sichtbarkeit verbergendeAbwesenheit." 64 Hier herrscht eine enge Korrespondenz zwischenmythischer Schau und Sehen; darin liegt, frei nach DavidFreedberg, The Power of Images. Und H. Beck definiert in Vonder Fragwürdigkeit der Ikone (1975) die "Schau alsAusgangspunkt und Zielpunkt für jegliche Erhebung des Geistesund Quelle jeglichen religiösen Affekts, verwandt derBedeutungsentwicklung des lateinischen Wortes contemplatio underst recht der des griechischen theória" .Damit steht die religiöse Schau tatsächlich mit demtheatralischen <strong>Blick</strong> der attischen Polis im Bund, wo jederZuschauer potentiell auch Aktant war: in einer Gemeinschaft,wo jedes Mitglied der Polis mit hoher Wahrscheinlichkeit aucheinmal ein Staatsamt übernahm, im Laufe des Lebens. <strong>Der</strong> <strong>Blick</strong>des Zuschauers (theatés) auf die Bühne im Halbrund desTheaters war kein distanzierter, sondern ein transitiver,speziell als Aufhebung der Distanz zwischen dem <strong>Blick</strong> desGläubigen und seines Gottes Dionysos .Diese <strong>Blick</strong>richtung ändert sich dann mit dem architektonischenDispositiv der Guckkastenbühne seit der Renaissance:Ausrichtung des <strong>Blick</strong>s auf einen Tiefenraum, zugleich absoluteTrennung von verdunkeltem Zuschauer- und Bühnentiefenraum(Immersion). Dieses mediale Dispositiv eskaliert in Richard63Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. "Understanding Media", Düsseldorf / Wien (Econ) 1968, 174f64Boris Groys, "Die Erzeugung der Sichtbarkeit. Innovation im Museum: Nicht <strong>das</strong> Kunstwerk ändert sich,sondern sein Kontext", Frankfurter Allgemeine Zeitung 28. 1. 95


Wagners Konstruktion für <strong>das</strong> Festspielhaus in Bayreuth, dieausdrücklich an <strong>das</strong> griechische theorein anknüpft.Richard Wagners plante sein Festspielhauses in Bayreuth 1876bewußt als theatron, also als „place for seeing“ 65 ; die Tönekamen aus dem Verborgenen des Orchestergrabens, um denoptischen Kanal zwischen Betrachter und Szene nicht zuirritieren. 66 Schivelbusch vergleicht Bayreuth mit DaguerresDiorama von 1820 . Indem Wagner <strong>das</strong> Orchesterim Graben versenkt, eröffnet er einen akusmatischen Raum. DenBegriff hat xxx Chion für die Bezeichnung der off-Sounds undStimmen im Kino aufgegriffen; tatsächlich ist es <strong>das</strong>Betriebsgeheimnis aller technischen Medien, gerade den Betriebim Geheimen, im Verborgenen zu halten, damit der reine Effekt,die referentielle Illusion von Bildern und Tönen dieAufmerksamkeit fesselt - dissimulatio artis in derrhetorischen Technik. Tatsächlich aber leitet sich der Begriffder Akusmatik von Pythagoras ab, der sich jahrelang in eineunterirdische Wohnstatt zurückzog und mit der Umwelt nur perStimme kommunizierte, d. h. seine legendären Akusmata hörenund tradieren ließ.Auch die religiöse Schau ist also kein medienfreier Raum. ImGegenteil: Die laterna magica, die Zauberlaterne als ersterBildprojektor, wurde bewußt in der Gegenreformationeingesetzt, als jesuitische Verführungstechnik der Betrachter. Wo Visionen als halluzinogeneSelbsthervorbringungen des Imagination (wie etwa die desIgnatius von Loyola) sich nicht endogen einstellten, wurdeihnen apparativ nachgeholfen - im Gegenzug zurprotestantischen Askese der sola scriptura. 67Im Kampf mit der Imagination: asketische ÜbungenFallen Visionen unter <strong>das</strong> Regime des Sichtbaren, desOptischen, oder vielmehr - im <strong>Sinn</strong>e der Neurologie und desRadikalen Konstruktivismus - unter <strong>das</strong> Regime des Generativen?Hier kommen die religiösen Erscheinungen ins Spiel, lange vorChristus. Das Drama Die Bakchen des Euripides: „Eidos undsogar idea, morphé, phaneros, phainó, emphanés, horaó, eidómit ihren Zusammensetzungen: kein anderer Tex tenthält mitvergleichbarer und obsessiver Intensität einen solchenÜberfluß des Vokabulars des Sehens und des Sichtbaren.“ Diemenschliche Seh-Erfahrung wird in der optischen Konfrontationmit Dionysos verunsichert, „weil sich dieselben begriffe65Jonathan Crary, Suspension of perception. Attention, spectacle, and modern culture, MIT 1999, 25166Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Briefe, hg. v. Julius Kapp, Bd. 12, Leipzig (Hesse & Becker) 1914,291; dazu Crary 1999: 25167Siehe David Brewster, Briefe über die natürliche Magie, Berlin 1833 (Nachdruck Weinheim 1984). Dort,passim, immer wieder Nachrichten über antike Mechanismen, Automaten, mediale Täuschungen.


zugleich auf <strong>das</strong> gewöhnliche und normale Sehen, auf dieübernatürliche, vom Gott hervorgerufene `Erscheinung“, aufseine Offenbarung in der Epiphanie und auf all dietrügerischen Formen des `Scheinens“, des Gleichens, derTäuschung und der Halluzination beziehen“. 68 Tatsächlich abersind solche Erscheinungen nicht unmittelbar und auch nichtschlicht physiologisch, sondern technisch bedingt:buchstäblicher Schauplatz solcher Erscheinungen ist dieTheaterbühne des Dionysos-Theaters in Athen. Hier ist es dieMaske des Dionysos, die solche Ambivalenz materialisiert.Für Francis Bacon war Imagination nicht schlicht eine Aufnahmeoptischer Bilder, sondern ihre Organisation, die etwa auchgespeicherte Bilder sinnvoll aus der memoria abrufen kann undso der Vernunft (reason) klassifizierte Vorlagen liefert.Vielleicht erzeugt, fruchtbarer als der Schlaf der Vernunft, <strong>das</strong> Buch die Unzahl derMonstren. Statt einen schützenden Raum zu schaffen, hat es ein finstres Gezücht freigesetzt, eine zweifelhafteSchattenregion, in der Bild und Wissen ineinander übergehen. Igantius von Loyolas Geistliche Übungen wollten "mit der Schauder Einbildung den lieblichen Ort sehen“, zielen darauf, „mitder Schau der Einbildung zu sehen und zu betrachten" -Medientheorie avant la lettre? <strong>Der</strong> barocke Katholizismussieht, mit dem in einem Jesuitenkolleg erzogenen Calderon (ElGran Teatro del Mundo, 1675 in Sevilla uraufgeführt), die Weltals Theater vor Gott, und <strong>das</strong> Leben als (mediale)Durchgangsstation. In diesem Theaterspiel herrschtMedieneinsicht; Kulturtechniken trainieren Medienbewußtseinein:Wer aber ein guter Schauspieler sein will, der wird sich nichttäuschen lassen. <strong>Der</strong> weiß, daß die prächtigste Dekoration nurein Schein ist und auch <strong>das</strong> prunkvollste Kostüm nur geliehen.Aber er wird seine Rolle trotzhdem so gut spielen, wie er nurkann. Denn er weiß im Dunkel des kosmischen Zuschauerraumesunsichtbar den Zuschauer aller Zuschauer: Gott. 69Nicht mediale, sondern religiöse theoría.<strong>Der</strong> virtuelle <strong>Blick</strong> der ArchäologieArchäologie - zumal die durch keine Schriftüberlieferunggestützte Prähistorische Archäologie - aber weiß darum aufihrem Feld, gerade weil es die Historie unterläuft. Hybridwird der medienarchäologische <strong>Blick</strong>, wenn der Rechner selbstzum optischen Cyborg wird und menschlichen Augen Bilder ausDaten, etwa virtuelle Rekonstruktionen archäologischer Orte,68Jean-Pierre Vernant, <strong>Der</strong> maskierte Dionysos in den Bakchen des Euripides, in: ders., <strong>Der</strong> maskierte Dionysos,Berlin (Wagenbach) 1996, 75-102 (84)69Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche höfischer Feste in Dokument und Deutung, Reinbeck1959, zitiert in: Georg Hensel, 97


zu sehen gibt. 70 "Real und medial wird sich immer mehrvermischen, sich wechselseitig durchdringen" 71 - sagt einMedienkünstler, der im Museum Ankara die Skulptur einerprähistorischen Muttergöttin, also rein "reales" Artefakt, im3-D-Scanner abfilmte. Das daraus entstehende Gitter-Modellläßt sich programmieren, in alle möglichen digitalen Kontexteversetzen. Im Catal Hüyük archaeology and media project(CHAMP) sollen nicht nur die wissenschaftlichenAusgrabungsdaten, sondern auch <strong>das</strong> Angebot virtuellerEnvironments ins Netz gestellt werden, um so <strong>das</strong> Navigierenoder Herumwandern im virtuellen Raum zu erlauben - und <strong>das</strong>, imUnterschied zum realen Museum oder zur realenAusgrabungssituation, auch "durch die Zeitebene" .Dieser <strong>Blick</strong> durch die Zeit ist nur im rechnenden 3D-Raummöglich, im Kontrast zur staubigen Kargheit der tatsächlichvorliegenden Ausgrabungsfläche, die sich dem eigentlichenarchäologischen <strong>Blick</strong>s darbietet.Doch es gibt Grenzen der virtuellen Rekonstruktion, Grenzendes bildgebenden Verfahrens. Etwa <strong>das</strong> Scheitern an der Frageder Borsten von Schweinen, deren Knochen gefunden wurden unddie nun als Animationen die Computersimulation bevölkernsollen. Welche Farbe hatten sie in der Prähstorie? Die Antwortläßt sich aus den archäologischen Funden nicht rekonstruieren.So daß die medienarchäologische Qualität darin läge, dieseDatenlücken ausdrücklich auszustellen, aus Visualisierung vonUnsicherheit.Die virtuelle Fiktion trifft auf technischen Grenzen, wenn siedie referentielle Illusion (die historische Imagination) aufder Ebene der Signifikanten selbst erzeugen möchte. Hier kommtder von Marshall McLuhan definierte Unterschied zwischen"kalten" (wie es einmal <strong>das</strong> s/w- Fernsehen war) und "heißen"Medien (wie Kino) ins Spiel: für eine CD oder Internet-Darstellung ist "eine hohe Auflösungsqualität noch Illusion". Erst dann tritt der von Roland Barthes anhand desMediums Historiographie (vor photographischer Ästhetik)beschriebene Realitätseffekt ein, wenn die Partizipation desBetrachters <strong>das</strong> Medium vergessen läßt.<strong>Der</strong> buchstäblich archäologische <strong>Blick</strong>George Salles plädiert für einen archäologischen <strong>Blick</strong>, "unevue innocente et gratuite. Je connais des archéologues qui70Ian Hodder (Stanford), Hybrid forms of culture and science at Catalhoyuk, Vortrag im Rahmen derRingvorlesung Archive der Vergangenheit, Humboldt­Universität zu Berlin, November 200271Martin Emele, Archäologische Simulation zwischen linearen Medien und virtuellem Museum, in: KayHoffmann (Hg.), Trau­schau­wem: Digitalisierung und dokumentarische Form, Konstanz (UVK Medien) 1997,189­198 (196)


ecourent volontiers au regard de l´amateur." 72 Gibt es soetwas wie den vom Archäologen Lambert Schneider definierten"archäologischen <strong>Blick</strong>" 73 ? In der Tat ist es ja die Tugend desarchäologischen - im Unterschied etwa zum philologischhermeneutischen- <strong>Blick</strong>s, <strong>das</strong> Entdeckte, Gesehene, Gelesenenicht sogleich immer schon in den Horizont des Vertrauten zuübersetzen, sondern ganz vorsichtig <strong>das</strong> symbolische Artefaktzunächst nur in seiner Gegebenheit, also: als datum, als Datenzu beschreiben, quasi als Monument stehenzulassen, statt es(wie in der Operation der Historiker) sogleich zum Dokumentoder Illustration einer dahinterstehenden Geschichte zumachen, die wir dem Artefakt unterstellen, um es einordnen zukönnen. <strong>Der</strong> archäologische <strong>Blick</strong> ist vor allem <strong>Blick</strong>, d. h.nicht Lektüre; er sieht nur <strong>das</strong>, was da ist, und nichtdahinterstehende Texte. Hier knüpfe ich an Peter SloterdijksAbsage an die aufklärerischen Museumsdidaktik der 70er Jahrean, als er vom Museum die Schule des Befremdens forderte: esalso als einen Ort der Distanzierung deklarierte. Geradeangesichts der Nähe der Bilder auf Leinwänden und Mattscheibengilt es - quasi als Unterbrechung, als Veto - daran zuerinnern, wie fern wir dem technischen Verständnis derselbensind.In diesem <strong>Sinn</strong>e schaut Medienarchäologie mit kaltem <strong>Blick</strong> aufformale Operationen, nicht inhaltistisch und semantisierend,sondern vielmehr „kulturlos“ 74 .<strong>Der</strong> kunstarchäologische <strong>Blick</strong> (Winckelmann, Lessing)Die Differenz zwischen naturwissenschaftlich kaltem undkunstästhetisch aufgeladenem <strong>Blick</strong> rührt damit an eine alteWunde der archäologischen Disziplin. Karl Bernhard Stark hatin seinem Handbuch der Archäologie der Kunst I. Systematik undGeschichte der Archäologie der Kunst (1880) einen Gegenentwurfzur Kunstarchäologie angedeutet:Neben den schriftlichen Ueberlieferungen aus dem Alterthum ... steht eine andere Klasse von Denkmälern, dienicht durch <strong>das</strong> Medium der Sprache und Schrift zu uns reden, sondern durch die örtliche Fixierung, ihrechemische Beschaffenheit, ihr Gewicht, ihre Farbe, ihre Form die künstlichen Veränderungen derErdoberfläche in Land und Wasser, Höhe und Tiefe, die durch den Menschen geformten oder überhauptveränderten Naturobjekte, wie die Reste der Speise, der Farbenpigmente, der Öle alle diese Objekte fallenin den Bereich der Forschung . sie verlangen weiter eine Untersuchung, in welcher derAlterthumsforscher den Chemiker, den Kenner der beschreibenden Naturwissenschaften, den specifischenGeographen und Geologen, den Techniker zu Hülfe rufen . 7572Georges Salles, Le Regard [*1939], Paris (Réunion des Musées Nationaux) 1992, 70. Siehe auch den Artikel"Neugierde", in: ÄGB73Lambert Schneider, Das Pathos der Dinge. Vom archäologischen <strong>Blick</strong> in Wissenschaft und Kunst, in:Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft: Anne und Patrick Poirier, hg. v. Bernhard Jussen,Göttingen (Wallenstein) 1999, 51­8274Siehe Claus Pias (Hg.), Kulturlose Bilder, Berlin (Kulturverlag Kadmos) 200675Ebd., 4ff, zitiert nach: Stefan Altekamp, <strong>Der</strong> Archäologe als Dilettant, in: ders. / Matthias René Hofter /Michael Krumme (Hg.), Posthumanistische klassische Archäologie. Historizität und Wissenschaftlichkeit von


Stark beklagt, „<strong>das</strong>s aber in Wirklichkeit eine überwiegendkunsthistorische Betrachtung jetzt an dieselben herangebracht wird, unddadurch ein guter Teil derselben gleichsam zwischendurchfällt“. In welchem diskursiven Feld ist diese Positionangesiedelt?Mit seiner Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 hatJohann Joachim Winckelmann bekanntlich die Archäologie alsKunstgeschichte der Antike begründet; seine Beschreibung desApoll im Belvedere machte nicht nur archäologisch, sondern vorallem literaturhistorisch Epoche. Es handelt sich hierarchäologisch korrekt um die römische Kopie eines verlorenengriechischen Bronze-Originals. Aber die Kunst Winckelmanns istes gerade, eine Vorstellung der Statue auch in ihrerAbwesenheit zu beschwören, im Medium der Literatur: „Ichunternehme die Beschreibung eines Bildes, welches über alleBegriffe menschlicher Schönheit erhaben; ein Bild, welcheskein Ausdruck, von etwas <strong>Sinn</strong>lichem entnommen, entwirft.“ 76Winckelmanns <strong>Blick</strong> ist weniger abstrakt-ästhetisch-literarischdenn konkret an Oberflächen orientiert; von daher seineInsistenz auf Autopsie. In dieser Tradition steht derarchäologische <strong>Blick</strong>, jenes close reading der Dinge, die mirin einem anonymen Beispiel als Kopie einer PorträtbeschreibungBildnis eines Mannes aus dem Winckelmann-Institut derHumboldt-Universität in die Hände fiel. Neben die Angabe derMetadaten (Fundort, Inventar-Nr. etwa, und Literaturangaben zuanderen Besprechungen des Dings) tritt die rein messendeBeschreibung (Höhe des Erhaltenen, Kinn, Scheitel), diephysikalische Beschreibung des Dings („sehr dichter weißerKalkstein“), die Einsicht in die materialen Bruchstellen(„Erhaltungszustand: Bruchfläche vom Hals zum Nacken schrägansteigend; Absplitterungen an Kinn und Ohrrändern; anverschiedenen Stellen Kratzer und kleinere Bestoßungen“).Folgt jener Typus von Ekphrasis, für den Winckelmann mitseiner Beschreibung des Apolls vom Belvedere eher fürliterarische Ästhetik (Stilistik) folgenreich war:Das ausdrucksvolle Porträt eines Mannes in mittleren Jahren mit kurzem, sorgfältig gepflegtem Haar und Bartstammt von einer Statue oder Büste. An dem erhaltenen Halsansatz scheint sich eine leichte Kopfwendung nachrechts anzudeuten. Darauf könnten auch einige Asymmetrien im Aufbau des annähernd fünfeckig geformtenGesicht zurückzuführen sein, der ansonsten von einer klaren, die Achsen betonenden Gliederung ist.Ein handschriftlicher Kommentar dazu (wessen Hand?) auf derKopie des Typographs notiert unmißverständlich nicht nur dieStrenge des archäologischen <strong>Blick</strong>s, sondern eben auch derarchäologischen ekphrasis, der archäologischen Kunst derBeschreibung: „genauer!“. Die archäologische Präzision istInteressen und Methoden. Kolloquium Berlin 1999, München (Hirmer) 2001, 17-38 (32, Anm. 33)76Johann Joachim Winckelmann, Beschreibung des Apollo im Belvedere, in: ders., Kleine Schriften und Briefe,Weimar (Böhlaus Nachf.) 1960, 148­151 (148)


unersättlich. Beschrieben wird hier jedenfalls eher einkubisches Objekt in seiner Geometrie; indes fällt dieBeschreibung sofort zurück in literarische Muster:Über die von sanft eingetieften Nasolabialfaslten begrenzten Wangen spannt sich straff eine glatte Haut, die dieJochbeine leicht hervortreten läßt. Die vollen, schön geschwungenen Lippen, von denen die untere deutlichkürzer gebildet ist als die obere, bringen in die Züge ein Moment der <strong>Sinn</strong>lichkeit.Winckelmanns prägende Beschreibung des Apoll vom Belvedere inseiner Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 schreibtsich hier implizit fort. Gilt für die Klassische Archäologiejener „Doppelblick“ (Friedrich Nietzsche), der neben demkonkret vor Auge Liegenden, der isolierten Einzelbeobachtung,immer auch idealistische Fernen mitsieht, <strong>das</strong> zeiträumlicheBezugsfeld (namens Kunst/Historie? 77Einerseits verläßt Winckelmann fluchtartig seine Arbeitsstätteals Bibliothekar des Fürsten von Bünau in Nöthnitz, um sich -nach einem Jahr als Privatgelehrter in Dresden 1755 - nichtmehr mit Abbildungen antiker Werke in Druck oder Gips begnügenzu müssen, sondern am Ort der Dinge selbst, in Rom, dieOriginale in Augenschein nehmen zu können. 78 Am Hof in Dresdenwar zwar eine authentische Antikensammlung gewachsen, dochseinerzeit, um 1750, war sie in den Pavillons des GroßenGartens magaziniert. Kurfürst August III. „sammeltevorzugsweise klassische Bilder und Kupferstiche von solchen,die er im Original nicht haben konnte“ 79 - die ÄsthetikLessings.Winckelmann klagt, daß „die besten Statuen in einem Schuppenvon Brettern, wie die Heringe gepacket standen, und zu sehen,aber nicht zu betrachten waren“ 80 . Winckelmanns Wortwahl, diezwischen Sehen und Betrachten unterscheidet, berührt <strong>das</strong>Primat der Autopsie; an dieser Stelle lohnt die Erinnerungdaran, daß Winckelmann zunächst in Halle auch Medizin studierthat - den anatomischen <strong>Blick</strong>. Winckelmann hat - <strong>das</strong> sei zurRettung seines Originalbegriffs gesagt - den genauen <strong>Blick</strong> aufStatuenoberflächen als Rauschen, auf die Materialität vonMarmortexturen als Information erprobt. Und doch erweckt er<strong>das</strong> Gefühl, daß er mit seiner literarischen Beschreibunggerade über <strong>das</strong> Objekt hinwegsieht, dem er in Romgegenübersteht. Physiologisches Sehen reicht nicht hin, wennes nicht gekoppelt ist an geistige Schau: „denn <strong>das</strong> Wichtigeund schwere gehet tief und fließet nicht auf der Fläche.“ 81 So77Siehe Werner Hofmann, Doppelblick, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 258 v. 6. November 2002, N 3,über: Alois Riegl, Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst (Aufsatz 1899)78Allein die Ansicht der jüngst nach Dresden gelangten antiken „3 Herkulanerinnen“ findet Eingang in seinenoch in Dresden entstandene Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei undBildhauerkunst (1755)79In: Kordelia Knoll u. a., Die Antiken im Albertinum, Mainz (v. Zabern) 1993, 780Zitiert von Martin Raumschüssel in der Einleitung zu: <strong>Der</strong> Menschheit bewahrt, Dresden (StaatlicheKunstsammlung) 195981Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, 288


installiert Winckelmann genau in jener Zeit, als sich dieMedizin vom metaphysischen Ballast löst und denpositivistischen <strong>Blick</strong> erprobt , eineästhetische Interpretation: <strong>Der</strong> Bildhauer der Statue des Apoll"hat dieses Werk gänzlich auf <strong>das</strong> Ideal gebaut, und er hat nurebenso viel von der Materie dazu genommen, als nötig war,seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen.“ 82 Materiebildet also nur den Rand gegenüber einer ungeheuren Idealität,wie es die neoklassizistische Bildreproduktionstechnik derUmrißzeichnung, des outline engraving, geradezuidealtypographisch realisierte und aus der Geometrie nichtminder vertraut ist, welche der Linien als „ein reinsinnliches Hülfsmittel“ (G. W. Leibniz) bedarf. 83 „In spite ofWinckelmann´s remarks about engravings and the necessity ofknowing the originals, the aesthetic doctrine of his Historyof Ancient Art of 1764 may be regarded as the rationalizationof a set of values based on the catch of the engraver´s net“. Winckelmanns (An-)<strong>Blick</strong> ist praktizierteDekonstruktion. <strong>Der</strong>selbe Winckelmann, der auf Autopsie derOriginale insistiert, rühmt an Abgüssen gegenüber dem Original<strong>das</strong> Gips-Weiß, weil es den Charakter der reinen Formakzentuiert - (v)idealistische Einsicht als blindness. 84Winckelmanns Statuenbeschreibungen waren vor allem auch Projektionen von Schrift. Die Einbildungskrafterzeugte einen <strong>Blick</strong>, der die Lektüre von Texten auf die weiße Oberfläche des Steins projiziert. DasHalluzinieren der Antike war ein Modus der Textverarbeitung. 85Demgegenüber nimmt der Kunsthistoriker John Ruskin im <strong>Blick</strong>auf Gemälde eine Position ein, die radikal auf die Oberflächevon Gebilden schaut: „We see nothing but flat colours.“ 86Optische Artefakte lassen sich also durchaus aus derhermeneutischen Vertrautheit (der Transkription) in einearchäologische Wahrnehmungsdistanz bringen. Bilder erhaltenqua Einscannen einen a priori „archäologischen“ Status.Vielleicht vermag ja allein der scan-aisthetische,(sc)anästhetische <strong>Blick</strong> ganz im <strong>Sinn</strong>e der gleichnamigenkunstrestauratorischen und kulturkonservatorischen Disziplinradikal archäometrisch die Oberfläche zu sehen.Die museale Antike(n)rezeption bis ins 19. Jahrhundert aberblieb vertextet und damit dem Primat des photographischen odergar materialen <strong>Blick</strong>s zunächst philologisch (oder besser82Ebd., hier zitiert nach der Ausgabe Wien 1934, unveränd. reprograf. Nachdr. Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1982,364; vgl. auch 149: „Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist.“83Leibniz in seinem Brief an Galloys 1677, zitiert in: Dialog über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten,in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. I, Leipzig (Meiner) 1904, Nr. I,18, Anm. 284Dazu Anita Rieche, 200 Jahre Archäologie und „Neue Medien“, in: dies. / Beate Schneider (Hg.), Archäologievirtuell: Projekte, Entwicklungen, Tendenzen seit 1995, Bonn (Habelt) 2002, 90-94 (92)85Peter Geimer, Post-Scriptum. Zur Reduktion von Daten in Winckelmanns Geschichte der Kunst desAlterthums, in: Inge Baxmann / Michael Franz / Wolfgang Schäffner (Hg.), Das Laokoon-Paradigma, Berlin(Akademie) 2000, 64-88 (84)86Ruskin, John: „The Elements of Drawing“ (1857). In: ders.: The Works, hg. v. E. T. Cook / A. Wedderburn, Bd.15, London 1904, S. 27.


