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Newsletter Menschenrechte - Jan Sramek Verlag

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N LM R<br />

März<br />

<strong>Newsletter</strong> <strong>Menschenrechte</strong><br />

Herausgeber:<br />

Österreichisches<br />

Institut für<br />

<strong>Menschenrechte</strong><br />

ISSN 1815-1604<br />

2011<br />

20. Jahrgang<br />

Rechtsprechung<br />

▶▶<br />

Europäischer Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong><br />

Ladislav Holub gg. Tschechien (14.12.2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

Anayo gg. Deutschland (21.12.2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

Paksas gg. Litauen (6.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />

Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz (13.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

Haidn gg. Deutschland (13.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Hoffer und Annen gg. Deutschland (13.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

Haas gg. die Schweiz (20.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Herrmann gg. Deutschland (20.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

M. S. S. gg. Belgien und Griechenland (21.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

Karoussiotis gg. Portugal (1.2.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

Sporer gg. Österreich (3.2.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />

Andrle gg. Tschechien (17.2.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

Weitere Urteile und Entscheidungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />

▶▶<br />

▶▶<br />

Gerichtshof der Europäischen Union<br />

C-356/09 v. 18.11.2010<br />

Pensionsversicherungsanstalt gg. Christine Kleist . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />

C-279/09 v. 22.12.2010<br />

Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH gg.<br />

Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

Österreichische Judikatur<br />

VfGH B 1214/09 v. 1.12.2010<br />

Anerkennung einer islamischen Religionsgemeinschaft . . . . . . . . 54<br />

VfGH V 39/10 u.a. v. 15.12.2010<br />

Differenzierung bei Fahrpreisermäßigung für Senioren . . . . . . . . 56<br />

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58<br />

<br />

<strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


Abkürzungsverzeichnis<br />

ABGB<br />

Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch<br />

AEUV<br />

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union<br />

ASVG<br />

Allgemeines Sozialversicherungsgesetz<br />

AsylG Asylgesetz 2005<br />

AsylGH<br />

Asylgerichtshof<br />

AVG<br />

Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz<br />

BAA<br />

Bundesasylamt<br />

BayStrUBG Bayrisches Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern<br />

BekGG<br />

Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften<br />

Bf.<br />

Beschwerdeführer, Beschwerdeführerin<br />

bf.<br />

beschwerdeführend<br />

BG<br />

Bezirksgericht<br />

BGB<br />

(deutsches) Bürgerliches Gesetzbuch<br />

BGBl.<br />

Bundesgesetzblatt<br />

BGH<br />

(deutscher) Bundesgerichtshof<br />

Bsw. Nr.<br />

Beschwerdenummer<br />

BVerfG<br />

(deutsches) Bundesverfassungsgericht<br />

B-VG Bundesverfassungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929<br />

CPT<br />

European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment<br />

EG<br />

Europäische Gemeinschaft<br />

EGMR<br />

Europäischer Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong><br />

EKMR<br />

Europäische Kommission für <strong>Menschenrechte</strong><br />

EMRK<br />

Europäische Menschenrechtskonvention<br />

EU<br />

Europäische Union<br />

EuG<br />

Europäisches Gericht erster Instanz<br />

EuGH<br />

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />

EuGRZ<br />

Europäische Grundrechtezeitschrift<br />

GG<br />

(deutsches) Grundgesetz<br />

GH<br />

Europäischer Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong><br />

GK<br />

Große Kammer<br />

GlBG<br />

Gleichbehandlungsgesetz<br />

GRC<br />

Charta der Grundrechte der Europäischen Union<br />

HKÜ Haager Konvention über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung 1980<br />

Hrsg.<br />

Herausgeber<br />

LG<br />

Landesgericht<br />

NL<br />

<strong>Newsletter</strong> <strong>Menschenrechte</strong> / ÖIM-<strong>Newsletter</strong><br />

OGH<br />

Oberster Gerichtshof<br />

ÖJZ<br />

Österreichische Juristenzeitung<br />

OLG<br />

Oberlandesgericht<br />

Prot.<br />

Protokoll<br />

PVA<br />

Pensionsversicherungsanstalt<br />

RL<br />

Richtlinie<br />

Rs.<br />

Rechtssache<br />

StGB<br />

Strafgesetzbuch<br />

StGG<br />

Staatsgrundgesetz<br />

StPO<br />

Strafprozessordnung<br />

UN<br />

Vereinte Nationen (United Nations)<br />

UNHCR<br />

United Nations High Commissioner for Refugees<br />

VerfO<br />

Verfahrensordnung<br />

VfGH<br />

Verfassungsgerichtshof<br />

VO<br />

Verordnung<br />

VwGH<br />

Verwaltungsgerichtshof<br />

ZE<br />

Zulässigkeitsentscheidung<br />

ZPO<br />

Zivilprozessordnung<br />

Der <strong>Newsletter</strong> <strong>Menschenrechte</strong> erscheint mit freundlicher Unterstützung durch die<br />

Hermann und Marianne Straniak-Stiftung (Sarnen/Schweiz).


NLMR 1/2011-EGMR<br />

3<br />

Judikatur des EGMR<br />

Beschwerde über letztinstanzliche Entscheidung: kein<br />

erheblicher Nachteil für den Bf.<br />

Ladislav Holub gg. Tschechien, Zulässigkeitsentscheidung vom 14.12.2010, Kammer V, Bsw. Nr. 24.880/05<br />

Leitsatz<br />

Ob dem Bf. ein erheblicher Nachteil entstanden ist, ist<br />

nicht notwendigerweise anhand des dem nationalen<br />

Verfahren zugrunde liegenden Geldbetrags zu beurteilen,<br />

sondern kann auch davon abhängen, ob dem Bf. bei<br />

der Ausübung seines Rechts auf angemessene Teilnahme<br />

am Verfahren ein solcher Nachteil entstanden ist.<br />

Der in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK verwendete Begriff<br />

»Streitsache« ist nicht mit dem Begriff »Beschwerde«<br />

gleichzusetzen. Da somit nicht die Beschwerde selbst<br />

bereits durch ein nationales Gericht untersucht worden<br />

sein muss, kann der GH auch Beschwerdepunkte<br />

zurückweisen, die innerstaatlich nicht mehr überprüfbare<br />

Handlungen letztinstanzlicher Gerichte betreffen.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 6 Abs. 1, 35 Abs. 3 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Milatová u.a./CZ v. 21.6.2005<br />

▸ MareŠ/CZ v. 26.10.2006<br />

▸ Vokoun/CZ v. 3.7.2008<br />

▸ Vladimir Petrovic Korolev/CZ v. 1.7.2010 (ZE)<br />

= NL 2010, 207<br />

Schlagworte<br />

Nachteil, erheblicher; Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

Sarah Baier<br />

▷<br />

Sachverhalt<br />

Im Februar 1998 schloss der Bf. einen Kaufvertrag mit<br />

dem Ehepaar X ab. Als das Ehepaar nicht den gesamten<br />

Kaufpreis bezahlte, verpflichtete es sich schriftlich<br />

dazu, die ausstehende Summe nach Registrierung des<br />

Vertrags durch das Grundbuchsamt zu entrichten.<br />

Am 12.6.1998 zogen die Parteien den Antrag an das<br />

Grundbuchsamt zurück und schlossen einen neuen<br />

Kaufvertrag über dieselben Güter, der in das Grundbuch<br />

eingetragen wurde. Als das Ehepaar X die anerkannten<br />

Schulden nicht entrichtete, klagte sie der Bf. auf Zahlung<br />

von CZK 700.000,– (ungefähr € 28.540,–). Das Bezirksgericht<br />

Prag-Ost wies die Klage jedoch ab. Es nahm an,<br />

dass sich das Schuldanerkenntnis auf den Vertrag vom<br />

Februar 1998 beziehe, obwohl der Bf. mit seiner auf den<br />

Vertrag vom 12.6.1998 gesetzten Unterschrift bestätigt<br />

habe, den gesamten Kaufpreis erhalten zu haben. Das<br />

Regionalgericht von Prag bestätigte das erstinstanzliche<br />

Urteil. Die Revision des Bf. an das Höchstgericht wurde<br />

für unzulässig erklärt, da sie sich auf Tatsachen- und<br />

nicht auf Rechtsfragen beziehe und deshalb nicht von<br />

entscheidender rechtlicher Relevanz sei.<br />

Am 14.9.2004 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde,<br />

in der er eine Verletzung seines Rechts auf ein faires<br />

Verfahren geltend machte, da die Schlussfolgerungen<br />

der Gerichte den festgestellten Tatsachen und Beweisen<br />

widersprechen würden. Nach Aufforderung durch<br />

das Verfassungsgericht gaben die involvierten Gerichte<br />

zur Beschwerde des Bf. Stellungnahmen ab, die diesem<br />

jedoch nicht übermittelt wurden.<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


4<br />

Ladislav Holub gg. Tschechien<br />

Am 22.2.2005 wies das Verfassungsgericht die<br />

Beschwerde des Bf. als offensichtlich unbegründet<br />

zurück. Es fasste die Stellungnahmen der Gerichte<br />

zusammen und stellte fest, dass das Recht des Bf., zum<br />

Schutz seiner Interessen die Gerichte anzurufen, nicht<br />

beeinträchtigt und das Prinzip eines fairen Verfahrens<br />

nicht verletzt worden sei.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht<br />

auf ein faires Verfahren). Er behauptet erstens, Bezirksund<br />

Regionalgericht hätten eine willkürliche Beweiswürdigung<br />

vorgenommen und die rechtlichen Schlussfolgerungen<br />

würden den festgestellten Tatsachen<br />

widersprechen. Zweitens beschwert er sich darüber,<br />

dass das Höchstgericht nicht die Begründetheit seiner<br />

Einwendungen geprüft habe. Mit Bezug auf die Prinzipien<br />

eines kontradiktorischen Verfahrens und der<br />

Waffengleichheit sieht er eine Konventionsverletzung<br />

außerdem darin, dass das Verfassungsgericht ihm die<br />

Stellungnahmen der am Verfahren beteiligten Gerichte<br />

nicht übermittelt und ihm so die Möglichkeit genommen<br />

habe, darauf zu reagieren.<br />

In Hinblick auf die Fairness des Verfahrens vor dem<br />

Bezirks- und Regionalgericht erinnert der GH daran,<br />

dass es nicht seine Aufgabe ist, anstelle der nationalen<br />

Gerichte eine eigene Würdigung der Beweise und Tatsachen<br />

vorzunehmen, sondern sicherzustellen, dass<br />

die Beweismittel in einer einen fairen Prozess garantierenden<br />

Weise präsentiert wurden. Es obliegt ihm auch<br />

nicht, eine auf angebliche Tatsachen- oder Rechtsirrtümer<br />

der nationalen Gerichte gerichtete Beschwerde zu<br />

untersuchen. Der GH ist vorliegend der Ansicht, dass die<br />

genannten Gerichte die diversen Beweismittel souverän,<br />

mit Bedacht auf alle in den Akten vermerkten Umstände<br />

gewürdigt und ihre in einem kontradiktorischen Verfahren<br />

gefällten Entscheidungen ordnungsgemäß begründet<br />

haben. Man kann daher nicht annehmen, dass das<br />

Verfahren nicht den Bedürfnissen der Fairness entsprach.<br />

Der Beschwerdepunkt ist daher als offensichtlich<br />

unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).<br />

Was das Höchstgericht betrifft, so ist anzumerken,<br />

dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht implizit<br />

zulässige Beschränkungen enthält, insbesondere,<br />

was die Zulässigkeitsvoraussetzungen für ein Rechtsmittel<br />

betrifft. Vorliegend oblag es dem Höchstgericht,<br />

darüber zu entscheiden, ob die Revision auf eine Entscheidung<br />

von besonderer rechtlicher Relevanz hinauslief<br />

und daher zulässig oder unzulässig war. Sofern das<br />

Höchstgericht seine Entscheidung im Einklang mit seiner<br />

etablierten Praxis getroffen hat und diese nicht als<br />

willkürlich qualifiziert werden kann, sollte sie der GH<br />

nicht in Frage stellen. Auch dieser Beschwerdepunkt ist<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

daher als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen<br />

(einstimmig).<br />

Was schließlich die Beschwerde über das Vorgehen<br />

des Verfassungsgerichts anlangt, stellt der GH zunächst<br />

fest, dass diese den Beschwerden in den Fällen Milatová<br />

u.a./CZ, Mares/CZ und Vokoun/CZ entspricht, in denen<br />

er eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt<br />

hat. Die vorliegende Beschwerde ist weder unvereinbar<br />

mit der Konvention oder ihren Protokollen, noch ist sie<br />

offensichtlich unbegründet oder wurde missbräuchlich<br />

eingebracht. Es steht dem GH jedoch offen zu prüfen,<br />

ob das neue, in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK (idF. 14. Prot.<br />

