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Kalter Sinn. Der medienarchäologische Blick, das ...

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vorbeischiffen ließ. Tatsächlich lassen sich Augen leichterverschließen als Ohren.Hören ist ein Fernsinn, jedoch von anderer Art als <strong>das</strong> Sehen. Sehend erblicken wir irgend etwas, nah oder fernvon uns, über einen Abstand hinweg. Im Hören fällt <strong>das</strong> Moment des Abstandes fort. Ob fern oder nah,identifizierbar als ein Rascheln, Läuten, Ton einer Geige oder eines Saxophons ­ Ton dringt ein, ohne Abstand.Sehen und Tasten haben einen strukturellen Bezug zum Erkennenund Wahrnehmen, insofern die Lichtwellen etwa nichtunmittelbar in elektrochemische Reize verwandelt und demneuronalen Mechanismus weitergeleitet, sondern schon auf derNetzhaut gefiltert werden. Das Hören steht hingegen inDirektkontakt mit den Schwingungen der Materie.Solche Einsichten legen es nahe, Ästhetik in ein Maß derInformation zu verwandeln; Friedrich Nietzsche wollteidealerweise mit dem Ergographen die Erregungszustände desPublikums altgriechischer Dramen messen. <strong>Der</strong> Moskauer LehrerLeonard Bernsteins wiederum entwickelte eine Skala, mit dersich die Schönheit eines musikalischen Kunstwerks messenlassen sollte. Max Bense schließlich kalkuliert <strong>das</strong>ästhetische Maß als statisches Verhältnis negentropischerOrdnung.Pierre Boulez, vertraut durch zeitgenössische Komposition vonMusik mit elektronischen Mitteln, dirigierte einmal RichardWagners Götterdämmerung in Bayreuth - per aspera (die serielleMusik) ad astra? Niemand anders als Michel Foucaultidentifizierte dieses Durchlaufen einer Entwicklung in seinerKritik der Aufführung, der er am letzten Abend der BayreutherRing-Inszenierung beiwohnte:Es war, als hätte Boulez seinen eigenen Weg noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Es ist auch die ganzeBewegung des Jahrhunderts der modernen Musik, die, ausgehend von Wagner, durch <strong>das</strong> große Abenteuer desFormalen hindurch, wieder zur Intensität und zur Bewegung des Dramas fand. Die völlig dechiffrierte Formverwob sich mit dem Bild. 221Maurice Blanchot zufolge erinnert besonders der Gesang derSirenen Menschen an <strong>das</strong> Nicht-Menschliche ihres Gesangs. EineMensch-Maschine, oder <strong>das</strong> Mathematische an der Musik? Blanchotnimmt in seinem Text „<strong>Der</strong> Gesang der Sirenen“ (Original 1955)die Sirenen-Episode im 12. Gesang von Homers Odyssee als Frageüber <strong>das</strong> Wesen der Musik auf. „Zwar haben sie gesungen,aber auf eine Art, die nur die Richtung anzeigte, wo diewahren Quellen und <strong>das</strong> echte Glück des Gesangs entspringensollten.“ 222 <strong>Der</strong> Ursprung der Musik ist also nicht hörbar, undalle hörbare Musik nur <strong>das</strong> Anzeichen ihrer Quelle, wie im221Michel Foucault, Imaginationen des 19. Jahrhunderts, in: die tageszeitung (Berlin), Sonderausgabe, 11.Oktober 1980, 24f (25)222Maurice Blanchot, <strong>Der</strong> Gesang der Sirenen, in: ders., <strong>Der</strong> Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur,München (Hanser) 1962, 9-40 (11)

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