logophil) entzogen. Steuermedium dieser Vertextung war <strong>das</strong>Katalogwesen:Catalogue and exhibition constitute what could be called a diatext, that is two separate signifying systems whichfunction together, more precisely it is at the point of their intersection and crucially perhaps in their difference,that the production of a certain knowledge takes place the difference between the reproduction in thecatalogue and the original in the exhibition is not merely a question of photographic techniques. It is a questionof particular practices of writing, of the gaps, omissions and points of emphasis through which certain imagesare outlined and others erased. The authorial discourse (organiser, critic or artist) constructs a pictorial textualitywhich pertains more to the readable than to the visible pictorial textuality is constituted in a divergencebetween the register of the visible and that of the readable. 87<strong>Der</strong> <strong>Blick</strong> auf die Artefakte wurde vom Text diszipliniert - "avague perception methodized to thought" 88 , und <strong>das</strong> musealeBildgedächtnis durch ein Geschichts-Bild der antiken Kunstgefiltert, so wie Charles Newton vom British Museum dieLektüre von C. O. Müllers Denkmäler der alten Kunst (1832) als"a kind of pictorial index" empfahl - Funktionen einertextadressierten Bildsemiotik.Bleibt archäologische Stilanalyse demgegenüber hart amGegenstand? 1766 veröffentlichte Gotthold Ephraim Lessingunter dem Titel Laocoon oder die Grenzen der Malerey und derPoesie eine Streitschrift, die anhand der antikenStatuengruppe des sterbenden trojanischen Priesters Laokoonmit seinen Söhnen und der Darstellung desselben Motivs inVergils Epos Aeneis eine vergleichende Medientheorieästhetischer Darstellbarkeit aufstellte und damit heftigsteKontroversen in der literarischen, antiquarischen undKunstkritikwelt auslöst. Das seinerzeit wie noch heute imrömischen Vatikanmuseum befindliche Werk aber, um <strong>das</strong> seineSchrift kreist, hat er nur im Kupferstich gesehen.Lessing reiste 1775 als gelehrter Begleiter von PrinzMaximilian Julius Leopold zu Braunschweig und Lüneburg nachRom und besah dort die Peterskirche, <strong>das</strong> Museum Clementinum,die Bibliothek des Vatikan ("die sehr alten Virgile undTerenze") und "<strong>das</strong> Zimmer welches der vorige Papst für diePapiernen Mss. bestimmt hat, und welches Mengs gemalt." 89In seinem Notizbuch der italienischen Reise aber finden wirnichts als Schweigen zum Laokoon im Belvedere.Nicht die von Winckelmann geforderte Autopsie des Originals,sondern die Verzeichnung, also Semiotisierung qua Reproduktionist der Ausgangspunkt einer Theorie, bei der es ums Ganze derKünste geht:Im Unterschied zu Winckelmanns Anschauung hat, namentlich fürspätere Generationen von Archäologen, Lessings apodiktischeSelbstabgrenzung im 13. Antiquarischen Brief "geradezuschockierend“ (Barner) gewirkt:87Mary Kelly, Re­viewing Modernist Criticism, in: Screen 22, 3/1981, 58­6288Richard Payne Knight, The Progress of Civil Society, London 1796, 1389Winfried Barner (Hg.), Gottfied Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Frankurt/M. (DeutscherKlassiker Verlag), Bd. 8: Gotthold Ephraim Lessing Werke 1774­1778, hrsg. v. Arno Schilson, 1989, 698f


Denn ich, ich bin nicht in Italien gewesen; ich habe den Fechter nicht selbst gesehen! ­ Was tut <strong>das</strong>? Was kömmthier auf <strong>das</strong> selbst Sehen an? Ich spreche ja nicht von der Kunst; ich nehme ja alles an, was die, die ihn selbstgeshehen an ihm bemerkt haben; ich gründe ja meine Deutng auf nichts, was ich allein daran bemerkt habenwollte. Und habe ich denn nicht Kupfer vor mir gehabt, in welchen die ganze Welt den Borghesischen Fechtererkennet? Oder ist es nicht der Borghesische Fechter, welcher bei dem Perrier von vier Seiten, bei demMaffei von zwei Seiten, und in dem lateinischen Sandrart gleichfalls von zwei Seiten erscheinet?"Hier kommt die Materialität des plastischen Originalsgegenüber seiner - mit Walter Benjamin gesprochen -technischen Reproduzierbarkeit ins Spiel.Winckelmann ging, wir erinnern uns, gerade deshalb nach Rom,weil er an der unhintergehbaren Materialität der Oberflächeder Skulptur interessiert ist, die im Kupferstich verlorengeht(auf der Lessing insistiert). Doch wäre eskulturwissenschaftlich verfehlt, sich auf eine Oppositionzwischen Kunstwerk und seiner medialen Reproduktioneinzulassen; vielmehr lehrt Medienarchäologie, auf dieMaterialität des Reproduktionsmediums seinerseits zu sehen -also einen Originalbegriff zweiter Ordnung. Kupferstiche gebennicht <strong>das</strong> Ding, die „Naturalie“ wi(e)der: „Auch <strong>das</strong> besteKupfer, illuminiert so schön man will, ist doch nicht <strong>das</strong>Tier, der Stein, die Pflanze, die Konchylie selbst.“ 90 Jepräsenter <strong>das</strong> Bewußtsein der Medialität der Reproduktion ist,desto minimaler ist die „referentielle Illusion“ (RolandBarthes) - Medienaufklärung von Realität.Nun wurde der Kupferstich nicht nur zur Abbildung plastischbildlicherVerhältnisse eingesetzt, sondern auch im <strong>Sinn</strong>e deraktuellen imaging sciences, also bildgebend, etwa in derKartographie, die vermessene Landschaft in einer somitabstrahierten, datenmäßig verdichteten Form zeigt, wie sie mitbloßem Auge nicht wahrnehmbar ist (heute heißt <strong>das</strong> infomapping).<strong>Der</strong> philologische <strong>Blick</strong><strong>Der</strong> anatomische <strong>Blick</strong> meint - um einen Buchtitel von BarbaraStafford aufzugreifen - Body Criticism. Den anatomischen Aktverfolgt Stafford gut diskursanalytisch quer durchverschiedenste Disziplinen, von der Archäologie und Medizinbis hin zum Kupferstich(el). Die kritisch-philologischeMethode der Literaturforschung behauptet in Tiefenschichtenvon Texten einzudringen - eine Metaphorik, welchehervorgebracht wird vom Diskurs der Hermeneutik alsforschender Verstehenslehre, die aber in der ReformulierungFriedrich Nietzsches nichts anderes als die gutgläubigeCamouflage des Willens zur Beherrschung der Texte ist.Mitvollziehende Lektüre, der hermeneutische <strong>Blick</strong>, der „gute“Wille zum Verstehen und zur Verständigung (so Hans-GeorgGadamer im Streitgespräch mit Jacques <strong>Der</strong>rida 91 ) steht also imambivalenten Verbund mit dem kalten <strong>Blick</strong> der Anatomie. MitTextkorpora haben wir es zu tun, Leichen (corpse).90Johann Jakob Engel. Denkschrift über Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin (13. März 1802), in:Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem <strong>Sinn</strong>e, hg. v. Ernst Müller, Leipzig 1990, 6-17 (7)


Verbale Markierungen werden in hermeneutischer Lesart zuSymptomen verborgener Aussagen, vor dem Hintergrund einerTradition biblischer Exegese, die hinter dem manifesten immereinen verborgenen, allegorischen <strong>Sinn</strong> las - gemäß der Lehrevom vierfachen Schriftsinn. Recensio meinte einmal„Musterung“, die philologisch-kritische „berichtigendeDurchsicht eines alten, oft mehrfach überlieferten Textes“(Duden). Dieser kritische <strong>Blick</strong> auf Buchstäblichkeiten,kombiniert mit der Tradition der hermeneutischen Bibelexegese,eskaliert dann im 19. Jahrhundert zur nicht mehr nurtechnisch, sondern ontologisch invasiven Lektüre, zum Einlesenvon <strong>Sinn</strong>: „Heißt <strong>das</strong>, daß Interpretation ein Einlegen von <strong>Sinn</strong>und nicht ein Finden von <strong>Sinn</strong> ist?“, fragte Hans-Georg Gadamereinmal. 92 <strong>Der</strong> Philologe muß einen lesbaren Text herstellen, wasscho(e)n nur bei Unterstellung eines gewissenVorverständnisses möglich ist: ein hermeneutischer Zirkel, derquantenmechanisch korrigierbar wäre (die Beobachterdifferenz;Spencer Brown). So unterstellt denn der Hermeneutiker jenen(Buchstaben-)Schatten spurensicher Lesbarkeit, gleich demDetektiv, der am Ende Indizien von Verbrechen dechiffriert,die in der Tat nie geschahen. Nietzsche kritisierte dieseinerzeit diagnostizierte "Mißachtung des Ge-schriebenenzugunsten des Be-schriebenen" 93 . Von daher sucht Nietzschevielmehr auf Wort-Oberflächen zu achten - steht dem Leser doch(gleich einem Scanner) buchstäblich "bedrucktes Papier vorAugen" 94 .Prosopopöie im Archiv<strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> auf <strong>das</strong>, was mit warmer historischerImagination „Kulturgeschichte“ genannt wird, sieht nüchternbetrachtet Datenlage. Die Wissensgrundlage unserer Analysenist selbst un-menschlich, denn sie beruht nicht mehr aufDialog mit Menschen, sondern auf reinen Speichermedien undÜbertragungskanälen (Texte, Bilder, Artefakte). Die Archivesind kalt.Am Begriff der Geschichte scheiden sich die Geister derGriechen und Rankes:Das deutsche Wort „Geschichte“ verlegt <strong>das</strong> Schwergewicht in <strong>das</strong> Geschehen und bekundet damit ein Interessean seinem wirklichen Verlauf, an den rein tatsächlichen Veränderungen, und gibt vor, damit von irgendeinemanderen Interesse abzusehen, sei es künstlerisch, ethisch, politisch oder sonst irgendiwe begründet, währendhistoría nicht vom Objekt, sondern vom sehenden und begreifenden Objekt ausgeht. 91Siehe W. E., Rezension "(Frank) Gadamer und abermals <strong>Der</strong>rida", über: Philippe Forget (Hg.) 1984, in:Nürnberger Blätter 4 (September - November 1986), 16f92In: Philippe Forget (Hg.), Text und Interpretation, München (Fink) 1984, 3493So unterstrichen von Christof Windgätter, "Und dabei kann immer noch etwas verloren gehen! -" EineTypologie feder- und maschinenschriftlicher Störungen bei Friedrich Nietzsche, in: David Giuriato / MartinStingelin / Sandra Zanetti (Hg.), "Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen". Schreibszenen im zeitalterder Typoskripte, München (Fink) 2005, 49-74 (62)94Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari,München / Berlin / New York (dtv / de Gruyter) 1988ff, hier: Bd. 5, 256


Womit wir noch einmal auf Poppers Scheinwerfertheoriezurückkommen. Die „Kübeltheorie des menschlichen Geistes“ gehtdemnach anti-konstruktivistisch davon aus, daß zunächst einmalWahrnehmungen vorhanden sein müssen, bevor Menschen etwas überdie Welt wissen und sagen können . DemTheoretiker schreibt er dabei allgemeines Gesetz-Interesse zu,während der Historiker daran interessiert sei,„Anfangsbedingunge, <strong>das</strong> heißt Beschreibungen von Tatbeständenin gewissen endlichen, singulären raumzeitlichen Gebieten zufinde und zu überprüfen“ .Ungefähr gleichzeitig mit der historía am östlichen Rand desGriechentums (Ionien) bildete sich in Unteritalien "eineandere Wissenschaft, deren Inhalt fundamental von der histoíaverschieden war, und deren Bezeichnung `tà mathémata´ auchsprachlich anderes Gepräge trug“ - die Schuledes Pythagoras. „Als empirische Wissenschaft konnte auch diehistoría keine absolute Gewißheit bringen, die lag allein imMathematischen“ . Beides umfaßt der Begriffder epistéme bei Platon. Es ist Platon, der letztlich jedesWissen vom Sehen (Idee / Wurzel vid-) ableitet. „Und es warwirklich die `Schau´, die `Theorie´, die <strong>das</strong> Praktischeüberwand oder doch in sich `aufhob´“ .Die aktuelle Mediävistik versucht sich an einer „Archäologieder Textaufführungspraxis“ (Horst Wenzel), anders als diemediävistische Philologie zuvor „gibt sie den Texten eineStimme wieder“ 95 . Das aber ist eine anthropologische Verführungder Hermeneutik; da war die konservative Philologie (KarlLachmann) des 19. Jahrhunderts insofern medienarchäologischehrlicher, als daß sie überlieferte Texte als <strong>das</strong> behandelte,was sie kulturtechnisch sind: Speichermedien jenseits derStimme (die daran ja gerade verstummt ist). Archäologiekonfrontiert dieses Schweigen, stumme Lagen: <strong>das</strong> Archiv.<strong>Der</strong> kalte wissensarchäologische <strong>Blick</strong> sucht dabei derVersuchung zu widerstehen, in „flüchtig hingeworfenen Datenund leise skizzierten Umrissen“ sogleich Geschichtewiederzuerkennen, und sich vielmehr mit den unprocessed dataund Signifikanten im Realen unter Verzicht auf jeglicheimaginäre Präludien zu konfrontieren. <strong>Der</strong> depersonalisierte<strong>Blick</strong> will jenem rhetorischen Hang zur Denkfigur derProsopopöie entsagen, die ein Denker der Archivkunde 1830 inAnalogie zu historiographischen Aporien der seinerzeit nochjungen Disziplin Prähistorie benannte und in einearchäologische Metapher kleidete: „Wie der geistreiche Cuvieraus einem Fossil die dazu gehörige Gattung erkennt; so muß derHistoriker aus der isolirten Lebensäußerung irgend eines95Vortrag „Thomasin von Zerklaere: Die Zeitlichkeit der Bilder“, im Rahmen der Arbeitstagung Kunst derBewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, Humboldt-Universität Berlin,14.-16. November 2002


gesellschaftlichen Zustandes den ganzen verwandten Kreisderselben darstellen können.“ 96 Muß er <strong>das</strong> wirklich?Die Medialität des Archivs liegt in seiner konkretentechnischen Materialität – jene Apparaturen derDatenspeicherung (Papier, Film, Computer), die als konkreteTräger der Signale ihren kulturellen Dekodierern zumeistkonstitutiv verborgen bleiben: „<strong>Der</strong> Archivträger ist dem <strong>Blick</strong>des Betrachters konstitutiv entzogen“ .Zugleich ist ein irreduzibles Element mit im Spiel und amWerk des Archivs als Gedächtnisort; die Steuerzeichen gehörennicht zum Inhalt des Archivs, sondern zu seiner radikalgegenwärtigen Administration und sind mithin Archiv im <strong>Sinn</strong>evon Foucault – nämlich ein Dispositiv, von Groys treffend alssubmedialer Trägerraum definiert. Dieser Raum ist immer schon<strong>das</strong> Objekt eines paranoiden Verdachts von Manipulation,Verschwörung und Intrige. Erst der paranoide <strong>Blick</strong> aber gibtzu sehen.Archive sind Orte der Verführung, wenn ihre Textkorridore <strong>das</strong>Schweigen vergessen machen und Phantasien wiedergefundenerErinnerung evozieren, denen ein distanter <strong>Blick</strong> nur mühsamstandhält. Was also, wenn archivische Halluzinationen sichnicht einstellen? Nichts anderes bilden die Atome des Archivs:Buchstaben, kalkulierbar, aber diskret. So, wie <strong>das</strong> ArchivZusammenhänge nur logistisch, nicht aber hermeneutischdarstellt und dafür der literarisch-historiographischenUmformung bedarf, herrscht auch auf der mikro-archivischenEbene der Textbuchstaben in den Zwischenräumen, denIntervallen zwischen den Lettern auf dem Papier, keineKontinuität, sondern eine leere, weiße Fläche. Genau <strong>das</strong> giltradikaler noch im digitalen Raum, der alle analogen Flächen indiskrete Punkte auflöst; dazwischen ist nichts. Und so stehenMedienanalysen auf Seiten des archivischen <strong>Blick</strong>s, denn siearbeiten unter der Voraussetzung, daß jede Aussage den Randgegenüber einer ungeheuren Leere, einem riesigen Feld desUngesagten bildet.Literatur kalkulierenIm Film D´ailleurs <strong>Der</strong>rida (Frankreich 2000; Regie: SafaaFathy) sagt der Philosoph: „l´écriture calcule“. Es war diesderselbe Philosoph, der über den Computer einmal äußerte: „Lamachine ne calcule rien pour moi.“ Schrift aber kalkulierterst, seitdem sie diskretisiert wurde bis auf jeden einzelnenBuchstaben. Läßt sich sagen, daß die diskreteBuchstabenschrift tatsächlich bereits eine Form vonMathematik, von Kalkül darstellt? Oder erst im <strong>Sinn</strong>e von André96Friedrich Ludwig Baron von Medem, Über die Stellung und Bedeutung der Archive im Staate, in: Jahrbücherder Geschichte und Staatskunst, hg. v. Karl Heinrich Ludiwg Pölitz, Bd. II, Leipzig 1830, 28-49 (31)


Leroi-Gourhan: „Aus Symbolen mit dehnbaren Implikationenwurden Zeichen, wirkliche Werkzeuge im Dienste einesGedächtnisses, in <strong>das</strong> die Strenge des Rechners Eingang fand“ 97- aber erst mit der Hollerith-Maschine. Oder ist es schon derAkt des Lesens? „Francis Bacon kondensiert in einer berühmtenStelle seines Novum Organum, wo <strong>das</strong> Unendliche abgeschnittenzu werden verspricht, die Augenbewgung des Lesens beinaheschon in einen Algorithmus. Aber eben nur beinahe“ 98 ;demgegenüber gelten nämlich die mathematischen Zeichen inGalileis Buch der Natur.Poesie-Generierungsmaschinen: Das OPAJAS in der Sowjetunion(die Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache) bildetedie Formale Schule. Darunter verweist Andrej Bely in seinemAufsatz „Die Lyrik und <strong>das</strong> Experiment“ (1909) auf dieNotwendigkeit der Einführung exakter Methoden in die Ästhetik,und den Primat der „Algebra“ vor der „Harmonie“. 99 EineBroschüre von N. Setnizki identifiziert Statistik, Literaturund Poesie. Solche Autoren machen „die Zahl zum wichtigstenInstrument bei der Erforschung der Geestzmäßigkeitendesknstlerischen Schaffens“ ; damit ist „dieStatistik ein Weg , <strong>das</strong> Element des Wortes aufzudecken“. S. Lukjanow zählt zusammen, ver-sammltalso (legein, aber numerisch), wie viele Silben, wie vieleKonsonanten und Vokale in Golenistschew-Kutusows Gedicht <strong>Der</strong>Todesengel enthalten sind. „Stilmetrische“ Experimente vonMorosow haben den Zweck, Plagiate von Originalen unterscheidenzu lernen; im Bund damit stehen Verfahren zur Ableitung eines„Individualitätskoeffizienten“ des Autors . Schon zuvorwar A. A. Markov mit einer Notiz über die Anwendungstatistischer Methoden hervoretreten; er kommentiert späterdie Arbeiten Morosows in diesem seinem ästhetischstatistischen<strong>Sinn</strong> (1916).Die Materialästhetik geht davon aus, daß dem Künstler inWirklichkeit nur <strong>das</strong> Material eignet: "der physikalischmathematischeRaum, die Masse, der Ton der Akustik bzw. <strong>das</strong>Wort der Linguistik“. 100 Für Nietzsche waren nicht <strong>das</strong> Wort,sondern der Ton, die Tonstärke, die Modulation und <strong>das</strong> Tempo,also die Musik hinter den Worten, <strong>das</strong> kommunikativWesentliche. 101 Puschkins Gedicht Erinnerung beginnt mit dem97André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M.(Suhrkamp) 3. Auf. 1984, 25398Unter Bezug auf Francis Bacon, Novum organum, hg. v. W. Krohn, Hamburg 1974, 395: Gerhard Scharbert,Dichterwahn. Über die Pathologisierung von Modernität, Exposé 99Dazu J. J. Barabasch, Algebra und Harmonie, in: „Kontext“. Sowjetische Beiträge zur Methodendiskussion inder Literaturwissenschaft, hg. v. Rosemarie Lenzer / Pjotr Palijewski, Berlin (Akademie) 1977, 15-94 (21)100Kritisch paraphrasiert in: M. M. Bachtin, Zur Ästhetik des Wortes, in: „Kontext“. Sowjetische Beiträge zurMethodendiskussion in der Literaturwissenschaft, hg. v. Rosemarie Lenzer / Pjotr Palijewski, Berlin (Akademie)1977, 138­159 (139)101Harro Zimmermann (Rez.), Partitur des vielstimmigen Lebensorchesters, über: Reinhart Meyer-Kalkus,Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin (Akademie) 2001, in: Zeitliteratur (Sonderbeilage von DieZeit) Nr. 25, 57. Jg., Juni 2002, 18


Moment der Dämmerung: „Wenn für die Sterblichen verstummt derlaute Tag, / die Dämmerung sich senkt auf alle Gassen“; dieästhetische Intention aber läßt sich nicht aus den Wörtern,Phonemen, Morphene, Sätzen oder semantischen Reihenerschließen.Indem der Künstler intensiv am Wort arbeitet, ist er letztlich bemüht, dieses zu überwinden, da <strong>das</strong> ästhetischeObjekt an den Grenzen des Wortes, der Sprache als solcher, entsteht; die Überwindung des Materials hat jedochrein immanenten Charakter: <strong>Der</strong> Künstler befreit sich von der linguistischen Determiniertheit der Sprache nichtdadurch, daß er sie negiert, sondern dadurch, daß er sie immanent vervollkommnet. Dieses immanenteÜberwinden der Sprache unterscheidet die Dichtung wesentlich vom Erkenntnisprozeß, bei dem die Sprache mitHilfe algebraischer Methode, konventionelle Zeichen (anstelle des Wortes), Abkürzungen u. a. nur negativüberwunden wird - <strong>das</strong> Programm einer veritablen Medienkunst, die eben nichtmit dissimulatio artis zu übersetzen wäre, sondern mit derenHervorbringung.Auch Jorge Luis Borges beschreibt den oder <strong>das</strong>medienarchäologische Moment im Akt der Lektüre als Theorieeines ästhetischen Mensch-Materie-Interfaces. So wie derGeschmack des Apfels weder im Apfel selbst liegt (der Apfelkann sich selbst nicht schmecken) noch im Mund des Essenden,ist zwischen beiden ein Kontakt nötig:Das gleiche geschieht mit einem Buch oder einer Sammlung von Büchern, einer Bibliothek. Was ist denn schonein Buch an sich? Ein Buch ist ein physisches Objekt in einer Welt physischer Objekte. Es ist eine Serie toterSymbole. Und dann kommt der richtige Leser vorbei, und die Wörter ­ oder besser die Dichtung hinter denWörtern, denn die Wörter selbst sind bloße Symbole ­ werden lebendig, und wir haben eine Auferstehung desWortes. 102Einen analogen Prozeß, nämlich die elektrisierende „Raschheitdes <strong>Blick</strong>s“, beschreibt für <strong>das</strong> Reich der Bilder Georges Salleam Beispiel eines Kunstkenners beim Betreten einesBildersaals. Materiale Physiologie:Das Auge hat seine Beute gewittert, noch bevor es sie identifiziert hat. Die Schnelligkeit dieses Reflexes zeigt,daß unser sinnliches Gedächtnis hier ganz unabhängig von jenem anderen, langsameren Gedächtnis am Werk ist,<strong>das</strong> jeden Gegnstand von dem benachbarten sondert und an seinen besonderen Merkmalen erkennt. Auf Anhiebweisen uns die bloßen Farben in unserem <strong>Blick</strong>feld die Richtung. Wir haben einen Fleck darin gefunden, eineVibration, die <strong>das</strong> entscheidende Echo geweckt hat; und wir gehen darauf zu, mit Möglichkeiten von Bildernbeladen, ohne zuvor jenes Ausschneiden vollzogen zu haben, <strong>das</strong> aus dem Fleck einen Gegenstand macht. Wirhaben gespürt, bevor wir geschaut, sogar noch bevor wir gesehen haben 103- <strong>das</strong> Geheimnis des zeitkritischen <strong>Blick</strong>s auf demsignalverarbeitenden Niveau der petits perceptions (Leibniz).Lettern sehen / lesen (Mittelalter)102Jorge Luis Borges, Das Handwerk des Dichters, Hardvard-Vortrag 1967, in: Frankfurter Allgemeine ZeitungNr. 201 v. 30. August 2002, 34103Georges Salles, <strong>Der</strong> <strong>Blick</strong>, im gleichnamigen Essay-Band [*Paris 1939], Berlin (Vorwerk 8) 200115-34 (30)