EMRK) vorgesehene Zulässigkeitskriterium, das auf<br />

dem Prinzip de minimis non curat praetor beruht, anzuwenden<br />

ist.<br />

Zunächst ist zu klären, ob der Bf. einen erheblichen<br />

Nachteil erlitten hat: Das Verfahren vor dem Verfassungsgericht<br />

ist ein Sonderverfahren, das auf die Untersuchung<br />

der Verfassungsmäßigkeit beschränkt ist. Da<br />

der Bf. mit seiner Verfassungsbeschwerde die Entscheidungen<br />

des Regional- und des Höchstgerichts angefochten<br />

hatte, wurde sein Rechtsmittel diesen Instanzen zur<br />

Stellungnahme übermittelt. Beide Gerichte haben in<br />

ihren Ausführungen auf ihre in der Sache des Bf. gefällten<br />

Urteile verwiesen. Das Höchstgericht hat die Gründe<br />

für die Unzulässigerklärung der Revision zusammengefasst,<br />

ohne eine zusätzliche, von seiner früheren Entscheidung<br />

abweichende Begründung anzugeben. Nach<br />

der Analyse der verfassungsgerichtlichen Entscheidung<br />

ist der GH der Ansicht, dass diese nicht wirklich auf die<br />

von den anderen Gerichten vorgebrachten Stellungnahmen<br />

gestützt war. Untermauert wird dies dadurch, dass<br />

das Verfassungsgericht sich unzuständig sah zu prüfen,<br />

wie das Höchstgericht das Zulässigkeitskriterium<br />

der rechtlichen Relevanz angewendet hatte. Alles deutet<br />

darauf hin, dass die Verfassungsbeschwerde denselben<br />

Ausgang unabhängig davon gehabt hätte, ob das<br />

Höchstgericht eine Stellungnahme abgegeben hatte<br />

oder nicht.<br />

Der Bf. rügt, es sei ihm nicht möglich gewesen, auf die<br />

Stellungnahmen des Regional- und des Höchstgerichts<br />

zu reagieren. Er hat jedoch nicht spezifiziert, welche<br />

zusätzlichen, über die in der Verfassungsbeschwerde<br />

hinaus vorgebrachten Gründe er dem Verfassungsgericht<br />

hätte vorlegen wollen. Er hat somit in keiner Weise<br />

gezeigt, dass er in Reaktion auf die Stellungnahmen der<br />

Gerichte, die keine ihm unbekannten Punkte enthielten,<br />

neue, für die Untersuchung seiner Sache erhebliche<br />

Elemente vorbringen hätte können.<br />

Der GH gelangt zu dem Schluss, dass der Bf. keinen<br />

erheblichen Nachteil bei der Ausübung seines Rechts<br />

auf angemessene Teilnahme am verfassungsgerichtlichen<br />

Verfahren erlitten hat. Er teilt die Meinung der<br />

Regierung, wonach man den Begriff »Nachteil« iSv. Art. 5<br />

Abs. 3 lit. b EMRK nicht mit jenem dem zivilrechtlichen<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


NLMR 1/2011-EGMR<br />

Verfahren zugrunde liegenden Geldbetrag gleichsetzen<br />

sollte, der dem Bf. nicht zugesprochen wurde.<br />

Nun ist zu prüfen, ob die Achtung der <strong>Menschenrechte</strong>,<br />

wie sie in der Konvention und ihren Protokollen<br />

garantiert werden, eine Prüfung in der Sache erfordert.<br />

Es ist darauf hinzuweisen, dass das tschechische Verfassungsgericht<br />

im Juli 2007 in Folge des Urteils des GH im<br />

Fall Milatová u.a./CZ eine Erklärung abgegeben hat, in<br />

der es dazu aufforderte, die Stellungnahmen der Parteien<br />

den Bf. mit einer Frist zur Erwiderung zukommen zu<br />

lassen, sofern sie neue Tatsachen, Behauptungen oder<br />

Argumente enthalten oder es diesbezüglich Zweifel gibt.<br />

Zudem ist den Resolutionen des Ministerkomitees zu<br />

entnehmen, dass Tschechien infolge des eben genannten<br />

Urteils seinen Verpflichtungen zur Ergreifung genereller<br />

Maßnahmen nachgekommen ist. In Anbetracht<br />

dessen und da der GH bereits mehrmals die Möglichkeit<br />

hatte, zu dem durch den vorliegenden Fall angesprochenen<br />

Problem Stellung zu nehmen, ist nicht mehr anzunehmen,<br />

dass die Beschwerde ernsthafte Fragen in<br />

Hinblick auf die Anwendung oder Auslegung der Konvention<br />

oder wichtige Fragen in Bezug auf das nationale<br />

Recht aufwirft. Die Achtung der <strong>Menschenrechte</strong> erfordert<br />

keine weitere Untersuchung.<br />

Schließlich ist zu klären, ob die Rechtssache bereits<br />

gebührlich von einem innerstaatlichen Gericht geprüft<br />

wurde. Der Begriff »Rechtssache« scheint sich vom<br />

Begriff »Beschwerde« zu unterscheiden. Es stellt sich<br />

die Frage, ob sich die Voraussetzung der gebührenden<br />

Untersuchung durch ein nationales Gericht auf die<br />

Rechtssache (iSv. Klage, Antrag, Anspruch) bezieht, die<br />

der Bf. gerichtlich klären lassen wollte, oder aber auf<br />

die Beschwerdepunkte, die er in der Folge dem GH vorgelegt<br />

hat. Der GH geht von ersterem aus. Würde man<br />

»Rechtssache« mit »Beschwerde« gleichsetzen, wären<br />

auch Beschwerdepunkte umfasst, die sich auf Handlungen<br />

letztinstanzlicher Gerichte beziehen, die auf nationaler<br />

Ebene nicht mehr überprüfbar wären und die der<br />

GH dann nicht mehr wegen Banalität der Beschwerde<br />

zurückweisen könnte. Der GH ist nicht überzeugt, mit<br />

einer sich diesfalls ergebenden, allgemeinen übergeordneten<br />

Kontrollkompetenz ausgestattet zu sein.<br />

In der Entscheidung Korolev/RUS erwog der GH, dass<br />

die Tatsache, dass der Bf., sobald seine Rechtssache von<br />

der dritten Instanz entschieden worden war, Teile seiner<br />

Beschwerdepunkte nicht mehr innerstaatlich überprüfen<br />

lassen konnte, kein Hindernis für die Anwendung<br />

des neuen Zulässigkeitskriteriums sei. Ein gegenteiliger<br />

Ansatz hielte den GH davon ab, unbedeutende<br />

Beschwerden zurückzuweisen, die eine der letzten nationalen<br />

Instanz zugeschriebene Konventionsverletzung<br />

betreffen. Ein solcher Ansatz wäre jedoch nicht mit dem<br />

Ziel von Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK vereinbar, Angelegenheiten,<br />

die keine Untersuchung in der Sache erfordern,<br />

schneller abzuhandeln.<br />

Ladislav Holub gg. Tschechien<br />

Die Behauptungen des Bf. in Hinblick auf seine aus<br />

einem Kaufvertrag resultierenden zivilrechtlichen<br />

Ansprüche und Verpflichtungen wurden in erster und<br />

zweiter Instanz in der Sache geprüft. Dem Bf. war es<br />

daher möglich, Schutz durch zumindest zwei innerstaatliche<br />

Gerichte anzustreben. Was die Wortfolge »gebührend<br />

geprüft« betrifft, sollte diese nicht gleich streng<br />

interpretiert werden wie die Anforderungen an ein faires<br />

Verfahren. Es wäre sonst nicht verständlich, weshalb<br />

die genannte und nicht die Wortfolge »in fairer Weise<br />

geprüft« verwendet wird.<br />

Der Bf. hat die mangelnde Fairness des Verfahrens<br />

vor den nationalen Gerichten gerügt. Diese Beschwerde<br />

wurde vom GH als offensichtlich unbegründet erklärt.<br />

Es ist daher nicht anzunehmen, die Rechtssache des Bf.<br />

sei nicht gebührend geprüft worden.<br />

Da die Voraussetzungen des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK<br />

in der durch das 14. Prot. EMRK geänderten Fassung<br />

somit erfüllt sind, erklärt der GH den Beschwerdepunkt<br />

für unzulässig (einstimmig).<br />

Anmerkung:<br />

Vgl. auch die Zulässigkeitsentscheidung Bratři Zátkové,<br />

a. s. gg. Tschechien vom 8.2.2011.<br />

•<br />

5<br />

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6<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Recht des leiblichen Vaters auf Umgang mit Kindern<br />

Anayo gg. Deutschland, Urteil vom 21.12.2010, Kammer V, Bsw. Nr. 20.578/07<br />

Leitsatz<br />

Bei der Klärung des Rechts eines biologischen Vaters<br />

auf Umgang mit seinen Kindern – im Falle der Existenz<br />

eines anderen, rechtlichen Vaters – haben die nationalen<br />

Gerichte stets das Kindeswohl mitzuberücksichtigen.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 8 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Sommerfeld/D v. 8.7.2003 (GK)<br />

= NL 2003, 196 = EuGRZ 2004, 711<br />

▸ Lebbink/NL v. 1.6.2004<br />

▸ Pini und Bertani und Manera und Atripaldi/RO v.<br />

22.6.2004<br />

= NL 2004, 140<br />

▸ Zaunegger/D v. 3.12.2009<br />

= NL 2009, 348 = EuGRZ 2010, 42 = ÖJZ 2010, 138<br />

Schlagworte<br />

Familienleben; Interessenabwägung; Kindeswohl;<br />

Privatleben<br />

Sachverhalt<br />

Petra Pann<br />

Der Bf. wurde 1967 in Nigeria geboren und reiste 2003<br />

nach Deutschland ein, wo er um Asyl ansuchte, bevor er<br />

2008 nach Spanien zog. Die Entscheidung, mit der sein<br />

Asylantrag abgelehnt wurde, wurde im Februar 2006<br />

rechtskräftig.<br />

Zwischen 2003 und 2005 lebte der Bf. in einer Beziehung<br />

mit Frau B., die jedoch verheiratet war. Frau B.<br />

hatte mit ihrem Ehemann drei Kinder und entschied<br />

2005, sich vom Bf. zu trennen und weiterhin mit ihrer<br />

Familie zu leben. Vier Monate nach der Trennung gebar<br />

sie Zwillinge, deren biologischer Vater der Bf. ist. Rechtlicher<br />

Vater ist jedoch Herr B., der Ehemann, mit dem<br />

Frau B. die Kinder gemeinsam aufzog. Der Bf. bat mehrmals,<br />

sowohl vor als auch nach der Geburt der Zwillinge,<br />

um Kontakt zu den Kindern. Dies lehnte das Ehepaar<br />

jedoch stets ab.<br />

Am 27.9.2006 gewährte das Amtsgericht Baden-Baden<br />

als Familiengericht dem Bf. Kontakt zu den Zwillingen<br />

für eine Stunde pro Monat. Begründend führte das<br />

Gericht aus, der Bf. sei eine enge Bezugsperson für die<br />

Kinder, weshalb er gemäß § 1685 Abs. 2 BGB ein Recht<br />

auf Umgang mit den Kindern habe. Der Umstand, dass<br />

der Bf. bisher keine Verantwortung für die Kinder getragen<br />

habe, ändere nichts an seinem Anspruch. Weiters<br />

entspreche der Kontakt dem Kindeswohl, da ein psychologisches<br />

Gutachten ergeben habe, dass der Kontakt<br />

der Kinder zu ihrem biologischen (afrikanischen) Vater<br />

essentiell sei, um ihre Wurzeln kennenzulernen und ein<br />

normales Selbstwertgefühl zu entwickeln.<br />

Am 12.12.2006 hob das OLG Karlsruhe diese Entscheidung<br />

auf und verwehrte dem Bf. den Kontakt zu den<br />

Zwillingen. § 1684 BGB gewähre nur dem rechtlichen<br />

Vater ein Recht auf Umgang mit den Kindern, der vorliegend<br />

Herr B. sei. Auch unter § 1685 BGB käme dem Bf.<br />

kein Recht auf Umgang mit den Zwillingen zu, da er zwar<br />

prinzipiell als biologischer Vater eine enge Bezugsperson<br />

der Kinder sei, er jedoch die anderen Voraussetzungen<br />

der Bestimmung nicht erfülle. Er habe keine Verantwortung<br />

für die Kinder übernommen und somit bestehe<br />

keine soziale und familiäre Beziehung zu ihnen. Der<br />

Umstand, dass der Kontakt dem Kindeswohl entspreche,<br />

sei in diesem Fall irrelevant. Art. 6 Abs. 1 GG gestehe<br />

dem biologischen Vater nur ein Recht auf Umgang<br />

mit seinem Kind zu, wenn eine soziale und familiäre<br />

Beziehung bereits bestanden hat, und schütze nicht<br />

den Wunsch, eine derartige Beziehung erst aufzubauen.<br />

Die Gründe, warum eine solche nicht bestanden hat,<br />

seien irrelevant. Der Bf. werde zwar in diesem Fall nach<br />

Nigeria ausgewiesen, sodass die Kinder ihren biologischen<br />

Vater womöglich nie kennenlernen würden, dies<br />

sei jedoch dadurch bedingt, dass die Kinder mit ihrem<br />

rechtlichen Vater zusammen lebten. Der Gesetzgeber<br />

habe in § 1600 Abs. 2 BGB seiner Wertung Ausdruck verliehen,<br />

dass die Beziehung des rechtlichen Vaters zu den<br />

Kindern der Beziehung des biologischen Vaters zu diesen<br />

vorgehe.<br />

Am 29.3.2007 lehnte es das BVerfG ab, über die Verfassungsbeschwerde<br />

des Bf. zu entscheiden.<br />

▷<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


NLMR 1/2011-EGMR<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. behauptet, die Weigerung, ihm Kontakt zu seinen<br />

