Ernst Jüngers Begriff vom „zweiten Bewußtsein“. 195 Peter Geimerschreibt im Konzept für den genannten Workshop:Die experimentelle Erforschung des Lebens begleitet ein beständiger Rekurs auf Unbelebtes. Unbelebtesbegegnet dort, wo Lebendiges vergeht bzw. experimentell zum Stillstand gebracht wird, um gerade an denSchauplätzen dieses Verschwindens beobachtbar zu werden: „[...] um zu verstehen, wie Menschen und Tiereleben, ist es unerläßlich, eine große Zahl von ihnen sterben zu sehen“ (C. Bernard).Dieses Sehen aber läuft nicht nur durch menschliche Augen:„Eine Form der Durchdringung von Leben und Leblosigkeitbegegnet dort, wo organisches Leben auf Gegenstände trifft,die – wie etwa die Apparaturen des Experimentierens selbst –nicht lebendig sind, <strong>das</strong> Lebendige aber maßgeblichkonstituieren.“ Hier kommt der kalte mediale <strong>Blick</strong> ins Spiel.Photos und Filme sind indifferent der Frage gegenüber, ob derdarauf abgebildete Gegenstand tot oder lebendig ist - eineVariante des „Turing-Tests". Die Unsicherheit darüber, ob einDing belebt oder leblos sei, bestimmt die ästhetische Existenzvon Androiden oder Wachsfiguren sowie den Status des Leichnamsals "Körperding" (Martin Heidegger).Physiologen, die wie E.J. Marey die Praxis der Vivisektion ablehnen, da diese <strong>das</strong> Leben, um es zu studieren,zuallererst vernichten müsse, sehen sich selbst mit einer anderen Form der Stillstellung des Lebendigenkonfrontiert: dem Prozeß seiner graphischen Fixierung, die ebenfalls Funktionen des Lebendigen (wie etwaBewegung) zuallererst zum Stillstand bringen muß, um sie beobachtbar zu machen. Seit seiner Entstehung hatvor allem der Film Figuren des Untoten hervorgebracht. Über motivische und narrative Aspekte hinauswäre hier danach zu fragen, inwieweit die Kinematographie selbst als eine Praxis technischer Belebung und (Re)Animierung ihrer Objekte begriffen wurde, etwa wenn der Filmpionier M. Skladanowsy den Film 1895 als„lebende Photographie“ beschreibt und den entsprechenden Projektionsapparat als „Bioskop“ patentieren läßt.Das nennt man in der Rhetorik Euphemie. KinematographischeMedien aber sind von Natur aus euphemisch: gespeicherte,„tote“ Bilder setzen sie (scheinbar, als unserWahrnehmungsbetrug) in Bewegung, also die Signatur des Lebens;andererseits ist derselbe Film - nicht als Projektions-, alsBildgebungs-, sondern als analytisches, als Meß-Mediumbenutzt, diejenige Technik, welche Lebensvorgänge stillstellenkann, in buchstäblichen stills - Chronophotographie.<strong>Der</strong> kalte <strong>Blick</strong>, auf der Suche nach Leben und Seelen, entdecktnur Mechanismen und setzt gerade damit die Melancholie desLebendigen frei. Dieser Einblick ist es, welcher der Medizineinen wissenschaftlichen und rationalen Diskurs ermöglichteund der romantischen Literatur "die Quelle einer Spracheaufschließt, die sich in der von den abwesenden Götternhinterlassenen Leere endlos verströmt“ .Doch auch der ästhetische <strong>Blick</strong> tötet Leben schon vor allembiologischen Tod, indem er ihn festfriert, wie dieAktzeichnung in Kunstakademien. Damit sind wir bei einemästhetischen Topos, dem Pygmalion-Motiv. <strong>Der</strong> antike BildhauerPygmalion verliebt sich in seine weibliche Statue und erwecktsie durch sein Begehren zum Leben - <strong>das</strong> Gegenteil des kalten195In diesem <strong>Sinn</strong>e der Vortrag von Tom Gunning „Reanimation: The Invention of Cinema. Living Pictures orthe Embalming of the Image of Death?“, Workshop Relations between the Living and the Lifeless. Verhältnissevon Leben und Leblosigkeit, Max PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, Dezember 2002
