Eher im analytisch-messenden denn im kinematographischnarrativen<strong>Sinn</strong> bewegt sich Mareys und Muybridgesreihenfotografische Diskretisierung des Lebens, die eben nuraus der nachträglichen Perspektive von Mediengeschichte zurVorgeschichte des Kinos wird. Comolli weist anhand derGenealogie der Bewegtbild-Kamera nach, daß <strong>das</strong> Wissen um dietechnischen Voraussetzungen nicht ausreicht, eine Technik ausder latenten Option zur medial-ökonomischen Evidenz zubringen. Marey führt Bewegungsstudien durch, nicht um <strong>das</strong> Augedamit zu betrügen, sondern gerade umgekehrt, um Bewegung inEinzelbilder aufzulösen - der medienarchäologische <strong>Blick</strong> alsPrivileg der Apparate, hinter die optische Täuschung zublicken.Gewiß ist jeder Film an sich schon ein Archiv von Bewegungen:Lebensäußerungen sind regelmäßige Vorgänge im Ablauf der Zeit, die sich ebensowenig fixieren lassen wie dieZeit selbst; meßbar erhalten lassen sich nur (bezogen auf unseren Zeitmaßstab) statische Formen. Wo dervergleichende Anatom einen Knochen aus der Schublade oder ein Organ aus dem Formoglas holt, greift dervergleichende Verhaltensforscher zur Filmrolle, auf der die Bewegungsweisen konserviert sind. 205Dagegen der Pionier der russischen Filmmontage, WsewolodIllarionowitsch Pudowkin, der mit dem LeningraderVerhaltensforscher Pawlow 1928 einen Film mit dem TitelFunctions of the Brain dreht und im selben Jahr schreibt:Ich behaupte, daß jeder Gegenstand, der nach einem bestimmten Gesichtspunkt aufgenommen und demZuschauer auf dem Bildschirm gezeigt wird, tot ist, auch wenn er sich vor der Kamera bewegt hat. (Das sich vorder Kamera bewegende Objekt bedeutet noch lange keine Bewegung im Film, es ist nicht mehr als <strong>das</strong>Rohmaterial, aus dem durch den Aufbau, die Montage, die eigentliche Bewegung in der Komposition derverschiedenen Einstellungen entsteht.) Nur wenn der Gegenstand zwischen andere Einzelobjekte gesetzt wird,umzusammen mit ihnen eine Bildsynthese zu bilden, gewinnt er filmisches Leben.Erst auf der Ebene der künstlichen Welten, d. h. der künstlicharrangierten Medienwelten, beginn dann Leben zweiter Ordnung.Was wirkt mit am veränderten, erkalteten <strong>Blick</strong> der Moderne:Kapitalismus, Gesellschaft, Kunst? Oder ist es die Ko-Präsenzoptischer Medien, die daran mitwirkt? Chronophotographie etwawill keine künstliche Realität reproduzieren, sondern siemessen; nicht also repräsentieren, sondern analysieren - <strong>das</strong>wahre (neo-)realistische Kino, im wörtlichsten <strong>Sinn</strong>e: alsBewegungsmessung, Kinästhetik.<strong>Der</strong> <strong>Blick</strong> auf Bilder sieht Zustände. Es gilt aber nicht nurstills (also die Stillstellung einer Kinematographie), sondernProzesse zu sehen - die sich aber nicht mehr dem Auge, sondernnur noch der Kognition erschließen (<strong>das</strong> „Kino im Kopf“, mitDeleuzes Kino-Büchern).205W. Wicker, 1964, as quoted in: Keller 2000
Auf der Suche nach der Essenz des Lebendigen kam Mikro-Kinematographie zum frühen Einsatz, in unmittelbarer Folge derEntdeckung der Braunschen Molekularbewegung.Ist die Filmkamera, als diskreter, quasi von einem Uhrwerkgetaktetem Apparat, die mechanische Antithese des Lebens?Henri Bergson bleibt in dieser Frage ambivalent: Er schautgeradezu auf den Filmstreifen, nicht aber <strong>das</strong> Kino-Ereignis(<strong>das</strong> "Dispositiv" im <strong>Sinn</strong>e der Apparatus-Theorie), <strong>das</strong> denkognitiven Effekt in der Wahrnehmung erst zustandekommen läßt- die ganze medienarchäologische Differenz von Film und Kino.„Das Kino hat keine harte Materialität, es ist vielmehr einRaum der lebendigen Bewegung und unterhält sein Archiv in denKöpfen der Zuschauer“ .Chronophotographie rekonfiguriert <strong>das</strong> Verhältnis von <strong>Blick</strong> undZeit; Philipp Glass´ Oper The Photographer Muybridges AnimalLocomotion akustisch umgesetzt (wenngleich eher bioanekdotisch),denn der gemeinsame Nenner zwischen minimalmusic und Chronophotographie liegt in der Zeitreihenanalyse.Zeitkritisch im <strong>Sinn</strong>e einer Medientechnik wurde kulturellePraxis erst als getaktete - erst im Druck (die Zeitung, <strong>das</strong>Periodikum), dann als chronophotographische Bildfolge.Was wir in den chronophotographischen Serien einesPferdegallopps oder menschlicher Leibesertüchtigung sehen, ist“Geh-Mechanik“, wie sie von den Gebrüdern Weber aus dem Reichder Kunst in Technik geholt wurde, doch auf einem epistemischalternativen Weg. In der Kunst wurde die Behandlung der Zeit(Bewegung) lange vernachlässigt zugunsten der Behandlung desRaums (Augenblick). 206 Das antike Zeno-Paradox sagt präkinematographisch,daß ein Pfeil im Moment der Beobachtungimmer an einem genau bestimmten Ort im Raum steht, insofernalso eigentlich gar nicht fliegt. Die Antwort darauf lauteterst bei Leibniz: Infinitesimalrechnung (Differentiale undIntegrale). Für die Gebrüder Weber ergibt sich diezeichnerische Darstellung von Bewegungsabläufen weder ausverbaler Beschreibung noch aus photographischer Messung,sondern aus mathematischen Parametern.Die mediale Dynamisierung des <strong>Blick</strong>s durch diebewegungsmessende Kamera (Muybridge, Marey, früher Film)Ein kultureller oder ästhetischer Effekt von (Massen-)Medienliegt darin, daß sie geradezu notwendig dazu tendieren, ihreeigene Medialität zu dissimulieren. Folge davon ist einegewisse Hardware-Vergessenheit selbst in derKulturwissenschaft. Läßt sich Medienwissenschaft auch ohnetechnische Medien (be-)treiben, d. h. in den herkömmlichen206Ernst Gombrich, <strong>Der</strong> fruchtbare Moment. Vom Zeitelement in der bildenden Kunst, in: ders., Bild und Auge.Neue Studien zur Psychologie der bildenden Darstellung, Stuttgart (KlettCotta) 1984, 4061
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