Kindern zu gewähren, verstoße gegen sein Recht aus<br />

Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

1. Vorliegen eines Eingriffs<br />

Biologische Verwandtschaft zwischen Vater und Kind<br />

alleine, ohne weitere rechtliche oder faktische Elemente,<br />

die auf eine enge persönliche Beziehung hinweisen,<br />

ist nicht ausreichend, um den Schutz von Art. 8 EMRK<br />

auszulösen. In Ausnahmefällen, in denen die Tatsache,<br />

dass bisher noch kein Familienleben geführt wurde,<br />

nicht dem Bf. zuzurechnen war, hat der GH allerdings<br />

bereits die Absicht, ein Familienleben zu führen, als ausreichend<br />

betrachtet, um in den Anwendungsbereich von<br />

Art. 8 EMRK zu fallen. In diesen Fällen waren folgende<br />

Faktoren von Bedeutung: die Natur der Beziehung zwischen<br />

den biologischen Eltern, ein nachweisliches Interesse<br />

des Vaters an sowie das Bekenntnis des Vaters zu<br />

dem Kind vor und nach der Geburt.<br />

Vorliegend hat der biologische Vater nie mit den Kindern<br />

oder der Mutter zusammengelebt und die Kinder<br />

auch noch nie gesehen. Die Beziehung hat daher keine<br />

ausreichende Beständigkeit, um als »Familienleben« zu<br />

gelten. Der Grund dafür, dass der Bf. keinen Kontakt zu<br />

seinen Kindern hatte, besteht jedoch darin, dass die Mutter<br />

der Kinder und ihr Ehemann, die über den Kontakt<br />

der Kinder mit Dritten zu entscheiden befugt sind, den<br />

Kontakt der Kinder zum Bf. untersagten. Gemäß dem<br />

deutschen Recht konnte der Bf. weder seine Vaterschaft<br />

anerkennen noch die Vaterschaft von Herrn B. bestreiten.<br />

Der Umstand, dass er keine Beziehung zu den Kindern<br />

hat, kann daher nicht dem Bf. angelastet werden.<br />

Der Bf. äußerte mehrmals, sowohl vor als auch nach<br />

der Geburt der Zwillinge, den Wunsch, Kontakt mit diesen<br />

zu haben und initiierte rasch nach der Geburt Verfahren<br />

vor den nationalen Gerichten, um dies zu erreichen.<br />

Sein Verhalten war daher ausreichend, um sein<br />

Interesse an den Kindern nachzuweisen. Hinzu kommt,<br />

dass die Beziehung der biologischen Eltern etwa zwei<br />

Jahre lang dauerte und keineswegs als zufällig bezeichnet<br />

werden kann.<br />

Der GH schließt daher nicht aus, dass die Absicht des<br />

Bf., eine Beziehung zu seinen Kindern zu führen, den<br />

Schutz von »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK auslöst. Auf<br />

jeden Fall betrifft die Frage der rechtlichen Beziehung<br />

des Bf. zu seinen biologischen Kindern einen wichtigen<br />

Bereich seiner Identität und somit seines »Privatlebens«<br />

iSv. Art. 8 EMRK. Die Entscheidungen der nationalen<br />

Gerichte führten daher zumindest zu einem Eingriff in<br />

das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens.<br />

2. Rechtfertigung des Eingriffs<br />

Anayo gg. Deutschland<br />

Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen durch §§ 1684,<br />

1685 iVm. § 1592 Nr. 1 BGB und verfolgte das Ziel, im<br />

besten Interesse eines verheirateten Paares und der Kinder<br />

zu handeln, die während ihrer Ehe geboren wurden<br />

und für die sie sorgen. Die Entscheidung wurde daher<br />

gefällt, um ihre Rechte und Freiheiten zu schützen.<br />

Bezüglich der Frage, ob der Eingriff »in einer demokratischen<br />

Gesellschaft notwendig« war, verweist der GH<br />

auf seine etablierte Rechtsprechung und betont, dass in<br />

einem Fall wie dem vorliegenden das Kindeswohl von<br />

höchster Bedeutung und unter Umständen den Interessen<br />

der Eltern übergeordnet ist. Trotz seiner subsidiären<br />

Rolle hat der GH Einschränkungen der Rechte der Eltern<br />

auf Umgang streng zu überprüfen, da sie die Gefahr bergen,<br />

die familiären Beziehungen zwischen einem Kleinkind<br />

und einem Elternteil effektiv zu beschneiden.<br />

Das deutsche Recht, wie es durch das OLG interpretiert<br />

wurde, sieht keine Beurteilung dahingehend vor,<br />

ob der Kontakt von Kindern zum biologischen Vater im<br />

Interesse der Kinder gelegen ist, wenn eine andere Person<br />

der rechtliche Vater ist und der biologische Vater<br />

bisher keine soziale und familiäre Beziehung zu den<br />

Kindern unterhalten hat. Der Grund, warum eine solche<br />

Beziehung nicht bestanden hat, ist dabei irrelevant.<br />

Diese Regelung umfasst also auch Fälle, in denen das<br />

Fehlen einer derartigen Beziehung dem biologischen<br />

Vater nicht zuzurechnen ist.<br />

In den Konventionsstaaten besteht diesbezüglich kein<br />

einheitlicher Ansatz. Es ist jedoch festzustellen, dass in<br />

einer beachtlichen Anzahl von Staaten die Gerichte in<br />

der Position sind, eine meritorische Entscheidung darüber<br />

zu fällen, ob der Kontakt des biologischen Vaters in<br />

der Situation des Bf. mit seinem Kind dem Kindeswohl<br />

entspricht, und, wenn ersteres gegeben ist, dem Vater<br />

den Umgang mit dem Kind zu ermöglichen.<br />

Vorliegend beachtete das OLG nicht, dass der Bf.<br />

rechtlich und praktisch keine Möglichkeit hatte, seine<br />

Beziehung zu den Kindern zu ändern, da dies allein Entscheidung<br />

des Ehepaares B. war.<br />

Der GH bemerkt den Umstand, dass das OLG bezweckte,<br />

den Willen des Gesetzgebers zu befolgen, der familiären<br />

Beziehung zwischen einem rechtlichen Vater und<br />

einem Kind, die mit der Ehefrau bzw. Mutter zusammenleben,<br />

vor der Beziehung des leiblichen Vaters und<br />

dem Kind Vorrang zu geben. Der Fall unterscheidet<br />

sich von vielen anderen Beschwerden vor dem GH, da<br />

hier nicht nur ein fairer Ausgleich zwischen den Rechten<br />

zweier Eltern und dem Kind aus Art. 8 EMRK, sondern<br />

mehrerer Personen geschaffen werden muss: der<br />

Mutter, des rechtlichen Vaters, des biologischen Vaters,<br />

der Kinder des Ehepaares und der Kinder aus der Beziehung<br />

der Mutter mit dem biologischen Vater. Der GH ist<br />

jedoch trotzdem nicht davon überzeugt, dass die natio-<br />

7<br />

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8<br />

Paksas gg. Litauen<br />

nalen Gerichte einen fairen Ausgleich der widerstreitenden<br />

Interessen geschaffen haben und eine ausreichende<br />

Begründung iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK vorbrachten, um<br />

den Eingriff zu rechtfertigen. Es ist zwar Sache der nationalen<br />

Gerichte zu entscheiden, ob der Kontakt zwischen<br />

dem biologischen Vater und seinem Kind dem Kindeswohl<br />

entspricht, vorliegend wurde diese Frage jedoch<br />

gar nicht behandelt.<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Der Eingriff war daher nicht »notwendig in einer<br />

demokratischen Gesellschaft«, sodass eine Verletzung<br />

von Art. 8 EMRK festzustellen ist (einstimmig).<br />

II.<br />

Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />

€ 5.000,– für immateriellen Schaden, € 4.030,76 für Kosten<br />

und Auslagen (einstimmig).<br />

•<br />

Entzug des passiven Wahlrechts nach Amtsenthebung<br />

des Präsidenten<br />

Paksas gg. Litauen, Urteil vom 6.1.2011, Große Kammer, Bsw. Nr. 34.932/04<br />

Leitsatz<br />

Die Sechs-Monats-Frist für die Beschwerdeerhebung<br />

beginnt nicht zu laufen, wenn die Verletzung durch<br />

gesetzliche Bestimmungen hervorgerufen wird, die<br />

eine kontinuierliche Sachlage schaffen, gegen die kein<br />

Rechtsbehelf besteht. Sie läuft erst ab dem Zeitpunkt, zu<br />

dem die Sachlage nicht mehr besteht.<br />

Eine dauerhafte, unabänderliche Beschränkung des<br />

passiven Wahlrechts ist keine verhältnismäßige Sanktion<br />

in Folge einer Amtsenthebung des Staatspräsidenten<br />

wegen Verfassungsbruchs.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 3 1. Prot. EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Hirst/GB (Nr. 2) v. 6.10.2005 (GK)<br />

= NL 2005, 236<br />

▸ Ždanoka/LV v. 16.3.2006 (GK)<br />

= NL 2006, 78<br />

▸ Tănase/MD v. 27.4.2010 (GK)<br />

= NL 2010, 123<br />

Schlagworte<br />

Beschwerdeerhebung, Frist zur; Wahlen, Recht auf<br />

freie; Wahlrecht, passives; Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

Petra Pann<br />

▷<br />

Sachverhalt<br />

Bei dem Bf. handelt es sich um Rolandas Paksas, der<br />

im Jänner 2003 zum Präsidenten der Rebublik Litauen<br />

gewählt wurde.<br />

Am 30.12.2003 stellte das Verfassungsgericht auf<br />

Antrag des litauischen Parlaments (Seimas) die Verfassungswidrigkeit<br />

eines Dekrets des Bf. fest, mit dem er<br />

einem russischen Geschäftsmann, J. B., die litauische<br />

Staatbürgerschaft verliehen hatte, obwohl die Abteilung<br />

für Staatssicherheit gegen diesen ermittelte. Das Verfassungsgericht<br />

stellte fest, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft<br />

nichts anderes als eine Belohnung für die<br />

finanzielle Unterstützung sei, die J. B. dem Bf. im Rahmen<br />

des Wahlkampfes zukommen ließ. Der Präsident<br />

habe daher gegen das fundamentale, in der Verfassung<br />

verankerte Prinzip der Gleichheit aller Personen vor den<br />

staatlichen Institutionen und Beamten sowie gegen<br />

das Prinzip, dass der Präsident gegenüber jedem gleich<br />

gerecht zu sein hat, verstoßen.<br />

Bereits am 23.12.2003 hatte der Seimas aufgrund<br />

einiger Anschuldigungen gegen den Präsidenten eine<br />

Ermittlungskommission eingesetzt, um diese zu überprüfen.<br />

Am 19.2.2004 beantragte der Seimas beim Verfassungsgericht<br />

zu prüfen, ob der Präsident gegen die<br />

Verfassung verstoßen habe. Das Verfassungsgericht entschied<br />

am 31.3.2004, dass der Bf. schwer gegen die Verfassung<br />

verstoßen und seinen Eid auf die Verfassung<br />

verletzt habe, indem er J. B. aufgrund von finanziellen<br />

Zuwendungen und anderer Unterstützung die litaui-<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

sche Staatsbürgerschaft verliehen habe und diesen über<br />

die laufenden Ermittlungen gegen ihn und die Überwachung<br />

durch die litauische Exekutive informiert habe.<br />

Weiters habe er seine amtliche Stellung ausgenutzt,<br />

indem er Einfluss auf ein privates Unternehmen nahm,<br />

um ihm nahe stehenden Personen einen Vorteil zu verschaffen.<br />

Der Bf. versuchte im Verfahren die Befangenheit<br />

des Präsidenten des Verfassungsgerichts geltend zu<br />

machen. Dies blieb jedoch genauso erfolglos wie die Einlegung<br />

eines Rechtsbehelfs zur Klarstellung der Schlussfolgerungen<br />

des Gerichts.<br />

Am 6.4.2004 enthob der Seimas den Bf. seines Amtes.<br />

Der Bf. beantragte, bei den Präsidentschaftswahlen<br />

am 13.6.2004 kandidieren zu dürfen. Am 22.4.2004 entschied<br />

das Zentrale Wahlkomitee, dass dem nichts entgegenstehe.<br />

Wenige Tage später nahm der Seimas eine<br />

Änderung des Gesetzes über die Präsidentschaftswahlen<br />

an, durch die jeder, der durch den Seimas seines<br />

Amtes enthoben wurde, für einen Zeitraum von fünf<br />

Jahren von der Kandidatur bei Präsidentschaftswahlen<br />

ausgeschlossen wurde. Daraufhin verweigerte das Zentrale<br />

Wahlkomitee die Eintragung des Bf. in die Kandidatenliste.<br />

Diese Gesetzesänderung wurde vom Verfassungsgericht<br />

hinsichtlich seiner Verfassungsmäßigkeit überprüft.<br />

Das Gericht entschied am 25.5.2004, dass der<br />

Ausschluss einer ihres Amtes enthobenen Person vom<br />

passiven Wahlrecht verfassungskonform sei. Den Auschluss<br />

zeitlich zu beschränken, sei jedoch verfassungswidrig.<br />

Da ein Bruch der Verfassung immer vorliegen<br />

werde, könne ein aus diesem Grund seines Amtes enthobener<br />

Präsident nie wieder einen Eid ablegen bzw. das<br />

Amt des Präsidenten, eines Parlamentsmitglieds oder<br />

ein anderes Amt, für das die Ablegung eines Eides auf<br />

die Verfassung notwendig ist, bekleiden.<br />

Am 15.7.2004 nahm der Seimas eine Änderung des<br />

Gesetzes über die Parlamentswahlen an, in der ihres<br />

Amtes enthobene Personen davon ausgeschlossen wurden,<br />

Mitglied des Parlaments zu sein.<br />

Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Bf. wurden<br />

aufgrund mangelnder Beweise eingestellt.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 (Recht auf<br />

ein faires Verfahren), Abs. 2 (Unschuldsvermutung) und<br />

Abs. 3 lit. b EMRK (Recht, über ausreichende Zeit und<br />

Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen).<br />

Ferner beschwert er sich über Verletzungen seines<br />

Rechts unter Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege)<br />

und Art. 4 Abs. 1 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot).<br />