Helmuth Plessner dignostiziert in seiner Anthropologie der<strong>Sinn</strong>e „die steigenden Zumutungen an Auge und Ohr, an Spracheund Sprachverständnis“ im industriellen Zeitalter , also eine Beschleunigung Signalverarbeitungin der Wahrnehmung. So hat sich kulturtechnisch auch dieLesegeschwindigkeit potenziert.Am Anfang steht eine höfische Literatur, die sich in einerKultur der Sichtbarkeit behaupten muß. So entwickelt sie einePoetik, in der der Leser zum Beobachter wird, in dersprachlich stimulierte Bilder die Memorierbarkeit der Texteunterstützen. Ad oculos demonstrare:Das ‘hören und sehen’ der mündlichen Tradition wird zum ‘hören und lesen’ in der Schriftkultur, wobei dieVerben ‘sehen’ und ‘lesen’ nicht zufällig miteinander korrespondieren. Die volkssprachlichen Texte entwickelnviele stilistische Mittel, um den Leser zum Beobachter zu machen, zu einem Augenzeugen zweiter Ordnung. Siekönnen sich dabei auf die Vorgaben der lateinischen Rhetorik stützen. 104Zur evidentia heißt es im Anschluß an die antike Rhetorik:”der Redner versetzt sich und sein Publikum in die Lage desAugenzeugen.” 105Gegenüber der antiken Privilegierung des <strong>Blick</strong>s (und seinerWiederprivilegierung in Buchdruck und optischer Perspektiveder Renaissance) setzt <strong>das</strong> Christentum zunächst auf <strong>das</strong> Ohr,denn „<strong>das</strong> Wort ist Fleisch geworden“. Herder setzt <strong>das</strong>Erkennen in besondere Beziehung zum Ohr; in seinerPreisschrift über den Ursprung der Sprache (I 3, 1)identifiziert er als Urszene <strong>das</strong> akustische Signal: „Das Schafblökt“ ; man hört <strong>das</strong> Schaf underkennt es daran. Prompt ist für Herder <strong>das</strong> Gesicht „kalt undklar“; kommentiert Snell: „und einer geistigen Welt, die sichbesonders auf <strong>das</strong> Wahrnehmen durch <strong>das</strong> Auge aufbaut, muß darumauch diese sachliche Kühle zu eigen sein“ . Da haben wirihn, den kalten epistemologischen <strong>Blick</strong>. Zurück zur Antike:Wo gignósko auf eine Wahrnehmung durch <strong>das</strong> Ohr bezogen ist, bedeutet es zunächst <strong>das</strong> Erkennen (oderWiedererkennen) einer Stimme, nicht etwa <strong>das</strong> Verstehen. Es wird nur wieder eine Erscheinung (diesmal derLaut) mit einer anderen räumlich und zeitlich von ihr getrennten identzifiziert und dadurch erkannt). Wenn esdagegen nicht nur auf den Schall, sondern auf den <strong>Sinn</strong> des Wortes geht, so steht ein Objekt dabei, <strong>das</strong> nicht <strong>das</strong>bloße Wort, sondern vielmehr schon den darin enthaltenen Gedanken bezeichnet. Das kalte Ohr hört Klang in seiner medialen, nichtsemantischen Qualität - ein medienarchäologisches Organ, unhemeneutisches„Verstehen“.Dem (schrift-)kalten <strong>Blick</strong> der Augenzeugenschaft steht <strong>das</strong>Hörensagen gegenüber. Homers Odyssee setzt mit der „Kunde“,104Horst Wenzel / Christina Lechtermann, Repräsentation und Kinästhetik. Teilhabe am Text oder dieVerlebendigung der Worte; online http://www2.huberlin.de/literatur/KdB/html/material/Paragrana_Projekt_A1.htm105Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwisenschaft. 3. Aufl.1990 mit einem Vorwort von A. Arens. Stuttgart 1990, § 810


mit der kléa andrón ein, „von Mund zu Mund“ (zu Ohr, nicht zumAuge). Kléos gehört zu klúo, „hören“; zu unterscheiden von aíooder akoúo. Letztere bezeichnen <strong>das</strong> akustische, physiologischeWahrnehmung einer Stimme oder eines Klanges, der ans Ohrdringt, „während kléo stets auf den Inhalt des Gesprochenenzielt“ 106 - analog zum Unteschied zwischen scannen undIkonologie im Reich der Bilder. Entsprechend meint akoé „<strong>das</strong>Gerücht, nicht die Sache“ . Allerdings gleichen sichschon bei Homer beide Bedeutungen einander an (metonymisch imNamen der Muse Klio). Im Proömium zum Schiffskatalog im II.Gesang der Ilias appelliert Homer an die Musen: kléos oionakoúomen, „wir haben nur die akoé“, und dem wird mit párestete íste te panta <strong>das</strong> Wissen der Augenzeugen gegenübergestellt“. Demgegenüber eröffnet Lektüre die Möglichkeit desmedialen Sehens: "Ist <strong>das</strong> Schreiben ein ‘Schildern’, wird <strong>das</strong>Lesen zum ‘Betrachten’" .Tatsächlich aber wiederholt sich in der mikroskopischenLektüre noch einmal die Erfahrung des makroskopischen <strong>Blick</strong>s:die Entfernung. <strong>Der</strong> operative Akt des Lesens prozessiert hierauf medienarchäologischer Ebene <strong>das</strong>, was kognitiv alshistorischer Raum verarbeitet wird: ”However strong theillusory presence of the fiction, as readers we can neverliterally participate in the narrated action; nor on the otherhand, are we vulnerable to the dangers in which it mightinvolve us in reality." 107 Jede Lektüre wird so zum Akt einerunmöglichen Einbildung. Horst Wenzel weist darauf hin: Was dieGriechen fantasia nennen und die Römer visiones,‚repräsentiert‘ die Bilder abwesender Dinge, ”so daß wir siemit den Augen zu erkennen und gegenwärtig zu haben scheinen”(Quintilian VI. 2,29).<strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> der mediävistischen Philologie identizifizertfür Texte frühmittelalterlicher Annalistik anonyme „Hände“,keine Autoren. Dieses Genre registriert kontingenteEreignisfolgen als chronologische Listen, nicht Erzählungen:Jede Distanz ­ sei es die eines Tages oder die eines Tagesmarsches von einem Dorf zum anderen ­ fügt dennackten Feststellbarkeiten einen Bedarf an Auslegung hinzu; Mangel an Auslegung manifestiert sich in derniedersten aller Formen, der der Aufzählung. 108Diese Ästhetik kehrt unter verkehrten medientechnischenVorzeichen um 1800 zurück, als sich Kritik an verführerischer,überredender Rhetorik zugunsten einer administrativenStaatsschrift artikuliert. Stimme und Wortpracht des Autorskann der Leser nicht fassen, „und kann seinen Mann so oft undmit kaltem Blut überlesen, daß er ihm hinter die Künste106Tilman Krischer, Mündlichkeit und epischer Sänger im Kontext der Frühgeschichte Griechenlands, in:Kuhlmann / Reichel (Hg.) 1990: 51-64 (57)107A. C. Spearing, The Medieval Poet as Voyeur. Looking and Listening in Medieval Love Narratives.Cambridge (Cambridge U. P.) 1993, 28108Hans Blumenberg, zitiert in: Florian Felix Weyh, Das Jahr Laplace, in: Lettre international, Heft 47 (1999),116-123 (121)


kömmt.“ 109 <strong>Der</strong> Buchdruck, also die Erlösung des Autors von derHandschrift, "läuft auf Entpersönlichung hinaus und damit aufPreisgabe der alten `Rauschtechniken´“ 110 . McLuhan interpretiertdies als wissenschaftsdiskursgenerierende Ausrichtung derWahrnehmung auf einen Kanal:The use of the printing press leads to the development of a prose technique to match the form of the printedword. It was the technique of equitone. It consisted in maintaining a single level of tone and attitude to the readerthroughout the entire composition this discovery brought written discourse into line with the printedword and away from the variety of pitch and tone of the spoken, and of even the handwritten word. 111Genau <strong>das</strong> führt zum wissenschaftlich "objektiven",distanzierten <strong>Blick</strong> auf Objekte - ein Effekt des distanten<strong>Blick</strong>s auf Texte. Waren handgeschriebene Texte im Mittelalternoch transparent hinsichtlich ihres <strong>Sinn</strong>s, wird imtypographischen Zeitalter (geschriebene) Sprache vonimaginären Kommunikationspartner, vom ko-agierenden Subjektzum Objekt. Unter Bezug auf den Jesuitenpater Walter Ongschreibt McLuhan: "The use of printing moved the word from itsoriginal association with sound and treated it more as a`thing´ in space." 112 So wird der Text vom transitiven Mediumzur intransitiven Form.<strong>Der</strong> Buchdruck brachte Intensität und gleichmäßige Präzision dort, wo früher die Konturen unscharf waren. <strong>Der</strong>Druck führt zur Vorliebe für genaues Messen und für Wiederholbarkeit; Eigenschaften, die wir heute noch mitder Naturwissenschaft und Mathematik verbinden. Ein Teil der mittelalterlichen Urkunden und Handschriftenwanderte nach ihrer typographischen Übersetzung zum Recyclingin Werkstätten; mit der Konzentration auf den <strong>Sinn</strong> desÜberlieferten und der Medialisierung der Schrift zum homogenenKanal wurde deren Materialität scheinbar irrelevant (WolfgangStruck). Dem widerspricht die new philology.<strong>Der</strong> dynamisierte <strong>Blick</strong>: Buchdruck und LesegeschwindigkeitWo <strong>das</strong> mediale Dispositiv technischer Standardisierung fehlt,besteht auch kein diskursiver Bedarf nach einem übergreifendenKode oder an einer in allen Teilsystemen geltendenGeneralsemantik . Hier liegt diemedienkulturelle Differenz zwischen Mittelalter und Neuzeit.Weder die lateinische Sprache noch der christlich-theologischeHorizont vermochten Vielheiten zu standardisieren, solange sienicht auch in Hardware implementiert waren. Dies geschieht109Johann Georg Philipp Thiele (1781), An die Jünglinge von der Bildung durch Lektüre, 62, zitiert nach: Göttert2002: 102110Karl-Heinz Göttert, Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos, in: Kittler / Macho /Weigel (Hg.) 2002, 102, unter Bezug auf Friedrich Kittler111Marshall McLuhan, Understanding Media, New York 1964, 184. Dazu David R. Olson, McLuhan on literacy:"Bringing language in line with print", in: <strong>Der</strong>rick de Kerckhove / Amilcare A. Iannucci (Hg.), McLuhan e laMetamorfosi dell´uomo, Rom (Bulzoni) 1984, 51-59112Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy, Toronto 1962, 104


erst mit Techniken wie Leon Battista Albertis Perspektive oderder Zeichenmaschine Albracht Dürers; der Prozeß der optischenWahrnehmung wird zu einem standardisierten Verfahren. "Esbeginnt in dieser Zeit jene Technisierung des Sehens, die überFoto- und Filmapparate zu den Videosensoren unserer Gegenwartführt" und - so schon die These MarshallMcLuhans - durch den Buchdruck verstärkt wird, der den Sehsinnprivilegiert - womit <strong>das</strong> Buch(druck)zeitalter durch dieAusrichtung der menschlichen <strong>Sinn</strong>e auf die visuelle, optischlineareInformationsaufnahme den Boden für die Rezepzivitätder Bilderfluten des Internet überhaupt erst bereitet hat.McLuhan hat die Abkühlung des Tastsinns und der akustischenWahrnehmung durch die Aufheizung der einen Sehsinns infolgevon privilegierter Informationsaufnahme durch Lektüredefiniert; hier wird die Frage nach dem kaltenmedienarchäologischen <strong>Blick</strong> als Differenz von "heißen undkalten Medien" konkret. 113 In diesem Moment kommt Zeit kritischins Spiel. Die Differenz zwischen der Lesegeschwindigkeit vorund nach Gutenberg erinnert daran, daß mittelalterlicheHandschriften - wie vokalalphabetische Schriften infrühgriechischer Zeit 114 - laut gelesen wurden, z. T. auchgesungen; die Texte wurden den Schreibern (in Skriptorien)diktiert. Erkaltung des <strong>Blick</strong>s vom lauten Lesen zur reinenInformationsaufnahme im Buchdruck, ein Umkippen von Sehen undErtasten des Manuskripts auf Pergament ins Lesen papierernerBuchseiten. Die Gutenberg-Bibel erlaubte drucktechnisch auchden rechtsbündig geschlossenen Block: die ästhetischeGeometriesierung des Textes wurde durch Interpolation desspatium als Worttrenntype kalkulierbar. Damit erhöht sich dieLesegeschwindigkeit. 115Vilém Flusser hat die lineare Schrift einmal als„Ikonoklasmus“ des zweidimensionalen Bildes beschrieben.<strong>Blick</strong>technisches Erbe der 42zeiligen Gutenberg-Bibel aber istAnfang des 20. Jahrhunderts ausgerechnet <strong>das</strong> elektromechanischmit der Nipkowscheibe erzeugte 30-Zeilen-Fernsehbild. DieInformationsaufnahme geschieht auch dort noch zeilenförmig, wonicht gelesen, sondern schlicht optische Wahrnehmungmiteinander synchronisiert wird. 116 Das Fernsehbild ist zwarzeilenförmig gegliedert wie die quasi-militärischenBuchstabenformationen altgriechischer Texte (stoicheia), wird113Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf / Wien (Econ) 1968, Kapitel II114Jesper Svenbro, Phrasikleia. Anthropologie des Lesens im antiken Griechenland, Paderborn (Fink) 2005115Paul Saenger, Space Between Words. The Origins of Silent Reading, Stanford UP 1998; ferner: Dennis H.Green, Hören und Lesen. Zur Geschichte einer mittelalterlichen Formel, in: Wolfgang Raible (Hg.):Erscheinungsformen kultureller Prozesse, Tübingen 1990, 23­44, und ders., Medieval Listening and Reading,1994116Den Vergleich zwischen der Medientechnik des Buchdrucks und der Zeilenförmigkeit des TV­Bildes leisteteWolfgang Hoefer, Student der Kulturwissenschaft an der Humboldt­Universität zu berlin, am 24. Januar 2003unter dem Titel Lesen im Mittelalter; Lesegeschwindigkeit vor/nach Gutenberg, im Rahmen des Seminars <strong>Der</strong>kalte <strong>Blick</strong>. Medien als Subjekt und Objekt von Kulturwissenschaft, (Wolfgang Ernst), Wintersemester 2002/03,Seminar für Ästhetik, ebd.


aber vom menschlichen Auge nicht so wahrgenommen - parallelzur Erhöhung von Bewegungsgeschwindigkeit in den Kriegen des20. Jahrhunderts selbst. <strong>Der</strong> Logos selbst wird zeitkritisch:Physiologisch „lesen“ menschliche Augen <strong>das</strong> zeilenförmige TV-Bild zusammen, kognitiv „sehen“ sie es am Ende neurologischals Bild. Die einzelnen Fernsehzeilen in ihren Bestandteilensind eigentlich nichts als oszillierendeSpannungswertdifferenzen bei einem Aufbau von 625 Zeilen pro25/tel Sekunde, ihrerseits zerfallend in Halbbilder zurUnterdrückung des Flimmerns. Das Fernsehsignal ist einZeilensignal. Das zeitkritische Problen ergibt sich amZeilenende des Bilds: dieser Moment wird durch Synchronimpulsegetaktet. Kathodenstrahlröhren als Monitore von alten Rechnern(Erben der Radar-Technologie) wissen noch davon; demgegenüberdiskretisiert der gerasterte Pixel-Bildschirm die Zeilenihrerseits zu Bildatomen, zu visuellen stoicheia und elementa.Samuel Morse soll <strong>das</strong> Vorbild seiner statistischen Kalkulationvon telegraphischen Zeichen der Verteilung von Buchstaben inSetzkästen von Buchedruckern entnommen haben. GutenbergsLigaturen, für die er eigene Drucktypen herstellen muß (aus„e+t“ etwa „&“; ferner „ß“) folgten ihrerseits einem zugleichästhetischen wie zeitökonomischen Kalkül. Martin Luther wußtemit <strong>Blick</strong> auf seine Bibelübersetzung um den Koeffizient vonInhalt und Lesegeschwindigkeit; die Normierung der Schrift imBuchdruck und <strong>das</strong> Zeilenbild am Monitor stehen imMedienverbund. Die Kinästhetik des <strong>Blick</strong>s beginnt nicht erstmit der Chronophotographie, sondern bereits mit der Lektüre.Damit zurück zum Setzkasten, der diese Diskretisierungmechanisch schon impliziert. Eine Seite wird im Buchdrucknicht als Satz aufbewahrt; der Satz wird seinerseits wieder inBuchstaben aufgelegt. Diese Praxis triggert einekombinatorische Ästhetik. Ein Buchstabenblock, technisch ausTypen komponiert, erinnert also daran, daß Schriftbildlichkeitdie Materialtität der Lettern einblendet - GutenbergsMedienumbruch, der im typographischen Umbruch selbst zumterminus technicus wird, zentraler denn im Druckbild alsLayout-Erscheinung zweiter Ordnung.Visuelle Kommunikation und Schreibmaschine: Verständigung oderDatenabgleich?Korrespondiert mit dem kalten <strong>Blick</strong> der Anatomie, dem kaltenLesen, dem kalten Verstehen und dem kalten Schreiben notwendigein kalter Begriff von Kommunikation? <strong>Der</strong> medienarchäologische<strong>Blick</strong> sieht in massenmedialer Kommunikation einennachträglichen Effekt von Meßgerät; dem stellt Michael


Giesecke die frohe Botschaft einer multimedialen Gesprächsweltgegenüber. 117Es handelt sich um eine treffende Deutung, wenn einGrundlagentext zur Medientheorie des 20. Jahrhunderts, ClaudeE. Shannons Mathematical Theory of Communication von 1948, mit„Informationstheorie“ übersetzt wird. Hier geht es nämlichgerade nicht um communication als Verständigung im <strong>Sinn</strong>e derHermeneutik, um <strong>das</strong> „Verschmelzen von Verstehenshorizonten“(Gadamer) oder um eine Kommunikationsethik im <strong>Sinn</strong>e von JürgenHabermas, sondern um die kühle Kalkulation derWahrscheinlichkeiten, mit der eine kodierte Botschaft amanderen Ende der Leitung dekodiert werden kann. Niklas Luhmannzufolge ist Kommunikation unwahrscheinlich; Medien sind dazuda, diese Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit zuüberführen. Schauen wir auf <strong>das</strong> Flimmern und Rauschen derVideomonitors im Hintergrund: Erst wenn die VHS-Cassettelosspielt, wird daraus Bildform.Doch Shannons Entwurf ist nicht nur eine unwahrscheinliche,sondern eine Mathematische Theorie der Information (so diedeutsche Übersetzung 1963). Shannons Nachrichtentheoriezeichnet aus, daß sie ausdrücklich von der Semantik derBotschaften absieht, um Einsicht in <strong>das</strong> statistische Maß derWahrscheinlichkeit für gelungene En- und Dekodierung vonInformation im Kontext von engineering zu erlangen:Was <strong>das</strong> für Wesen sind, die als Datenquellen eine Nachricht zu übermitteln und als Datensenken eine Nachrichtentgegenzunehmen haben, also zum Beispiel Menschen oder Götter oder technische Geräte, kann dermathematischen Kommunikationstheorie dabei vollkommen gleichgültig sein. Sie fragt nicht nachirgendwelchen Wesen, für die die Nachricht, wie man sagt, <strong>Sinn</strong> oder Bedeutung hat, sondern erreicht ihreAllgemeinheit gerade dadurch, daß sie <strong>Sinn</strong> und Bedeutung ignoriert, um stattdessen den internen Mechanismusder Kommunikation zu klären. Die Nachricht, weil sie ja ohne jede Semantik gedacht wird, kann also vonbeliebigem Typ sein: eine Sequenz von Buchstaben wie in Büchern oder auch in Telegraphensystemen, eineeinzige in der Zeit veränderliche Größe wie die Sprach­ oder Musikschwingungen im Radio und aufSchallplatte. 118Gleichwohl bleibt wahr, daß eine auf Schriftzeichen reduzierteBotschaft zwar einen potentiellen Informationsgehalt, damitaber noch keinen <strong>Sinn</strong> besitzt. "In einer verlassenenBibliothek lebt kein Geist mehr: Papier und Tinte undDruckerschwärze haben ihre Bedeutung verloren.“ 119 Daher setztManfred Frank auf <strong>das</strong> „deutungsfähige Individuum“, durch <strong>das</strong>der quasi untote Text erst „aufersteht“ .Bis an Nietzsche mag <strong>das</strong> stimmig gewesen sein; doch derbediente sich - mit minus 14 Dioptrien Kurzsichtigkeit fast117Christoph Albrecht, Am Heeresgerät vergriffen. Elektronische Promiskuität als Ideal: Michael GieseckesEvangeliumder neuen Medien, über: Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen derInformationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienkökologie, in: Frankfurter AllgemeineZeitung Nr. 233 v. 8. Oktober 2002, L 27118Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung, Berlin (Merve) 2002, xxx119Manfred Frank, Die Grenzen der Beherrschbarkeit von Sprache, in: Forget (Hg.) 1984: 204.


lind - seit dem 4. Februar 1882 in Genua als erster Philosopheiner Schreibmaschine und lieferte sich den Vampyrzähnen ihrerTastatur aus - der buchstäblichen Atomisierung des <strong>Sinn</strong>s bishin zum Delirium, zur Zerstückelung des Individuellen. Soheißen denn Nietzsches Schreibmaschinen-Gedichte auch 500Aufschriften auf Tisch und Wand für Narrn von Narrenhand.Unter diesen Typoskripten unter anderem: „GLATTES EIS EINPARADEIS FÜR DEN DER GUT ZU TANZEN WEISS“. Hier ist die Kältebuchstäblich.Physiologische Sehschwäche ist hier Bedingung fürmedienarchäologische Einsicht. Nietzsches Schreibmaschine imUnterschied zu Goethes Tintenfaß, eine sogenannte Schreibkugeldes Kopenhagener Pastors Hans Rasmus Johan Malling Hansen, war- bevor sie auch in Büros zum Einsatz kam - zunächst fürBlinde und Taubstumme entwickelt worden. Dies stützt noch dieThese McLuhans, daß Medien als Prothesen menschlicher<strong>Sinn</strong>esdefekte, also als Funktion eines Mangels zustande kommen- was sich erst mit dem Computer radikal ändert und damit eineneue Epistemologie in Gang setzt. Aber nicht erst McLuhan,Nietzsche selbst vollzieht eine Medientheorie seinerSchreibmaschine im Vollzug. „Mit dem Hammer Fragen stellen welches Entzücken für einen, der Ohren noch hinter denOhren hat“, schreibt Nietzsche. 120 Die Schreibmaschine war fürFrierich Nietzsche nicht nur eine Prothese für seine mangelndeSehschärfe, den Augenblick, sondern er resoniert sie vielmehrmit medientheoretischem Ohr. Nietzsche schreibt fortan anmechanisierte „Worte-macher“ . „<strong>Der</strong> Hammer redet“- dieser Begriff Nietzsches aus der Götzen-Dämmerung wird wirklich im Hämmern auf der Schreibmaschine, dem„Verse schmieden“ . 121Siegfried Zielinski vertritt den Standpunkt einer„Archäologie, für die poetische Durchdringungen derMedienwelten einen besonderen Stellenwert haben“ 122 , inausdrücklicher Anlehnung an den Begriff der Magie in ErnstCassirers Aufsatz „Form und Technik“ (1930). Gerade dadurchaber unterscheidet sich Technik von Magie: durch die Ein-Eindeutigkeit ihrer Abläufe; von daher plädiert dervorliegende Text für eine Theorie, die an der Poesie dieMaschine sieht.Nietzsche schaut mit kaltem, signaltechnischen <strong>Blick</strong> auf dieSprache selbst, ist ihm doch <strong>das</strong> Wort schlicht die „Abbildungeines Nervenreizes in Lauten“, die an sich weder falsch nochwahr ist 123 , sondern gleichwahrscheinich wie 0/1 als kleinste120Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung (1888), in: Werke in drei Bänden, hg. v. Schlechta, xxx, Bd. 2, 941121Christof Windgätter, Inszenierung eines Mediums. Zarathustras „Vorrede“ und die Frage nach der „Sprache“,in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 110, September 2000, 89-97 (94)122Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek b.Hamburg (Rowohlt) 2002, 295123Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen <strong>Sinn</strong>e, KSA Bd. 1, 878


Informationseinheit (bit). Im typographischen Zeichen derSchreibmaschine findet dies zum Bild. Nietzsches Abwendung vonFragen der Rhetorik und seine Hinwendung zu Fragen des Körpersund des Rauschens ist damit als Reaktion auf dieWiderständigkeit des neuen Schreibgeräts lesbar; so wirdNietzsche sein handschriftliches „Krikelkrakel“ los und erlebt die Mechanisierung als Befreiung von dereigenen Subjektivität. <strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> steht metonymisch füreine Ästhesiologie der Mensch-Medien-Kopplung überhaupt.In einem Brief an Felice Bauer macht Franz Kafka diedramatische Differenz deutlich, die zwischen medialenFunktionen von Menschen und ihrer festen Kopplung an medialeDispositive herrscht. Nicht nur war Kafka selbst Angestellterim schreibmaschinisierten Großraumbüro einerVersicherungsanstalt in Prag; seine Verlobte arbeitet in einerFirma, welche Sprechmaschinen, sogenannte Parlographen,herstellte. Kafka, empfand, daß Menschen durch dieVerschaltung mit Maschinen selbst zu Schreibwerkzeuge und-materialisen werden. Nicht sie bedienen sich mehr derInstrumente des Schreibens, sondern werden von ihnenformatiert. „Sie sind nicht mehr sprechende Wesen, die dazubestimmt sind <strong>das</strong> Gesagte zu verstehen, sondern Medien, derenAufgabe es ist, die Botschaft anderer möglichst störungsfreizu übertragen und zu speichern“ 124 - bis hin zur Egge in KafkasErzählung In der Strafkolonie.Sprichwörtlich: „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unserenGedanken" 125 , undSCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR ­ VON EISENUND DOCH LEICHT ZU VERDREHN ZUMAL AUF REISEN:GEDULD UND TAKT MUSS REICHLICH MAN BESITZENUND FEINE FINGERCHEN, UNS ZU BENUETZEN. 126Doch dann der Einspruch der Materialität am Medium: "DasWetter ist nämlich trüb und wolkig, also feucht: da istjedesmal der Farbenstreifen auch feucht und klebrig, so daßjeder Buchstabe hängen bleibt, und die Schrift gar nicht zusehn ist." 127 <strong>Der</strong> <strong>Blick</strong> (auf die Schrift), also <strong>das</strong> notwendigeFeedback, <strong>das</strong> Monitoring, erkaltet. Schon dieserkommentierende Satz selbst ist aus der technisch notwendigenBeobachterdifferenz, mit der Stahlfeder, an seine SchwesterElisabeth Förster-Nietzsche geschrieben.124Asja Jarzina, In der Strafkolonie. Eine Schreibmaschinenmusik?, in: Programmheft der Aufführung derBerliner Kammeroper von In the Penal Colony, Musik Philip Glass, Hebbel-Theater Berlin, November 2002, 13-15 (14)125Friedrich Nietzsche an Heinrich Köselitz, Ende Februar 1882, in: Kritische Gesamtausgabe (Berlin / NewYork 1975ff), hg. v. G. Colli / M. Montinari, Briefwechsel, Bd. III 1, 172126Friedrich Nietzsche, aus seinem Konvolut mit Typoskripten, Goethe­Schiller­Archiv, Mappe Mp XVIII 3, 19127Friedrich Nietzsche, 21. März 1882, in: Kritische Gesamtausgabe (Berlin / New York 1975ff), hg. v. G. Colli /M. Montinari, Briefwechsel, Bd. III 1, 188


„`NIETZSCHE NIETZSCHE´? Die transparentblaue Spur desTypenabdrucks eines anilingetränkten Baumwollfarbbandes aufPapier im Kleinoktav-Format“ (Martin Stingelin). Aber diesesGeheimnis hat xxx Hahn vom Bundesamt für MaterialprüfunginBerlin gelüftet. Er hat <strong>das</strong> Farbband der SchreibmaschineNietzsches dem kalten <strong>Blick</strong> der Infrarotkamera ausgeliefert.Das Ergebnis der Suche nach Schriftspuren Nietzsches: nichts.Am Ende nichts als zerlaufene und verkrustete Pigmente. Waswill uns Nietzsches Schreibmaschienband damit sagen? „Thesemantic aspects of communication are irrelevant to theengineering aspects“ .Wenn zwischen Hand und Schrift keine bloße Prothese desMenschen mehr tritt, wie es der Stift für die Finger an derHand ist, sondern eine Appartur, welche die Handschriftbuchstäblich übersetzt, kommt ein distanziertes, insofernmedienarchäologisch faßbares Verhältnis zu Buchstaben alsdiskreten Elementen in all ihrer signifikanten Arbitraritätzustande. Hier findet also <strong>das</strong> Verhältnis von Medium undÜbertragung auf einer mikrophysikalischen Ebene statt.Buchstaben insistieren seitdem im Unbewußten. Heiner Müllerhat dies unter dem Titel Senecas Tod in einem Gedichtbeschrieben - in einer Typographie, die selbst an NietzschesSchreibmaschine erinnert:DIE FRAU INS NEBENZIMMER SCHREIBER ZU MIRDie Hand konnte den Schreibgriffel nicht mehr haltenAber <strong>das</strong> Gehirn arbeitete noch die Maschinestellte Wörter und Sätze her notierte die SchmerzenWas dachte Seneca (und sagte es nicht)Gelagert auf die Couch des PhilosophenZwischen den Buchstaben seines letzten Diktats 128Seneca, der „klinische Beobachter“ 129 , wird hier selbst zumObjekt des kalten <strong>Blick</strong>s eines anderen Dramatikers.Schriftsteller der Weimarer Klassik wie auch Nietzsche träumten von einer Maschine, die Gedanken direkt inGeschriebenes umwandeln konnte. Es wurde also mit den Störungen der Medien kreativ umgegangen,andererseits blieb der Traum von einer „Gedankenübertragungsmaschine“ bestehen. Goethe aber schreckt ­anders als Nietzsche angesichts der Schreibmaschine ­ vor Technologie zurück: „Das überhandnehmendeMaschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hatseine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.“ 130 Lichtenberg wünschte ein Schreiben, <strong>das</strong> dieGedanken unmittelbar umsetzt ­ <strong>das</strong> Phantasma der Telepathie. Sprechende Maschinen, speech­to­text­Programme und die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz verheißen, daß dieser Traum nicht zu Endeist.<strong>Blick</strong>distanzierungsmaschinen, mathematisch (die Perspektive)128Heiner Müller, Gedichte, Frankfurt/M. 1998, 250f129Carsten Schmieder, Die Behandlung des Mythos in den Tragödien Senecas, Magister-Arbeit im Fach Latein,Universität Potsdam, 2000, 44130Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Buch 3, Kap. 13, 1829


