Moment der Dämmerung: „Wenn für die Sterblichen verstummt derlaute Tag, / die Dämmerung sich senkt auf alle Gassen“; dieästhetische Intention aber läßt sich nicht aus den Wörtern,Phonemen, Morphene, Sätzen oder semantischen Reihenerschließen.Indem der Künstler intensiv am Wort arbeitet, ist er letztlich bemüht, dieses zu überwinden, da <strong>das</strong> ästhetischeObjekt an den Grenzen des Wortes, der Sprache als solcher, entsteht; die Überwindung des Materials hat jedochrein immanenten Charakter: <strong>Der</strong> Künstler befreit sich von der linguistischen Determiniertheit der Sprache nichtdadurch, daß er sie negiert, sondern dadurch, daß er sie immanent vervollkommnet. Dieses immanenteÜberwinden der Sprache unterscheidet die Dichtung wesentlich vom Erkenntnisprozeß, bei dem die Sprache mitHilfe algebraischer Methode, konventionelle Zeichen (anstelle des Wortes), Abkürzungen u. a. nur negativüberwunden wird - <strong>das</strong> Programm einer veritablen Medienkunst, die eben nichtmit dissimulatio artis zu übersetzen wäre, sondern mit derenHervorbringung.Auch Jorge Luis Borges beschreibt den oder <strong>das</strong>medienarchäologische Moment im Akt der Lektüre als Theorieeines ästhetischen Mensch-Materie-Interfaces. So wie derGeschmack des Apfels weder im Apfel selbst liegt (der Apfelkann sich selbst nicht schmecken) noch im Mund des Essenden,ist zwischen beiden ein Kontakt nötig:Das gleiche geschieht mit einem Buch oder einer Sammlung von Büchern, einer Bibliothek. Was ist denn schonein Buch an sich? Ein Buch ist ein physisches Objekt in einer Welt physischer Objekte. Es ist eine Serie toterSymbole. Und dann kommt der richtige Leser vorbei, und die Wörter oder besser die Dichtung hinter denWörtern, denn die Wörter selbst sind bloße Symbole werden lebendig, und wir haben eine Auferstehung desWortes. 102Einen analogen Prozeß, nämlich die elektrisierende „Raschheitdes <strong>Blick</strong>s“, beschreibt für <strong>das</strong> Reich der Bilder Georges Salleam Beispiel eines Kunstkenners beim Betreten einesBildersaals. Materiale Physiologie:Das Auge hat seine Beute gewittert, noch bevor es sie identifiziert hat. Die Schnelligkeit dieses Reflexes zeigt,daß unser sinnliches Gedächtnis hier ganz unabhängig von jenem anderen, langsameren Gedächtnis am Werk ist,<strong>das</strong> jeden Gegnstand von dem benachbarten sondert und an seinen besonderen Merkmalen erkennt. Auf Anhiebweisen uns die bloßen Farben in unserem <strong>Blick</strong>feld die Richtung. Wir haben einen Fleck darin gefunden, eineVibration, die <strong>das</strong> entscheidende Echo geweckt hat; und wir gehen darauf zu, mit Möglichkeiten von Bildernbeladen, ohne zuvor jenes Ausschneiden vollzogen zu haben, <strong>das</strong> aus dem Fleck einen Gegenstand macht. Wirhaben gespürt, bevor wir geschaut, sogar noch bevor wir gesehen haben 103- <strong>das</strong> Geheimnis des zeitkritischen <strong>Blick</strong>s auf demsignalverarbeitenden Niveau der petits perceptions (Leibniz).Lettern sehen / lesen (Mittelalter)102Jorge Luis Borges, Das Handwerk des Dichters, Hardvard-Vortrag 1967, in: Frankfurter Allgemeine ZeitungNr. 201 v. 30. August 2002, 34103Georges Salles, <strong>Der</strong> <strong>Blick</strong>, im gleichnamigen Essay-Band [*Paris 1939], Berlin (Vorwerk 8) 200115-34 (30)
