Nur die Methode selbst in sachlicher, knappster und anschaulicher Form; auch nicht mal als Zwischenschnitt,weil man keinen Übergang weiß, <strong>das</strong> Gesicht des Operateurs. Auch <strong>das</strong> nicht, <strong>das</strong> war verpönt bei uns in derCharité, und ist auch in sämtlichen Charitéfilmen nicht so. 17Es handelt sich bei diesem Kamerablick auf chirurgischeOperationen um die Ekstase jenes medizinisch-archäologischen<strong>Blick</strong>s, den Foucaults Archäologie des medizinischen <strong>Blick</strong>sbeschrieben hat. Nota bene: der Chirurg verbeugt sich am Endevor der Kamera, noch ganz in der Tradition des anatomischenTheaters. <strong>Der</strong> Raum der medizinischen Operation ist einvisueller. <strong>Der</strong> Kameramann, der hier - im Unterschied zurTheatralität des Chirurgen - anonym bleibt, ist niemand andersals Oskar Mester, der später die UFA gründen wird. Wir fassendie beiden Enden des Films als Medium: einmal Registrier-,einmal Darstellungsmedium; einmal Sekretär des Realen(Dokumentation), einmal Medium einer Erzählung.Korrigiert der ärztliche <strong>Blick</strong> die Computerbilder oderumgekehrt? Invasiv ist der technische <strong>Blick</strong> selbst gegenüberdem Körper des Patienten: Röntgenstrahlen verbrennen ihn. <strong>Der</strong>wissenschaftlich <strong>Blick</strong>, die curiositas der Neuzeit, gibt sichnon-invasiv. 1742 betont <strong>das</strong> Vorwort der französischenÜbersetzung von Cliftons Etat de la médicine ancienne etmoderne, daß Hippokrates sich „nur der Beobachtung gewidmet“habe. „<strong>Der</strong> <strong>Blick</strong>, der beobachtet, hütet sich vor demEingreifen“ . Dieser <strong>Blick</strong> ist anSchweigen gebunden; Corvisart schreibt es im Vorwort seinerÜbersetzung aus dem Lateinischen (Wien 1761) von AugenbruggersNouvelle méthode pour reconnaître les maladies de la poitrine(Paris 1808): „Am Bett des Kranken verstummt jede Theorie odersie verflüchtigt sich" .Aktiv müssen die Aussagen der Einbildungskraft unterdrücktwerden, denn Wissen und Sehen konvergieren, etymologisch. DieEtymologie weiß um die Verwandtschaft des gemeingermanischenVerbs (Präteritopräsenz) wissen (mittelhochdeutsch wizzen) mitanderen indogermanischen Sprachen in der indogermanischenWurzel *veid-, d. h. „erblicken, sehen“; dann auch „wissen“ im<strong>Sinn</strong>e von: „gesehen haben“; vgl. <strong>das</strong> Griechische idein „sehen,erkennen“, u. eidénai = Wissen“ und idéa als „Erscheinung,Urbild“, lat. vidére „Sehen“ (s. a. Vision). Zu dieserindogermanischen Wortgruppierung gehört ebenso weise undverweisen, womit der Anschluß an die medizinische Semiotikhergestellt wäre. 18 „<strong>Der</strong> Zwang, für Erkennen und alles, was inseiner Linie liegt, Metaphern aus dem Sehbereich zugebrauchen, ist bekannt“ - aber nichtphysiologisch, sondern kulturtechnisch begründet.Ästhesiologie also statt Ästhetik, als Erforschung der „durchdie Modalitäten bedingten Möglichkeiten des Menschen“. 19 Diese16Christoph Keller zitiert in seinem Video Retrograd die Oberschenkelamputation durch Professor Bergmann ander Berliner Charité um 1900.17Inge Fischer, Redakteurin zahlreicher CharitéFilme zwischen 1960 und 1980; Interview 1998 ebd.18Siehe Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1922
