unersättlich. Beschrieben wird hier jedenfalls eher einkubisches Objekt in seiner Geometrie; indes fällt dieBeschreibung sofort zurück in literarische Muster:Über die von sanft eingetieften Nasolabialfaslten begrenzten Wangen spannt sich straff eine glatte Haut, die dieJochbeine leicht hervortreten läßt. Die vollen, schön geschwungenen Lippen, von denen die untere deutlichkürzer gebildet ist als die obere, bringen in die Züge ein Moment der <strong>Sinn</strong>lichkeit.Winckelmanns prägende Beschreibung des Apoll vom Belvedere inseiner Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 schreibtsich hier implizit fort. Gilt für die Klassische Archäologiejener „Doppelblick“ (Friedrich Nietzsche), der neben demkonkret vor Auge Liegenden, der isolierten Einzelbeobachtung,immer auch idealistische Fernen mitsieht, <strong>das</strong> zeiträumlicheBezugsfeld (namens Kunst/Historie? 77Einerseits verläßt Winckelmann fluchtartig seine Arbeitsstätteals Bibliothekar des Fürsten von Bünau in Nöthnitz, um sich -nach einem Jahr als Privatgelehrter in Dresden 1755 - nichtmehr mit Abbildungen antiker Werke in Druck oder Gips begnügenzu müssen, sondern am Ort der Dinge selbst, in Rom, dieOriginale in Augenschein nehmen zu können. 78 Am Hof in Dresdenwar zwar eine authentische Antikensammlung gewachsen, dochseinerzeit, um 1750, war sie in den Pavillons des GroßenGartens magaziniert. Kurfürst August III. „sammeltevorzugsweise klassische Bilder und Kupferstiche von solchen,die er im Original nicht haben konnte“ 79 - die ÄsthetikLessings.Winckelmann klagt, daß „die besten Statuen in einem Schuppenvon Brettern, wie die Heringe gepacket standen, und zu sehen,aber nicht zu betrachten waren“ 80 . Winckelmanns Wortwahl, diezwischen Sehen und Betrachten unterscheidet, berührt <strong>das</strong>Primat der Autopsie; an dieser Stelle lohnt die Erinnerungdaran, daß Winckelmann zunächst in Halle auch Medizin studierthat - den anatomischen <strong>Blick</strong>. Winckelmann hat - <strong>das</strong> sei zurRettung seines Originalbegriffs gesagt - den genauen <strong>Blick</strong> aufStatuenoberflächen als Rauschen, auf die Materialität vonMarmortexturen als Information erprobt. Und doch erweckt er<strong>das</strong> Gefühl, daß er mit seiner literarischen Beschreibunggerade über <strong>das</strong> Objekt hinwegsieht, dem er in Romgegenübersteht. Physiologisches Sehen reicht nicht hin, wennes nicht gekoppelt ist an geistige Schau: „denn <strong>das</strong> Wichtigeund schwere gehet tief und fließet nicht auf der Fläche.“ 81 So77Siehe Werner Hofmann, Doppelblick, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 258 v. 6. November 2002, N 3,über: Alois Riegl, Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst (Aufsatz 1899)78Allein die Ansicht der jüngst nach Dresden gelangten antiken „3 Herkulanerinnen“ findet Eingang in seinenoch in Dresden entstandene Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei undBildhauerkunst (1755)79In: Kordelia Knoll u. a., Die Antiken im Albertinum, Mainz (v. Zabern) 1993, 780Zitiert von Martin Raumschüssel in der Einleitung zu: <strong>Der</strong> Menschheit bewahrt, Dresden (StaatlicheKunstsammlung) 195981Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, 288
installiert Winckelmann genau in jener Zeit, als sich dieMedizin vom metaphysischen Ballast löst und denpositivistischen <strong>Blick</strong> erprobt , eineästhetische Interpretation: <strong>Der</strong> Bildhauer der Statue des Apoll"hat dieses Werk gänzlich auf <strong>das</strong> Ideal gebaut, und er hat nurebenso viel von der Materie dazu genommen, als nötig war,seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen.“ 82 Materiebildet also nur den Rand gegenüber einer ungeheuren Idealität,wie es die neoklassizistische Bildreproduktionstechnik derUmrißzeichnung, des outline engraving, geradezuidealtypographisch realisierte und aus der Geometrie nichtminder vertraut ist, welche der Linien als „ein reinsinnliches Hülfsmittel“ (G. W. Leibniz) bedarf. 83 „In spite ofWinckelmann´s remarks about engravings and the necessity ofknowing the originals, the aesthetic doctrine of his Historyof Ancient Art of 1764 may be regarded as the rationalizationof a set of values based on the catch of the engraver´s net“. Winckelmanns (An-)<strong>Blick</strong> ist praktizierteDekonstruktion. <strong>Der</strong>selbe Winckelmann, der auf Autopsie derOriginale insistiert, rühmt an Abgüssen gegenüber dem Original<strong>das</strong> Gips-Weiß, weil es den Charakter der reinen Formakzentuiert - (v)idealistische Einsicht als blindness. 84Winckelmanns Statuenbeschreibungen waren vor allem auch Projektionen von Schrift. Die Einbildungskrafterzeugte einen <strong>Blick</strong>, der die Lektüre von Texten auf die weiße Oberfläche des Steins projiziert. DasHalluzinieren der Antike war ein Modus der Textverarbeitung. 85Demgegenüber nimmt der Kunsthistoriker John Ruskin im <strong>Blick</strong>auf Gemälde eine Position ein, die radikal auf die Oberflächevon Gebilden schaut: „We see nothing but flat colours.“ 86Optische Artefakte lassen sich also durchaus aus derhermeneutischen Vertrautheit (der Transkription) in einearchäologische Wahrnehmungsdistanz bringen. Bilder erhaltenqua Einscannen einen a priori „archäologischen“ Status.Vielleicht vermag ja allein der scan-aisthetische,(sc)anästhetische <strong>Blick</strong> ganz im <strong>Sinn</strong>e der gleichnamigenkunstrestauratorischen und kulturkonservatorischen Disziplinradikal archäometrisch die Oberfläche zu sehen.Die museale Antike(n)rezeption bis ins 19. Jahrhundert aberblieb vertextet und damit dem Primat des photographischen odergar materialen <strong>Blick</strong>s zunächst philologisch (oder besser82Ebd., hier zitiert nach der Ausgabe Wien 1934, unveränd. reprograf. Nachdr. Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1982,364; vgl. auch 149: „Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist.“83Leibniz in seinem Brief an Galloys 1677, zitiert in: Dialog über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten,in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. I, Leipzig (Meiner) 1904, Nr. I,18, Anm. 284Dazu Anita Rieche, 200 Jahre Archäologie und „Neue Medien“, in: dies. / Beate Schneider (Hg.), Archäologievirtuell: Projekte, Entwicklungen, Tendenzen seit 1995, Bonn (Habelt) 2002, 90-94 (92)85Peter Geimer, Post-Scriptum. Zur Reduktion von Daten in Winckelmanns Geschichte der Kunst desAlterthums, in: Inge Baxmann / Michael Franz / Wolfgang Schäffner (Hg.), Das Laokoon-Paradigma, Berlin(Akademie) 2000, 64-88 (84)86Ruskin, John: „The Elements of Drawing“ (1857). In: ders.: The Works, hg. v. E. T. Cook / A. Wedderburn, Bd.15, London 1904, S. 27.
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