Erste Bilder aus (geometrischen) Daten waren dieperspektivisch errechneten - Leon Battista Albertis korrekte(„legittima“) Bestimmung der Punkte. <strong>Der</strong>selbe Albertientwirft, in noch konsequenterer Abstraktion, ein Verfahrendigitaler Bildübertragung als verlustfreie Tradition gegenüberden Erfahruhungen mit analoger Kopistik. 131 Um visuelleInformation (konkret: eine Karte von Rom) verlustfrei zuspeichern und zu übertragen, verfiel er auf den Gedanken, dieanaloge Vorlage durch Abtastung in digitale, alphanumerischeKoordinatenpunkte aufzulösen, so daß sich <strong>das</strong> Bild bei jederaktuellen Nutzung neu generieren ließ. Die Provokation liegtdarin, daß hier eine möglichst kontext- oder "kulturfreie"Form der Übermittlung von Information angestrebt wurde 132 - dieBedingung aller Nachrichtentechnik. Die Analogie und Differenzzugleich zum elektronischen Bild ist dessen zeitkritischeForm. „Gemeinsam ist allen Versuchen der Bildübertragung, daßdie Vorlagen in Punkte und Zeilen zerlegt werden müssen, weilder Informationsgehalt eines Bildes mit keinemÜbertragungsverfahren simultan und vollständig übermitteltwerden kann“ - womit auch klar gesagt ist,daß der medienarchäologische <strong>Blick</strong> (als Subjekt wie alsObjekt) zunächst Daten, aber nicht Bilder sieht.Bildtelegraphie wäre sonst kaum ermöglicht worden.Erwin Panofsky beschreibt in Die Perspektive als symbolischeForm (1924/25) diesen „mathematisierten Raum“. 133Die Rede ist von „symbolischer Form“, weil es sich nicht umeine physiologisch ("natürlich") gegebene Form handelt. <strong>Der</strong>Bildinhalt interessiert hier nur, insofern er sich partiellals Funktion dieser perspektivischen Konstruktion erweist -die Schnittstelle von Medienarchäologie und Kunstgeschichte.Im Unterschied zu Alberti ging die antike Malerei und(Tempel)Architektur von der sphärischen Linie (Krümmung) aus;der Krümmung (durch die Augenlinse) wird durch künstlicheGegenkrümmung (entasis) entgegengerechnet, vergleichbar demBegriff der „destruktiven Interferenz“ in der Akustik.Alberti und Gutenberg stehen im 15. Jahrhundert imepistemischen Verbund des (typo)graphischen Raums; dieEinführung des perspektivischen „Zentralpunkts“ (Fluchtpunkts)wiederum korrespondiert mit Fibonacci von Pisas Einführung derNull in die abendländische Mathematik. 134Doch ebenso ist ein konkretes katoptrisches Medium, derSpiegel, im Spiel. Denn die Geburt der Perspektive verdankt131Dazu Mario Carpo, xxx132Claus Pias, Kulturfreie Bilder, Berlin (Kulturverlag Kadmos) 2006133In: Erwin Panofsky, Studies in Iconology, New York (Oxford University Press) 1939; erw. Neuauflage 1962und 1972. Ferner: Samuel Edgerton, Die Entdeckung der Perspektive, München (Fink) 2003134Brian Rotman, , Berlin (Kulturverlag Kadmos) xxx


sich ferner dem Spiegelexperiment Bunelleschis 1425 vor demDom von Florenz. Eine Holztafel mit der Zeichnung desBaptisteriums verdeckt in dieser Anordnung den <strong>Blick</strong> (aus demDom) auf <strong>das</strong> gegenüberliegende Baptisterium selbst. Durch einLoch in der Tafel mit dahinter angebrachtem Spiegel aber läßtdie perspektivische Zeichnung <strong>das</strong> Baptisterium sich spiegeln.Perspektive ist also Mathematik plus Artefakt, die Formel fürmediale Technologie.Die Kunst der Perspektive ist eine Distanzierungsmaschine.Kognitive Distanz zwischen menschlicher Wahrnehmung(aisthesis) und dem Objekt der Wahrnehmung ist nachabendländischem Verständnis eine Bedingungenwissenschaftlicher Analyse. Als re-entry verhelfen technischeMedien dann zur Überbrückung dieser Distanz auf Beschreibungs-, Meß- und Informationsebene, schreiben aber damit auchverzerrend am Charakter dieses Wissens mit. Dies beginntjedoch bereits auf der aisthetischen Ebene; "tatsächlichscheint die Distanz zwischen Mensch und Phänomen schon in derKonstitution seiner Wahrnehmung begründet zu sein, die damitsowohl die Grundlage zur Ausbildung (medialer) Kulturtechnikenals auch technischer Medien darstellt." 135Die Entdeckung der Zentralperspektive bedeutete eineunvordenkliche Mathematisierung der Bilder, die damit den Raumder Anschaulichkeit verlassen - der <strong>Blick</strong> wird kalt undzugleich buchstäblich medientheoretisch. DieseMathematisierung trug im Kern damit schon die Überwindung derPerspektive durch die Riemannschen Räume nach sich:The suggestion that space beyond our immediate perception might be curved or that the appearance of objectsmoving about in an irregular curved space might change had a natural appeal to early modern artists. Theexistence of curved space would necessarily invalidate the linear perspective system, whose dominance since theRenaissance was being challenged by the end of the nineteenth century 136- jenseits der perspektivischen Diszplinierung des <strong>Blick</strong>salso, doch um den Preis der Unanschaulichkeit n-dimensionaler,non-euklidischen Räume (Anamorphosen zweiten Grades).Das euklidische Parallel-Axiom legt fest, daß sich zu einerGeraden durch einen nicht auf dieser Geraden liegenden Punktnur eine einzige andere Gerade zeichnen läßt, die ersterenicht im Endlichen schneidet 137 ; demgegenüber erlauben gekrümmteOberflächen (und damit auch Räume) genau solche Faltungen. 138Perspektivische Bildillusion ist nicht mehr die Frage, auchnicht "Pornoskopische Techniken des Betrachtens", mit demkessen Untertitel "Gustave Courbets L´origine du monde (1866)135Martin Donner weist in seiner Seminararbeit im Fach Medienwissenschaft der HU: Versuche der künstlichenErzeugung von Stimmorganen von Euler bis Helmholtz (datiert vom 28. Oktober 2005) in Anlehnung an dieHabilitationsschrift von Bernhard Siegert darauf hin136L. D. Henderson, The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art, Princeton 1983, 6137H. Hiller, Die modernen Naturwissenschaften. 1974, 36138Siehe Barbara Barthelmes, Klang und Raum, xxx 1995, 258-267


und der Penetrationskonflikt der Zentralperspektive" 139 . Läßtsich damit auch der Mathematik ein pornographischer <strong>Blick</strong>unterstellen, und die sublimierende Eskamotierung desskopischen <strong>Blick</strong>s durch den Fluchtpunkt? Mit Lacan gesprochensind es Nicht-Zahlen wie die Null, die erst jenes Imaginärefreisetzen, auf dem <strong>das</strong> Pornographische operiert, alsDurchdringung des Bildraums, als Skopisierung des Begehrens.Gewiß, <strong>das</strong> Sub-Jekt wird durch Perspektive positioniert. 140 Dochdie Grenzen der Veranschaulichung können alltagssprachlichnicht mehr ausgedrückt werden, sondern präzise nur nochmathematisch.Von Zeuxis über Brunelleschi bis Bach blieben Wahrnehmungen, die ein Anderer manipulierte, <strong>das</strong> Vorrecht vonKünsten. [...] Bei technischen Medien dagegen fällt diese Hilfskonstruktion dahin. Den perspektivisch verkürztenWeltausschnitt, wie er auf einer Photographie erscheint, hat kein Künstler aus ästhetischer Freiheit entworfen; eswar vielmehr (wie der Photographieerfinder Henry Fox Talbot einst so schön formulierte) ein Bleistift der Naturselber am Werk. 141Den kalten, medienarchäologisch aktiven <strong>Blick</strong> beschreibtWalter Benjamin lange vor Jacques Lacan: "Was an derDaguerrotypie als <strong>das</strong> Unmenschliche, man könnte sagen Tödlichemußte empfunden werden, war <strong>das</strong> (übrigens anhaltende)Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat <strong>das</strong> Bild desMenschen aufnimmt, ohne ihm dessen <strong>Blick</strong> zurückzugeben." 142 Abergilt <strong>das</strong> nicht schon für Malerei? Vorbild für Gustave CourbetsL`origine du monde waren möglicherweise pornographische Bilderaus dem Stereoskop. Damit aber ist nicht der perspektivische,sondern ein virtueller Raum eröffnet, der erst im Apparatzustandekommt - was jedes nachträgliche Ölgemälde geradezukamoufliert. 143 Denn es gibt inzwischen Formen der Wahrnehmung,die nicht mehr menschlich sind, sondern aisthesis medialis.Rück-<strong>Blick</strong>e: Sehstrahlen, Rilke, LacanVor Alberti und Brunelleschi, vor der Perspektive warenvisuelle Wahrnehmung und <strong>Blick</strong> anders kodiert. Laut Lukrez´ <strong>Der</strong>erum natura „lösen Gestalten sich, hauchzarte Bilder“ von derOberfläche der Dinge, „der Hülle, der Schale, Borke wie Haut“.Lukrez zufolge schwirren diese Bilder, vom menschlichen Augezumeist unbemerkt, umher. 144Die Antike entwickelte eine artifizielle Perspektive, abernicht nach Maßgabe einer mathematisch geometrisiertenDarstellung. Die Sehstrahltheorie führte zur Blindheit139Vortrag von Linda Hentschel am 13./14. Dezember 2002, Kolloquium "Gewaltzuschreibungen"(Graduiertenkolleg Kodierung von Gewalt im medialen Wandel an der Humboldt­Universität zu Berlin)140Jonathan Crary, Techniques of the Observer, xxx141Friedrich Kittler, Phänomenologie versus Medienwissenschaft, xxx142Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, 646143Kaja Silverman, Threshold of the Beholder, xxx144Zum „einleuchtenden Bild“ (eidolon enargés) siehe Franz 1999: 206


gegenüber solchen Evidenzen. 145 Die bis weit ins Mittelalterhineinwirkende Sehstrahl-Theorie des <strong>Blick</strong>s (hier ganztautologisch: theoría und <strong>Blick</strong>) repräsentiert denanthropologischen, körper-zentrierten <strong>Blick</strong> auf den <strong>Blick</strong>:seine geradezu taktile Qualität, seine Materialität, die sichin Reflexionen über <strong>das</strong> Zeitintervall der vom <strong>Blick</strong> (etwa aufSterne) zurückzulegenden Strecke manifestiert. 146 Das Modell der„non-verbalen Kommunikation“ rechnet diesen <strong>Blick</strong> unter diemotorischen Kanäle (<strong>Blick</strong>kontakte) - ein genuin medialerBegriff des Seh-Akts. Und so obsolet ist dieser Ansatz nicht:in Technologien des eye-tracking kehrt er heute zurück, in derdurch Philipp von Hilgers und Axel Roch entwickelten MindReading Machine. 147Euklid und Galen formulieren eine Sendetheorie des Sehens,„nach welcher Strahlen vom Auge ausgehen, die <strong>das</strong> zwischenAuge und sichtbarem Gegenstand liegende Medium umwandeln, undnach welcher dieses Medium dann die Seheindrücke zum Augebringt“ .Dem gegenüber steht die Empfangstheorie von zusammenhängendenBildern oder Formen. Doch erst der um 965 in Basra geborenearabische Naturforscher Abu ´Ali al-Hasan ibn al-Hasan ibn al-Haitan, genannt in Europa Alhazen, nutzt „die punktweiseAuflösung eines sichtbaren Gegenstandes als Grundlage für eineEmpfindungstheorie“ 148 - eine Rasterung, welche eineeineindeutige Beziehung zwischen Auge und Objekt herstellt. 149Dies führt unmittelbar zu Keplers Theorie des Netzhautbildes.Von Kepler wird <strong>das</strong> Auge "als ein passives, totes `Instrument´zur mechanischen Erzeugung von Bildern verobjektiviert", somit"<strong>das</strong> Sehen entanthropomorphisiert und von den übrigen<strong>Sinn</strong>esorganen" abgesondert 150 .„Das Sehen folgt einem Modus, den man allgemein mitBildfunktion bezeichnen könnte. diese Funktion ist definierbardurch zwei Einheiten im Raum, die sich Punkt für Punktentsprechen“ - Albrecht Dürers Gitter in derAnweysung. „Dabei ist es gleichgültig, über welche optischenVermittlungen die Beziehung läuft, und es ist gleichgültig, obein Bild virtuell oder real ist, wesentlich ist die Punkt-für-Punkt-Entsprechung“ - eine Diskretisierung also, die145Gérard Simon, <strong>Der</strong> <strong>Blick</strong>, <strong>das</strong> Sehen und die Erscheinung in der antiken Optik [*Le regard, Paris 1988], aus d.Frz. v. Heinz Jatho, München (Fink) 1992, 240ff146Dazu Christof L. Diedrichs, Slow motion. Bewegung im mittelalterllichen Kirchenraum“, Vortrag auf demKolloquium Kunst der Bewegung, Berlin, 14.-16. November 2002147xxx148David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler,Frankfurt/M. 1987, 117149Siehe die Ausgabe Friedrich Risners von Alhazens De aspectibus, Basel 1572150Ulrike Hick, Die Optische Apparatur als Wirklichkeitsgarant. Beitrag zur Geschichte der medialenWahrnehmung, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 3/1/1994,88


Essens der elektronischen Bildabtastung und digitalerVerpixelung. Diese Geometrisierung des <strong>Blick</strong>s wurzelt inAlbertis Perspektiv-Lehre und instituieren <strong>das</strong> cartesischeSubjekt - buchstäblich ansiedelbar in einem kartesischenKoordinatensystem. Doch gerade hier ist die Sichtbarkeitgelöscht durch Mathematik (der kalte <strong>Blick</strong> der Theorie):Bei der geometralen Perspektive geht es ausschließlich um die Auszeichnung eines Raums und nicht um <strong>das</strong>Schauen. So ist ein Blinder durchaus in der Lage zu begreifen, daß ein Raumausschnitt, den er kennt und den erals real kennt, auf Distanz und gleichsam simultan wahrzunehmen ist- schreibt Lacan unter Bezug auf Diderots Briefüber die Blinden zum Gebrauch der Sehenden. Zwischen Tastenund Sehen formuliert sich <strong>das</strong> Molineux-Paradox.„Im Medium dieser Bahnung optischer Signale schreibt der <strong>Blick</strong>sich einer anderen Ordnung des Raumes ein als sie für dieOrdnung des Buchstabens gilt.“ 151 In Pixel-Bildern schließlichtritt der mathematische <strong>Blick</strong> vollends an die Stelle desikonischen; extrem verlangsamt projiziert, löst sich eindigitalisierter Film in bewegte Quadrate auf (Angela Bulloch).Sehen und Gesehenwerden heißt nicht schlicht Panoptizismus undÜberwachungsraum. Lange vor Lacan hat Rainer Maria Rilkeangesichts eines archaischen Torso des Apoll im Louvre vonParis sich davon betroffen gesehen, daß <strong>das</strong> Objekt, wenngleichselbst kopflos, auch den Betrachter anschaut: „sein Torsoglüht noch wie ein Kandelaber denn da ist keine Stelle,die dich nicht sieht.“ 152 Prompt stammt der Torso aus einemantiken Theater (<strong>das</strong> kleinasiatische Milet).Michael Franz verweist in dem Zusammenhang auf Hegel: „DieKunst macht jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus,damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punktengesehen werden.“ 153 Gegen die „kalte“ Beschreibung einerBildsäule aus Marmor (die tatäschlich kalt ist) steht <strong>das</strong>Phantasma des Pygmalion; darauf verweist der Untertitel vonHerders Schrift Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form undGestalt aus Pygmalions Bildendem Traume. 154 Eine Filmkamera, diezugleich Projektionsapparat war, heißt um 1900 Pygmalion. 155151Michael Wetzel, Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarische zu dentechnischen Medien, Weinheim (VCH / Acta Humaniora) 1991, 56152Rainer Maria Rilke, Archaischer Torso Apolls, in: <strong>Der</strong> Neuen Gedichte anderer Teil (1908), in: ders., NeueGedichte, Frankfurt/M. 1990, 503153G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: ders., Werke in 20 Bänden, Bd. 13, Frankfurt/M. 1970,203; Hervorhebungen von Franz 1999: 76154Siehe Dorothee von Münche, Veil of Illusion, xxx155Hinweis Peter Geimer. Siehe Eugen Trutat, La photographie animée (1897)


Auch Medien schauen uns an. Wenn Medien selbst schauen,praktizieren sie den Medusa-<strong>Blick</strong>. Als Sehender stehe ichnicht vor, sondern immer schon im <strong>Blick</strong>feld, <strong>das</strong> mich erfaßthat, bevor ich selbst sehen kann. Hier liegt nicht nurpsychoanalytisch, sondern auch medientheoretisch der ganzeWitz von Dissimulation und Subjektkontrolle, wie sie JonathanCrary in Techniques of the Oberserver als Funkton optischerApparaturen rekonstruiert hat.Was geschieht, wenn aus einem Gemälde, etwa Strozzis HeiligeKatharina im Anton-Ulrich-Museum von Braunschweig, uns Augendirekt anschauen, bzw. wenn spezialisierte Neuronen in unseremHirn diese Gestalt sogleich als <strong>Blick</strong> erkennen? Ein kalter<strong>Blick</strong>:Dieser <strong>Blick</strong> hat nichts Bedrohliches für mich, weder mißt er mich, noch sucht er mich festzulegen, weil eszwischen meiner Sichtbarkeit und der des Dargestellten keine Kontinuität gibt. Mein <strong>Blick</strong> verliert seineAggressivität, da diese im Dargestellten keinen Widerpart findet. Er wird gleichsam auch mich selbstzurückgewendet 156- mithin reflektiert; Lacan schreibt von der Niederlegung des<strong>Blick</strong>s, wie man die Waffen niederlegt.Photographie, schmerzlos<strong>Der</strong> Effekt der Stereoskopie war schon vor der Photographieentdeckt, doch „mankind had to wait until the 1840´s beforebeing able to produce, by photography, a satisfactory pair ofpictures which could be fused stereoskopically in the brain ofthe observer.“ 157 Damit wird menschliche Wahrnehmung alskognitiver Akt von der bloßen Photographie unterscheidbar: DieRäumlichkeit des Sehens ist keine Leistung des Auges, sondernder Nerven und des Gehirns. 158 Brewsters Schrift TheStereoscope. von 1856 umfaßt alle drei dieser Bereiche.Die Photokamera - zeitkritischer als alle Malerei -registrierte (in erstmals technischer Konkurrenz zuKriegstagebüchern und Kriegsmalern) den Krim-Krieg nicht mehrnur historio-, sondern photo-graphisch: „The sun will thusbecome the historiographer of the future“ .Ernst Jünger hat die Techno-Ästhetik des photographischen<strong>Blick</strong>s explizit formuliert: „Das neue Gesicht, wie es heute in156Peter Bürger, Wenn wir die Augen niederlegen. Vor der heiligen Katharina: Was ist die Faszination derBilder?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 273 v. 23. November 2002, 38157Rudolf Kingslake, Introduction, in: David Brewster, The Stereoscope. Its History, Theory, and Construction.With its application to the Fine and Useful Arts and to Education, London (Murray) 1856, Reprint Hastings-on-Hudson, N. Y. / London (Morgan & Morgan) 1971158Dazu Hankins / Silverman (Hg.) 1995: Kap. 7 „The Giant Eyes of Science: The Stereoscope and PhotographicDepictionin the Nineteenth Century“, 148ff


jeder illustrierten Zeitung zu finden ist, istseelenlos, wie aus Metall gearbeitet , und es besitztohne Zweifel eine echte Beziehung zur Photographie“ . Gilt dies auch im Cyberspace? „Die Tatsache, daßwir heute breits wieder imstande sind, den Anblick des Todesmit größerer Kälte zu ertragen, erklärt sich dadurch,daß wir in unserem Körper nicht mehr in der alten Weise zuHause sind“ . Zunächst aber verhelfen optische Medien zurDistanz:Monokel wie Kamera zeigen die Tendenz, Menschen in Dinge zu verwandeln. Filmstars und Massenidolewerden durch die Fotografie in die Öffentlichkeit gebracht. Sie werden zu Träumen, die man mit Geld kaufenkann. Man kann sie kaufen, greifen oder an sich drücken wie öffentliche Dirnen. die Fotografie brachte JeanGenet auf <strong>das</strong> Thema der Welt als Bordell ohne Wände. 159Hatte der Holzstich noch eine Syntax, verschwindet dieses„Raster der Rationalität“ aus den späten Drucken,genauso wie sie die Tendenz zeigt, aus Telegrammtexten und aus der impressionistischen Malerei zuverschwinden. Schließlich schien im Pointillismus Seurats die Welt durch <strong>das</strong> Bild durch. Die Anwendung einessyntaktischen Standpunktes auf die Malerei von außen her hörte auf, als die literarische Form mit der Telegrafiezu Schlagzeilen zusammenschrumpfte. Mit der Fotografie hatten / die Menschen in gleicher Weise entdeckt, wieman Bildberichte ohne Syntax geben kann. Im Daguerrotypieverfahren gab es <strong>das</strong>selbe Tüpfeln oderGegenübersetzen von winzigen Pünktchen, wie es später im Pointillismus ein Echo fand und in jenemMaschennetz der Zeitungen noch wiederkehrt, <strong>das</strong> wir „Funkbild“ nennen. Ein Jahr nach Daguerres Entdeckungmachte F. B. Morse eine Fotografie von seiner Frau und seiner Tochter in New York. So trafen sich Punkte für<strong>das</strong> Auge mit Punkten für <strong>das</strong> Ohr auf dem Dach eines Wolkenkratzers. 160Lorraine Daston nennt es die „mechanische Objektivität“,welche auf die Ausschaltung aller Formen des menschlichenEingriffs in die Natur abzielt - keine anthropologische, d. h.ästhetisierende Verfälschung der Daten, dagegen medialeaisthesis, kulminierend im Photoapparat, auch wenn dessenDetailgenauigkeit (durch Alexander von Humboldt zunächstgefeiert) zuweilen noch zu wünschen übrigließ. Es gingvornehmlich um Authentizität: "Allein durch die Art und Weise,wie der Fotoapparat funktonierte, schuf er die Illusion einesnicht durch menschlichen Eingriff vermittelten Abbilds." 161William Henry Talbot hält 1839 vor der Royal Society seineAbhandlung Bericht über die Kunst des Lichtbildzeichnens oderdes Verfahrens, mit dessen Hilfe natürliche Gegenstände dazugebracht werden können, ohne Dazutun des Stiftes einesKünstlers sich selbst abzuzeichnen. „Er war sich dessen vollbewußt, daß Fotografie eine Art Automatisierung bedeutete,welche die snytaktischen methoden mit Feder und Bleistiftausschaltete“ . Photographie registriertpassionslos - Kunst wie technische Bilder, Profanes wiePoetisches. Etwa die Photographie eines Häuserpanoramas:159Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. „Understanding Media“ [orig. 1964], Düsseldorf / Wien (Econ)1968, 206160McLuhan 1968: 206f, unter Verweis auf die Arbeit von William M. Ivins161Lorraine Daston, Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, dtsch. in: Science + Fiction. ZwischenNanowelt und globaler Kultur, hg. v. Stefan Iglhaut / Thomas Spring, Berlin (Jovis) 2003, 45-64 (60)


Ein wahrer Wald von Schornsteinen säumt den Horizont: Denn <strong>das</strong> Instrument registriert alles, was eswahrnimmt, und einen Schornsteinaufsatz oder einen Schornsteinfeger würde es mit der gleichenUnparteilichkeit festhalten wie den Apoll von Belvedere. 162Ernst Jüngers Bildband <strong>Der</strong> gefährliche Augenblick (1931) zeigtZug- und Flugzeugunglücke, unter Anderem eine Vorwegnahme derSelbstmordbomber vom 11. September 2001 in Washington und NewYork: „Mineola. Sturz eines amerikanischen Verkehrsflugzeugesauf ein Haus. Flugzeug und Haus gerieten in Brand“. Das kalte Medium Photographie (undRadio und Fernsehen avant la lettre) steht im Bund mit derNatur der Katastrophe selbst:So erscheint der alltägliche Unfall selbst, der unsere Zeitungen füllt, fast ausschließlich als Katastrophetechnischer Art. Darüber hnaus ist an dieser zugleich nüchternen und gefährlichen Welt <strong>das</strong> Wunderbare dieRegistratur der Augenblicke, in denen die Gefahr erscheint, ­ eine Registratur, die wiederum, wenn sie nicht <strong>das</strong>menschliche Bewußtsein unmittelbar übernimmt, durch Maschinen geleistet wird. Es gehört keine prophetischeBegabung dazu, vorherzusagen, daß bald jedes beliebige Geschehnis an jedem beliebigen Punkte sowohl zusehen wie zu hören sein wird. Schon heute gibt es kaum einen Voragng, der Menschen von Bedeutung scheint,auf den nicht <strong>das</strong> künstliche Auge der Zivilisation, die photographische Linse gerichtet ist. So entstehen oftBilder von einer mathematischen Dämonie, durch die <strong>das</strong> neue Verhältnis des Menschen zur Gefahr auf einebesondere Weise sichtbar wird. 163Da haben wir sie, die Geometrisierung, ja Mathematisierung des<strong>Blick</strong>s. Und weiter:Man muß erkennen, daß es sich hier weit weniger um die Eigenart neuer Mittel handelt als um einen neuen Stil,der sich technischer Mittel bedient. Dies leuchtet ein, wenn man die gleichzeitige Veränderung seit langem zurVerfügung stehender Mittel, so etwa der Sprache, untersucht. So wenig unsere Zeit an Literatur im alten <strong>Sinn</strong>ehervorbringt, so Bedeutendes leistet sie in bezug auf den sachlichen Erlebnisbericht. Das Bedürfnis desMenschen kommt ihr entgegen, dies erklärt unter anderem der Erfolg der Kriegsliteratur. Damit korrespondiert <strong>das</strong> Vorwort des Herausgebers FerdinandBucholtz: „ein neuartiges, ebenso unsentimentales wieunliterarisches Bilder- und Lesebuch zu schaffen.“ Trifft derkalte <strong>Blick</strong> hier auf ein anthropologisches Dispositiv? Jüngerdiagnostiziert „die absolute Gefahr“ als medientechnischeEskalation von Lessings Definition des prägnantes Moments(sein Traktat Laokoon von 1766). Er differenziert diezeitliche Modalität des (gefährlichen) Augen-<strong>Blick</strong>s, Ende der30er Jahre im Stück An der Zollstation beschrieben: „Wirunterscheiden zwischen dem Tode und dem Sterben nicht scharfgenug. Diese Unterscheidung ist insofern von Wert, als vieles,was wir dem Tode zuschreiben, sich bereits im Sterbenvollzieht“ .Jünger charakterisiert den Zeitabschnitt als „Spanne,diezugleich zur Zeit und auch nicht mehr zu Zeit gehört“ - eine Art räumliche162William Henry Fox Talbot, <strong>Der</strong> Zeichenstift der Natur, in: Die Wahrheit der Photographie, hg. v. W. Wiegand,Frankfurt/M. 1981, 61163Ernst Jünger, „Über die Gefahr“, in: Augenblick 1931: 11­16 (16)