Helmuth Plessner dignostiziert in seiner Anthropologie der<strong>Sinn</strong>e „die steigenden Zumutungen an Auge und Ohr, an Spracheund Sprachverständnis“ im industriellen Zeitalter , also eine Beschleunigung Signalverarbeitungin der Wahrnehmung. So hat sich kulturtechnisch auch dieLesegeschwindigkeit potenziert.Am Anfang steht eine höfische Literatur, die sich in einerKultur der Sichtbarkeit behaupten muß. So entwickelt sie einePoetik, in der der Leser zum Beobachter wird, in dersprachlich stimulierte Bilder die Memorierbarkeit der Texteunterstützen. Ad oculos demonstrare:Das ‘hören und sehen’ der mündlichen Tradition wird zum ‘hören und lesen’ in der Schriftkultur, wobei dieVerben ‘sehen’ und ‘lesen’ nicht zufällig miteinander korrespondieren. Die volkssprachlichen Texte entwickelnviele stilistische Mittel, um den Leser zum Beobachter zu machen, zu einem Augenzeugen zweiter Ordnung. Siekönnen sich dabei auf die Vorgaben der lateinischen Rhetorik stützen. 104Zur evidentia heißt es im Anschluß an die antike Rhetorik:”der Redner versetzt sich und sein Publikum in die Lage desAugenzeugen.” 105Gegenüber der antiken Privilegierung des <strong>Blick</strong>s (und seinerWiederprivilegierung in Buchdruck und optischer Perspektiveder Renaissance) setzt <strong>das</strong> Christentum zunächst auf <strong>das</strong> Ohr,denn „<strong>das</strong> Wort ist Fleisch geworden“. Herder setzt <strong>das</strong>Erkennen in besondere Beziehung zum Ohr; in seinerPreisschrift über den Ursprung der Sprache (I 3, 1)identifiziert er als Urszene <strong>das</strong> akustische Signal: „Das Schafblökt“ ; man hört <strong>das</strong> Schaf underkennt es daran. Prompt ist für Herder <strong>das</strong> Gesicht „kalt undklar“; kommentiert Snell: „und einer geistigen Welt, die sichbesonders auf <strong>das</strong> Wahrnehmen durch <strong>das</strong> Auge aufbaut, muß darumauch diese sachliche Kühle zu eigen sein“ . Da haben wirihn, den kalten epistemologischen <strong>Blick</strong>. Zurück zur Antike:Wo gignósko auf eine Wahrnehmung durch <strong>das</strong> Ohr bezogen ist, bedeutet es zunächst <strong>das</strong> Erkennen (oderWiedererkennen) einer Stimme, nicht etwa <strong>das</strong> Verstehen. Es wird nur wieder eine Erscheinung (diesmal derLaut) mit einer anderen räumlich und zeitlich von ihr getrennten identzifiziert und dadurch erkannt). Wenn esdagegen nicht nur auf den Schall, sondern auf den <strong>Sinn</strong> des Wortes geht, so steht ein Objekt dabei, <strong>das</strong> nicht <strong>das</strong>bloße Wort, sondern vielmehr schon den darin enthaltenen Gedanken bezeichnet. Das kalte Ohr hört Klang in seiner medialen, nichtsemantischen Qualität - ein medienarchäologisches Organ, unhemeneutisches„Verstehen“.Dem (schrift-)kalten <strong>Blick</strong> der Augenzeugenschaft steht <strong>das</strong>Hörensagen gegenüber. Homers Odyssee setzt mit der „Kunde“,104Horst Wenzel / Christina Lechtermann, Repräsentation und Kinästhetik. Teilhabe am Text oder dieVerlebendigung der Worte; online http://www2.huberlin.de/literatur/KdB/html/material/Paragrana_Projekt_A1.htm105Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwisenschaft. 3. Aufl.1990 mit einem Vorwort von A. Arens. Stuttgart 1990, § 810
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