Des Weiteren behauptet er, in seinen Rechten<br />

gemäß Art. 3 1. Prot. EMRK (Recht auf freie Wahlen) allei-<br />

Paksas gg. Litauen<br />

ne sowie in Verbindung mit Art. 13 EMRK (Recht auf eine<br />

wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) verletzt<br />

zu sein.<br />

I. Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 6 Abs. 1,<br />

Abs. 2 und Abs. 3, von Art. 7 EMRK sowie von Art. 4<br />

7. Prot. EMRK<br />

Diese Beschwerdepunkte werden wegen Unvereinbarkeit<br />

mit der Konvention ratione materiae als unzulässig<br />

zurückgewiesen (einstimmig).<br />

II.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 1. Prot.<br />

EMRK<br />

Der Bf. beschwert sich darüber, dass sein dauerhafter<br />

Ausschluss von der Präsidentschaftskandidatur, obwohl<br />

er als Politiker beachtliche Unterstützung durch die<br />

Bevölkerung genieße, dem Wesensgehalt freier Wahlen<br />

entgegen stehe. Sein lebenslanger Ausschluss von<br />

gewählten Ämtern sei daher gänzlich unverhältnismäßig.<br />

Die Gesetzesänderung infolge seiner Absetzung sei<br />

außerdem willkürlich und bezwecke nichts anderes,<br />

als ihn von der Ausübung öffentlicher Ämter zukünftig<br />

abzuhalten.<br />

1. Zur Zulässigkeit<br />

Da Art. 3 1. Prot. EMRK nur auf Wahlen der »gesetzgebenden<br />

Organe« anzuwenden ist, wird die Beschwerde,<br />

insofern sie sich auf die Amtsenthebung oder den Ausschluss<br />

von der Kandidatur bei Präsidentschaftswahlen<br />

bezieht, wegen Unvereinbarkeit ratione materiae iSv.<br />

Art. 35 Abs. 3 EMRK zurückgewiesen (einstimmig).<br />

a. Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />

Die Regierung wendet ein, dass der Bf. gegen die Ablehnung<br />

der Kandidatur berufen oder aber eine Klärung der<br />

Frage durch das Verfassungsgericht beantragen hätte<br />

können, ob derartige Sanktionen unabänderlich seien.<br />

Er hätte dann die Möglichkeit gehabt, zurückzutreten,<br />

um der Amtsenthebung zu entgehen.<br />

Der GH stellt diesbezüglich fest, dass die Entscheidung<br />

des Verfassungsgerichts vom 25.5.2004 klar festlegte,<br />

dass eine aufgrund eines Verfassungsbruchs ihres<br />

Amtes enthobene Person nie wieder zum Präsidenten,<br />

Parlamentsmitglied oder in ein anderes Amt gewählt<br />

werden könne, für das die Ablegung eines Eides auf die<br />

Verfassung nötig ist. Entscheidungen des litauischen<br />

Verfassungsgerichts entfalten Gesetzeskraft und sind<br />

endgültig. Da das Verfassungsgericht an seine eigenen<br />

Entscheidungen gebunden ist, hätte eine Bekämpfung<br />

der ablehnenden Entscheidung bezüglich der Kandidatur<br />

des Bf. nur erfolglos sein können.<br />

9<br />

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10<br />

Paksas gg. Litauen<br />

Eine Klärung der Frage, ob eine Amtsenthebung<br />

einen permanenten Ausschluss von der Kandidatur<br />

nach sich ziehe, hätte zu keiner Auseinandersetzung des<br />

Verfassungsgerichts mit der konkreten Situation des<br />

Bf. geführt. Die Möglichkeit, freiwillig zurückzutreten,<br />

ist außerdem eine derart einschränkende Bedingung,<br />

dass sie es unmöglich macht, diesen Rechtsbehelf als<br />

»zugänglich« zu bezeichnen.<br />

Die Regierung konnte daher nicht zeigen, dass dem<br />

Bf. ein Rechtsbehelf zur Verfügung stand, der die Anforderungen<br />

von Art. 35 Abs. 1 EMRK erfüllt hätte.<br />

b. Einhaltung der Sechs-Monats-Frist<br />

Die Regierung wendet ferner ein, dass der Bf. seine<br />

Beschwerde unter Art. 3 1. Prot. EMRK das erste Mal in<br />

einer Ergänzung seiner Beschwerde vom 30.9.2005 und<br />

damit mehr als sechs Monate nach der endgültigen nationalen<br />

Entscheidung vom 25.5.2004 eingebracht habe.<br />

Sie sei daher unzulässig.<br />

Der GH merkt an, dass der Bf. diesen Beschwerdepunkt<br />

tatsächlich erst am 30.9.2005 vorbrachte. Zu<br />

beachten sind jedoch auch die speziellen Umstände des<br />

Falles: Die Beschwerde des Bf. betrifft generelle Normen,<br />

die keine individuellen Umsetzungsmaßnahmen<br />

nach sich zogen, die wiederum Gegenstand einer Berufung<br />

sein hätten können. Dadurch kam es zu keiner<br />

»endgültigen Entscheidung«, die den Anfangspunkt der<br />

Sechs-Monats-Frist gebildet hätte. Der Bf. beschwert<br />

sich vielmehr über Bestimmungen, die eine kontinuierliche<br />

Sachlage schufen, gegen die ihm kein Rechtsbehelf<br />

zur Verfügung stand. Die Frage der Sechs-Monats-<br />

Frist wird in solchen Fällen erst aktuell, wenn sich die<br />

Sachlage geändert hat. Da dies vorliegend nicht der Fall<br />

ist, kann nicht gesagt werden, dass die Beschwerde verspätet<br />

sei.<br />

c. Anwendbarkeit von Art. 17 EMRK<br />

Die Regierung bringt vor, der Bf. habe seine Wiederwahl<br />

als Präsident im Juni 2004 – und nicht die Mitgliedschaft<br />

im Seimas – bezweckt. Mit der Beschwerde benutze er<br />

daher die Maschinerie der Konvention, um politische<br />

Rache zu üben.<br />

Der GH erinnert, dass es Zweck von Art. 17 EMRK ist –<br />

sofern er sich auf Gruppen und Individuen bezieht – zu<br />

verhindern, dass diese aus der Konvention ein Recht herleiten,<br />

eine Tätigkeit zu verfolgen, die darauf gerichtet<br />

ist, andere Konventionsrechte zu zerstören. Die Rechtsprechung<br />

des GH zeigt, dass dieser Artikel nur ausnahmsweise<br />

in extremen Fällen anzuwenden ist.<br />

Vorliegend liegen keinerlei Hinweise auf eine Zweckverfolgung<br />

durch den Bf. vor, wie sie in Fällen, in denen<br />

der GH Art. 17 EMRK heranzog, erkennbar war. Er stützt<br />

sich legitimerweise auf Art. 3 1. Prot. EMRK, um ein<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Urteil des GH zu erlangen, dessen Vollzug wahrscheinlich<br />

dazu führen würde, dass er zur Kandidatur bei Parlamentswahlen<br />

zugelassen würde. Er bezweckt, den vollen<br />

Genuss eines Rechts wiederzuerlangen, das die Konvention<br />

prinzipiell jedem gewährleistet. Art. 17 EMRK ist<br />

daher nicht anwendbar.<br />

d. Ergebnis<br />

Soweit die Beschwerde die Möglichkeit des Bf. betrifft,<br />

bei Parlamentswahlen zu kandidieren, wirft sie komplexe<br />

Sach- und Rechtsfragen auf, die eine Prüfung in der<br />

Sache erfordern. Dieser Teil der Beschwerde ist nicht<br />

offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK. Die<br />

Beschwerde ist daher zulässig (mehrheitlich).<br />

2. In der Sache<br />

Trotz des hohen Stellenwerts des Rechts auf freie Wahlen<br />

im System der Konvention ist dieses Recht nicht<br />

absolut. Den Staaten steht ein weiter Ermessensspielraum<br />

bei der Ausgestaltung des Wahlsystems zu. Bei<br />

der Anwendung von Art. 3 1. Prot. EMRK ist dieses unter<br />

Berücksichtigung der politischen Entwicklung eines<br />

Landes zu beurteilen. Eine Regelung, die bezüglich des<br />

einen Systems inakzeptabel ist, kann im Kontext eines<br />

anderen gerechtfertigt sein, solange das gewählte System<br />

Bedingungen vorsieht, die die freie Meinungsäußerung<br />

der Bevölkerung in Bezug auf ihre Wahl der Gesetzgebung<br />

ermöglichen.<br />

Der weite Ermessensspielraum gilt besonders hinsichtlich<br />

der Regelung der Kriterien für das passive<br />

Wahlrecht, ist jedoch nicht allumfassend. Letztlich hat<br />

der GH zu beurteilen, ob der Wesensgehalt des Rechts<br />

auf freie Wahlen beschnitten wird, die Regelung ein legitimes<br />

Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist.<br />

Als seines Amtes enthobener Ex-Präsident war der<br />

Bf. von der durch das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung<br />

vom 25.5.2004 und durch das Gesetz vom<br />

15.7.2004 aufgestellten Regelung direkt betroffen. Da<br />

er davon abgehalten wurde, bei den Parlamentswahlen<br />

zu kandidieren, kann er behaupten, dass ein Eingriff in<br />

sein passives Wahlrecht erfolgt ist.<br />

Der Eingriff erfolgte aufgrund der eben erwähnten<br />

verfassungsgerichtlichen Entscheidung und Gesetzesänderung<br />

und war somit gesetzmäßig. Der Bf. beschwert<br />

sich über eine Rückwirkung der Regelung. Art. 3 1. Prot.<br />

EMRK verlangt jedoch nur, die Hinderung des Bf., bei<br />

Wahlen anzutreten, zu prüfen. Die ersten Wahlen, bei<br />

denen dies der Fall war, fanden im Oktober 2004 und<br />

somit nach der relevanten Entscheidung und Gesetzesänderung<br />

statt. Die Regelung wurde daher nicht rückwirkend<br />

angewendet.<br />

Der GH akzeptiert, dass die Einschränkung des Wahlrechts<br />

ein Ziel verfolgte, dass dem Rechtsstaatlichkeits-<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