Dehnung der Zeit, <strong>das</strong> Intervall. <strong>Der</strong> photographischeSchnappschuß aber ist <strong>das</strong> Gegenteil von Lessingsmediensemiotischen Maximen, der für <strong>das</strong> Bildliche verlangt,nie den Moment selbst zu zeigen, <strong>das</strong> Häßliche - den Moment derGuillotinierung etwa (Iris Därmann).Karl Heinz Bohrer entdeckt in Jüngers Beschreibung destechnischen Wahrnehmungs-Instruments Photographie alsErsetzung der subjektiven Empfindung durch eine„Vergegenständlichung unseres Weltbildes“ einPendant zu Walter Benjamins Aufsatz über Das Kunstwerk imZeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: den Aura-Verlust.Jünger, der selbst nicht photographiert (aber mitphotographisch kaltem <strong>Blick</strong> Insekten und Hirschkäfer aufspießtin seiner Sammlung), trennt <strong>das</strong> „zweite Bewußtsein“, denemphatischen modernen kalten, weltkriegserprobten <strong>Blick</strong> desTypus´ seiner neuen Zeit vom empathischen <strong>Blick</strong> (Meyer-Kalkus). Jünger beschreibt Photographie als „Ausdruck der unseigentümlichen, und zwar einer sehr grausamen Weise zu sehen“. „Dieses zweiteund kältere Bewußtsein deutet sich an in der sich immerschärfer entwickelnden Fähigkeit, sich selbst als Objekt zusehen“ , analog zu Kants und FoucaultsDeutung des neuzeitlichen Menschen als empirisch-transzendenteDoublette.Johann Wilhelm Ritters bio-physiologischen Selbstversuche um1800 hatten diese Ästhetik praktiziert; Ritter wurde zum„Menschmedium“, indem er seine Augen bis zu 20 Minuten demgrellen Sonnenlicht direkt aussetzte und dabei die Lider durcheine künstliche Vorrichtung gewaltsam offen hielt, umFarbreaktionen des Sehsinns zu testen 164 - Ästhetik desSchreckens.Jüngers 1934er Essay Über den Schmerz beschreibt eine nochkältere Ordnung: "Es ist dies die technische Ordnung selbst,jener große Spiegel, in dem die wachsende Vergegenständlichungunseres Lebens am deutlichsten erscheint, und die gegen denZugriff des Schmerzes in besonderer Weise abgedichtet ist. DieTechnik ist unsere Uniform.“ 165 Jünger visioniert hier dieMensch-Maschine-Kopplung, denkt diese jedoch noch primär vonder Maschine her, nicht vom „rechnenden Raum“ (Konrad Zuse).Dieser aber ist implizit schon angelegt in der Kriegsmaschine:„Ein Vorgang wie etwa die Belagerung von Jerusalem unter Titusbirgt in sich ein hohes Maß an Mathematik“ .164Dazu Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens,Reinbek b. Hamburg (Rowohlt) 2002, 223165Ernst Jünger, Über den Schmerz, in: ders., Blätter und Steine [*Hamburg 1934], 2. Auflage Hamburg(Hanseat. Verlagsanstalt) 1941, 157-216 (194)


„Das `Pathos der Distanz´ ist nicht ein Kennzeichen der Macht,sondern des Willens zur Macht“ . HelmuthPlessner beschreibt in Grenzen der Gemeinschaft 1924 denBegriff der Gesellschaft als die „kalte Form“ derGeselligkeit. Damit korreliert der eher technische Begriff derZivilisation im Unterschied zum Wertbegriff Kultur. Zum Einenist es der statistische <strong>Blick</strong>, der zunehmend sozialenBeziehungen reguliert - ein mithin apparativer Begriff desSozialen. Damit korrespondiert der kalte <strong>Blick</strong> deranalytischen Soziologie selbst, beerbt von den TelevisonäreMedien, die <strong>das</strong> Pathos der Distanz technisch realisieren.Aus der (kollektiv subjektiven) Erfahrung einer technisiertenGesellschaft - insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg -resultierte ein ideologisch (und im Nationalsozialismus aufdie Spitze getriebener) aufgeladener Gegenbegriff derGemeinschaft:Maßlose Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionenbedingt maßlosen Gegenwurf im ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft. <strong>Der</strong>Rechenhaftigkeit entspricht im Gegenbild die Seligkeit besinnungslosen Sichverschenkens. Mit der gesinnungsmäßigen Preisgabe eines Rechts auf Distanz zwischen Menschen im Idealgemeinschaftlichen Aufgehens in übergreifender organischer Bindung ist der Mensch selbst bedroht. 166Distanz ist damit eine Sozialtechnik, im Verbund mit demkalten <strong>Blick</strong> selbst: „die Weite des Abstandes, den eine Personkraft ihrer repräsentativen Stellung beansprucht und erzwingt,hebt ihre Sichtbarkeit, d. h. mehrt ihr Ansehen“; Plessnerschreibt von Nimbus , analog zu Walter BenjaminsBegriff der Aura. So kommt es zur paradoxen Figur „einenMenschen gleichzeitig maximal sichtbar zu machen und zuverhüllen“ . Distanzrituale wie <strong>das</strong> Zeremoniell oderdie kirchliche Liturgie praktizieren maskierten Ausdruck inder Zone der Öffentlichkeit: „In ihr verschonen sich dieMenschen um ihrer Würde willen durch Spielregeln voneinander“(Prestige, Diplomatie). 167 Plessner sieht die Rituale derMaskierung als sozialen Sicherungsfaktor; die WeimarerRepublik kennt den gepanzerten Charakter. Jünger hält <strong>das</strong>„neue Gesicht“, wie es ihm in den Illustriertenentgegenschaut, für „seelenlos, wie aus Metall“ 168 . Und im Bunddamit Carl Schmitts Leviathan: „Vor solchen technischvollkommenen Armaturen versagt die Frage nach Recht undUnrecht“ . Das klassische Augedes Gesetzes wird indifferent. Spengler, Freyer, Dessauer undSchmitt definieren solche Effekte der Technik positiv, imUnterschied zur „Negativität der Jüngerschen Diagnostik“; unter umgekehrten ethischen Vorzeichen der166Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [*1924], in: ders.,Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux u. a., Frankfurt/M. (Suhrkamp), Bd. 5: Macht und menschliche Natur,1981, 7-134 (28)167Zitiert nach: Christian Geyer, Die Hygiene des Taktes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 66 v. 19. März2002, L 20168BluStu 207, zitiert nach: Bohrer 1978: 463


Besorgnis schreibt sich dieser <strong>Blick</strong> in McLuhans und ViriliosMedienkatholizismus fort.Nun sucht Medientheorie Phänomene des „kalten <strong>Blick</strong>s“ nichtallgemein und anthropologisch, sondern in ihrer Medialität,also Vermitteltheit zu beleuchten. <strong>Der</strong> „kalte <strong>Blick</strong>“ wird also„als ‚metamediale' Form verstanden, die ihre Spezifika durchdie Materialität des jeweiligen Mediums erhält, in dem sierealisiert wird. Als Kommunikations- und Vermittlungsstrategieist sie Teil der Mediengeschichte.“ 169 Text- und Bildschauräume(Imagination, Display) üben Routinen des kalten <strong>Blick</strong>s ein:„ein Umschlagen des <strong>Blick</strong>s, initiiert durch Teilhabe amerzeugten Schauraum“ . Doch jeder Rück-Importwissenschaftlicher Begrifflichkeit ist zweischneidig. Was wieMedienanthropologie aussieht, als Untersuchung der Kopplungvon Mensch und medialem (oder besser: kulturtechnischem)Dispositiv, ist auch umgekehrt lesbar: als Ent-Menschlichung,als Mechanisierung der menschlichen Wahrnehmung a priori, wieschon Maurice Blanchot den homerischen Gesang der Sirenendeutete: Gerade dessen Menschenähnlichkeit erinnert den Hörerunheimlich daran, daß sein eigener Gesang vielleicht eineschlichte mechanische Funktion ist. An dieser Stellereflektiert Homers Odyssee seine eigenen Techniken, denStimmapparat des Sängers und <strong>das</strong> neue Speichermedium seinerGesänge, <strong>das</strong> Vokalalphabet.Unter hochtechnischen Bedingungen aber sind dermedienarchäologische <strong>Blick</strong> und tradierte Wahrnehmungsweisennicht mehr ineinander übersetzbar. Hier liegt die genuinmediale Differenz zu anthropozentrischen Kulturtechniken:Hochfrequenzen sind gerade darum <strong>das</strong> einheimische Reich technischer Medien, weil ihnen überhapt keineWahrnehmung mehr beikommt, weder die analytische im subsonischenbereich noch auch die notgedrungensynthetische im Frequenzband Musik. Sämtliche Übertragungen und Speicherungen, Berechnungen undManipulationen, wie sie Menschensinne täuschen sollen, finden deshalb, unsichtbar und unhörbar , hintermRücken von Auge und Ohr statt 170- jenseits aller Ästhesiologie. <strong>Der</strong> kalten <strong>Blick</strong> wird soselbst zu einer vertrauten Metapher, welche diekulturtechnische Eskalation der Auslagerung von Wahrnehmung anPräzisionsmedine verharmlost.Die mittelalterliche Multisensualität koppelte Bilder undSchriften unmittelbar an menschliche <strong>Sinn</strong>e, Augen und Ohren,Tasten und Finger. Schreiben auf Haut (Pergament).Demgegenüber war es die Abstraktionsleistung der Renaissance,perspektivische Bilder aus Geometrien und Zahlen zu errechnen- was den Betrachter vom <strong>Blick</strong>punkt her ins Außen des Bildes169Aus dem Exposé zur Tagung: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln invirtuellen Welten. Arbeitstagung des Projekts A1 „Repräsentation und Kinästhetik“ im Sfb 447 Kulturen desPerformativen, 14. bis 16. November 2002, Humboldt­Universität Berlin170Friedrich Kittler, „Vernehmen, was Du wähnst“. Über neuzeitliche Musik als akustische Täuschung, in:Kaleidoskopien Heft 2 (1997), 8-16 (15)


katapultiert. Dies kulminiert in der Multimediawelt derGegenwart: Was aussieht wie ein Wiederanschluß anmittelalterliche „Medienökologie“ (Michael Giesecke), ist umsounerbittlicher (und unsichtbar, eskamotiert) davon getrenntdurch strenge alphanumerische oder gar nur binäre Berechnung.Neue Ordnungen des Sichtbaren wurden durch Photographiegeschaffen, „wie sie bildgebende Verfahren heute darstellen“ 171 .Ein Gewährsmann von Lev Manovichs The Language of New Media(MIT Press 2001) ist ausdrücklich Dziga Vertov und dessenZiel, die Begrenztheit menschlicher Sehfähigkeiten undBewegungen im Raum aufzuheben, um einen effizienteren Zugangzu den Daten der Wahrnehmung zu erhalten: seinerzeit Film, undjetzt wirklich der Computer. Doch "die verräumlichteDarstellung von <strong>Sinn</strong>esdaten im Computer geht nicht auf Vertovzurück, sondern auf militärische Flugsimulatoren von 1930.“ 172Bildgebende Verfahren strictu sensu basieren aufmathematischen Operationen, generieren also ganz neue Typenvon Bildern (wenngleich für menschliche Augen indifferent) -nicht mehr nur buchstäblich, sondern alphanumerisch „neueOrdnung des Sichtbaren“, neues Gesetz des Sag- oder Sichtbarenim <strong>Sinn</strong>e von Foucaults Archiv-Begriff.Jünger wählt, anstelle der menschlichen Ästhetik, dieaisthesis des Kamera-<strong>Blick</strong>s, ihrer Perspektive auf den Momentdes „gefährlichen Ereignisses“. Welche <strong>Blick</strong>weise haben wirvon dem der Medien zu lernen?<strong>Der</strong> von der Kamera gewährleistete Perspektivismus wird durch sine reine Oberflächentruktur und durch dieschwarz­weiße Bildqualität ergänzt: Die Vorkommnisse sind alle in <strong>das</strong> glehce graue Licht einesdokumentrischen Kontextes getaucht, der die jeweiligen Umstände nicht genauer erklärt. Letztlich aber - so die These von Meyer-Kalkus - deutet JüngerPhotographie nicht medientechnisch, sondern anthropologisch:als Eskalation dessen, was im Menschen schon angelegt ist.Es ist eine direkte Funktion des Weltkriegs, die Jüngerschreiben läßt: „Wir arbeiten wie kein anderes Leben voruns, mit künstlichen Gliedern“ . Mediale Prothesenim <strong>Sinn</strong>e McLuhans aber sind längst nicht mehr anthropomorph.Mit dem „zweiten Bewußtsein“ als Vergegenständiglichung desWeltbildes korrespondiert noch der „Aufbau seltsamer Bereiche,in denen durch die Anwendung künstlicher <strong>Sinn</strong>esorgane einhoher Grad der typischen Übereinstimmung geschaffen wird“. Doch mit der Photographie wird <strong>das</strong>Weltbild zugleich entsubjektiviert:Die Lichtschrift ist eine Art der Feststellung, der in unserem Raume Urkundencharakter zugebilligt wird. <strong>Der</strong>Weltkrieg war der erste große Vorgang, der auf diese Weise aufgenommen wurde, und seither gibt es kein171So Reinhart Meyer-Kalkus, Ernst Jünger und die Photographie, Vortrag an der Universität Potsdam, 20. Juni2002172Cornelia Vismann (Rez.), Malen nach Binärzahlen, in: Süddeutsche Zeitung v. 20./21. April 2002


edeutendes Ereignis, <strong>das</strong> nicht auch durch <strong>das</strong> künstliche Auge festgehalten wird. Das Bestreben läuft daraufhinaus, auch Räume einzusehen, in die <strong>das</strong> menschliche Auge nicht einzudringen vermag. Das künstliche Augedurchdringt den Widerstand der Materie selbst. Heute sieht <strong>das</strong> technische Auge nicht mehr die Materie,sondern rechnet mit ihr durch Magnetresonanztomographie -imaging.So sieht der kalte <strong>Blick</strong> auch an Manuskripten Goethes wenigerdie Handschrift des Genies, sondern die Materialität derEisen-Gallus-Tinte, und Palimpsestphotographie betreibtnegentropische Lesbarmaschung von Gelöschtem. Ästhetik desScannings heißt hier Unterschied zwischen visuellen undnaturwissenschaftlichen Charakteristiken. Non-invasiveRöntgenfluoreszenz macht aus Lesen Messen; an die Stelle desLesekopfs rückt der Meßkopf, und an die Stelle von Schriftrücken Fourier-Analysen derselben, Spektralanalysen,Archäometrie. 173 „Optische Zellen arbeiten in den Abgründen derTiefsee und der großen Höhe der Registrierballons“ ; dieadministrative Form der Registratur steht mit der Vermessungder Wirklichkeit selbst im Bund.Vor allem aber operiert Photographie in der Form, welche dieMedizin nennt: kein chirurgischer Eingriff in ihre Objekte.„Die Aufnahme steht außerhalb der Zone der Empfindsamkeit“. Erst die Quantenphysik weiß unerbittlich um dieSteuerung der Existenzweise von Observablen durch dieObservation selbst.<strong>Der</strong> photographischen Aufnahme haftet „ein teleskopischerCharakter an“ , der bis an Galileos Fernrohrzurückreicht.„Man merkt sehr deutlich, daß der Vorgang von einemunempfindlichen und unverletzlichen Auge gesehen ist“ .Im Präfix tele- aber liegt die mediale Ent-Fernung des <strong>Blick</strong>sselbst schon angelegt: An die Stelle der unmittelbarenAugenwahrnehmung, also des Auges, <strong>das</strong> selbst visuelleInformation überträgt, tritt die Übertragung des <strong>Blick</strong>sselbst.Die photographische Aufnahme „hält ebensowohl die Kugel imFluge fest wie den Menschen im Augenblick, in dem er von einerExplosion zerrissen wird“. Doch auch Jünger flüchtet sich ausder Medienarchäologie stetig zurück in eineMedienanthropologie:Dies aber ist die uns eigentümliche Weise, zu shen; und die Photographie ist nichts anderes als ein Werkzeugdieser, unserer Eigenart. Es ist merkwürdig, daß diese Eigensart auf anderen Gebieten, etwas auf dem derLiteratur, noch so wenig sichtbar wird; aber ohne Zweifel wird, wenn wir hier wie in der Malerei noch etwas zu173Siehe Oliver Hahn / Nicole Stiebel, Schreibrezepte. Ein Exkurs über Eisengallustine, in: Werkzeuge desPegasus. Historische Schreibzeuge im Goethe-Nationalmuseum, Katalog, Weimar (Stiftung Weimarer Klassik),167-171


erwarten haben, die Beschreibung der feinsten seelischen Vorgänge abgelöst werden durch eine ganz neue Artder präzisen, sachlichen Schilderung. So ist die Photographie eine „Waffe“: „Das Sehen ist inunserem Raume ein Angriffsakt“ - in welchen Kulturenetwa nicht? Entsprechend wächst damit korrelativ <strong>das</strong> Bedürfnisnach Tarnung. Im Ersten Weltkrieg war ein Graben, eineStellung in dem Moment unhaltbar geworden, „in dem sie aus demLichtbild des Beobachtungsfliegers herauszulesen war“ - hier im Bund mit Paul Virilios Studien zumMedienverbund von Krieg und Kino. „Die Photographie ist alsoein Ausdruck der uns eigentümlichen, und zwar einer sehrgrausamen Weise, zu sehen.Entsprechend wächst <strong>das</strong> Bestreben, sich unsichtbar zu machen, wie es etwa schon im Weltkriege als `Tarnung´hervorgetreten ist. Eine Kampfstellung war in demselben Augenblicke unhaltbar geworden, indem sie aus demLichtbild des Bobachtungsfliegers herauszulesen war. Das gilt auch für den Film Peeping Tom (dt.: Augen der Angst),worin die (subjektiv projizierte) Kamera, der voyeuristische<strong>Blick</strong> auf die weiblichen Opfer, selbst mit einem tödlichenStachel kombiniert ist. <strong>Der</strong> medienarchäologische <strong>Blick</strong> imaktiven <strong>Sinn</strong>e erzwingt Handlungen, und in Anlehnung an WalterBenjamins Gedanken zur Kritik der Gewalt gilt: derperformative Aspekt von Medien ist gewaltsam. „Heute bereitsgibt es Schußwaffen, die mit optischen Zellen gekoppelt sind,ja selbst fliegende und schwimmende Angriffsmaschinen mitoptischer Steuerung“ - eine Vorahnung der V2.Medium statt MalereiDie Photokamera basiert auf dem Objektiv. Damit aber ist esder Verzerrung verschrieben, die sich von denen des Augesunterscheidet, da der fotografische Apparat <strong>das</strong> rein optische Bild reproduziert und so die optisch­wahren Verzeichnungen,Verzerrungen, Verkürzungen usw. zeigt, während unser Auge die aufgenommenenen optischen Erscheinungenmit unserer intellektuellen Erfahrung durch assoziative Bindungen formal und räumlich zu einemVorstellungsbild ergänzt. 174Genau diese Supplementierung ist die Fakultät der Imagination.Für László Moholy-Nagy ersetzt <strong>das</strong> Photogramm die Malerei, um"selbst den farbstoff (<strong>das</strong> pigment) zu überwinden oder ihnwenigstens soweit wie möglich zu sublimieren, um aus demelementaren material der optischen gestaltung, aus demdirekten licht, den ausdruck zu realisieren" 175 . Während Farbephysikalisch nichts anderes ist als die Reflexion von Lichtunterschiedlicher Wellenlänge, und ganz im <strong>Sinn</strong>e der174László Moholy-Nagy, Malerei Fotografie Film [München 1927], Mainz 1967, 33175László Moholy­Nagy, Malerei Fotografie Film, München 1927, 88f


aristotelsichen Mediendefinition hier erst mittelbar inErscheinung tritt, durch die Reflexion am Gegenstand sichtbarwird, sucht Moholy-Nagy nach unmittelbarem Agieren im Medium,also Lichtmodulation. 176Als der Dadaist Raoul Hausmann sein Optophon entwickelt,greift er auf <strong>das</strong> Photographophon des Berliner Physikers ErnstRuhmer zurück, der 1901 an der Technischen Hochschule einVerfahren zur Speicherung von Sprachsignalen in Lichtspuren(und umgekehrt) entwickelte. Das Optophon ließ die induziertenLichterscheinungen mittels einer Selenzelle durch eine in dieLeitung zugeschaltete Hörmuschel in Töne umwandeln (undumgekehrt); so verfügte die Apparatur "über die Fähigkeit,jeder optischen Erscheinung ihre Schall-Äquivalente zu zeigen, da <strong>das</strong> Licht schwingende Elektrizität und auch derSchall schwingende Elektrizität ist", schreibt Hausmann 1922. 177In dieser Tradition zielt auch die anikonologische Fluxus-Kunst der 1960er Jahr (Nam June Paiks und Wolf VostellsFernseh- und Video-Dekollagen) "auf eine Ent-Semantisierungdes Bildes. Form und Inhalt werden somit gleichrangingeKomponenten einer Information" und somit<strong>das</strong> Medium zur Botschaft just in der Epoche, in der MarshallMcLuhan dies programmatisch in Understanding Media (1964) als"the medium is the message" verkündet. Hanspeter Ammann zeigtin seinem Video Rush (1982, heute Kunsthaus Zürich) einverrauschtes Monitorbild, dessen Punktverteilung sich fürMomente in figurative Motive verwandeln, um sich diesemVerlangen des Zuschauers nach figuraler Identifikation jedochsogleich wieder durch Abstraktion zu entziehen - optische Sirenengesänge.McLuhan weist selbst in einem Nebensatz auf die Inspirationseines Diktums aus jenem künstlerischen Verfahren hin, welchesdie perspektivische, ihrerseits ja schon kunst-kulturtechnischkonstruierte dreidimensionale Illusion ihrerseits wiederdekonstruierte und damit deren mediale Konstruktion selbstoffenlegt: "Mit diesem Griff nach dem unmittelbaren, totalenErfasssen verkündete der Kubismus plötzlich, daß <strong>das</strong> Mediumdie Botschaft ist" . McLuhansMedientheorie trägt soit auch einen historisch-ästhetischenIndex - seine Vertrautheit mit dem Kunstkritiker ClementGreenberg und der Schrift Art and Illusion von Ernst Gombrich,worin geschrieben steht: "Cubism is the most radicalattempt to stamp out ambiguity and to enforce one reading ofthe picture - that of a man-made construction, a coloredcanvas" . So verkündet der Kubismus <strong>das</strong>176Dazu Kai-Uwe Hemken, Die Ordnung der elektrischen Impulse. Kunsthistorische Betrachtungen zum Video-Licht, in: Archiv für Mediengeschichte, Weimar 2002, 187-199 (191)177Zitiert nach: Karin von Maur 1985, Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts,München 1985, 140


künstlerische Medium - analog zu Michel Foucaults Deutung derMalerei Manets.Foucault folgt Clement Greenberg, demzufolge gemalte "Bildermöglichst flach aussehen müssen, um die verborgene Wahrheitihres Trägers zu offenbaren" 178 . Über den französischen Kubismusschreibt Greenberg in direkter Folge des zentralen Argumentsder Mediensemiotik der Künste Gotthold Ephraim Lessings(Laokoon 1766):Es wurde bald deutlich, <strong>das</strong>s der eigene und eigentliche Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau <strong>das</strong> ist,was ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt ist. Die einschränkendenBedingungen, die <strong>das</strong> Medium definieren ­ die plane Oberfläche, die Form des Bildträgers, die Eigenschaftder Pigmente ­, wurden von den alten Meistern als negative Faktoren behandelt, die allenfalls indirekteingestanden werden durften. <strong>Der</strong> Modernismus brachte dieselben Einschränkungen als positive Faktoren, dienun offen anerkannt wurden 179- die Infrastruktur selbst wird denkmalfähig, um in MarcelDuchamps Readymade eines Flaschentrockners wird dies zummusealen Objekt.McLuhans Satz zielt darauf, daß Medien auf der kognitivenEbene inhaltistisch, auf der subliminalen Ebene aber genuinmedienphysiologisch operieren: "Denn die `Botschaft´ jedesMediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs,Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt".Mit Malewitschs Schwarzem Quadrat ("eine plötzlicheOffenbarung des verborgenen Bildträgers" 180 , die alle narrativeSuggestion unterläuft und vielmehr mit der zeitgleichenAnschauungskrise in der Mathematik kommuniziert)korrespondiert McLuhans Hinweis auf <strong>das</strong> elektrische Licht, <strong>das</strong>pure Information ist, sofern es nicht dazu verwendet wird,"einen Werbetext Buchstabe um Buchstabe auszustrahlen" .<strong>Der</strong> blinde Fleck aller Wahrnehmung wird hier technischkonkret: "Es ist nur zu bezeichnend, wie der Inhalt jedesMediums der Wesensart des Mediums gegenüber blind macht"; die von Paul de Man für die Mechanismen der Literaturder Romantik analysierte Dialektik von Blindness and Insightist hier unmetaphorisch faßbar - oder metaphorisch im striktnachrichtentheoretischen <strong>Sinn</strong>.Günther Ücker zufolge lesen sich die Schriften von Malewitsch"wie ein mönchisches Medium, <strong>das</strong> eine Botschaft empfängt" -der medienasketische <strong>Blick</strong>.178So paraphrasiert von Rico Hartmann, Humboldt-Universität zu Berlin, Medienwissenschaft179Clement Greenberg, Modernistische Malerei, in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays undKritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden (Verlag der Kunst) 1997, 265f180Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, Carl Hanser Verlag 2000, 104


