Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich siesehen kann. Von heute an befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit befreit von derVerpflichtung, 1617 Bilder in der Sekunde aufzunehmen. Film ist nicht mehr „Kino“ for human eyes only. Nicht mehr diemenschliche Wahrnehmung soll getäuscht werden, sondern es gibtgenuin mediale Wahrnehmungen, chrono-photographisch im <strong>Sinn</strong>evon: Zeiten filmen. „Es gibt schon Bemühungen in dieserRichtung. Montagepläne, die dem Kalkül eines Systemsähneln, in welchem Musik notiert wird, einer Etude vonRhythmen und Intervallen“ . „DasKinoauge ist die Konzentrierung und die Dekomposition vonZeit“ . „Das Kinoauge ist<strong>das</strong> Mikroskop und <strong>das</strong> Teleskop der Zeit." 187Vertov denkt die filmische Wahrnehmung nicht aus menschlicherPerspektive, sondern des Perspektive des Apparats:Die Schule des Kinoauges fordert, daß der Film aus den `Intervallen´ konstruiert wird, <strong>das</strong> heißt, aus derBewegung zwischen den Bildern . Die Intervalle, die Übergänge von einer Bewgung zu einer anderen, blden<strong>das</strong> Material, die Bestandteile der Kunst der Bewegung; keinesfalls die Bewegungen selbst.“ Sprung, Schnitt, und Leerbild figurieren also gerade nicht alsetwas, <strong>das</strong> durch die Zusammenfügung namens continuity vernäht,verdeckt oder beseitigt werden soll, um <strong>das</strong> Intervall für <strong>das</strong>menschliche Auge, <strong>das</strong> kulturtechnisch diszipliniertGeschichten privilegiert, zu akkommodieren. Vertovs <strong>Blick</strong>exponiert <strong>das</strong>, was sich innerhalb des Sichtbaren nicht aufDiskursives oder Figuratives beschränken läßt . Optische Disziplinartechniken: eine <strong>Blick</strong>maschine, dochnicht als Repression, sondern als Befreiung des Maschinenaugesim genitivus subiectivus und obiectivus. <strong>Der</strong> Mensch wirdanhand des Kinoauges von den Restriktionen seinerkörpergebundenen Wahrnehmung befreit, der fiktiven Einheit vonOrt und Zeit.„Indem die Kinoki aus dem Material <strong>das</strong> kinematographische Werkfolgen lassen und nicht umgekehrt, greifen sie <strong>das</strong> letzteBollwerk der Filmkunst an: <strong>das</strong> literarische Drehbuch“ . Und so wird die technologische Anordnung desKinos von Vertov wie eine Antizipierung des Videos eingesetzt. Vertovs Kritik am kapitalistischenSpektakel feiert die machinische Anordnung, <strong>das</strong> nichtmenschlicheKinoauge und Radio-Ohr als eine zweite Natur desMenschen ganz so wie Ernst Jünger <strong>das</strong> „zweite Bewußtsein“definiert: eine Natur, "die der Kapitalismus produziert,zugleich als unumkehrbare Wirklichkeit und als Bedingung einerÜberschreitung des `Menschen´“ .187Zitiert nach: Maurizio Lazzarato, Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, Berlin (b_books2002); darin Kapitel „Die Kinoki. Die Kriegsmaschine des `Kinoauges´ gegen <strong>das</strong> Spektakel“, 113127 (117)
Jenseits von Ikonologie ist die Allianz von Kybernetik undKino eine praktische. Seelenapparate und Psycho-Technikenpraktizieren einen <strong>Blick</strong>, der sich der Ekphrasis entzieht. 188Ernst Jünger sah in Kino-Lichtspielen einen „außerordentlichenGrad von kalter Grausamkeit zum Ausdruck kommen“ .„Aufschlußreich ist auch die Neigung zur mathematischen Figur,wie sie etwa durch die Begleitung und Unterbrechnung derHandlung durch maschinelle Vorgänge hervorgerufen wird“.Die damit angesprochene Verbindung des kalten <strong>Blick</strong>s, derMaschine und der Mathematik aber eskaliert im ZweitenWeltkrieg. Eine Sichtweise der Alliierten betrachtete denFeind nicht - wie NS-Deutschland -als die rassistische Version eines geführchteten Gegners, sondern eher als <strong>das</strong> anonyme Ziel von Luftangriffen. Aus der Ferne, aus eisigen Höhen von 9000 Metern wirkte eine deutsche Stadt klein, einzelne Personenwaren unsichtbar und damit ihrer Eigenart teilweise beraubt. Nachdem er eine Flut von Briefen vonFliegernbekommen hatte, berichtete ein englischer Zensor des LuftwaffenMinisteriums am 21. Juni 1942: „[DieBriefe] zeigen die Wirkung der Distanz, die zwischen den Fliegern und ihren Angriffen auf menschliche Wesenexistiert.“ Versuchen wir, die Differenz der Wahrnehmung von on-screendata (die physiologische Ebene der aisthesis) und ihrerInterpretation als story world (die Ebene der Ästhetik) nichtals sanfte Transformation, sondern als ständigen Sprung, Rißzu beschreiben. „Since nonnarrative ways of organizing datamay coexist with narrative, one might also recognize aconflict among discursive“ - und non-diskursiven – „schemes,an `excess´ within the story“ 189 – mithin den Einbruch desRealen in die symbolische Ordnung der Geschichte. Es gilt alsofortan, von Bruchstellen aus zu schreiben. Medienarchäologieist dabei nicht nur eine analytische Methode, sondernbeschreibt eine psychologische Wahrnehmungsoperationen, ausder Datentiefe aufwärts liest:Some perceptual processes operate upon data on the screen in a direct, „bottomup“ manner by examining thedata in very brief periods of time (utilizing little or no associated memory) and organizing it automatically intosuch features as edge, color, depth, motion, aural pitch . Bottomup perception is serial and „datadriven“,and produces only shortrange effects. Demgegenüber ist die Wahrnehmung eines Prozesses auf derLeinwand im Rahmen einer Geschichte eine top-down-Wahrnehmung.An dieser Stelle lohnt der Hinweis darauf, daß der anglophoneBegriff der story (zumal im Computerspieldesign) eine vielpragmatischere, geradezu technische Bedeutung hat und eherZiel- denn emphatische <strong>Sinn</strong>vorgaben meint, im Unterschied zurkulturhistorisch bedingten Semantik des deutschen Begriffs vonGeschichten. Aktuelle Filmproduktionen wie Paul W. S.188Siehe Ute Holl, Kybernetik und Kino. Maya <strong>Der</strong>ens Medientheorie im Zusammenhang einer Geschichtekinematographischer Bewegung, Berlin (Brinkmann & Bose) 2002189Edward Branigan, Narrative comprehension and film, London / New York (Routledge) 1992, 34
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