prinzip und den generellen Zielen der Konvention entspricht.<br />

Das dem Bf. auferlegte Verbot ist Folge seiner<br />

Amtsenthebung und somit ein Teil eines Schutzmechanismus<br />

der Demokratie durch eine öffentliche und<br />

demokratische Überprüfung jener, die ein öffentliches<br />

Amt bekleiden. Die Maßnahme verfolgte das legitime<br />

Ziel, die demokratische Ordnung aufrecht zu erhalten.<br />

In Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme<br />

ist zu sagen, dass Art. 3 1. Prot. EMRK die Möglichkeit<br />

nicht ausschließt, das Wahlrecht von Personen zu<br />

beschränken, die eine amtliche Funktion schwer missbraucht<br />

haben oder durch ihr Verhalten die Rechtsstaatlichkeit<br />

oder demokratische Grundlagen gefährdet<br />

haben, wie es vorliegend der Fall ist.<br />

Die Voraussetzungen für die Maßnahme sind gesetzlich<br />

klar geregelt. Sie steht in eindeutiger Verbindung<br />

mit dem Verhalten des Bf. und seiner Situation. Der<br />

Umstand, dass der Ausschluss von der Kandidatur auf<br />

keine spezifische gerichtliche Entscheidung gestützt<br />

wurde, spielt daher keine Rolle. Das litauische Recht<br />

sieht außerdem im Rahmen des Amtsenthebungsverfahrens<br />

einige Sicherheitsmechanismen vor, um den<br />

Betroffenen vor Willkür zu schützen. Zum einen sind<br />

die Regeln des Strafprozesses und die Prinzipien eines<br />

fairen Verfahrens anzuwenden. Zum anderen liegt die<br />

Entscheidung, ein Amtsenthebungsverfahren – wie<br />

das vorliegende – einzuleiten, bei einem politischen<br />

Organ, dem Seimas, während ein gerichtliches Organ,<br />

das Verfassungsgericht, darüber entscheidet, ob eine<br />

Verletzung der Verfassung vorliegt. Der Seimas kann<br />

die Amtsenthebung nicht vornehmen, wenn das Verfassungsgericht<br />

keine Verletzung feststellt. Ferner hat<br />

bei Sitzungen des Seimas, in denen über die Amtsenthebung<br />

entschieden wird, nicht eines seiner Mitglieder<br />

den Vorsitz, sondern ein Richter des Obersten Gerichts.<br />

Für die Enthebung ist eine Dreifünftelmehrheit nötig.<br />

Letztlich konnte der Bf. im vorliegenden Fall bei öffentlichen<br />

Verhandlungen vor dem Seimas und dem Verfassungsgericht<br />

aussagen.<br />

Ohne die Ernsthaftigkeit des dem Bf. vorgeworfenen<br />

Verhaltens herabspielen zu wollen, bemerkt der GH<br />

das Ausmaß der Konsequenzen seiner Amtsenthebung:<br />

Der Bf. ist ständig und unabänderlich von der Kandidatur<br />

bei Parlamentswahlen ausgeschlossen. Dies wird<br />

erschwert durch den Umstand, dass er auch von jedem<br />

anderen Amt, für das die Ablegung eines Eides auf die<br />

Verfassung nötig ist, ausgeschlossen ist.<br />

Der GH widerspricht zwar dem Argument der Regierung<br />

nicht, dass bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit<br />

der politische Kontext des Landes mitzubeachten<br />

ist, und nimmt Kenntnis von ihrem Argument, dass es in<br />

einer erst kürzlich entstandenen Demokratie sinnvoll<br />

sei, die Überprüfung durch die Wählerschaft durch strikte<br />

gesetzliche Regelungen zu stärken. Die Entscheidung,<br />

einen hohen Beamten von der Parlamentsmitgliedschaft<br />

Paksas gg. Litauen<br />

dauerhaft auszuschließen, liegt dennoch bei den Wählern,<br />

die bei den Wahlen entscheiden können, ob sie ihr<br />

Vertrauen in die betroffene Person erneuern. Dies ist aus<br />

dem Wortlaut von Art. 3 1. Prot. EMRK ersichtlich, der<br />

sich auf »die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei<br />

der Wahl der gesetzgebenden Organe« bezieht.<br />

Auch wenn die besondere Verantwortung des Bf. als<br />

Präsident Litauens und seine Kompetenzen im Bereich<br />

der Gesetzgebung zu beachten sind, so ist dies nicht ausreichend,<br />

den GH zu überzeugen, dass der dauerhafte<br />

und unabänderliche Ausschluss von der Kandidatur bei<br />

Parlamentswahlen als Ergebnis genereller Normen eine<br />

verhältnismäßige Reaktion auf das Erfordernis war, die<br />

demokratische Ordnung zu erhalten.<br />

Der GH merkt an, dass die litauische Regelung eine<br />

Ausnahme in Europa darstellt. In vergleichbaren Staaten<br />

hat das Amtsenthebungsverfahren entweder keine Auswirkung<br />

auf das passive Wahlrecht des Betroffenen oder<br />

aber die Einschränkung erfordert eine spezielle gerichtliche<br />

Entscheidung oder sie unterliegt einer Frist.<br />

Der vorliegende Fall unterscheidet sich weiters substantiell<br />

vom Fall Ždanoka/LV, auf den sich die Regierung<br />

bezieht und in dem der GH keine Verletzung des Rechts<br />

auf freie Wahlen feststellte. Der Bf. in diesem Fall beteiligte<br />

sich an der Organisation und Durchführung von versuchten<br />

Staatsstreichen gegen ein neu geformtes demokratisches<br />

Regime. Die Relevanz des Ausschlusses des Bf.<br />

für den Erhalt der demokratischen Ordnung in Litauen<br />

im vorliegenden Fall ist damit nicht vergleichbar. Dazu<br />

kommt, dass der GH im Fall Ždanoka dem Umstand<br />

Gewicht beimaß, dass das lettische Parlament die strittige<br />

Regelung regelmäßig überprüfte und das Verfassungsgericht<br />

eine Frist für die Einschränkung vorsah.<br />

Diese Faktoren sind auch vorliegend relevant, insbesondere<br />

da sich der politische und historische Kontext eines<br />

Staates weiter entwickelt und die ursprüngliche Rechtfertigung<br />

der auferlegten Einschränkung mit der Zeit<br />

abklingen kann.<br />

Vorliegend unterliegt die Einschränkung nicht nur<br />

keiner Frist, sondern sie ist zusätzlich in verfassungsrechtlichen<br />

Stein gemeißelt. Der Ausschluss von der<br />

Kandidatur bei Parlamentswahlen hat hier eine Konnotation<br />

der Unabänderlichkeit, die kaum mit Art. 3<br />

1. Prot. EMRK in Einklang zu bringen ist.<br />

Schließlich ist anzumerken, dass die fraglichen Gesetzesbestimmungen<br />

aus einem Gesetzgebungsprozess<br />

herrühren, der stark von den Umständen dieses Falles<br />

beeinflusst war. Diesen Eindruck erweckt vor allem<br />

die Geschwindigkeit, mit der die Gesetzesänderungen<br />

durchgeführt wurden, nachdem der Bf. versucht hatte,<br />

bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Dies ist<br />

zwar unter Art. 3 1. Prot. EMRK nicht ausschlaggebend,<br />

der GH sieht darin jedoch einen weiteren Hinweis auf<br />

die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht auf<br />

freie Wahlen.<br />

11<br />

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12<br />

Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz<br />

Aufgrund all dieser Faktoren, besonders wegen des<br />

dauerhaften und unveränderlichen Charakters des Ausschlusses<br />

des Bf. von der Parlamentsmitgliedschaft,<br />

stellt der GH eine Verletzung von Art. 3 1. Prot. EMRK<br />

fest (14:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Costa,<br />

gefolgt von Richterin Tsotsoria und Richter Baka).<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Der Bf. rügt, dass ihm in Bezug auf die verfassungsgerichtliche<br />

Entscheidung vom 25.5.2004 kein Rechtsmittel<br />

zur Verfügung stand. Das Fehlen eines Rechtsbehelfs<br />

gegen verfassungsgerichtliche Entscheidungen<br />

fällt jedoch nicht in den Anwendungsbereich von Art. 13<br />

EMRK, da diese Bestimmung nicht so weit geht, einen<br />

Rechtsbehelf zu verlangen, der es ermöglicht, ein verfassungsgerichtliches<br />

Präjudiz mit Gesetzeskraft anzufechten.<br />

Dieser Teil der Beschwerde ist offensichtlich unbegründet<br />

und daher unzulässig (einstimmig).<br />

III.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK<br />

iVm. Art. 3 1. Prot. EMRK<br />

IV.<br />

Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />

Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt für<br />

sich selbst eine ausreichende Entschädigung für den<br />

erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig).<br />

•<br />

Verbot einer Plakatkampagne des »Mouvement raëlien«<br />

Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz, Urteil vom 13.1.2011, Kammer I, Bsw. Nr. 16.354/06<br />

Leitsatz<br />

Bei der Genehmigung von Plakatkampagnen im öffentlichen<br />

Raum steht den Staaten ein weiter Ermessensspielraum<br />

zu. Der weitere Kontext der Plakate ist bei der<br />

Prüfung, ob durch ein Verbot der Kampagne die Meinungsäußerungsfreiheit<br />

der Betroffenen verletzt wurde,<br />

mitzuberücksichtigen.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 10 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ F. L./F v. 3.11.2005 (ZE)<br />

▸ Stoll/CH v. 10.12.2007 (GK)<br />

= NL 2007, 321<br />

▸ Women On Waves u.a./P v. 3.2.2009<br />

= NL 2009, 31<br />

Schlagworte<br />

Ermessensspielraum; Interessenabwägung;<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Petra Pann<br />

▷<br />

Sachverhalt<br />

Die bf. Vereinigung mit Sitz in Rennaz im Kanton Waadt<br />

wurde 1977 gegründet. Sie ist der nationale Zweig des<br />

»Mouvement raëlien« (im Folgenden: die Bewegung),<br />

eine Organisation, die 1976 von Claude Vorilhon,<br />

genannt Raël, in Genf gegründet wurde. Statutarisches<br />

Ziel des Vereins ist, erste Kontakte und gute Beziehungen<br />

mit Außerirdischen herzustellen.<br />

Am 7.3.2001 beantragte die bf. Vereinigung bei der<br />

Polizeidirektion der Stadt Neuenburg die Genehmigung<br />

einer Plakatkampagne. Die Plakate zeigten die Gesichter<br />

von Außerirdischen, eine fliegende Untertasse, die<br />

Internetadresse der Bewegung (fett gedruckt), eine französische<br />

Telefonnummer sowie die Schriftzüge: »Die<br />

Nachricht der Außerirdischen« und »Die Wissenschaft<br />

wird am Ende die Religion ersetzen«. Die Polizeidirektion<br />

lehnte den Antrag ab, da die Bewegung sich Aktivitäten<br />

gewidmet habe, die der öffentlichen Ordnung entgegen<br />

stünden und unmoralisch seien.<br />

Der Gemeinderat Neuenburg wies ein Rechtsmittel<br />

der bf. Vereinigung zurück. Diese Entscheidung wurde<br />

am 27.10.2003 vom Raumnutzungsamt Neuenburg<br />

bestätigt. Das Amt merkte an, dass die Plakate zwar keinerlei<br />

schockierenden Inhalt aufwiesen, betonte jedoch<br />

den Umstand, dass die Bewegung die »Geniokratie« –<br />

ein politisches Modell basierend auf dem Intelligenz-<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

quotienten – sowie das Klonen von Menschen befürworte.<br />

Es verwies außerdem auf eine Entscheidung des<br />

Kantonsgerichts Freiburg, in dem dieses feststellte, dass<br />

die Bewegung sich, insbesondere in den Publikationen<br />

des Gründers Raël, »in der Theorie« für Pädophilie und<br />

Inzest ausspreche. Des Weiteren würden auf der Internetseite<br />

der Gesellschaft Clonaid, die über die Homepage<br />

der Bewegung erreichbar sei, spezifische Dienstleistungen<br />

bezüglich des Klonens und der Eugenetik<br />

angeboten, die dem Prinzip der Nichtdiskriminierung<br />

widersprächen. Der Bewegung stünden ferner andere<br />

Mittel zur Verfügung, um ihre Ideen zu verbreiten.<br />

Am 22.4.2005 wies das Verwaltungsgericht des Kantons<br />

Neuenburg den Rekursantrag der bf. Vereinigung<br />

zurück, wobei es akzeptierte, dass dieser sowohl Meinungs-<br />

als auch Religionsfreiheit zustehe. Das Gericht<br />

merkte an, dass in einigen Publikationen der Bewegung<br />

über »Geniokratie« und »sinnliche Meditation«, Kinder<br />

als »privilegierte sexuelle Objekte« bezeichnet würden<br />

und gegen die Bewegung strafrechtliche Beschwerden<br />

aufgrund von sexuellen Praktiken, die Jugendliche involvierten,<br />

erfolgt seien. Die Vorschläge über die »Geniokratie«<br />

und die Kritik an der aktuellen Demokratie seien in<br />

der Lage, die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Moral<br />

zu unterlaufen.<br />

Am 20.10.2005 wies das Bundesgericht ein weiteres<br />

Rechtsmittel zurück. Das Gericht wies unter anderem<br />

darauf hin, dass nicht nur die in der Schweiz verbotene<br />

Praxis des Klonens befürwortet werde, sondern die Vereinigung<br />

mit einer Homepage in Verbindung stehe, auf<br />

der konkrete und entgeltliche Dienstleistungen in diesem<br />

Bereich angeboten würden. Ferner könne durch die<br />

Bereitstellung von öffentlichen Flächen für eine Plakatkampagne<br />

wie der vorliegenden die Vermutung geweckt<br />

werden, der Staat toleriere oder befürworte die betreffenden<br />

Meinungen und Aktionen.<br />

Rechtsausführungen<br />

Die bf. Vereinigung behauptet, durch das Verbot der Plakatkampagne<br />

in ihren Rechten unter Art. 9 EMRK (Recht<br />

auf Religionsfreiheit) und Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit)<br />

verletzt zu sein.<br />

I. Zur Zulässigkeit<br />

Die Regierung behauptet, die Beschwerde sei erst zehn<br />

Tage nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist eingebracht<br />

worden. Außerdem sei Art. 9 EMRK im vorliegenden Fall<br />

nicht anwendbar.<br />

Der GH merkt an, dass die bf. Vereinigung eine Kopie<br />

eines Dokuments der Schweizer Post übermittelt hat,<br />

das die Absendung der Beschwerde am letzten Tag der<br />

Frist bestätigt. Die Frist wurde daher eingehalten.<br />

Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz<br />

Die Frage der Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK steht in<br />

einem engen Zusammenhang mit der diesbezüglichen<br />

Prüfung in der Sache und wird daher mit dieser verbunden.<br />

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />

iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus anderen Gründen<br />

unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />

II.<br />

In der Sache<br />

1. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK<br />

Der GH stellt fest, dass durch das Verbot der Plakatkampagne<br />

ein Eingriff in das Recht der bf. Vereinigung auf<br />

Meinungsäußerungsfreiheit stattgefunden hat. Es ist<br />

daher zu klären, ob der Eingriff gemäß Art. 10 Abs. 2<br />

EMRK gerechtfertigt war.<br />

Der Eingriff basierte auf einer gesetzlichen Grundlage,<br />

nämlich auf § 19 der Verordnung über die Gemeindepolizei.<br />

Der GH akzeptiert außerdem die Aussage der<br />

Regierung, die Maßnahme habe das legitime Ziel verfolgt,<br />

Verbrechen vorzubeugen sowie die Gesundheit,<br />

die Moral und die Rechte anderer zu schützen.<br />

Die prinzipielle Frage in diesem Fall ist daher, ob der<br />

Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig<br />

war: Die einschlägigen grundlegenden Prinzipien<br />

sind in der Rechtsprechung des GH gut etabliert. Der GH<br />

hat hier jedoch zum ersten Mal die Frage zu klären, ob<br />

die nationalen Behörden es einer Vereinigung zu erlauben<br />

haben, ihre Ideen durch eine Plakatkampagne zu<br />

verbreiten, für die der öffentliche Raum genutzt wird.<br />

Der Staat hat bei der Genehmigung der Nutzung des<br />

öffentlichen Raumes das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit<br />