Film / Kino-Auge<strong>Der</strong> medienarchäologische <strong>Blick</strong> ist passionslos. EinFilmkritiker, Richard Schickel, sagt es in einem Interview:„Ich habe eine ausführliche Biographie über D. W. Griffithgeschrieben und sein ganzes Werk wieder und wieder angesehen,aber es würde mir nichts ausmachen, keinen seiner Filme jemalswieder zu sehen.“ 181 Dem zur Seite steht <strong>das</strong> vom FilmsemioptikerRolf Kloepfer entwickelte digitale Filmanalyseprogramm Akira,<strong>das</strong> einen eingescannten Film in Form einer bildbegleitendenPartitur aus diversen tracks, in die Notizen vorgenommenwerden können, in eine Art Diagramm verwandelt - derchirurgische <strong>Blick</strong>. 182Demgegenüber steht der Effekt des Kinos, der diese Distanzgerade zu dissimulieren trachtet: „Es liegt im Wesen seinerTechnik, daß der Film die Distanz zwischen Zuschauer und einerin sich abgeschlossenen Welt der Kunst aufgehoben hat“; BélaBalász schreibt - analog zu Walter Benjamins Begriff der Aura(der selbst aus der antiken Medizin stammt) von der„Zerstörung der feierlichen Ferne jener kultischenRepräsentation, die <strong>das</strong> Theater umgeben hat. <strong>Der</strong> <strong>Blick</strong> desFilms ist der nahe <strong>Blick</strong> des Beteiligten. 183 Leni RiefestahlsÄsthetik der Kälte ist eine selbsterfahrene: Auf einigenPhotos steht ihr der Schock ins Gesicht geschrieben, als sieim Zweiten Weltkrieg in Polen als Kriegsberichtserstatterineinem Massaker an jüdischen Zivilisten beiwohnt 184 - close up.Dziga Vertov geht es in seinem Film <strong>Der</strong> Mann mit der Kameradarum, daß die optische Darbietung nicht über den Wortkanalverläuft. Genuine Medienarchäologie: die Wirkung des Filmsliegt in der Wechselwirkung von Ton und Bild, „auf derResultante vieler Kanäle“, „auf tiefgründigen bahnen, manchmalein Dutzend Worte an die Oberfläche spülend“ . Esgeht hier - wie auch für Sklovskij - um eine ausdrücklichtechnische „Bloßlegung“ .Das Manifest Kinoki-Umsturz von Anfang 1922 fordert „dieNutzung der Kamera als Kinoglaz, <strong>das</strong> vollkommener ist als <strong>das</strong>menschliche Auge, zur Erforschung des Chaos von visuellenErscheinungen, die den Raum füllen“ . Undkurz darauf: „Kopier nicht <strong>das</strong> menschliche Auge“ .Damit löst sich der mediale <strong>Blick</strong>e (der <strong>Blick</strong> des Mediums wie181Interview mit Geore Hickenlooper, in: Reel Conversations. Candid interviews with film´s foremost directorsand critics, Citadel Press 1991, zitiert hier nach: Christoph Hochhäusler, Filme und Fallobst. Anmerkungen zuPeter Wuss, in: Karl Friedrich Reimers / Gabriele Mehling (Hg.), Medienhochschulen und Wissenschaft.Strukturen - Profile - Positionen, Konstanz (UVK) 2001, 98-100 (99)182Peter Wuss, Filmgeschichte an Medienhochschulen, in: Reimers / Mehling (Hg.) 2001: 86-97 (96)183Béla Balázc, <strong>Der</strong> Film, xxx, 46, zitiert nach: Karin Hirdina, Pathos der Sachlichkeit. Funktionalismus undFortschritt ästhetischer Kultur, München (Damnitz) 1981, 120184Siehe Andreas Platthaus, Die Eisheilige und ihr Nürnberger Schneemann, in: Frankfurter Allgemeine ZeitungNr. 194 v. 22. August 2002, 38


der <strong>Blick</strong> auf <strong>das</strong> Medium) von der langfristigen Prothesen-Funktion medialer Artefakte (im <strong>Sinn</strong>e McLuhans). „Bis auf denheutigen Tag haben wir die Kamera vergewaltigt und siegezwungen, die Arbeit unseres Auges zu kopieren“ - wasnun auch mit dem Computer geschieht, im Namen „künstlicherIntelligenz“. „Von heute an werden wir die Kamera befreien undwerden sie in entegengesetzter Richtung, weit enternt vomKopieren, arbeiten lassen. Alle Schwächen des menschlichenAugs an den Tag bringen!“ - eine Ästhetik, derenKonsequenz für <strong>das</strong> Design von Interfaces heute dieInszenierung der Differenz von Mensch und Maschine, nicht diephantasmatische Angleichung bedeuten würde.Einmal digitalisiert, können Bilder visuell kalkuliert undintern navigiert werden. Es kann nicht ausschließlich darumgehen, dem Computer menschliche, also semantische undikonologische Verhaltsweisen zu Bildern aufzuprogrammieren.Ganz im Gegenteil, der völlig verschiedene Begriff vonBildähnlichkeit aus der Sicht des Rechners leitet zuunerwarteten Einsichten in die visuelle (Medien)Kultur.Jenseits von Metadaten erwarten Bilder hier keine Unterwerfunguntger Verschlagwortung, sondern ein Gesehenwerden nacheigenem medialen Recht.Vertov hatte gesagt, <strong>das</strong> Auge der Kamera sei ein mechanisches Auge, <strong>das</strong> Mikrophon sei ein mechanisches Ohroder Gehör (<strong>das</strong> sogenannte Radio­Gehör), diese mechanische Anatomie zeichnet sich durch eine gewisseVariabilität im Optischen (Linse, Blende, Schärfe) und im Akustischen (achsiale Registrierung beimRichtmikrophon) aus. Wenn ich, mit dieser Armatur versehen, einen Film mache, bin ich selbst ein cinéobservateurund befinde mich in einem Zustand des ciné­trance. Mit anderen Worten: ich, Rouch, stehe auf,bewege mich und mache etwas, was ich anders nie machen würde. Konkret tritt nicht nur ein technisches Auge, sondern aucheine genuin technische Augenbewegung (Kinematographie nacheigenem Recht) an die Stelle des menschlichen <strong>Blick</strong>s:Die Rapidaufnahme (<strong>das</strong> rapide Auge) wurde als Möglichkeit verstanden, Unsichtbares sichtbar,Unklares klar,Verborgenes offenbar, Verhülltes offenkundig, Spiel zu Nichtspiel, Unwahrheit zu Wahrheit, zu Filmwahrheit(<strong>das</strong> heißt zu einer Wahrheit, errungen mit kinematographischen Mitteln, mit Mitteln des „Kinoglaz“, in diesemFalle mit Mitteln des reapiden Auges) zu machen. 185Ein Phänomen, <strong>das</strong> sich mit dem Mikroskop abzeichnete, dermedialen Umkehrung des Fernrohrs. So war der BakteriologeRobert Koch mehr als Robert Hooke damit konfrontiert, daß seinMikroskop bis zur 800fachen Vergrößerung „Objekte zeigte, die<strong>das</strong> Auge, selbst wenn es durch <strong>das</strong> Mikroskop blickte, nichtmehr sah. Das Instrument zeigte also Bilder, die real waren,obwohl selbst <strong>das</strong> bewaffnete Auge sie nicht erkennen konnte.“ 186185Dziga Vertov, Kinopravda [1934], in: ders. 1973: 103-107 (106)186Horst Bredekamp (im Gespräch mit Barbara Stafford), Wissensgesellschaft und Picturial Turn - Ist dieWissensgesellschaft eine Bildgesellschaft?, in: Stefan Iglhaut / Thomas Spring (Hg.), Science + Fiction.Textband, Berlin (Jovis) 2003, 65- (73)


Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich siesehen kann. Von heute an befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit befreit von derVerpflichtung, 16­17 Bilder in der Sekunde aufzunehmen. Film ist nicht mehr „Kino“ for human eyes only. Nicht mehr diemenschliche Wahrnehmung soll getäuscht werden, sondern es gibtgenuin mediale Wahrnehmungen, chrono-photographisch im <strong>Sinn</strong>evon: Zeiten filmen. „Es gibt schon Bemühungen in dieserRichtung. Montagepläne, die dem Kalkül eines Systemsähneln, in welchem Musik notiert wird, einer Etude vonRhythmen und Intervallen“ . „DasKinoauge ist die Konzentrierung und die Dekomposition vonZeit“ . „Das Kinoauge ist<strong>das</strong> Mikroskop und <strong>das</strong> Teleskop der Zeit." 187Vertov denkt die filmische Wahrnehmung nicht aus menschlicherPerspektive, sondern des Perspektive des Apparats:Die Schule des Kinoauges fordert, daß der Film aus den `Intervallen´ konstruiert wird, <strong>das</strong> heißt, aus derBewegung zwischen den Bildern . Die Intervalle, die Übergänge von einer Bewgung zu einer anderen, blden<strong>das</strong> Material, die Bestandteile der Kunst der Bewegung; keinesfalls die Bewegungen selbst.“ Sprung, Schnitt, und Leerbild figurieren also gerade nicht alsetwas, <strong>das</strong> durch die Zusammenfügung namens continuity vernäht,verdeckt oder beseitigt werden soll, um <strong>das</strong> Intervall für <strong>das</strong>menschliche Auge, <strong>das</strong> kulturtechnisch diszipliniertGeschichten privilegiert, zu akkommodieren. Vertovs <strong>Blick</strong>exponiert <strong>das</strong>, was sich innerhalb des Sichtbaren nicht aufDiskursives oder Figuratives beschränken läßt . Optische Disziplinartechniken: eine <strong>Blick</strong>maschine, dochnicht als Repression, sondern als Befreiung des Maschinenaugesim genitivus subiectivus und obiectivus. <strong>Der</strong> Mensch wirdanhand des Kinoauges von den Restriktionen seinerkörpergebundenen Wahrnehmung befreit, der fiktiven Einheit vonOrt und Zeit.„Indem die Kinoki aus dem Material <strong>das</strong> kinematographische Werkfolgen lassen und nicht umgekehrt, greifen sie <strong>das</strong> letzteBollwerk der Filmkunst an: <strong>das</strong> literarische Drehbuch“ . Und so wird die technologische Anordnung desKinos von Vertov wie eine Antizipierung des Videos eingesetzt. Vertovs Kritik am kapitalistischenSpektakel feiert die machinische Anordnung, <strong>das</strong> nichtmenschlicheKinoauge und Radio-Ohr als eine zweite Natur desMenschen ganz so wie Ernst Jünger <strong>das</strong> „zweite Bewußtsein“definiert: eine Natur, "die der Kapitalismus produziert,zugleich als unumkehrbare Wirklichkeit und als Bedingung einerÜberschreitung des `Menschen´“ .187Zitiert nach: Maurizio Lazzarato, Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, Berlin (b_books2002); darin Kapitel „Die Kinoki. Die Kriegsmaschine des `Kinoauges´ gegen <strong>das</strong> Spektakel“, 113­127 (117)


Jenseits von Ikonologie ist die Allianz von Kybernetik undKino eine praktische. Seelenapparate und Psycho-Technikenpraktizieren einen <strong>Blick</strong>, der sich der Ekphrasis entzieht. 188Ernst Jünger sah in Kino-Lichtspielen einen „außerordentlichenGrad von kalter Grausamkeit zum Ausdruck kommen“ .„Aufschlußreich ist auch die Neigung zur mathematischen Figur,wie sie etwa durch die Begleitung und Unterbrechnung derHandlung durch maschinelle Vorgänge hervorgerufen wird“.Die damit angesprochene Verbindung des kalten <strong>Blick</strong>s, derMaschine und der Mathematik aber eskaliert im ZweitenWeltkrieg. Eine Sichtweise der Alliierten betrachtete denFeind nicht - wie NS-Deutschland -als die rassistische Version eines geführchteten Gegners, sondern eher als <strong>das</strong> anonyme Ziel von Luftangriffen. Aus der Ferne, aus eisigen Höhen von 9000 Metern wirkte eine deutsche Stadt klein, einzelne Personenwaren unsichtbar und damit ihrer Eigenart teilweise beraubt. Nachdem er eine Flut von Briefen vonFliegernbekommen hatte, berichtete ein englischer Zensor des Luftwaffen­Ministeriums am 21. Juni 1942: „[DieBriefe] zeigen die Wirkung der Distanz, die zwischen den Fliegern und ihren Angriffen auf menschliche Wesenexistiert.“ Versuchen wir, die Differenz der Wahrnehmung von on-screendata (die physiologische Ebene der aisthesis) und ihrerInterpretation als story world (die Ebene der Ästhetik) nichtals sanfte Transformation, sondern als ständigen Sprung, Rißzu beschreiben. „Since nonnarrative ways of organizing datamay coexist with narrative, one might also recognize aconflict among discursive“ - und non-diskursiven – „schemes,an `excess´ within the story“ 189 – mithin den Einbruch desRealen in die symbolische Ordnung der Geschichte. Es gilt alsofortan, von Bruchstellen aus zu schreiben. Medienarchäologieist dabei nicht nur eine analytische Methode, sondernbeschreibt eine psychologische Wahrnehmungsoperationen, ausder Datentiefe aufwärts liest:Some perceptual processes operate upon data on the screen in a direct, „bottom­up“ manner by examining thedata in very brief periods of time (utilizing little or no associated memory) and organizing it automatically intosuch features as edge, color, depth, motion, aural pitch . Bottom­up perception is serial and „data­driven“,and produces only short­range effects. Demgegenüber ist die Wahrnehmung eines Prozesses auf derLeinwand im Rahmen einer Geschichte eine top-down-Wahrnehmung.An dieser Stelle lohnt der Hinweis darauf, daß der anglophoneBegriff der story (zumal im Computerspieldesign) eine vielpragmatischere, geradezu technische Bedeutung hat und eherZiel- denn emphatische <strong>Sinn</strong>vorgaben meint, im Unterschied zurkulturhistorisch bedingten Semantik des deutschen Begriffs vonGeschichten. Aktuelle Filmproduktionen wie Paul W. S.188Siehe Ute Holl, Kybernetik und Kino. Maya <strong>Der</strong>ens Medientheorie im Zusammenhang einer Geschichtekinematographischer Bewegung, Berlin (Brinkmann & Bose) 2002189Edward Branigan, Narrative comprehension and film, London / New York (Routledge) 1992, 34


Andersons Resident Evil (USA/GB/D 2002) greifen auf der Suchenach Plots längst auf Computerspiele zurück, vermögen sichaber im Gegenzug auch nicht von deren level-Logik zu lösen.Die stories zielen hier mehr auf die Kybernetik der Charakteredenn auf die dramatische Handlung (auch die Gestaltung vonWetter-Simulationen in Computerspielen trägt die funktionaleBezeichnung story). 190 Sie dienen vielmehr als Puffer gegenübereinem blindwütigen Reiz-Reaktionsschema, <strong>das</strong> zumeist inSchießübungen kulminiert, und die Abwesenheit eines starkenPlots wird auch in den neuesten Hollywood-Produktionen vonFantasy-Filmen durch in sich künstlerisch wertvolleSpezialeffekte kompensiert. Im Fernsehen war diese Dynamik,welche <strong>das</strong> Ereignis der Sendung von der Konzentration derAufmerksamkeit auf <strong>das</strong> Signifikat wieder auf die signifikanteEbene der Bildschirmoberfläche selbst zurückholt, mit der MTV-Ästhetik erreicht worden.Hier nämlich zeigte sich, daß die elektronische Technik fähigist, neue und eigene Formen nicht auto-, so dochmediapoietisch zu generieren - "Schnitt" ist hier noch nocheine Metapher fürs Umkopieren. 191 Stanzverfahren (blue screen),Veränderung der Struktur der Bildauflösung, Verfärbungen.Digitale Bildverfahren schließlich "erzeugen aus sich herausneue Bilder", die sogenannten "innere Montage" , perfektioniert im Musikvideo. Was hier auf der Streckebleibt, ist die Narrativität. Hickethier zeigt es anhand desMusikvideos Vienna von Univox (MTV 1992): Es lassen sich zwarnoch "narrative Elemente in den stark elliptischenKonstruktionen" finden, und <strong>das</strong> Video zeigt noch "alleAnzeichen einer narrativen Geschichte"; tatsächlich aber hatdie Ästhetik der Musikvideos bereits den Raum der Geschichtenunterminiert. Lücken werder als Gestaltungsmittelgleichranging zugelassen, die Anschlüsse sind nicht mehrlinear, sondern lose Kopplungen. Es ist <strong>das</strong> elektronischeMedium (Fernsehen), welches - etwa durch <strong>das</strong> Staccato derSchnittfrequenzen - eine "Auflösung der kontinuierlichenBildräume" initiiert; "<strong>das</strong> Erzählen im Fernsehen selbst istinzwischen längst zu den filmischen Produktionsmittelnabgewandert" . Womit der Inhalt deselektronischen Mediums die Botschaft seines Vorgängermediumsist: die Erzählung. Längst haben die privaten Sender - sei esMTV für die Videoclipästhetik, sei es CNN oder ntv mit derImmedialität von breaking news - die Medialität von Fernsehen,nämlich den schnellen cut und die Forcierung der live-Übertragung - entdeckt: die Ent-Deckung des Mediums selbst alsBefreiung von der inhaltistischen Verengung der Perspektivedes öffentlich-rechtlichen Fernsehens.190In diesem <strong>Sinn</strong>e Bernd Diener (Games Academy und Radonlabs, Berlin), auf der Tagung interaktiv / narrativ,Weimar, November 2001191Knut Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart 1993, 154


MTV is TV at its most typical, most televisual. The segmented medium, as mosaic of fragments: not sense butsensation. Energy, speed, image, youth, illusion, volume, vision, senses, not sense. It produces the presence ofitself, not a representation of the absent: it is, it does, but it does not mean. 192Samuel Weber fragt an dieser Stelle nach der "distinctivespecificity of the medium", in Opposition zum Inhaltismus dergängigen Fernsehanalysen: "What we most often find arecontent-analyses, which could just as well apply to othermedia, for example, to film or to literature." 193 Wenn trash TVaber nicht inhaltistisch, sondern vom Medium her gesehen wird,sehen wir Rauschen - eine Art qualitatives Äquivalent zu dem,was technisch Interferenz ist und im Französischen für Radiound Fernsehen tatsächlich parasite heißt. 194 Genau <strong>das</strong> ist es,was <strong>das</strong> vom Optophonischetischen Institut (ein Begriff, derauf Raoul Hausmann zurückgeht) getragene WorldhausTV in Weimarzu seiner Kulturhauptstadtzeit 1999 99 Tage lang europaweitüber Satellit und Anfang 2000 in Berlin im Internet undpartagiert im Offenen TV-Kanal zeigte. Hier geht es nachAussage des Präsidenten Reinhard Franz (Fakultät Medien,Bauhaus-Universität Weimar) gerade als Alternative zurVideokunst um „Kunst ohne Künstler“, d. h. eine Kunst, diesich im direktesten <strong>Sinn</strong>e den Massenmedien stellt, die reineSendung. Darunter täglich eine Stunde Rauschen, wo trash nicht<strong>das</strong> Signifikat, sondern der Signifikant des Mediums Fernsehenist: Sendung, nicht Programm. Hier wird <strong>das</strong> Mikro-Programmselbst zur Medialität der Sendung, und Programm wieder zu dem,was es akut ist: Fernsehsignalübertragung. „Wir testen Bilder“heißt <strong>das</strong> Motto des Kunstfernsehens.<strong>Der</strong> Medusen-<strong>Blick</strong> des wissenschaftlichen FilmsDie Filmkamera verleiht Gegenständen (leblos oder lebendig)Bewegung, ist damit also bildgebend. In der ersten Generationist die Sprache der Kinotechnik noch voll von einer Pluralitätder Begriffe, etwa Animatograph. In der ersten Generation vonFilmerfahrung, als <strong>das</strong> neue Medium noch bewußt reflektiertwird, als Kulturtechnik noch nicht selbstverständlich unddamit als Medium unbewußt ist, herrscht ein Widerstreitzwischen dem Einsatz der Kamera als Widergabe einer (mitKracauer formuliert) äußeren Realität (<strong>das</strong> Realismus-Paradigma, <strong>das</strong> die Beobachter-Differenz bewußt aufrechterhält)oder als etwas, <strong>das</strong> eine „zweite Realität“ hervorbringt -192John Fiske, MTV: post-structural, post-modern, in: Journal of Communication Inquiry (1986), 77193Samuel Weber, Television: Set and Screen, in: ders., Mass Mediauras, Stanford UP 1996, 108-128 (108)194Weber 1996: 115, Anm. 5; siehe Michel Serres, <strong>Der</strong> Parasit, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 19xxx


Ernst Jüngers Begriff vom „zweiten Bewußtsein“. 195 Peter Geimerschreibt im Konzept für den genannten Workshop:Die experimentelle Erforschung des Lebens begleitet ein beständiger Rekurs auf Unbelebtes. Unbelebtesbegegnet dort, wo Lebendiges vergeht bzw. experimentell zum Stillstand gebracht wird, um gerade an denSchauplätzen dieses Verschwindens beobachtbar zu werden: „[...] um zu verstehen, wie Menschen und Tiereleben, ist es unerläßlich, eine große Zahl von ihnen sterben zu sehen“ (C. Bernard).Dieses Sehen aber läuft nicht nur durch menschliche Augen:„Eine Form der Durchdringung von Leben und Leblosigkeitbegegnet dort, wo organisches Leben auf Gegenstände trifft,die – wie etwa die Apparaturen des Experimentierens selbst –nicht lebendig sind, <strong>das</strong> Lebendige aber maßgeblichkonstituieren.“ Hier kommt der kalte mediale <strong>Blick</strong> ins Spiel.Photos und Filme sind indifferent der Frage gegenüber, ob derdarauf abgebildete Gegenstand tot oder lebendig ist - eineVariante des „Turing-Tests". Die Unsicherheit darüber, ob einDing belebt oder leblos sei, bestimmt die ästhetische Existenzvon Androiden oder Wachsfiguren sowie den Status des Leichnamsals "Körperding" (Martin Heidegger).Physiologen, die wie E.­J. Marey die Praxis der Vivisektion ablehnen, da diese <strong>das</strong> Leben, um es zu studieren,zuallererst vernichten müsse, sehen sich selbst mit einer anderen Form der Stillstellung des Lebendigenkonfrontiert: dem Prozeß seiner graphischen Fixierung, die ebenfalls Funktionen des Lebendigen (wie etwaBewegung) zuallererst zum Stillstand bringen muß, um sie beobachtbar zu machen. Seit seiner Entstehung hatvor allem der Film Figuren des Untoten hervorgebracht. Über motivische und narrative Aspekte hinauswäre hier danach zu fragen, inwieweit die Kinematographie selbst als eine Praxis technischer Belebung und (Re­)Animierung ihrer Objekte begriffen wurde, etwa wenn der Filmpionier M. Skladanowsy den Film 1895 als„lebende Photographie“ beschreibt und den entsprechenden Projektionsapparat als „Bioskop“ patentieren läßt.Das nennt man in der Rhetorik Euphemie. KinematographischeMedien aber sind von Natur aus euphemisch: gespeicherte,„tote“ Bilder setzen sie (scheinbar, als unserWahrnehmungsbetrug) in Bewegung, also die Signatur des Lebens;andererseits ist derselbe Film - nicht als Projektions-, alsBildgebungs-, sondern als analytisches, als Meß-Mediumbenutzt, diejenige Technik, welche Lebensvorgänge stillstellenkann, in buchstäblichen stills - Chronophotographie.<strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong>, auf der Suche nach Leben und Seelen, entdecktnur Mechanismen und setzt gerade damit die Melancholie desLebendigen frei. Dieser Einblick ist es, welcher der Medizineinen wissenschaftlichen und rationalen Diskurs ermöglichteund der romantischen Literatur "die Quelle einer Spracheaufschließt, die sich in der von den abwesenden Götternhinterlassenen Leere endlos verströmt“ .Doch auch der ästhetische <strong>Blick</strong> tötet Leben schon vor allembiologischen Tod, indem er ihn festfriert, wie dieAktzeichnung in Kunstakademien. Damit sind wir bei einemästhetischen Topos, dem Pygmalion-Motiv. <strong>Der</strong> antike BildhauerPygmalion verliebt sich in seine weibliche Statue und erwecktsie durch sein Begehren zum Leben - <strong>das</strong> Gegenteil des kalten195In diesem <strong>Sinn</strong>e der Vortrag von Tom Gunning „Re­animation: The Invention of Cinema. Living Pictures orthe Embalming of the Image of Death?“, Workshop Relations between the Living and the Lifeless. Verhältnissevon Leben und Leblosigkeit, Max Planck­Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, Dezember 2002


