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Kalter Sinn. Der medienarchäologische Blick, das ...

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„`NIETZSCHE NIETZSCHE´? Die transparentblaue Spur desTypenabdrucks eines anilingetränkten Baumwollfarbbandes aufPapier im Kleinoktav-Format“ (Martin Stingelin). Aber diesesGeheimnis hat xxx Hahn vom Bundesamt für MaterialprüfunginBerlin gelüftet. Er hat <strong>das</strong> Farbband der SchreibmaschineNietzsches dem kalten <strong>Blick</strong> der Infrarotkamera ausgeliefert.Das Ergebnis der Suche nach Schriftspuren Nietzsches: nichts.Am Ende nichts als zerlaufene und verkrustete Pigmente. Waswill uns Nietzsches Schreibmaschienband damit sagen? „Thesemantic aspects of communication are irrelevant to theengineering aspects“ .Wenn zwischen Hand und Schrift keine bloße Prothese desMenschen mehr tritt, wie es der Stift für die Finger an derHand ist, sondern eine Appartur, welche die Handschriftbuchstäblich übersetzt, kommt ein distanziertes, insofernmedienarchäologisch faßbares Verhältnis zu Buchstaben alsdiskreten Elementen in all ihrer signifikanten Arbitraritätzustande. Hier findet also <strong>das</strong> Verhältnis von Medium undÜbertragung auf einer mikrophysikalischen Ebene statt.Buchstaben insistieren seitdem im Unbewußten. Heiner Müllerhat dies unter dem Titel Senecas Tod in einem Gedichtbeschrieben - in einer Typographie, die selbst an NietzschesSchreibmaschine erinnert:DIE FRAU INS NEBENZIMMER SCHREIBER ZU MIRDie Hand konnte den Schreibgriffel nicht mehr haltenAber <strong>das</strong> Gehirn arbeitete noch die Maschinestellte Wörter und Sätze her notierte die SchmerzenWas dachte Seneca (und sagte es nicht)Gelagert auf die Couch des PhilosophenZwischen den Buchstaben seines letzten Diktats 128Seneca, der „klinische Beobachter“ 129 , wird hier selbst zumObjekt des kalten <strong>Blick</strong>s eines anderen Dramatikers.Schriftsteller der Weimarer Klassik wie auch Nietzsche träumten von einer Maschine, die Gedanken direkt inGeschriebenes umwandeln konnte. Es wurde also mit den Störungen der Medien kreativ umgegangen,andererseits blieb der Traum von einer „Gedankenübertragungsmaschine“ bestehen. Goethe aber schreckt ­anders als Nietzsche angesichts der Schreibmaschine ­ vor Technologie zurück: „Das überhandnehmendeMaschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hatseine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.“ 130 Lichtenberg wünschte ein Schreiben, <strong>das</strong> dieGedanken unmittelbar umsetzt ­ <strong>das</strong> Phantasma der Telepathie. Sprechende Maschinen, speech­to­text­Programme und die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz verheißen, daß dieser Traum nicht zu Endeist.<strong>Blick</strong>distanzierungsmaschinen, mathematisch (die Perspektive)128Heiner Müller, Gedichte, Frankfurt/M. 1998, 250f129Carsten Schmieder, Die Behandlung des Mythos in den Tragödien Senecas, Magister-Arbeit im Fach Latein,Universität Potsdam, 2000, 44130Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Buch 3, Kap. 13, 1829

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