und dessen Relevanz in einer demokratischen<br />

Gesellschaft zu beachten. Es ist ein Ausgleich zu<br />

schaffen zwischen dem Interesse der bf. Vereinigung,<br />

ihre Ideen zu verbreiten, und jenem der Behörden, die<br />

öffentliche Ordnung zu sichern und Gesetzesbrüchen<br />

vorzubeugen.<br />

Der GH teilt die Ansicht der Regierung, dass die<br />

Genehmigung einer Plakatkampagne zur Annahme führen<br />

könnte, der Staat würde die betroffenen Meinungen<br />

und Aktionen befürworten oder tolerieren. Der GH geht<br />

hier daher, in Hinblick auf die Beurteilung der Notwendigkeit<br />

von Maßnahmen, von einem weiteren Ermessensspielraum<br />

der nationalen Behörden aus.<br />

Die Plakate wiesen zwar keinerlei gesetzeswidrigen<br />

oder schockierenden Inhalt auf, bei der Beurteilung, ob<br />

Art. 10 EMRK verletzt wurde, ist jedoch auch der weitere<br />

Kontext der Plakate mitzuberücksichtigen. Dazu gehören<br />

die propagierten Ideen in den Publikationen sowie<br />

der Inhalt der Internetseite der Vereinigung als auch der<br />

Seite von Clonaid. Die Internetseiten waren durch jedermann,<br />

einschließlich minderjähriger Kinder, zugäng-<br />

13<br />

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14<br />

Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz<br />

lich, wodurch der Einfluss der Plakate auf die Öffentlichkeit<br />

vervielfacht wurde.<br />

Der GH betont ferner, dass die nationalen Behörden<br />

ihre Entscheidungen genau begründet haben. Verwiesen<br />

wurde sowohl auf die Verbindung mit der Homepage<br />

von Clonaid und die darin angebotenen Dienstleistungen<br />

im Bereich des Klonens, als auch auf die<br />

Möglichkeit des Vorliegens von sexuellen Praktiken mit<br />

Kindern sowie auf die Propaganda für die »Geniokratie«<br />

und die Kritik an der aktuellen Demokratie.<br />

Besonders Besorgnis erregend sind die Anschuldigungen<br />

bezüglich einiger Mitglieder hinsichtlich der sexuellen<br />

Aktivitäten mit Minderjährigen. Es ist anzumerken,<br />

dass der GH im Fall F. L./F festgestellt hat, dass es nicht<br />

gegen Art. 8 EMRK verstößt, die Aufnahme von Kindern<br />

in die Bewegung gegen den Willen der Mutter zu verbieten.<br />

Die nationalen Behörden hatten daher ausreichende<br />

Gründe, um von der Notwendigkeit auszugehen, die<br />

Plakatkampagne zu verbieten. Die Behörden gingen weiters<br />

in gutem Glauben davon aus, dass es – angesichts<br />

der Befürwortung des Klonens durch die Vereinigung –<br />

zum Schutz der Gesundheit und der Moral sowie zur Prävention<br />

von Gesetzesbrüchen nötig war, die Kampagne<br />

zu verhindern. Das Klonen ist gemäß Art. 119 Abs. 2 der<br />

Bundesverfassung klar verboten.<br />

Die Maßnahme bezog sich außerdem nur auf die Plakatierung<br />

im öffentlichen Raum. Die bf. Vereinigung<br />

war frei, ihre Überzeugungen durch andere Kommunikationsmittel<br />

zu verbreiten. Die Vereinigung selbst<br />

oder ihre Internetseite zu verbieten, stand nie zur Diskussion.<br />

Die Schweizer Behörden haben ihren Ermessensspielraum<br />

bezüglich der Nutzung des öffentlichen<br />

Raumes daher nicht überschritten und ihre Entscheidungen<br />

ausreichend begründet. Das Verbot der Plakatkampagne<br />

hat den Wesensgehalt des Rechts der<br />

bf. Vereinigung auf Meinungsäußerungsfreiheit nicht<br />

beeinträchtigt.<br />

Es ist keine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen<br />

(5:2 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Rozakis<br />

und Richterin Vajić).<br />

2. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK<br />

Da keine Verletzung von Art. 10 EMRK festgestellt wurde,<br />

hält es der GH nicht für nötig, die Beschwerde unter<br />

Art. 9 EMRK zu prüfen (einstimmig). Die Frage, ob die<br />

Bestimmung auf den Fall anwendbar ist, erübrigt sich.<br />

•<br />

Frauen im Asylrecht<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Begriffsbestimmungen<br />

Fluchtgründe<br />

Judikatur<br />

Erika-Weinzierl-Preis 2010<br />

ika-W<br />

XV, 256 Seiten<br />

150 × 230 mm<br />

broschiert<br />

€ 55,–<br />

ISBN 978-3-902638-30-4<br />

ERSCHIENEN<br />

Die Asylpolitik und –rechtsprechung steht im Zentrum<br />

der gesellschaftlichen und politischen Debatte. Ein<br />

dabei in der öffentlichen Wahrnehmung wenig beachteter<br />

Aspekt sind geschlechtsspezifische, Frauen betreffende<br />

Flucht- und Asylgründe.<br />

So wird Geschlecht in der Rechtsprechung etwa einmal<br />

als biologisches Geschlecht, dann wieder als soziales<br />

Geschlecht, dann in einer biologisch fixierten<br />

Geschlechtsrolle verstanden.<br />

THEMEN UND FRAGESTELLUNGEN<br />

Anna Wildt, ehemalige Mitarbeiterin der Caritas, zeigt<br />

auf, dass behördliche und gerichtliche Asylentscheidungen<br />

unterschiedliche Auffassungen über den<br />

Geschlechtsbegriff aufweisen. Die Auswirkungen dieser<br />

Divergenzen auf die rechtliche Beurteilung von<br />

frauenspezifischer Verfolgung werden ebenso dargestellt<br />

wie der Einfluss von stereotypen Rollenbildern im<br />

(Beweis)Verfahren.<br />

Der Einfluss des Geschlechtsbegriffs auf die rechtliche<br />

Beurteilung von Fluchtvorbringen wird anhand von Asylentscheidungen<br />

zu sozioökonomischer oder familiärer<br />

Gewalt, zu Zwangsverheiratung und Missbrauch oder<br />

drohender Genitalverstümmelung umfassend behandelt,<br />

und die aktuellen Rechtsquellen, die Doktrin und<br />

die Staatenpraxis herausgearbeitet. Für Österreich wie<br />

Deutschland von Interesse ist der Vergleich der Rechtslage<br />

in Bezug auf die Umsetzung der Statusrichtlinie,<br />

der aufzeigt, wie sich die Judikaturlinien auseinander<br />

entwickeln, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen in<br />

beiden Ländern ähnlich sind.<br />

Untersucht wird weiters, welcher Geschlechtsbegriff in<br />

Asylverfahren und in den Auslegungsempfehlungen des<br />

UNHCR verwendet wird. Die Untersuchung macht den<br />

Genderbegriff in der Auslegung internationaler und<br />

regionaler Menschenrechtsschutzverträge für die Asylpraxis<br />

nutzbar, die bisher die Judikatur des CEDAW-<br />

Ausschusses und des europäischen Gerichtshofes für<br />

<strong>Menschenrechte</strong> zur häuslichen Gewalt weitgehend<br />

unberücksichtigt ließ.<br />

201<br />

eis<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

15<br />

Nachträgliche Unterbringung zu Präventivzwecken<br />

Haidn gg. Deutschland, Urteil vom 13.1.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 6.587/04<br />

Leitsatz<br />

Lediglich die Verurteilung wegen einer Straftat durch<br />

ein Strafgericht ist als »Verurteilung« iSv. Art. 5 Abs. 1<br />

lit. a EMRK zu werten. Die Entscheidung eines Strafvollzugsgerichts,<br />

eine Person ungeachtet vollständiger Verbüßung<br />

der Freiheitsstrafe weiter in Haft zu behalten,<br />

genügt den Anforderungen an eine »Verurteilung« nicht,<br />

da sie keine neue Feststellung, die betreffende Person<br />

sei einer Straftat schuldig, beinhaltet.<br />

Voraussetzung für einen rechtmäßigen Freiheitsentzug<br />

bei psychisch kranken Personen iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e<br />

EMRK ist, dass von den Gerichten anhand einer objektiven<br />

medizinischen Expertise festgestellt wurde, dass<br />

ein Bf. einwandfrei als geisteskrank einzustufen sei.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 3, 5 Abs. 1 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ M./D v. 17.12.2009<br />

= NL 2009, 371 = EuGRZ 2010, 25<br />

Schlagworte<br />

Alter; Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende;<br />

Freiheit, Recht auf persönliche; Haftbedingungen;<br />

Sicherungsverwahrung; Strafvollzug<br />

Sachverhalt<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Der 1934 geborene Bf. befindet sich derzeit in einem psychiatrischen<br />

Krankenhaus in Bayreuth. Am 16.3.1999<br />

wurde er vom Landgericht Passau wegen Vergewaltigung<br />

in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Laut einer<br />

psychiatrischen Expertise litt der Bf. an einer angeborenen<br />

Persönlichkeitsstörung, durch die seine Fähigkeit,<br />

das Unrecht seiner Tat einzusehen, eingeschränkt war.<br />

Am 10.4.2002 – drei Tage vor Verbüßung der Haft – ordnete<br />

die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts<br />

Bayreuth die Unterbringung des Bf. in einem Gefängnis<br />

auf unbestimmte Zeit gemäß dem am 1.1.2002 in Kraft<br />

getretenen Bayerischen Gesetz zur Unterbringung von<br />

besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern<br />

(im Folgenden: BayStrUBG) an. Beim Bf. seien die<br />

Voraussetzungen für eine Unterbringung im Gefängnis<br />

iSv. § 1 BayStrUBG erfüllt, da er eine Strafe verbüßt habe,<br />

bei der Sicherungsverwahrung iSv. § 66 Abs. 3 StGB in<br />

Frage komme. Sie schließe sich außerdem der Meinung<br />

eines von ihr herangezogenen Psychiaters bzw. Psychologen<br />

an, wonach nach der Verurteilung des Bf. neue Tatsachen<br />

ans Licht gelangt wären, die den Schluss nahe<br />

legten, er stelle gegenwärtig eine ernste Gefahr für Leib<br />

und Leben bzw. die sexuelle Selbstbestimmung anderer<br />

dar. Zudem habe er sich während der Haft einer Therapie<br />

widersetzt. Aufgrund seines fortschreitenden Persönlichkeitsabbaus<br />

sei er nicht in der Lage, sein abweichendes<br />

sexuelles Verhalten sowie Grenzen zu erkennen. Das<br />

OLG Bamberg bestätigte diese Entscheidung.<br />

Dagegen erhob der Bf. Beschwerde beim BVerfG, das<br />

dieser am 10.2.2004 teilweise stattgab. Es befand, dass<br />

das BayStrUBG verfassungswidrig sei, da die Länder<br />

keine Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Straftäterunterbringung<br />

hätten. Das überragende Interesse der<br />

Allgemeinheit an einem effektiven Schutz vor hochgefährlichen<br />

Straftätern könne jedoch in Ausnahmefällen<br />

das Freiheitsinteresse des von der Fortgeltung der Regelung<br />

Betroffenen überwiegen. Im Falle der Nichtigerklärung<br />

des Gesetzes wäre die Entlassung aller auf Grundlage<br />

des BayStrUBG Untergebrachten unvermeidlich.<br />

Damit müsse eine Person in die Freiheit entlassen werden,<br />

von der eine erhebliche Gefahr für die körperliche<br />

Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung anderer<br />

ausgehe. Das BayStrUBG sei daher bis 30.9.2004 weiter<br />

anzuwenden, um dem Bundesgesetzgeber Gelegenheit<br />

zum Erlass einer gesetzlichen Regelung zu geben.<br />

In der Zwischenzeit hatte das Landgericht Bayreuth<br />

die Unterbringung des Bf. im Gefängnis mit Beschluss<br />

vom 16.12.2003 für ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt<br />

und diesen angewiesen, in der psychiatrischen Abteilung<br />

eines Seniorenheims Wohnung zu nehmen. Im<br />

März 2004 wurde die Anordnung jedoch widerrufen, da<br />

es seitens des Bf. zu sexuellen Übergriffen gekommen<br />

war. Am 28.7.2004 wurde er vom Gefängnis in ein psychiatrisches<br />

Krankenhaus überstellt.<br />

Im Juni 2005 ordnete das Landgericht Passau gemäß<br />

§ 66b StGB 1 die nachträgliche Unterbringung des Bf. in<br />

Sicherungsverwahrung an. Der Beschluss wurde vom<br />

1 Diese Bestimmung wurde mit dem »Gesetz zur Einführung der<br />

nachträglichen Sicherungsverwahrung« eingeführt. Sie trat<br />

am 29.7.2004 in Kraft.<br />

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16<br />

Haidn gg. Deutschland<br />

BGH aufgehoben und der Fall zur neuerlichen Entscheidung<br />

zurückverwiesen. Das Verfahren wurde von der<br />

Staatsanwaltschaft eingestellt, nachdem das Landgericht<br />

Hof am 14.6.2007 unter Berufung auf § 63 StGB die<br />

Unterbringung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />

wegen sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger<br />

Personen (§ 179 StGB) angeordnet hatte.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot<br />

der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung)<br />

und von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK<br />

Der Bf. beklagt sich über seine nach vollständiger Verbüßung<br />

seiner Freiheitsstrafe erfolgte Unterbringung<br />

im Gefängnis zu Präventionszwecken auf Grundlage des<br />

später für verfassungswidrig erklärten BayStrUBG.<br />

1. Zur Zulässigkeit<br />

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet<br />

nach Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen<br />

Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären<br />

(einstimmig).<br />

2. In der Sache<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Laut der Regierung sei die nachträgliche Unterbringung<br />

des Bf. im Gefängnis zu Präventivzwecken als rechtmäßiger<br />

Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges<br />

Gericht iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zu werten.<br />

Der GH hat bereits im Fall M./D klargestellt, dass nur<br />

die Verurteilung wegen einer Straftat durch ein Strafgericht<br />

als »Verurteilung« im Sinne des oben genannten<br />

Artikels zu werten ist. Die Entscheidung eines Strafvollzugsgerichts,<br />

eine Person weiter in Haft zu behalten,<br />

genügt den Anforderungen an eine »Verurteilung« nicht,<br />

da sie keine neue Feststellung, die betreffende Person<br />

sei einer Straftat schuldig, beinhaltet. Im vorliegenden<br />

Fall kann folglich nur das Urteil des Landgerichts Passau<br />

vom 16.3.1999 als »Verurteilung« gelten. Die Präventivhaft<br />

des Bf. nach Verbüßung der Haft mit Ablauf des<br />

13.4.2002 wäre nur dann unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK<br />

gerechtfertigt gewesen, wenn sie unmittelbar nach seiner<br />

Verurteilung erfolgt wäre, also mit anderen Worten<br />

ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen<br />

der Verurteilung und dem Freiheitsentzug bestanden<br />

hätte. Vom Landgericht Passau war aber die Anhaltung<br />

des Bf. zu Präventivzwecken – zusätzlich zu der verhängten<br />

Haftstrafe – nicht angeordnet worden. Das besagte<br />

Gericht wäre zu einer solchen Maßnahme auch nicht<br />

befugt gewesen, da die rechtlichen Voraussetzungen für<br />

eine Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB im speziellen<br />

Fall des Bf. nicht vorgelegen wären. Da somit eine<br />

präventive Anhaltung des Bf. auf Basis des BayStrUBG<br />

nicht vorgesehen bzw. für das Strafgericht Passau nach<br />

der damaligen Rechtslage nicht möglich war, kann nicht<br />

einfach gesagt werden, sie habe sich aus der strafrechtlichen<br />

Verurteilung ergeben, weil die von der Strafvollstreckungskammer<br />

getroffene Anordnung der Präventivhaft<br />

sich auf die Verurteilung bezog und noch während<br />

der Verbüßung der Freiheitsstrafe erfolgte. Es bestand<br />

somit kein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen<br />

der Verurteilung des Bf. und seiner nachträglich<br />

angeordneten Unterbringung im Gefängnis zu Präventionszwecken.<br />

Die Anhaltung war daher nicht unter Art. 5<br />

Abs. 1 lit. a EMRK gerechtfertigt.<br />

Im Folgenden ist zu prüfen, ob die Anhaltung des Bf.<br />

aus einem anderen der in Art. 5 Abs. 1 EMRK aufgelisteten<br />

Haftgründe gerechtfertigt war. So bringt etwa<br />

die Regierung vor, die Unterbringung wäre unter Art. 5<br />

Abs. 1 lit. c EMRK notwendig gewesen, um den Bf. an der<br />

Begehung einer Straftat zu hindern.<br />

Die Unterbringung auf unbestimmte Zeit, die von den<br />

Strafvollzugsgerichten damit gerechtfertigt wurde, es<br />

bestehe ein Risiko, dass der Bf. weitere Straftaten gegen<br />

die sexuelle Selbstbestimmung anderer begehen werde,<br />

war jedoch nicht von dieser Bestimmung gedeckt, richtete<br />

sich doch die Anhaltung des Bf. zu Präventivzwecken<br />

nicht darauf, ihn gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK unver-<br />

züglich einem Richter vorzuführen und ihn innerhalb<br />

angemessener Frist (wegen eines potentiellen Strafdelikts)<br />

abzuurteilen. Es handelte sich daher auch nicht<br />

um Untersuchungshaft iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK.<br />