<strong>Blick</strong>s, analog zum Akt des romantischen Lesens alsVerlebedigung der Buchstaben.Wenn <strong>Blick</strong>e zeugen könnten (Jürgen Manthey).„Es wohnt uns ein seltsames und schwer zu beschreibendesBestreben inne, dem lebendigen Vorgange irgendwie denCharakter des Präparats zu verleihen“, schreibt Ernst Jünger1941 . Die Chronophotographie Muybridges und Mareyschiebt sich zwischen die menschliche Wahrnehmung von Bewegungund <strong>das</strong> „Leben“. Jünger schreibt von einer „wachsendenVersteinerung des Lebens“ - der Medusa-<strong>Blick</strong> dermedialen Optik. Hier kommt die Maske ins Spiel - ihr toter,leerer <strong>Blick</strong>, anders als die Totenmaske, deren Augenliedergeschlossen sind. Aus dergleichen romantischen Imaginationstammt Wordsworths Essay upon Epitaphs, auf <strong>das</strong> Paul de MansText „Autobiography as De-facement“ sich bezieht:At several points throughout the three essays, Wordsworth cautins consistently against the use of prosopopoeia,against the conventin of having the „Sta Viator“ adressed to the traveler on the road of life by the voice of thedeparted person. Such chiasmic figures, crossing the condi/tions of death and of life with the attributes of speechand of silence are, says Wordsworth, „too poignant und too transitory“ ­ a curiously phrased criticism, sinceit is the poignancy of the weeping „silent marble“, as in Gray´s epitaph on Mrs. Clark, for which the essaysstrive. 196Wordsworth zitiert hier lückenhaft Miltons Sonnet OnShakespeare. Darin (von Wordsworth nicht, aber von Paul de Manzitiert) auch die Zeile: „thou Dost make us marble“. Washeißt es, wenn als Modell für Sprache und Schrift <strong>das</strong> Grabmalgenommen wird? 197„Doth make us marble“, in the Essays upon Epitaphs, cannot fail to evoke the latent threat that inhabitsprosopopoeia, namemly that by making the dead speak, the symmetrical structure of the trope implies, by thesame token, that the living are struck dumb ... The surmise of the „Pause, Traveller!“ [conventional toepitaphs] thus acquires a sinister connotation that is not only the prefiguration of one´s own mortality but ouractual entry into the frozen world of the dead. <strong>Der</strong> (kalte) <strong>Blick</strong> blickt zurück, morifiziert - Medusa. 198 ImFalle Gorgos ist es der <strong>Blick</strong> des Gesichts selbst, im Falledes Dionysos die Maske, durch die der versteinernde <strong>Blick</strong>fällt. Auf einer Reihe von Vasen wird <strong>das</strong> Kultbild desDionysos durch einen Pfahl oder eine Säule dargestellt, diemit einem Gewand bekleidet sind und woran eine bärtige Maskebefestigt ist, „die oft von vorn gezeigt wird und denBetrachter mit ihren beiden großen offenen Augen fixiert“ 199 .196Paul de Man, The Rhetoric of Romanticism, New York (Columbia UP) 1984, 76197Cynthia Chase, Reading Epitaphs, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Deconstruction is/in America. A New Senseof the Political, New York / London (New York UP) 1995, 52-59 (54)198Siehe Georges Didi­Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie de Bildes, München (Fink)1999199Jean-Pierre Vernant, <strong>Der</strong> maskierte Dionysos in den Bakchen des Euripides, in: ders., <strong>Der</strong> maskierte Dionysos,Berlin (Wagenbach) 1996 [*“Le Dionysos masqué des `Bacchantes´ d´Euripides“, in: L´Homme, 93, Januar-März 1985, XXV (1), 31-58; aufgenommen in: ders. / Pierre Vidal-Naquet, Mythe et Tragédie en Grèceancienne, Bd. 2, Paris 1985, 237-269], 75-102 (99, Anm. 5), unter Bezug auf: J. L. Durand / F. Frontisi-Ducrous,Idoles, figures, images, in: Revue archéologique, 1982, I, 81-108


Perseus trotzt in der griechischen Mythologie einem der dreiGorgonengesichter, dem versteinernden <strong>Blick</strong> der Medusa, indemer ihr einen Spiegel (einen blitzender Bronzeschild)entgegenhält; <strong>das</strong> Interface als Visier - "from Anglo-Normanviser , from French vis (see visage)" 200 .Die Zunehmende Vollschließung des Helms führt nicht nur zur Unhörbarkeit der Kriegsschreie, sondern vorallem zu Unsichtbarkeit des Gesichts. Deswegen muß die Personen­Erkennbarkeit an der Körperperipherieausgebreitet werden 201- die Entstehung des heraldischen Wappens.Doch was, wenn dieses Inter/face zurückschaut, weil „<strong>das</strong>Bewußtsein, der Illusion des sich sich sehen zu sehen folgend,in einer Umkehrung der Struktur des <strong>Blick</strong>s begründet ist“, wie ein Iris-Scan?Jacques-Louis David hat <strong>das</strong> sentiment der Kontemplation imleeren Bildraum um 1810 als Porträt des Orpheus am Grab derEurydike gemalt. 202 Ihr Bild, unter seinem <strong>Blick</strong>, zerfällt zunichts - Nichtung im <strong>Sinn</strong>e Jacques Lacans. „Was aber ist der<strong>Blick</strong>“, fragt derselbe . „Ich will ausgehenvon jenem Punkt einer ersten Nichtung“ , einerBruchstelle des <strong>Blick</strong>s als Privileg.„Allen voran waren es die Maler, die den <strong>Blick</strong> als solchenerfaßt haben in der Maske“ .<strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> der Perspektive tötet und ist tot zugleich:„Das Bild, wie jedes andere Bild auch, ist eine <strong>Blick</strong>falle.Welches Bild Sie auch nehmen, wenn Sie Punkt für Punkt dem<strong>Blick</strong> nachspüren, werden Sie sehen, wie dieser verschwindet“. Mit dem Totenschädel kommt ein ganz anderesAuge ins Spiel - die Leere. „Nie erblickst Du mich da, wo ichDich sehe“ oder, in besserer Übersetzung, von dort.„Daraus geht hervor, daß der <strong>Blick</strong> <strong>das</strong> Instrument darstellt,mit dessen Hilfe <strong>das</strong> Licht sich verkörpert, und aus diesemGrund auch werde ich wenn Sie mir erlauben, daß ich mich, wieso oft, eines Wortes bediene, indem ich es in seineKomponenten zerlege - photo-graphiert“ . WährendLacan also medialen und humanen <strong>Blick</strong> ursächlich verschränkt,suchen andere sie ontologisch zu trennen. <strong>Der</strong> KunsthistorikerJörn Jochen Berns etwa trennt „<strong>das</strong> Verlangen, imagnativ zuschauen und in solcher Schau seelisch bewegt zu werden“ 203 , von200Encarta® World English Dictionary [North American Edition] © & (P) 2001 Microsoft Corporation201Walter Seitter, Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, München (Boer) 1985, 13f202Dazu Andrzej Ryszkiewicz, At the Tomb of Eurydice, in: Bruckmanns Pantheon, 47. Jg., 1989203Jörg Jochen Berns, Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel derImaginationssteuerung in Mittelalter und früher Neuzeit, Marburg (Jonas) 2000, 10


der direkten Analogie zu Photographie und TV.Medienarchäologie betont die mediale Diskontinuität:Die verschiedenen Arten visuellen Bemühens ­ des Schauens, Betrachtens, Sehens, <strong>Blick</strong>ens, Projizierens (alsVor­Augen­Stellen) ­ konvergieren in einer Geschichte des Versehens. Versehen soll dabei als <strong>das</strong>Verhaftetsein des <strong>Blick</strong>s an äußere Bilder gelten. Versehen wäre dann ein Sehen, <strong>das</strong> keine Übertragung aufinnere Bildbewegung und Reflexion mehr leistet. .Und tatsächlich meint gesict im Mittelhochdeutschen ein ganzes„Spektrum“ (Lüdemann passenderweise) des Sichtbaren: Esbedeutet sowohl „<strong>das</strong> Sehen, Anblicken, Gesehenes, Anblick“ wieauch „Erscheinung, Vision; Aussehen; Gestalt; Antlitz.“ DasWort Sehen selbst wiederum leitet sich vom lateinischen sequiab: „nachfolgen, verfolgen“, und meint sehr konkret „mit denAugen verfolgen“ - derkinästhetische <strong>Blick</strong>.<strong>Der</strong> zeitdiskrete <strong>Blick</strong> (Chronophotographie)Encyclopedia Cinematographica nennt sich ein Projekt desInstituts für wissenschaftlichen Film in Göttingen,Federführung Verhaltsforscher Konrad Lorenz, die gesamtebewegte Welt auf Zelluloid zu bannen. Bleiben ca. 4000 sog.Filmpräparaten von ca. zwei Minuten, der eine Matrixzugrundeliegt (die Matrix des Archivs selbst, für dieVariablen, die Leben genannt werden):Es war die Idee, anstelle von gestalteten Filmen sehr abgespeckte Themenstellungen auf Film zu bannen. Alsonicht den ganzen Lebenszyklus einer Spezies in einem Film zu behandeln, sondern je einen Bewegungsvorgangeiner Spezies. dann kommen sehr einfache Filmentitäten heraus, die in einer bestimmten Vollständigkeitenzyklopädischen Charakter hätten. Die ursprüngliche Idee war eine Matrix: Sämtliche Spezies, die es auf derWelt gibt, und dann sämtliche Bewegungsarten, zu denen sie fähig sind . Und dann wird diese Matrixentsprechend ausgefüllt . Natürlich nicht nur Tierarten, sondern auch Pflanzenarten oder der technischeBereich, man denke an die mechanische Beanspruchung von Stahl und so weiter. Wenn man all diese Dinge indie Matrix gebracht hätte, dann wäre <strong>das</strong> die Enzyclopädia Cinematografica. 204Als Objekt sind Medien Gegenstände kulturwissenschaftlicherForschung - etwa die Rolle des Alphabets für <strong>das</strong> kulturelleGedächtnis. Als Subjekt aber schauen die Medien uns an; wirnehmen also die Perspektive der Medien ein, wie sie auf unsereKultur blicken.<strong>Der</strong> medienarchäologische <strong>Blick</strong> bezeichnet im Allgemeineneinerseits die wissenschaftliche Analyse von non-diskursivenmedialen Prozessen und andererseits den "<strong>Blick</strong>" optischerMedien selbst (elektronische Kameras, Scanner). DennMedienarchäologie argumentiert nicht primär von den Theorienher, sondern vom Matererial, vom Medienarchiv.204C. Carlson, Dokumentar am Institut für den wissenschaftlichen Film, Göttingen, Interviewt von ChristophKeller, 1998, in: Keller 2000


Eher im analytisch-messenden denn im kinematographischnarrativen<strong>Sinn</strong> bewegt sich Mareys und Muybridgesreihenfotografische Diskretisierung des Lebens, die eben nuraus der nachträglichen Perspektive von Mediengeschichte zurVorgeschichte des Kinos wird. Comolli weist anhand derGenealogie der Bewegtbild-Kamera nach, daß <strong>das</strong> Wissen um dietechnischen Voraussetzungen nicht ausreicht, eine Technik ausder latenten Option zur medial-ökonomischen Evidenz zubringen. Marey führt Bewegungsstudien durch, nicht um <strong>das</strong> Augedamit zu betrügen, sondern gerade umgekehrt, um Bewegung inEinzelbilder aufzulösen - der medienarchäologische <strong>Blick</strong> alsPrivileg der Apparate, hinter die optische Täuschung zublicken.Gewiß ist jeder Film an sich schon ein Archiv von Bewegungen:Lebensäußerungen sind regelmäßige Vorgänge im Ablauf der Zeit, die sich ebensowenig fixieren lassen wie dieZeit selbst; meßbar erhalten lassen sich nur (bezogen auf unseren Zeitmaßstab) statische Formen. Wo dervergleichende Anatom einen Knochen aus der Schublade oder ein Organ aus dem Formoglas holt, greift dervergleichende Verhaltensforscher zur Filmrolle, auf der die Bewegungsweisen konserviert sind. 205Dagegen der Pionier der russischen Filmmontage, WsewolodIllarionowitsch Pudowkin, der mit dem LeningraderVerhaltensforscher Pawlow 1928 einen Film mit dem TitelFunctions of the Brain dreht und im selben Jahr schreibt:Ich behaupte, daß jeder Gegenstand, der nach einem bestimmten Gesichtspunkt aufgenommen und demZuschauer auf dem Bildschirm gezeigt wird, tot ist, auch wenn er sich vor der Kamera bewegt hat. (Das sich vorder Kamera bewegende Objekt bedeutet noch lange keine Bewegung im Film, es ist nicht mehr als <strong>das</strong>Rohmaterial, aus dem durch den Aufbau, die Montage, die eigentliche Bewegung in der Komposition derverschiedenen Einstellungen entsteht.) Nur wenn der Gegenstand zwischen andere Einzelobjekte gesetzt wird,umzusammen mit ihnen eine Bildsynthese zu bilden, gewinnt er filmisches Leben.Erst auf der Ebene der künstlichen Welten, d. h. der künstlicharrangierten Medienwelten, beginn dann Leben zweiter Ordnung.Was wirkt mit am veränderten, erkalteten <strong>Blick</strong> der Moderne:Kapitalismus, Gesellschaft, Kunst? Oder ist es die Ko-Präsenzoptischer Medien, die daran mitwirkt? Chronophotographie etwawill keine künstliche Realität reproduzieren, sondern siemessen; nicht also repräsentieren, sondern analysieren - <strong>das</strong>wahre (neo-)realistische Kino, im wörtlichsten <strong>Sinn</strong>e: alsBewegungsmessung, Kinästhetik.<strong>Der</strong> <strong>Blick</strong> auf Bilder sieht Zustände. Es gilt aber nicht nurstills (also die Stillstellung einer Kinematographie), sondernProzesse zu sehen - die sich aber nicht mehr dem Auge, sondernnur noch der Kognition erschließen (<strong>das</strong> „Kino im Kopf“, mitDeleuzes Kino-Büchern).205W. Wicker, 1964, as quoted in: Keller 2000


Auf der Suche nach der Essenz des Lebendigen kam Mikro-Kinematographie zum frühen Einsatz, in unmittelbarer Folge derEntdeckung der Braunschen Molekularbewegung.Ist die Filmkamera, als diskreter, quasi von einem Uhrwerkgetaktetem Apparat, die mechanische Antithese des Lebens?Henri Bergson bleibt in dieser Frage ambivalent: Er schautgeradezu auf den Filmstreifen, nicht aber <strong>das</strong> Kino-Ereignis(<strong>das</strong> "Dispositiv" im <strong>Sinn</strong>e der Apparatus-Theorie), <strong>das</strong> denkognitiven Effekt in der Wahrnehmung erst zustandekommen läßt- die ganze medienarchäologische Differenz von Film und Kino.„Das Kino hat keine harte Materialität, es ist vielmehr einRaum der lebendigen Bewegung und unterhält sein Archiv in denKöpfen der Zuschauer“ .Chronophotographie rekonfiguriert <strong>das</strong> Verhältnis von <strong>Blick</strong> undZeit; Philipp Glass´ Oper The Photographer Muybridges AnimalLocomotion akustisch umgesetzt (wenngleich eher bioanekdotisch),denn der gemeinsame Nenner zwischen minimalmusic und Chronophotographie liegt in der Zeitreihenanalyse.Zeitkritisch im <strong>Sinn</strong>e einer Medientechnik wurde kulturellePraxis erst als getaktete - erst im Druck (die Zeitung, <strong>das</strong>Periodikum), dann als chronophotographische Bildfolge.Was wir in den chronophotographischen Serien einesPferdegallopps oder menschlicher Leibesertüchtigung sehen, ist“Geh-Mechanik“, wie sie von den Gebrüdern Weber aus dem Reichder Kunst in Technik geholt wurde, doch auf einem epistemischalternativen Weg. In der Kunst wurde die Behandlung der Zeit(Bewegung) lange vernachlässigt zugunsten der Behandlung desRaums (Augenblick). 206 Das antike Zeno-Paradox sagt präkinematographisch,daß ein Pfeil im Moment der Beobachtungimmer an einem genau bestimmten Ort im Raum steht, insofernalso eigentlich gar nicht fliegt. Die Antwort darauf lauteterst bei Leibniz: Infinitesimalrechnung (Differentiale undIntegrale). Für die Gebrüder Weber ergibt sich diezeichnerische Darstellung von Bewegungsabläufen weder ausverbaler Beschreibung noch aus photographischer Messung,sondern aus mathematischen Parametern.Die mediale Dynamisierung des <strong>Blick</strong>s durch diebewegungsmessende Kamera (Muybridge, Marey, früher Film)Ein kultureller oder ästhetischer Effekt von (Massen-)Medienliegt darin, daß sie geradezu notwendig dazu tendieren, ihreeigene Medialität zu dissimulieren. Folge davon ist einegewisse Hardware-Vergessenheit selbst in derKulturwissenschaft. Läßt sich Medienwissenschaft auch ohnetechnische Medien (be-)treiben, d. h. in den herkömmlichen206Ernst Gombrich, <strong>Der</strong> fruchtbare Moment. Vom Zeitelement in der bildenden Kunst, in: ders., Bild und Auge.Neue Studien zur Psychologie der bildenden Darstellung, Stuttgart (Klett­Cotta) 1984, 40­61


Medien der Universität: Sprache, Text, Schrift, Tafel, alsAppell an die Imagination, mediale Lücken durch aktivePartizipation zu füllen - Lessings "fruchtbarer Augenblick"und McLuhans "kalte Medien"?Damit zurück zur Dynamisierung des <strong>Blick</strong>s durch diebewegungsmessende Kamera (Muybridge, Marey, früher Film). <strong>Der</strong>Komponist Philip Glass bemerkt zu seiner Oper The Photographerim Begleitheft zur gleichnamigen Ccoompact Disk:<strong>Der</strong> zweite Akt präsentiert sich als Konzert mit einem Violinen­Solo ; während dieses Konzertes werdenPhotographien entwickelt, die der Muybridge des ersten Aktes aufgenommen hat , und sodann aufeinen grossen Bildschirm im Bühnenhintergrund projiziert.Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem kalten <strong>Blick</strong> derChronophotographie und der Ästhetik minimalistischerKomposition? Oder legt sich letztere - indifferent - über jedeForm von Thema, ob Kafkas In der Strafkolonie (Glass-Oper imHebbel-Theater Berlin) oder eben Muybridge? Oder steht sieästhetisch dem nahe, was thematisch maschinisch ist - weil sieselbst mechanisch ist? Beantworten wir dies, indem wir Glass´Musik lauschen und dabei eine Chronophotographie betrachten.<strong>Der</strong> Film von Gustav Deutsch, Film ist (Österreich 1998) zeigteingangs ein Segment zu Bewegung und Zeit. Wir haben es hiermit einem sich selbst erklärenden Medium zu tun. Ganz so, wiedie Erfindung von Schriftzeichen für einzelne Vokale (AEIOU)in Griechenland als Ergänzung des Alphabets denkulturtechnischen Effekt hatte, daß nicht nur gesprocheneSprache (Poesie) als phonetischer Fluß aufschreibbar und damitspeicher- und übertragbar war, sondern zugleich auch Objektewie Trinkgefäße und Grabsteine generierte, welche in Form vonInschriften in der 1. Person zum Leser reden (die sogenanntenobjetti parlanti), haben wir es hier mit einerVokalalphabetisierung zweiten Grades zu tun, einer Sprech-Maschine. Ein redender Kehlkopf in seiner Durchleuchtung alsRöntgenfilmaufnahme erklärt 12 resp. 24 Bilder/Sek. alsBedingung der wissenschaftlichen Beobachtung nicht mehr durch<strong>das</strong> menschliche, sondern durch <strong>das</strong> Kamera-Auge. Nur technischeAugen können Zeit manipulieren, retardieren und beschleunigen.Die filmische Sprech-Maschine sagt es: „Heute können jedoch 24Bilder in der Sekunde aufgenommen werden. Dadurch sind diewissenschaftlichen Auswertungsmöglichkeiten wesentlichverbessert.“Und von daher erklärt sich auch der Titel FILM IST. DieseSchreibweise ist ausdrücklich intransitiv, ganz im <strong>Sinn</strong>e desmedienarchäologischen <strong>Blick</strong>s. Dem archäologischen <strong>Blick</strong> derMedien und auf Medien entspricht nämlich eine monumentaleÄsthetik, im Unterschied zum dokumentarischen <strong>Blick</strong> derKulturhistorie. Und so schauen wir auf mediatisierte Signalenicht allein dokumentarisch, sondern auch als Monumente. AlsFunktionen einer technischen Übertragung sind sie die Boten


anderer Dinge, doch gleichzeitig ist jedes elektronische Bikldimmer auch ein Monument seiner selbst, seiner Fernsehtechnikoder noch radikaler des Computerprogramms, <strong>das</strong> es schrieb. Soist jedes Bild auch eine Selbstreferenz des techischenMediums.Es handelt sich beim chirurgischen Kamerablick - in unseremFall als kinematographischer Röntgenblick - um die Ekstasejenes medizinisch-archäologischen <strong>Blick</strong>s, den Michel Foucaultin Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des medizinischen<strong>Blick</strong>s beschrieben hat.Ebenso zeigt es Thomas Alvar Edisons Film Electrocuting anElephant: Das Objekt wie zugleich <strong>das</strong> aufnehmende Kamera-Subjekt stehen unter (ein und demselben?) Strom; Elektrizitätfungiert als Subjekt und Objekt dieses "Archivs des Lebens".Ernst Machs Geschoßphotographie hat diesen elektrischen Funkenzeitkritisch optimiert und dem geschlossenen Regelkreis vonAuslösung und Aufnahme ballistischer Objekte zugeführt.Schon in Mary Shelleys Frankenstein wird ein Korpus elektrischzum Leben erweckt. Die Physiologie des 19. Jahrhunderts hatmit ihren Leichenexperimenten "die Elektrizität aus einerMetapher in ein Medium des Lebens verwandelt" 207 , insbesondersGuillaume-Benjamin Duchenne (genannt Duchenne de Boulogne) mitseiner Publikation von 1862 Mécanisme de la physiognomiehumaine, der nicht mehr nur tote, sondern lebende Personen mitWechselstrom zu Gesichtsausdrücken zwingt und diesen Momentphotographisch fixiert. An die Stelle von Lesemetaphern desLebens treten Auslösungsvorgänge und Meßgeräte , wiekurz darauf auch bei Edweard Muybridge und Étienne Marey - dieAblösung des anatomischen Skalpells durch elektrische Apparateund Strom, der den Körper - weitgehend - unverletzt läßt damitVivisektion ermöglicht.Die ikonographische Tradition hat hier den Schaltkreisvorgezeichnet. Die Ikonologie anatomischer Figuren des Barockhatte totes Fleisch in lebensnahen Gesten dargestellt, und <strong>das</strong>nicht nur metaphorisch: 1870 wird ein geschundener Verbrecherfrisch vom Galgen in Tyburn in den Seziersaal William Huntersverbracht, des ersten Professors für Anatomie an der kurzzuvor gegründeten Royal Academy in London. "Hunters `écorché´,an dem zahllose Studenten, darunter der junge J. M. W. Turner,ds Figurenzeichnen lernten, wurde in zahlreichenBronzegüssen verewigt" 208 - in der Pose eines Rhetors:207Hans­Christian von Herrmann / Bernhard Siegert, Beseelte Statuen ­ zuckende Leichen. Medien derVerlebendigung vor und nach Guillaume Benjamin Duchenne, in: Kaleidoskopien. Jahrbuch des Instituts fürTheaterwissenschaften der Universität Leipzig, 3. Jg.: Körperinformationen, Institut für Buchkunst Leipzig 2000,65­99 (75)208Ulrich Raulff, Tanz des Pinsels auf der Schneide des Skalpells, über die Ausstellung Spectacular Bodies ander Londoner Hayward Gallery, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 296 v. 20. Dezember 2000, 51


Kommen wir zurück auf jenen Wahrnehmungsmodus des Films, derso etwas wie einen genuinen medienarchäologischen (aktiv)<strong>Blick</strong> darstellt. Hat <strong>das</strong> griechische Vokalalphabet, wieeingangs erwähnt, die Dynamik des menschliches Stimmflussesmedial aufschreibbar gemacht, so macht Film die menschlicheKinetik, die Bewegung medial registrierbar - ein Alphabet aus( ausgerechnet wiederum!) 24 Elementen - nicht im Raum,sondern - wie die Serie des Alphabets - in der Zeit.Dieser mediale Wahrnehmungsmodus von Bewegung - alsobuchstäblich Kinematographie - ist auf einem Feld eintrainiertworden, <strong>das</strong> nicht einmal primär optisch ist: Samuel ColtsRevolvermechanik. Die Auswechselbarkeit seiner Bestandteile,also Standardisiierung war die entscheidende Prägung für diespätere industrielle Massenproduktion von Film (so <strong>das</strong>Argument von Friedrich Kittler, in Optische Medien). SolcheLinien schreiben eine Mediengeschichte vor, die sich auf <strong>das</strong>,was sich durchsetzt, konzentriert, vielmehr denn auf ihreAbweichungen und Sackgassen, die für Poesie und Imagination,nicht aber Analysen zur Lage dienen (hier also inausdrücklicher Differenz zu Siegfried Zielinskis Begriff vonMedienarchäologie).Selbstauslösende Maschinen dienten schon Muybridges chronophotographischerApparatur zur Aufnahme des Pferdegallops.1881 aber hört der deutsche Physiker Ernst Mach in Paris denVortrag des belgischen Ballistikers Melsen, der vermutet, daßein Geschoß im Flug eine Masse verdichteter Luft vor sichherschiebt. Zur empirischen Bestätigung sucht Mach mit seinemAssistenten Peter Salcher nach einer Visualisierung mitfolgender Versuchtsanordnung: Eine abgeschossene Gewehrkugellöst den Funken aus einer Batterie selbst aus, indem sie zweimit Glasröhrchen bedeckte Drähte passeirt und dabei <strong>das</strong> Glaszerstört. <strong>Der</strong> Funke springt gleichzeitig hinter der Kugel überund idnest so zur extrem kuzrzen Beleuchtung des Vorgangs.Später wird die visuelle Störung der Drähte vermieden, indemder Luftdruck der Kugel selbst den Beleuchtungsfunken auslöst,so daß ein Verschlußmechanismus der Kamera überflüssig wird.Luftmassen werden durch die sog. Schlierenmethode sichtbargemacht, 1864 von August Toepler entwickelt, um “abweichendeDichtenverhältnisse in Teilen des umgebenden Mediums” sichtbarzu machen. 209209Schriftlichen Hausarbeit unter Prüfungsbedingungen von Frau Meike Drießen: Die Aneignung neuerBildmedien durch die Kunst am Beispiel von Marey, Muybridge, Duchenne de Boulogne und Mach (zum


Luft erweist sich gerade in ihrem Widerstand als ein Medium -ein Zug, dem der Äther-Diskurs, den Aristoteles medialinstalliert und Descartes wiederaufgreift,hinterherargumentiert.Etienne-Jules Marey zielte in der Fortentwicklung (oder demBruch) seiner méthode graphique zur méthode photo-graphiqueauf „mesures précises de rapports qui échappent à l´observation.“ Ernst Mach fixiert die Bewegung vonSchallwellen, „die für unsere unmittelbare Anschauung zu raschverläuft.“ Medium der Wahrnehmung dessen, was menschlicheWahrnehmungsschwellen unterläuft, ist die Photographie: So„zeichnet die photographische Platte auf, was außerhalb ihrerselbst nicht in Erscheinung tritt.“ 210Hier handelt es sich nicht mehr um eine Abbildung, sondernhier handelt eine originär medientechnische Bildung, eine Ein-Bildung als Techno-Imaginäres im <strong>Sinn</strong>e Vilém Flussers, eineEpiphanie neuer Form.Ähnlich hat der Elektro-Physiologe Duchenne de Boulognebereits in seiner 1862er Publikation Mécanisme de laphysiognomie humaine <strong>das</strong> Phantasma des sich selbstaufzeichnenden Lebens beschrieben:Die örtliche Elektrisierung erlaubt mir, die kleinsten Strahlungen der Muskeln unter dem Instrument sichabzeichnen (se dessiner) zu sehen. Die Kontraktion der Muskeln enthüllt ihre Richtung und Lage besser als es<strong>das</strong> Skalpell des Anatomen je könnte. 211<strong>Der</strong> <strong>Blick</strong> als Subjekt und Objekt: Wir erinnern uns an eineSzene aus dem Video Retrograd von Christoph Keller über diemedizinischen Ausbildungsfilme der Klinik Charité, den Augen-Durchschuß in Zeitlupe.Hauptseminar “Ikonologie der Energie”, Dozent W. E., SS 1999, Ruhr­Universität Bochum, Institut für Film­ undFernsehwissenschaft. Hier unter Bezug auf Wolfgang Baier, Quellendarstellung zur Geschichte der Fotografie,Halle 1964; Ernst Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1923; Christoph Hoffmann, Mach­Werke. Ernst Mach und Peter Salcher: Photographische Fixerung der durch Projektile in er Luft eingeleitetenVorgänge (1887), in: Fotogeschichte Bd. 60 (1996), 6ff.210Peter Geimer, Exposé zum Workshop The Organization of Visibility. Photography in Science, Technology andArt around 1900, Januar 1999211Ebd., 15. Zitiert u. übers. in: Hans­Christian von Hermann / Bernhard Siegert, Beseelte Statuen ­ zuckendeLeichen. Medien der Verlebendigung vor und nach Guillaume Benjamin Duchenne, in: 384 [zugleich:Kaleidoskopien Heft 3: Körperinformationen], Institut für Buchkunst Leipzig 2000, 65­99 (92)