<strong>Blick</strong>s, analog zum Akt des romantischen Lesens alsVerlebedigung der Buchstaben.Wenn <strong>Blick</strong>e zeugen könnten (Jürgen Manthey).„Es wohnt uns ein seltsames und schwer zu beschreibendesBestreben inne, dem lebendigen Vorgange irgendwie denCharakter des Präparats zu verleihen“, schreibt Ernst Jünger1941 . Die Chronophotographie Muybridges und Mareyschiebt sich zwischen die menschliche Wahrnehmung von Bewegungund <strong>das</strong> „Leben“. Jünger schreibt von einer „wachsendenVersteinerung des Lebens“ - der Medusa-<strong>Blick</strong> dermedialen Optik. Hier kommt die Maske ins Spiel - ihr toter,leerer <strong>Blick</strong>, anders als die Totenmaske, deren Augenliedergeschlossen sind. Aus dergleichen romantischen Imaginationstammt Wordsworths Essay upon Epitaphs, auf <strong>das</strong> Paul de MansText „Autobiography as De-facement“ sich bezieht:At several points throughout the three essays, Wordsworth cautins consistently against the use of prosopopoeia,against the conventin of having the „Sta Viator“ adressed to the traveler on the road of life by the voice of thedeparted person. Such chiasmic figures, crossing the condi/tions of death and of life with the attributes of speechand of silence are, says Wordsworth, „too poignant und too transitory“ a curiously phrased criticism, sinceit is the poignancy of the weeping „silent marble“, as in Gray´s epitaph on Mrs. Clark, for which the essaysstrive. 196Wordsworth zitiert hier lückenhaft Miltons Sonnet OnShakespeare. Darin (von Wordsworth nicht, aber von Paul de Manzitiert) auch die Zeile: „thou Dost make us marble“. Washeißt es, wenn als Modell für Sprache und Schrift <strong>das</strong> Grabmalgenommen wird? 197„Doth make us marble“, in the Essays upon Epitaphs, cannot fail to evoke the latent threat that inhabitsprosopopoeia, namemly that by making the dead speak, the symmetrical structure of the trope implies, by thesame token, that the living are struck dumb ... The surmise of the „Pause, Traveller!“ [conventional toepitaphs] thus acquires a sinister connotation that is not only the prefiguration of one´s own mortality but ouractual entry into the frozen world of the dead. <strong>Der</strong> (kalte) <strong>Blick</strong> blickt zurück, morifiziert - Medusa. 198 ImFalle Gorgos ist es der <strong>Blick</strong> des Gesichts selbst, im Falledes Dionysos die Maske, durch die der versteinernde <strong>Blick</strong>fällt. Auf einer Reihe von Vasen wird <strong>das</strong> Kultbild desDionysos durch einen Pfahl oder eine Säule dargestellt, diemit einem Gewand bekleidet sind und woran eine bärtige Maskebefestigt ist, „die oft von vorn gezeigt wird und denBetrachter mit ihren beiden großen offenen Augen fixiert“ 199 .196Paul de Man, The Rhetoric of Romanticism, New York (Columbia UP) 1984, 76197Cynthia Chase, Reading Epitaphs, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Deconstruction is/in America. A New Senseof the Political, New York / London (New York UP) 1995, 52-59 (54)198Siehe Georges DidiHuberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie de Bildes, München (Fink)1999199Jean-Pierre Vernant, <strong>Der</strong> maskierte Dionysos in den Bakchen des Euripides, in: ders., <strong>Der</strong> maskierte Dionysos,Berlin (Wagenbach) 1996 [*“Le Dionysos masqué des `Bacchantes´ d´Euripides“, in: L´Homme, 93, Januar-März 1985, XXV (1), 31-58; aufgenommen in: ders. / Pierre Vidal-Naquet, Mythe et Tragédie en Grèceancienne, Bd. 2, Paris 1985, 237-269], 75-102 (99, Anm. 5), unter Bezug auf: J. L. Durand / F. Frontisi-Ducrous,Idoles, figures, images, in: Revue archéologique, 1982, I, 81-108
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