12.07.2015 Aufrufe

Kalter Sinn. Der medienarchäologische Blick, das ...

Kalter Sinn. Der medienarchäologische Blick, das ...

Kalter Sinn. Der medienarchäologische Blick, das ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Helmuth Plessner dignostiziert in seiner Anthropologie der<strong>Sinn</strong>e „die steigenden Zumutungen an Auge und Ohr, an Spracheund Sprachverständnis“ im industriellen Zeitalter , also eine Beschleunigung Signalverarbeitungin der Wahrnehmung. So hat sich kulturtechnisch auch dieLesegeschwindigkeit potenziert.Am Anfang steht eine höfische Literatur, die sich in einerKultur der Sichtbarkeit behaupten muß. So entwickelt sie einePoetik, in der der Leser zum Beobachter wird, in dersprachlich stimulierte Bilder die Memorierbarkeit der Texteunterstützen. Ad oculos demonstrare:Das ‘hören und sehen’ der mündlichen Tradition wird zum ‘hören und lesen’ in der Schriftkultur, wobei dieVerben ‘sehen’ und ‘lesen’ nicht zufällig miteinander korrespondieren. Die volkssprachlichen Texte entwickelnviele stilistische Mittel, um den Leser zum Beobachter zu machen, zu einem Augenzeugen zweiter Ordnung. Siekönnen sich dabei auf die Vorgaben der lateinischen Rhetorik stützen. 104Zur evidentia heißt es im Anschluß an die antike Rhetorik:”der Redner versetzt sich und sein Publikum in die Lage desAugenzeugen.” 105Gegenüber der antiken Privilegierung des <strong>Blick</strong>s (und seinerWiederprivilegierung in Buchdruck und optischer Perspektiveder Renaissance) setzt <strong>das</strong> Christentum zunächst auf <strong>das</strong> Ohr,denn „<strong>das</strong> Wort ist Fleisch geworden“. Herder setzt <strong>das</strong>Erkennen in besondere Beziehung zum Ohr; in seinerPreisschrift über den Ursprung der Sprache (I 3, 1)identifiziert er als Urszene <strong>das</strong> akustische Signal: „Das Schafblökt“ ; man hört <strong>das</strong> Schaf underkennt es daran. Prompt ist für Herder <strong>das</strong> Gesicht „kalt undklar“; kommentiert Snell: „und einer geistigen Welt, die sichbesonders auf <strong>das</strong> Wahrnehmen durch <strong>das</strong> Auge aufbaut, muß darumauch diese sachliche Kühle zu eigen sein“ . Da haben wirihn, den kalten epistemologischen <strong>Blick</strong>. Zurück zur Antike:Wo gignósko auf eine Wahrnehmung durch <strong>das</strong> Ohr bezogen ist, bedeutet es zunächst <strong>das</strong> Erkennen (oderWiedererkennen) einer Stimme, nicht etwa <strong>das</strong> Verstehen. Es wird nur wieder eine Erscheinung (diesmal derLaut) mit einer anderen räumlich und zeitlich von ihr getrennten identzifiziert und dadurch erkannt). Wenn esdagegen nicht nur auf den Schall, sondern auf den <strong>Sinn</strong> des Wortes geht, so steht ein Objekt dabei, <strong>das</strong> nicht <strong>das</strong>bloße Wort, sondern vielmehr schon den darin enthaltenen Gedanken bezeichnet. Das kalte Ohr hört Klang in seiner medialen, nichtsemantischen Qualität - ein medienarchäologisches Organ, unhemeneutisches„Verstehen“.Dem (schrift-)kalten <strong>Blick</strong> der Augenzeugenschaft steht <strong>das</strong>Hörensagen gegenüber. Homers Odyssee setzt mit der „Kunde“,104Horst Wenzel / Christina Lechtermann, Repräsentation und Kinästhetik. Teilhabe am Text oder dieVerlebendigung der Worte; online http://www2.huberlin.de/literatur/KdB/html/material/Paragrana_Projekt_A1.htm105Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwisenschaft. 3. Aufl.1990 mit einem Vorwort von A. Arens. Stuttgart 1990, § 810

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!