Darüber hinaus war die Begehung potentieller Straftaten<br />

im Falle einer Freilassung nicht ausreichend<br />

konkret und spezifisch, um den Anforderungen der<br />

einschlägigen Rechtsprechung des GH zu genügen, insbesondere<br />

was Ort und Zeit der Tatbegehung bzw. die<br />

Situation der Opfer angeht. Die Anhaltung des Bf. konnte<br />

somit nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gerechtfertigt<br />

werden.<br />

War die Anhaltung von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK (rechtmäßiger<br />

Freiheitsentzug bei psychisch kranken Personen)<br />

gedeckt Laut dem Fallrecht des GH ist Voraussetzung<br />

dafür, dass anhand einer objektiven medizinischen<br />

Expertise gerichtlicherseits festgestellt wurde, dass ein<br />

Bf. einwandfrei als geisteskrank einzustufen ist. Die<br />

Strafvollstreckungskammer stützte ihre Entscheidung<br />

auf zwei Experten, welche beim Bf. eine angeborene –<br />

fortschreitende – Persönlichkeitsstörung konstatierten<br />

und bestätigten, er würde eine ernste Gefahr für die<br />

sexuelle Selbstbestimmung anderer darstellen.<br />

Der GH zieht das Ergebnis dieser Expertisen nicht in<br />

Zweifel. Er weist allerdings darauf hin, dass das deutsche<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

Rechtssystem einen Unterschied zwischen der Anhaltung<br />

gefährlicher Straftäter in einem Gefängnis zu Präventionszwecken<br />

und einer Unterbringung psychisch<br />

Kranker in einem psychiatrischen Krankenhaus macht.<br />

Im vorliegenden Fall hatte sich jedoch das Gesundheitsamt<br />

geweigert, die Unterbringung des Bf. in einer psychiatrischen<br />

Klinik gemäß dem Bayerischen Gesetz über<br />

die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung<br />

beim Landgericht Bayreuth zu beantragen.<br />

Im Übrigen ist der GH nicht überzeugt, dass beim Bf.<br />

eine Geistesstörung iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK vorlag.<br />

Er bezweifelt außerdem, dass eine solche nach deutschem<br />

Recht »von der zuständigen Behörde festgestellt«<br />

werden konnte, da die Strafvollzugsgerichte unter dem<br />

BayStrUBG nicht zu entscheiden hatten, ob der Bf. als<br />

geisteskranke Person unterzubringen sei, sondern darüber,<br />

ob er eine besondere Gefahr für die Gesellschaft,<br />

ungeachtet seines Geisteszustands, darstelle. Folglich<br />

waren auch die Sachverständigen nur zur Prüfung der<br />

Frage berechtigt, ob der Bf. eine ernste Gefahr für die<br />

sexuelle Selbstbestimmung anderer verkörpere.<br />

Abgesehen davon wäre die Anhaltung des Bf. als geisteskranke<br />

Person nur »rechtmäßig« iSv. Art. 5 Abs. 1<br />

lit. e EMRK gewesen, wenn sie in einem Krankenhaus,<br />

einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung<br />

erfolgt wäre.<br />

Im vorliegenden Fall war der Bf. allerdings bis Juli<br />

2004 in einem Gefängnis untergebracht. Für seine<br />

Unterbringung wären demnach laut § 6 BayStrUBG<br />

die einschlägigen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes<br />

betreffend den Vollzug der Sicherungsverwahrung<br />

anzuwenden gewesen. Wie der GH bereits im Fall<br />

M./D festgestellt hat, besteht in der Praxis kein wesentlicher<br />

Unterschied zwischem dem Vollzug einer (langjährigen)<br />

Gefängnisstrafe und der Durchführung der<br />

Sicherungsverwahrung. Es ist nach deutschem Recht<br />

nun einmal so, dass psychiatrische Kliniken als für die<br />

Unterbringung von geisteskranken Personen geeignete<br />

Anstalten angesehen werden. Folglich bestand keine<br />

ausreichende Beziehung zwischen der Anhaltung des<br />

Bf. als geisteskrankem Patienten und seiner Unterbringung<br />

im Gefängnis inklusive der dortigen Haftbedingungen.<br />

Die Anhaltung des Bf. war daher weder nach Art. 5<br />

Abs. 1 lit. e EMRK noch nach einem der übrigen in Art. 5<br />

Abs. 1 EMRK genannten Haftgründe gerechtfertigt. Verletzung<br />

von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).<br />

II.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

Der Bf. behauptet, die fortgesetzte Anhaltung zu Präventivzwecken<br />

habe angesichts der Umstände, unter denen<br />

sie angeordnet wurde, und im Hinblick auf ihre Geltung<br />

auf unbestimmte Zeit eine unmenschliche bzw. erniedrigende<br />

Behandlung iSv. Art. 3 EMRK dargestellt.<br />

1. Zur Zulässigkeit<br />

Haidn gg. Deutschland<br />

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet<br />

noch aus einem anderen Grund unzulässig und<br />

daher für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />

2. In der Sache<br />

Der Bf. war zum Zeitpunkt der Verhängung der Sicherungsverwahrung<br />

67 Jahre alt. Er hat nicht behauptet,<br />

im Gefängnis nicht die notwendige medizinische<br />

Betreuung erhalten zu haben. Der GH hatte bereits<br />

Gelegenheit zur Feststellung, dass ein fortgeschrittenes<br />

Alter in keinem der Europaratsstaaten ein Hindernisgrund<br />

für eine Anhaltung ist. Das fortgeschrittene,<br />

aber noch nicht besonders hohe Alter des Bf. und sein<br />

Gesundheitszustand, der für eine Haft nicht als kritisch<br />

zu bewerten war, erreichten nicht das Mindestmaß<br />

an Schwere, um in den Anwendungsbereich von Art. 3<br />

EMRK zu fallen.<br />

Die Umstände, unter denen der Bf. nach vollständiger<br />

Verbüßung seiner Freiheitsstrafe weiter im Gefängnis<br />

angehalten wurde, mussten bei ihm zweifellos Gefühle<br />

der Demütigung und Unsicherheit auslösen, die das<br />

zwangsläufig mit jeder Freiheitsentziehung verbundene<br />

unvermeidliche Leid überstiegen. Angesichts der<br />

Tatsache, dass das BayStrUBG erst kurz vor der Anordnung<br />

seiner fortgesetzten Freiheitsentziehung in Kraft<br />

getreten war, konnte den Behörden jedoch nicht vorgeworfen<br />

werden, vorsätzlich darauf abgezielt zu haben,<br />

ihn zu erniedrigen, indem sie eine Sicherungsverwahrung<br />

drei Tage vor seiner vorgesehenen Freilassung<br />

anordneten.<br />

Ferner waren die nationalen Gerichte nach § 5<br />

BayStrUBG verpflichtet, mindestens alle zwei Jahre<br />

nachzuprüfen, ob die Unterbringung der betroffenen<br />

Person im Gefängnis noch notwendig war und – falls<br />

die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen – die Unterbringung<br />

zur Bewährung auszusetzen. Das Landgericht<br />

Bayreuth entschied am 23.12.2003, die Unterbringung<br />

des Bf. auszusetzen, widerrief diese Anordnung jedoch,<br />

nachdem er wieder rückfällig geworden war. Dies zeigt,<br />

dass für ihn, ungeachtet der unbefristeten Dauer seiner<br />

Anhaltung, die Möglichkeit einer Freilassung bestand.<br />

Der GH kommt somit zu dem Ergebnis, dass die<br />

Umstände der Anordnung der fortgesetzten Anhaltung<br />

des Bf. zu Präventivzwecken und deren Dauer nicht das<br />

Mindestmaß an Schwere erreichten, um eine unmenschliche<br />

oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darzustellen.<br />

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).<br />

III.<br />

Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />

Der Bf. stellte keinen Antrag auf gerechte Entschädigung<br />

innerhalb der dafür vorgesehenen Frist.<br />

17<br />

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18<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Vergleich von Abtreibungen mit dem Holocaust<br />

Hoffer und Annen gg. Deutschland, Urteil vom 13.1.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 397/07 und 2.322/07<br />

Leitsatz<br />

Die Auswirkungen einer Meinungsäußerung auf die Persönlichkeitsrechte<br />

können nicht ohne den sozial-historischen<br />

Kontext betrachtet werden, in dem diese getätigt<br />

wird.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 10 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Sürek/TR (Nr. 1) v. 8.7.1999<br />

Schlagworte<br />

Meinungsäußerungsfreiheit; Persönlichkeitsrechte;<br />

Verfahrensdauer<br />

Julius Lagodny<br />

Am 24.5.2006 hob das BVerfG das Urteil des Landgerichts<br />

teilweise auf. Das BVerfG erinnerte dabei an<br />

die Vorinstanzen, welche angenommen hatten, dass<br />

das strittige Flugblatt die professionelle Tätigkeit des<br />

Mediziners auf eine Stufe mit dem Holocaust stelle.<br />

Obwohl die Äußerungen der Bf. nicht als Schmähkritik<br />

zu bezeichnen waren, sei, laut BVerfG, die Entscheidung<br />

des Landgerichts nicht zu beanstanden, weil das Urteil<br />

einen gerechten Ausgleich zwischen den konkurrierenden<br />

Interessen der Bf. und denen von Dr. F. bilde.Nicht<br />

der Holocaust-Vergleich an sich, sondern die Tatsache,<br />

dass die Bf. diesen direkt gegen Dr. F. gerichtet hatten,<br />

würde die Persönlichkeitsrechte des Mediziners stark<br />

verletzen. Nach Zurückverweisung der Sache belegte das<br />

Landgericht die Bf. mit je einer Geldstrafe von € 100,–<br />

bzw. € 150,–.<br />

Rechtsausführungen<br />

Sachverhalt<br />

Am 8.10.1997 verteilten die Bf. vor einer Nürnberger Klinik<br />

ein Flugblatt, in welchem namentlich der Frauenarzt<br />

Dr. F. wegen der von ihm durchgeführten Abtreibungen<br />

als »Tötungsspezialist« bezeichnet wurde. Das<br />

Schreiben enthielt den Appell: »Stoppen Sie den Kinder-<br />

Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikums;<br />

damals: Holocaust – heute: Babycaust«. Der ZweitBf. gab<br />

auf dem Schreiben seine Adresse an.<br />

Daraufhin erstattete Dr. F. Anzeige wegen übler Nachrede.<br />

Im Juli 1998 sprach das Amtsgericht Nürnberg die<br />

Bf. in allen Anklagepunkten – gestützt auf die »Wahrnehmung<br />

berechtigter Interessen« (§ 193 StGB) – frei.<br />

Am 26.5.1999 hob das Landgericht Nürnberg-Fürth<br />

das Urteil auf und verurteilte die Bf. wegen übler Nachrede<br />

zum Nachteil der Klinik und von Dr. F. mit der Begründung,<br />

dass ein Vergleich mit dem Holocaust nicht mehr<br />

in den Bereich der freien Meinungsäußerung falle, da es<br />

Dr. F. unnötig stark herabwürdige (Schmähkritik). Das<br />

Landgericht verurteilte beide Bf. zu einer Geldstrafe.<br />

Die von den Bf. eingebrachte Revision gegen das<br />

Urteil wies das Bayrische Oberste Landesgericht am<br />

8.12.1999 ab.<br />

Im Jänner 2000 erhoben die Bf. Verfassungsbeschwerde<br />

beim BVerfG.<br />

Die Bf. rügen Verletzungen von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit)<br />

und Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht<br />

auf angemessene Verfahrensdauer).<br />

Des Weiteren rügen sie Verletzungen von Art. 7 Abs. 1<br />

EMRK (Nulla poena sine lege) und Art. 6 EMRK (hier:<br />

Recht auf ein faires Verfahren).<br />

Die beiden Beschwerden werden miteinander verbunden<br />

(einstimmig).<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK<br />

Es wird festgestellt, dass die Beschwerde hinsichtlich<br />

der Verletzung von Art. 10 EMRK gemäß Art. 35 Abs. 3<br />

EMRK nicht offensichtlich unbegründet und auch aus<br />

keinem anderen Grund unzulässig ist. Die Beschwerde<br />

wird für zulässig erklärt (einstimmig).<br />

Die Bf. sehen durch ihre Verurteilung ihr Recht auf<br />

freie Meinungsäußerung verletzt.<br />

Die Verurteilungen der Bf. stellen unstrittig einen Eingriff<br />

in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Sie<br />

basierten auf § 185 StGB und waren damit »gesetzlich<br />

vorgesehen«. Sie dienen dazu, den guten Ruf und die<br />

Rechte anderer, in diesem Fall die von Dr. F., zu schützen.<br />

Daher bleibt zu prüfen, ob die Beeinträchtigung der<br />

freien Meinungsäußerung »notwendig in einer demokratischen<br />

Gesellschaft« iSv. Art. 10 EMRK war.<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