Was uns hier vorgeführt wird, ist der medienarchäologische<strong>Blick</strong> vor aller Kulturhistorie. Dieser <strong>Blick</strong> wird in einemExperimentalfilm selbst zum Thema, allegorisch:In „Experimentelle Schußverletzungen am Auge“ von 1964 wird mit Luftgewehrkugeln, sowie mit angespitztenund mit stumpfen Holzpfeilen auf ein präpariertes Rinderauge geschossen. Die Aufnahmen sind mit einerHochgeschwindigkeits­Zeitlupenkamera hergestellt; ein Sprecher erläutert trocken die jeweiligen Verletzungen.<strong>Der</strong> Film wirkt heute wie ein grausam zelebrierter Triumph der Kameratechnik über <strong>das</strong> menschliche Auge.Stichwort Skalpell: Luis Bunuels surrealistischer Debut-FilmUn chien andalou von 1928 - am Ende der Stummfilmepoche -zeigt gleich zu Beginn eine Szene, die zu den Ikonen derFilmgeschichte gehört. <strong>Der</strong> Mann mit seinem Rasiermesser - <strong>das</strong>Messer nahe am Auge einer Frau - <strong>das</strong> Auge des Kalbskopfs, <strong>das</strong>von einem Rasiermeser aufgeschnitten wird. <strong>Der</strong> von Lacan ja sogenannte skopische <strong>Blick</strong> ist hier Subjekt und Objekt zugleich- Filmschnitt, buchstäblich.Photo und System (IMAGO, Fischli / Weiss)Als Thesaurus wurde vom kunsthistorischen Bildarchiv FotoMarburg ICONCLASS übernommen, ein hierarchisch strukturiertes,alphanumerisches System der Codierung von Bildinhalten. Sokann in einem System von Schlagwörtern, neben der präzisenRecherche mittels der Codierung, auch mit Freitext gesuchtwerden . Doch dieses Verfahren bleibtdiesseits der Schwelle von bildbasierter Bildsortierung:<strong>Der</strong>jenige, der nach Teppichornamenten sucht, der an Gewandgebung Interessierte oder ein Forscher, dessenInteresse sich auf Fragen des Kolorits richtet, würde hingegen keinen Erfolg haben. <strong>Der</strong> Benutzer einerDatenbank kann nur <strong>das</strong>jenige finden, was die Katalogisierer zu indizieren bereit waren. Gegenüber der mangelnden Flexibilität der Verschlagwortungbisheriger Bilddatenbanken setzt IMAGO auf die Metapher desKarteikastensystems als jederzeit sichtbarem Thesaurus, derstatt des sequentiellen den wahlfreien Zugriff über ein(alphabetisches, seinerseits also sequentielles) Registerermöglicht. Immerhin erlaubt ein „Hyperlinkmodul“ durch dragand drop „nichtsprachliche Verbindungen zwischen einzelnenMotiven und zwischen Motiven und Texttellen“ . Zielist, „eine möglichst assoziative Oberfläche zu gestalten“ -vgl. Vannevar Bushs 1945er Entwurf eines mechanischen MemoryExtender, der „selection by association, rather than byindexing“ deklarierte. Genuin bildbasierte Bildsortierungsucht dem optischen Artefakt (wie wir es lieber als "Bild"nennen) zu seiner ihm eigentlichen Aussagekraftzurückzuverhelfen, die durch Abstraktion in rein sprachlichorientierten Datenbanken verlorengehen. Zur Verhandlung steht


also eine Option, die es ermöglicht, „daß man `unscharf´ aufdie Suche nach einem Themengebiet gehen kann“ .Durch Sortierung nach unterschiedlichen Feldern (Indizes) kann die Datenbank ständig in eine andereReihenfolge gebracht und dementsprechend schnell innerhalb jedes dieser Felder durchgesehen werden. Wie auf einem Leuchtkasten sollten die Abbildungen in ihrer Reihenfolge umgestellt und als Arbeitsmaterial inihrer Reihenfolge umgestellt und als Arbeitsmaterial in Mappen abgelegt werden können“ 212- ein genuiner Atlas, ein Bildtafelwerk auf Zeit.Das Dispositiv für Bildtafelwerke - ob Photo oder Dias -bleibt die Fläche, wie sie die Schweizer Konzeptkünstler PeterFischli und David Weiss für ihre Installation nutzen, die 2001in den Kunst-Werken Berlin-Mitte zu sehen war. Wortfreipräsentiert sich darin <strong>das</strong> buchstäbliche Bilder-Buch derSichtbare Welt (Köln: König 2000):Ein Katalog ohne Katalogik, denn die Bilder haben keine Legenden. Nicht einmal die Seiten sind paginiert. Eineendlose Bildstrecke versetzt den Leser in ein wortloses Schauen, <strong>das</strong> die automatische Schreibweise derSurrealisten in eine lecture automatique überträgt. 213Bedeutet diese "Automatik" auch, daß sie maschinellimplementiertbar ist. Vielleicht aber sähe ein Scanner nochunerbittlicher in der Logik und mit dem kalten <strong>Blick</strong> derInformatik, was menschliche Bildwahrnehmung zu verwischenneigt: "die feinen Unterschiede ähnlicher Motive" .Andy Warhols identischer Vervielfachung des Realen setzen Fischli und Weiss eine Form der unmerklichabwandelnden Wiederholung entgegen, die <strong>das</strong> Gleiche immer wieder etwas anders aussehen lässt. Dabeischeinen die Variationen nicht unbedingt den Informationswert des Bildes zu erhöhen, eher forcieren sie seinesemantische Entleerung. Die Sichtbare Welt persifliert nicht ohne Humor die überbordenden Bilderspeicherkommerzieller Bildagenturkataloge . Während jene die Welt nach Gemeinplätzen des Zeitgeistinteresseseinteilen, bringen Fischli und Weiss den Leser mit sanftemDruck dazu, die Unterschiede im Ganzen selbst zufinden. Installiert als Leuchtbildserie in der Kunst-Werken Berlin(Juli 2001), erschlossen sich die Photoreihen in Leserichtung,Zeile für Zeile und nach Gruppen wie Buchseiten arrangiert. Soentpuppt sich die scheinbar textlose Welt selbst als Text.Liegt eine Übersetzung von Bildern in Text vor, so können alle konventionellen Operationen derTextverarbeitung zum Ausgang der Operation Sortieren werden. Seit mehr als 150 Jahren gibt es einezweite Methode, Bilder in eine Art von Text zu verwandeln. Diese Variante der Ekphrasis heißt schlicht undeinfach Scanning 214- und ist damit (medienarchäologisch radikal) unhermeneutisch.Vielmehr reduziert der Scanner <strong>das</strong>, was wir „Bild“ nennen, auf212André Reifenrath, Kunstgeschichte digital. Über die Probleme einer geisteswissenschaftlichen Bilddatenbankund deren Lösung, in: Humboldt­Spektrum 1/95, 38­41 (38 u. 40)213Rezension Andreas Ruby, Wozu Worte, wenn man Bilder hat, in: Die Zeit Nr. 29 v. 12. Juli 2001, 42214Bilder sortieren. Vorschlag für ein visuell adressierbares Bildarchiv, Vortrag Stefan Heidenreich 13.XI.96KHM Köln, TS Fassung 13.11.96, Seite 3


nichts als den Informationswert (den Max Bense dann wiederumselbst zum statistischen Kalkül von Ästhetik machte, ein reentry).Hier kehrt also die binäre Vertextung der Bilderzurück - textil im <strong>Sinn</strong>e der lochkartengesteuertenBildtexturen Jaquards.Jedes Dokument im Archiv bekommt seine Bedeutung erst durch die Nachbarschaft mit anderen Dokumentenund durch <strong>das</strong> Archiv selbst. Auch Bilder werden der Ordnung des Archives untergeordnet und enthalten eineZuschreibung von Ort, Zeit und <strong>Sinn</strong>. Ein fotografisches Archiv ist allerdings streng genommen immer ehereine Indiziensammlung denn ein Archiv, eher eine Anhäufung und ein Puzzle als ein sich selbst fortschreibendesund ausführendes Programm 215- die Konsequenz der Photographie für ein Neues Sehen im 19.Jahrhundert. 216Suchbilder, Abschiede„Digitale Bildverarbeitung fällt , gerade weil sie imGegensatz zu hergebrachten Künsten gar keine Abbildung seinwill, mit dem Reellen zusammen.“ 217 Dies zu wissen fordert zumEine die Abgewöhnung vom semantischen, ikonologischen <strong>Blick</strong>.Unter der Bedingung visueller Adressierbarkeit könnte zumAnderen <strong>das</strong> Wissen eines Bildarchivs wirklich gewußt werden.Doch dem stehen noch immer Hindernisse im Weg. Begriffe wiecontent oder similarity bergen Reste von Schriftsinn, selbstdort, wo nicht mehr geschrieben wird. Content, der semantischeGehalt eines Bildes, tut so als sei der Inhalt eines Bildesetwas anderes als <strong>das</strong> Bild selbst. Damit fällt sogenannterInhalt in <strong>das</strong> Modell der Semiotik zurück, <strong>das</strong> zwischen einerAnwesenheit (dem Zeichen) und dem notwendig Abwesenden (seinerReferenz) differenziert. Similarity, also Ähnlichkeit zwischenBildern, vermeidet diesen Fehler, um an einer andere Stelle indie Falle zu gehen. Ähnlichkeit tendiert dazu, etwas zusetzen, worin sich Bilder ähnlich sind. Sobald versucht wird,dieses Etwas der Ähnlichkeit der menschlichen Wahrnehmunganzupassen - und <strong>das</strong> ist die Regel -, produziert auch einKonzept der Ähnlichkeit eine „bedeutsame“ Aussage, <strong>das</strong> heißtein Verhältnis, in dem <strong>das</strong> Bild etwas bedeutet und darübererreichbar wird. Üblicherweise wird Ähnlichkeit über einenKriterienkatalog, oft nach statistischen oderneurophysiologischen Untersuchungen, definiert. Dadurch werdenBezüge zwischen Bildern immer wieder von vorneherein auf einenbestimmten, nämlich einen "sinnvollen" Anschluß festgelegt.Dagegen stellt sich die Frage, ob eine Ordnungsrelationinnerhalb der Bildmenge nicht desto eher erfolgreich sein215Anselm Franke, xxx, in: Ernst et al. 2001: xxx216Dazu Bernd Stiegler, Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert,München (Fink) 2001217Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin (Merve) 2002


wird, je mehr sie auf einen bestimmten Anschluß und einenbestimmten <strong>Sinn</strong> verzichtet. 218Gegenüber beiden Strategien sollte ein Zugriff auf Bilderdiskutiert werden, der von jeglicher <strong>Sinn</strong>bildung, sei es durchÄhnlichkeit oder Inhalt absieht und „<strong>Sinn</strong>" nicht als Bedeutung(siehe Frege), sondern im <strong>Sinn</strong>e der etymologischen Ableitungdurch die Gebrüder Grimm als Deuten auf etwas, als vektorielleBestimmung, mithin also signaltechnisch als Zeiger auf Daten(Pointer) liest. Das bedingt ein Sich-Einlassen auf den genuin„archäologischen", d. h. kalten, von Einbildungskräften freien<strong>Blick</strong> des Computers, der Signifikanten rein signifikant, also(im <strong>Sinn</strong>e der Hermeneutik) deutungsfrei liest (scanning).Dziga Vertov unterstreicht die nicht-menschliche Option desKinoauges für ein genuin visuelles Denken, demnach dieGedanken von der Leinwand direkt in <strong>das</strong> Gehirn der Zuschauerfallen: „Die Gedanken müssen unmittelbar aus der Leinwandhervorquellen, ohne Vermittlung über Worte - ein lebendigerKontakt mit der Leinwand, eine Übertragung von Gehirn zuGehirn“ .Jörg Becker, Autor und Filmhistoriker, hat einen visuellenTopos, <strong>das</strong> Motiv der Abschiede, aus der Medialität derKinematographie selbst entwickelt. 219 Filmische Abschiede findenklassischerweise vor abfahrenden Zügen statt; hier findet eineTechnologie des Films sich selbst: Kamerfahrten auf Schienen.Die Kopplung von Menschen und abfahrendem Objekt (Zug) bildenein dankbares Objekt für informatisierte Bildmotivsuche. Schonder Einsatz von Qualm, von Rauch ist hier eine optische Optionfür Algorithmen, die nach statistisch gleichverteiltenPartikeln suchen.Doch dieses Spiel zwischen subjektiver Zeit(Erinnerungsbilder) und objektiver Zeit (Gegenwart) bedarfimmer noch des zusätzlichen Einsatzes von Musik, weil Bilderan entsprechenden Stellen nicht hinreichen, die bewegteEmotionen zu signalisieren (Grenzen von movies). Ein digitalerAnknüpfungspunkt wäre hier gerade Bildsuche anhand von Tönen.Die erinnerte Abfolge analoger Bildmotive steht im krassenGegensatz zu dem, was der Computer erinnert. Grenzen undChancen zwischen digitaler und menschlicher Bildwahrnehmung:Menschen können dramatische Motive viel schneller erinnern undzusammenbringen; andererseits vermag der Computer unerwarteteAllianzen zwischen Bildfolgen zu erzeugen.218Siehe W. E. (gemeinsam mit Stefan Heidenreich), Image retrieval und visuelles Wissen, in: KonferenzbandEVA ´97 Berlin (Electronic Imaging & the Visual Arts), Elektronische Bildverarbeitung & Kunst, Kultur,Historie, 12.-14. November 1997, veranstaltet von der Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik e.V.(Berlin) und Vasari Enterprises (Aldershot) 1997, abstract219Vgl. den Beitrag von Jörg Becker in: W. E. / Stefan Heidenreich / Ute Holl (Hg.), Suchbilder. Bildarchive derGegenwart, Berlin (Kadmos Kulturverlag) 2003


Lange, langsame Einstellungen sind charakteristisch für denfilmischen Topos der Abschiede. <strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> der Hollywood-Industrie verhandelt zwar emotions, aber jeder Moment istdurchkalkuliert nach dem industriellen Muster von Kameraschuß/ Gegenschuß. Genau dies macht solche Filme so(computer)berechenbar. <strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong> der Hollywood-Skripte(durchökonomisierte Bilder der Subjektproduktion)korrespondiert hier mit Optionen der elektronischen Ordnungeben dieser Bilder. Evident ist dies dem wiederum kalten,scharfen <strong>Blick</strong> der Filmanalytiker im Unterschied zumsemantischen <strong>Blick</strong> des Kinopublikums. Erst die Einführung desAufzeichnungsmediums Video aber machte solche Filme denKritikern zuhause wie vormals literarische Produkte derBuchkultur nachsichtbar (also sehen sie gar nicht Film,sondern schreiben Videokritiken).Im Diesseits von Musik: AkustikJonathan Crary interpretiert die Architektur desFestspielhauses von Bayreuth als bewußt geplante Ausrichtungdes <strong>Blick</strong>s der Zuschauer durch Richard Wagner - theoría alsDispositiv. Dem wäre eine Interpretation entgegenzusetzen, dienicht sieht, sondern vor allem hört. Dem kalten <strong>Blick</strong> geselltsich <strong>das</strong> kalte Ohr zu, am Beispiel des einsetzenden Akt II vonWagners Oper Tristan und Isolde. „Mir schwand schon fern derKlang", äußert Isolde nach dem Abzug der Männer zur Jagd.Medium dieser Wahrnehmung , im Gegensatz zu aller Theaterpraxis vor Wagner, sind keine Augen, sondernOhren. <strong>Blick</strong>e, Masken, Erscheinungen ­ nichits von alledem zählt mehr. Zum erstenmal hat eine Oper stattoptischer Handlungen, die Vokal­ und Instrumentalmusiken dann nurmehr begleiten würden, eine akustischeHandlung, die zum Drama selber aufrückt. <strong>Der</strong> Dialog zwischen Isolde und Brangäne kreist ja um die einzigeFrage, ob <strong>das</strong> Gehörte akustishe Wahrnehmung oder akustische Täuschung ist. Was Isolde „wonnigesRauschen“ oder „sanft rieselnde Welle“ eines „Quells“ nennt, greift dem Ingenieursbegriff Rauschquelle jaunmittelbar zuvor. Wagners Musik ist also eine Maschine . „Zu vernehmen, was du wähnst“, besagt sehrpräzise, die Grenze zwischen Kunst und Natur, im gegevenen Fall also zwischen Ventilhörnern undQuellgeräuschen systematisch zu ignorieren 220- wie den Gesang der Sirenen als Differenz von künstlicher undtatsächlich humaner Stimme.Audiovisuelle Medien adressieren menschliche Augen und Ohren.Während optische oder gar bildgebende Apparaturen denpassionslosen <strong>Blick</strong> auf Materie und Prozesse lehren, sind dieOhren empfindlich für Klang und damit der melancholischenErfahrung von Zeitablauf unterworfen. Homer gab im 12. Gesangseiner Odyssee ein Rätsel auf, als er den Helden amSchiffsmast angebunden und seine Ruderer mit wachsverstopftenOhren am verführerischen Gesang von zwei Sirenen220Friedrich Kittler, „Vernehmen, was Du wähnst“. Über neuzeitliche Musik als akustische Täuschung, in:Kaleidoskopien Heft 2 (1997), 8-16 (14)


vorbeischiffen ließ. Tatsächlich lassen sich Augen leichterverschließen als Ohren.Hören ist ein Fernsinn, jedoch von anderer Art als <strong>das</strong> Sehen. Sehend erblicken wir irgend etwas, nah oder fernvon uns, über einen Abstand hinweg. Im Hören fällt <strong>das</strong> Moment des Abstandes fort. Ob fern oder nah,identifizierbar als ein Rascheln, Läuten, Ton einer Geige oder eines Saxophons ­ Ton dringt ein, ohne Abstand.Sehen und Tasten haben einen strukturellen Bezug zum Erkennenund Wahrnehmen, insofern die Lichtwellen etwa nichtunmittelbar in elektrochemische Reize verwandelt und demneuronalen Mechanismus weitergeleitet, sondern schon auf derNetzhaut gefiltert werden. Das Hören steht hingegen inDirektkontakt mit den Schwingungen der Materie.Solche Einsichten legen es nahe, Ästhetik in ein Maß derInformation zu verwandeln; Friedrich Nietzsche wollteidealerweise mit dem Ergographen die Erregungszustände desPublikums altgriechischer Dramen messen. <strong>Der</strong> Moskauer LehrerLeonard Bernsteins wiederum entwickelte eine Skala, mit dersich die Schönheit eines musikalischen Kunstwerks messenlassen sollte. Max Bense schließlich kalkuliert <strong>das</strong>ästhetische Maß als statisches Verhältnis negentropischerOrdnung.Pierre Boulez, vertraut durch zeitgenössische Komposition vonMusik mit elektronischen Mitteln, dirigierte einmal RichardWagners Götterdämmerung in Bayreuth - per aspera (die serielleMusik) ad astra? Niemand anders als Michel Foucaultidentifizierte dieses Durchlaufen einer Entwicklung in seinerKritik der Aufführung, der er am letzten Abend der BayreutherRing-Inszenierung beiwohnte:Es war, als hätte Boulez seinen eigenen Weg noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Es ist auch die ganzeBewegung des Jahrhunderts der modernen Musik, die, ausgehend von Wagner, durch <strong>das</strong> große Abenteuer desFormalen hindurch, wieder zur Intensität und zur Bewegung des Dramas fand. Die völlig dechiffrierte Formverwob sich mit dem Bild. 221Maurice Blanchot zufolge erinnert besonders der Gesang derSirenen Menschen an <strong>das</strong> Nicht-Menschliche ihres Gesangs. EineMensch-Maschine, oder <strong>das</strong> Mathematische an der Musik? Blanchotnimmt in seinem Text „<strong>Der</strong> Gesang der Sirenen“ (Original 1955)die Sirenen-Episode im 12. Gesang von Homers Odyssee als Frageüber <strong>das</strong> Wesen der Musik auf. „Zwar haben sie gesungen,aber auf eine Art, die nur die Richtung anzeigte, wo diewahren Quellen und <strong>das</strong> echte Glück des Gesangs entspringensollten.“ 222 <strong>Der</strong> Ursprung der Musik ist also nicht hörbar, undalle hörbare Musik nur <strong>das</strong> Anzeichen ihrer Quelle, wie im221Michel Foucault, Imaginationen des 19. Jahrhunderts, in: die tageszeitung (Berlin), Sonderausgabe, 11.Oktober 1980, 24f (25)222Maurice Blanchot, <strong>Der</strong> Gesang der Sirenen, in: ders., <strong>Der</strong> Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur,München (Hanser) 1962, 9-40 (11)


Mittelalter die tatsächlich gespielte Musik die unterste Stufeder sphärischen Musik war?Ein Turing-Test für Musik:Es war ein nichtmenschlicher Gesang, ­ ein natürliches Geräusch (gibt es denn andere?), aber am Rande desNatürlichen, dem Menschen in jeder Hinsicht fremd . Aber, sagen die anderen, noch seltsamer war dieVerzauberung; ihr Gesang war dem gewohnten Singen der Menschen nachgebildet, und weil die Sirenen, die nurrein tierischer Natur waren , singen konnten wie die Menschen singen, machten sie aus dem Gesang etwasAußerordentliches, <strong>das</strong> den Hörer vermuten ließ, jeder menschliche Gesang sei im Grunde nicht menschlich. 223Olivier Messiaen hat die Vogelstimmen in seinen Kompositionennicht auf Tonband, sondern in persönlicher Notationaufgezeichnet (und abgespielt). „Er verwandte sie nicht imRohzustand, stets gingen sie durch den Filter und dieVerarbeitungsinstanz seiner persönlichen Deutung", ehe er siein Kompositionen erscheinen ließ. Aus dem natürlichen wurdedadurch geistiges Material. Medien auch im anderen <strong>Sinn</strong>e: „Alsfliegende Wesen, die zwischen Himmel und Erde `vermitteln´,gelten ihm die Vögel als Vorboten der Befreiung von derirdischen Materie, als <strong>Sinn</strong>bilder der `verklärten Leiber´ undder Engel.“ 224 Hermann von Helmholtz aber hat die Sirenen alsApparat zur Analyse von akustischen Frequenzen gebaut.Im Zweiten Weltkrieg, angesichts von Städte-Bombardements,werden Sirenen gewaltsam. Eine ganze Generation ist von dieserAkustik traumatisiert. Daneben ertönten Fabriksirenen. CarlSchmitt bezweifelt, ob Menschen, „die statt Kirchenglocken nurnoch Fabriksirenen hören“, überhaupt noch an Gott glaubenkönnen; „sie werden eher an einen sehr harten eisernen Molochglauben.“ 225Konkret wird dies in einer Versuchsanordnung des Begründersder medizinischen Physiologie, Johannes Müller, der den Kopfeiner Leiche so abschnitt, daß der ganze Stimmapparat miteinem Teil der Luftsäule daran hing. Sodann hängt er ihn aneiner Befestigung auf:Wenn in dieser Anordnung der Kehlkopf der Leiche angeblasen wurde, so wurde der Klang der Stimme dermenschlichen so ähnlich, daß aller Unterschied des lebenden Körpers und der Maschine verschwand. Beipassiver Bewegung der Lippen konnte Johannes Müller sogar zur Bildung einiger Konsonanten schreiten ,auch die Vokale u und a wurden durch die nötigen Veränderungen der Mundöffnung erzeugt, so daß die Leichealso noch klare menschliche Sprachlaute produzieren konnte. Das, was bei diesem Versuch besonders auffiel,war die absolute Menschenähnlichkeit der so erzeugten Leichenstimme, was man von einem einfachen isoliertenLeichenkehlkopf kaum sagen kann. Mankann demnach wohl ohne Übertreibung die Behauptung aufstellen, daß<strong>das</strong> eigentlich Menschenähnliche in der Stimme durch die Einwirkung des Ansatzrohres zustande kommt. 226Spracherkennungsprogramme werden so zu Erkenntnismedien. Alsogibt es auch so etwas wie <strong>das</strong> kalte, non-semantische Gehör,<strong>das</strong> Maschinen-Ohr jenseits dessen, was in der Bildwissenschaft„Ikonologie“ heißt. Augen können wir schließen und Träumen.223Maurice Blanchot, <strong>Der</strong> Gesang der Sirenen, in: ders., <strong>Der</strong> Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur,München (Hanser) 1962, 9­40 (11)224Stefan Keym, im Programmheft zum Konzert Olivier Messiaen, La Transfiguration de Notre-Seigneur Jésus-Christ (1965-69), Philharmonie Berlin, 10. Oktober 2002225Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, 110226Hermann Gutzmann, Physiologie der Stimme und Sprache, Braunschweig 1909


Und <strong>das</strong> Ohr? Die verwundbarste Stelle unserer <strong>Sinn</strong>e. Oder ist<strong>das</strong> Hören serieller Musik kalt, weil es rein mathematischoperiert? Auditive Halluzinationen von Stimmen wurde durch dieVerbreitung der Kulturtechnik Schrift zum Vestummen gebracht. 227Alexander Puschkin hat es so formuliert: „Die Töne tötendzerlegt´ ich die Musik wie eine Leiche und prüfte Harmonie anAlgebra.“ 228 Hier reflektiert eine akustische Konfiguration deneigenen zahlentheoretischen Ort. Sprechen wir also gewissen„kalten“ analytischen Musiken, etwa den Fugen Bachs, aber auchder Minimalmusic von Riley, Reich und Glass die Fakultät zu,die Medialität von Musik mit medienarchäologischem Ohr zureflektieren.227Dazu Julian Jaynes, Bikamerales Bewußtsein, xxx228A. Puschkin, Mozart und Salieri, zitiert als Motto in: J. J. Barabasch, Algebra und Harmonie, in: „Kontext“.Sowjetische Beiträge zur Methodendiskussion in der Literaturwissenschaft, hg. v. Rosemarie Lenzer / PjotrPalijewski, Berlin (Akademie) 1977, 15-94 (15)

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