Modalitäten nicht im anthropologischen, sondern im medialenDispositiv zu suchen ist medienarchäologisches Programm.Verfolgen wir also den spezifische Konnex von kaltem <strong>Blick</strong> und(kultur-)technischen Medien. Dieser <strong>Blick</strong> steht im Verbund miteiner uralten Visualisierungstechnik von Wissen: dem Alphabet.Lesen und sehen konvergieren in diesem <strong>Blick</strong>. <strong>Der</strong>kalkulierende medizinische <strong>Blick</strong> um 1800 beruht auf einerkulturtechnischen Eintrainierung des Umgangs mit kleinstenEinheiten des Wissens, seiner Analyse, seiner Speicherung,seiner Kombinierbarkeit und seines Transfers: den Buchstaben,quadriert noch einmal in der Typographie des Buchdrucks, d. h.des Setzkastens.Das alphabetische Schema, <strong>das</strong> um 1800 als <strong>das</strong> ideale Schemazur Anlyse, d. h. Zerlegung von Sprache dient, ließ sich ohnewesentliche Modifikation in die Definition des klinischen<strong>Blick</strong>s einbringen. Die kleinstmögliche Beobachtungseinheit,also <strong>das</strong> Symptom, „bedeutet für sich allein gar nichts; abersie gewinnt ihre Bedeutung , wenn sie mit anderenElementen Verbindungen eingeht“ . Schon inder Antike war die Semiotik fest an den Diskurs der Medizingekoppelt 20 , und in seiner Séméiologie générale von 1811schreibt F.-J. Double sehr explizit (im Medium dessen, was erhier sagt): „Die einzelnen, isolierten Beobachtungen sind fürdie Wissenschaft <strong>das</strong>, was die Buchstaben und die Wörter fürden Diskurs sind“ .Ergänzend wäre in diesem Zusammenhang zu erinnern, daß geradeder Begriff „Schreiben“ im Corpus Hippocraticum auffallend oftbelegt ist; „die besonders häufig durch gráphein ausgedrücktenVor- und Rückverweise zeigen klar den bewußten und betontenGebrauch der Schrift“ 21 . Zettelkästen korrespondieren mit derModularität des Alphabets; in den ältesten Schriften desCorpus Hippocraticum wurde <strong>das</strong> Schema der Liste oder desKatalogs benutzt, „in dem die verschiedenen Krankheitstypenwie auf Karteikarten unter Anwendung von nahezu feststehendenMustern und Ausdrucksformeln aufgeführt sind.“ 22 <strong>Der</strong>registrierende medizinische <strong>Blick</strong> ist geradezu eine Funktiond(ies)es Alphabets: „Die aufmerksame Beobachtung undRegistrierung von Ursachen, Symptomen und Entwicklungen derverschiedenen Erkrankungen im Übergang von denarchaischen, magisch-religiösen Heilpraktiken zur rationalen(`klinischen´) Medizin“ . Gekoppelt analphabetische Aufschreibesysteme erkaltet der vormals heiße<strong>Blick</strong> der Medizinmänner.19Helmuth Plessner, Anthropologie der <strong>Sinn</strong>e [*1970], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux u. a.,Frankfurt/M. (Suhrkamp), Bd. 3: Anthropologie der <strong>Sinn</strong>e, 1980, 317-394 (322); vgl. seine Frühschrift DieEinheit der <strong>Sinn</strong>e. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), ebd., 7-31620Dazu Michael Franz, Von Gorgias bis Lukrez, xxx21Knut Usener, „Schreiben“ im Corpus Hippocraticum, in: Wolfgang Kullmann / Michael Reichel (Hg.), <strong>Der</strong>Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen (Narr) 1990, 291-299 (299)22Gian Franco Nieddu, Neue Wissensformen, Kommunikationstechniken und schriftliche Ausdrucksformen inGriechenland im sechsten und fünften Jh. v. Chr.: Einige Beobachtungen, in: Wolfgang Kullmann / G. Althoff(Hg.), Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur, Tübingen (Narr) 1993, 151-166 (156f)
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