Insoweit hatte bereits das Landgericht eingeräumt,<br />

dass die Bf. eine Problematik von öffentlichem Interesse<br />

angesprochen hatten, und es ihnen erlaubt war, ihre<br />

politischen Ziele zu verfolgen, und zwar auch mit Hilfe<br />

von polemischer Kritik.<br />

Das Landgericht hat alle Passagen des Flugblatts,<br />

außer dem Ausspruch »damals: Holocaust / heute: Babycaust«,<br />

als akzeptable Bestandteile einer öffentlichen<br />

Diskussion anerkannt, die sich innerhalb der Grenzen<br />

der freien Meinungsäußerung bewegten. Der GH wird<br />

daher nur die erwähnte Textstelle behandeln.<br />

Nach Meinung der nationalen Gerichte verletzten die<br />

Bf. die persönlichen Rechte des Mediziners besonders<br />

schwerwiegend, indem sie die Durchführung der Abtreibung<br />

mit dem Massenmord während des Holocaust verglichen.<br />

Es hätte von ihnen erwartet werden können,<br />

dass sie ihren Vorwurf auf eine Art und Weise ausdrückten,<br />

die weniger nachteilig für das Ansehen des Mediziners<br />

gewesen wäre.<br />

Das BVerfG hatte außerdem eingeräumt, dass das<br />

Flugblatt der Bf. auf verschiedene Art und Weise interpretiert<br />

werden könne, dabei aber bedacht, dass alle<br />

möglichen Interpretationen auf eine schwerwiegende<br />

Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Mediziners<br />

hinausliefen.<br />

Zudem stellt der GH fest, dass Auswirkungen, die Meinungsäußerungen<br />

auf die Persönlichkeitsrechte eines<br />

Anderen haben, nicht abgelöst vom historischen und<br />

sozialen Kontext, in dem diese getätigt werden, betrachtet<br />

werden können. Der Hinweis auf den Holocaust muss<br />

also im spezifischen Zusammenhang der deutschen<br />

Geschichte betrachtet werden. Daher akzeptiert der GH<br />

die abschließende Erklärung des BVerfG, wonach das<br />

umstrittene Flugblatt eine schwerwiegende Verletzung<br />

der Persönlichkeitsrechte des Mediziners sei.<br />

Die nationalen Gerichte schufen somit einen gerechten<br />

Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung<br />

der Bf. und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte<br />

des Arztes. Der Eingriff war »in einer demokratischen<br />

Gesellschaft notwendig«. Die Geldstrafen sind außerdem<br />

als verhältnismäßig zu bezeichnen.<br />

Im Ergebnis ist keine Verletzung von Art. 10 EMRK<br />

festzustellen (einstimmig).<br />

Hoffer und Annen gg. Deutschland<br />

Der GH hat bereits in früheren ähnlichen Fällen eine<br />

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt. Er geht<br />

auch vorliegend von einer Verletzung dieser Bestimmung<br />

aus (einstimmig).<br />

III.<br />

Zu den übrigen behaupteten Verletzungen<br />

Die Bf. behaupten, ihnen wäre die Auslegung ihrer Aussagen<br />

durch die Strafgerichte nicht bewusst gewesen. Sie<br />

hätten folglich nicht den Vorsatz gehabt, eine kriminelle<br />

Handlung zu begehen. Das Verfahren vor dem BVerfG<br />

sei des Weiteren nicht fair gewesen, da nur drei Richter<br />

und nicht ein Senat über die Sache entschieden hätten.<br />

Zudem beschwert sich der ZweitBf. darüber, dass er eine<br />

höhere Strafe bekommen habe, nur weil er seine Adresse<br />

auf dem Dokument angegeben hatte.<br />

Die diesbezüglichen Beschwerden unter Art. 7 Abs. 1,<br />

Art. 10 und Art. 6 EMRK werden als offensichtlich unbegründet<br />

zurückgewiesen (einstimmig).<br />

IV.<br />

Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />

€ 4000,– je Bf. für immateriellen Schaden und € 1000,–<br />

für Kosten und Auslagen (einstimmig).<br />

•<br />

19<br />

II.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Es wird festgestellt, dass die Beschwerde unter Art. 6<br />

Abs. 1 nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35<br />

Abs. 3 EMRK und auch aus keinem anderen Grund<br />

unzulässig ist. Die Beschwerde wird für zulässig erklärt<br />

(einstimmig).<br />

Für die Bf. stellt die Länge des Verfahrens vor dem<br />

BVerfG von fast sechseinhalb Jahren einen Verstoß<br />

gegen ihr Recht auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen<br />

Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK dar.<br />

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20<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Keine Verpflichtung der Schweiz, Suizid zu ermöglichen<br />

Haas gg. die Schweiz, Urteil vom 20.1.2011, Kammer I, Bsw. Nr. 31.322/07<br />

Leitsatz<br />

Die große Mehrheit der Konventionsstaaten scheint<br />

dem Schutz des Lebens einer Person (Art. 2 EMRK) mehr<br />

Gewicht als deren Recht einzuräumen, es freiwillig zu<br />

beenden (Art. 8 EMRK). In diesem Bereich ist der staatliche<br />

Ermessensspielraum also als erheblich einzustufen.<br />

Aus Art. 8 Abs. 2 EMRK folgt, dass selbsttötungswil-<br />

lige Personen durch entsprechende Maßnahmen vor<br />

übereilten Entscheidungen zu bewahren sind und Missbräuchen<br />

vorzubeugen ist. Dies muss umso mehr für ein<br />

Land wie die Schweiz gelten, in der Gesetzgebung und<br />

Praxis relativ leicht Beihilfe zum Selbstmord gestatten.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 2, 8 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Pretty/GB v. 29.4.2002<br />

= NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311<br />

Schlagworte<br />

Erkrankung, psychische; Ermessen; Leben, Recht auf;<br />

Privatleben; Selbstbestimmungsrecht; Sterbehilfe<br />

Sachverhalt<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Der 1953 geborene Bf. leidet seit etwa 20 Jahren an einer<br />

schweren bipolaren affektiven Störung. 1 Während dieser<br />

Zeit beging er zwei Selbstmordversuche und wurde<br />

wiederholt stationär behandelt. Am 1.7.2004 trat er der<br />

privaten Sterbehilfeorganisation »Dignitas« bei. Da der<br />

Bf. sein Leben aufgrund der schwer behandelbaren<br />

Krankheit als nicht mehr menschenwürdig erachtete,<br />

ersuchte er »Dignitas«, für ihn eine Freitodbegleitung in<br />

die Wege zu leiten. Seiner an mehrere Psychiater gestellten<br />

Bitte, ihm hierfür das Präparat Natrium-Pentobarbital<br />

2 zu verschreiben, wurde jedoch nicht entsprochen.<br />

1 Besser bekannt auch als »manisch-depressive Erkrankung«.<br />

2 Es handelt sich hierbei um ein starkes Schlafmittel, das in<br />

der Veterinärmedizin zum Einschläfern von Tieren verwendet<br />

wird. Es führt ab einer gewissen Dosis (15g) einen raschen und<br />

schmerzlosen Tod durch Einschlafen und Ersticken herbei.<br />

In der Folge wandte sich der Bf. mit dem Ersuchen an<br />

die Behörden, ihm möge erlaubt werden, die genannte<br />

Substanz rezeptfrei zu beziehen. Sowohl das Bundesamt<br />

für Gesundheit als auch die Gesundheitsdirektion des<br />

Kantons Zürich wiesen sein Gesuch mit der Begründung<br />

ab, Natrium-Pentobarbital könne in Apotheken nur<br />

gegen ärztliche Verschreibung bezogen werden. Dagegen<br />

eingebrachte Rechtsmittel blieben erfolglos.<br />

Der Bf. brachte daraufhin zwei Verwaltungsgerichtsbeschwerden<br />

beim Bundesgericht ein, das diese mit<br />

Urteil vom 3.11.2006 abwies. Begründend führte es aus,<br />

zum Selbstbestimmungsrecht iSv. Art. 8 EMRK gehöre<br />

auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung<br />

des eigenen Lebens zu entscheiden, soweit der<br />

Betroffene in der Lage sei, seinen entsprechenden Willen<br />

frei zu bilden und danach zu handeln. Vom Recht<br />

auf den eigenen Tod gelte es den Anspruch auf Beihilfe<br />

zum Suizid seitens des Staates oder Dritter abzugrenzen.<br />

Ein solcher lasse sich weder aus Art. 10 Abs. 2 der<br />

Bundesverfassung noch aus Art. 8 EMRK entnehmen.<br />

Ein Anspruch des Sterbewilligen, dass ihm Beihilfe bei<br />

der Selbsttötung oder aktive Sterbehilfe geleistet werde,<br />

wenn er sich außerstande sehe, seinem Leben selbst ein<br />

Ende zu setzen, bestehe nicht.<br />

Der Fall Pretty/GB sei mit dem vorliegenden nicht vergleichbar:<br />

Die Suizidfreiheit des Bf. bzw. die Straffreiheit<br />

eines allfälligen Helfers sei hier nicht in Frage gestellt.<br />

Umstritten sei vielmehr, ob der Staat darüber hinaus,<br />

gestützt auf Art. 8 EMRK, auch sicherstellen müsse, dass<br />

der Bf. schmerz- und risikolos sterben könne, und deshalb<br />

dafür zu sorgen habe, dass er entgegen den gesetzlichen<br />

Regelungen ohne ärztliche Verschreibung Natrium-Pentobarbital<br />

erhalte. Diese Frage müsse verneint<br />

werden, sei doch nicht ersichtlich, inwiefern – im Hinblick<br />

auf mögliche Alternativen – die Suizidfreiheit bzw.<br />

die Freiheit, über die eigene Lebensqualität entscheiden<br />

zu können, vorliegend dadurch beeinträchtigt werde,<br />

dass der Staat die Abgabe des Präparats nur aufgrund<br />

einer ärztlichen Verschreibung und in Kenntnis des<br />

Gesundheitszustands des Betroffenen zulasse.<br />

Als besonders heikel erweise sich die Frage nach der<br />

Verschreibung und Abgabe von Natrium-Pentobarbital<br />

für einen begleiteten Suizid bei psychisch kranken<br />

Personen. Ob die Voraussetzungen dafür gegeben<br />

seien, lasse sich nur anhand von medizinischen Spezialkenntnissen<br />

beurteilen und erweise sich in der Praxis<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

als schwierig. Eine solche Einschätzung setze deshalb<br />

notwendigerweise das Vorliegen eines vertieften psychiatrischen<br />

Fachgutachtens voraus, was nur sichergestellt<br />

erscheine, wenn an der ärztlichen Verschreibungspflicht<br />

von Natrium-Pentobarbital festgehalten und die<br />

Verantwortung nicht (allein) in die Hände privater Sterbehilfeorganisationen<br />

gelegt werde, deren Aktivitäten<br />

übrigens mehrmals Anlass zu Kritik gegeben hätten.<br />

Im Mai 2007 richtete der Bf. an 170 – fast ausschließlich<br />

in der Umgebung von Basel praktizierende – Psychiiater<br />

ein Schreiben, in dem er seinen Fall schilderte und<br />

anfragte, ob sie für ihn ein psychiatrisches Gutachten<br />

mit dem letztlichen Ziel einer Verschreibung von Natrium-Pentobarbital<br />

ausstellen könnten. Keiner der angeschriebenen<br />

Mediziner antwortete darauf positiv.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. beklagt sich über die Vorgaben, die erfüllt werden<br />

müssten, um Natrium-Pentobarbital zu erhalten.<br />

Er rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht<br />

auf Achtung des Privatlebens) wegen Verletzung seines<br />

Rechts, über den Zeitpunkt und die Art seines Todes zu<br />

entscheiden. In einer außergewöhnlichen Situation wie<br />

der seinigen hätte der Staat den Zugang zu Selbstmord<br />

ermöglichenden Medikamenten garantieren müssen.<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

Haas gg. die Schweiz<br />

Im Fall Pretty/GB erachtete der GH den Wunsch der Bf.,<br />

ein in ihren Augen zutiefst unwürdiges und mühseliges<br />

Leben zu beenden, als in den Anwendungsbereich von<br />

Art. 8 EMRK fallend. Im Lichte dieses Urteils stellt das<br />

Recht einer Person zu entscheiden, wann und in welcher<br />

Form ihr Leben enden sollte – vorausgesetzt, sie ist in<br />

der Lage, darüber eine freie Entscheidung zu treffen und<br />

entsprechend zu handeln – einen Aspekt ihres Rechts<br />

auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK dar.<br />

Der vorliegende Fall unterscheidet sich allerdings<br />

vom Fall Pretty/GB. Wie das Bundesgericht korrekt hervorgehoben<br />

hat, betrifft die gegenständliche Angelegenheit<br />

nämlich nicht die Freiheit zu sterben und die eventuelle<br />

Straflosigkeit der beim Selbstmord assistierenden<br />

Person. Gegenstand der Kontroverse ist, ob Art. 8 EMRK<br />

dem Staat eine Verpflichtung auferlegt, dafür Sorge zu<br />

tragen, dass der Bf. entgegen der einschlägigen Gesetzeslage<br />

Natrium-Pentobarbital ohne ärztliche Verschreibung<br />

bekommt, um schmerz- und risikolos sterben zu<br />

können. Anders gesagt besteht der Unterschied zu Pretty/GB<br />

darin, dass der Bf. nicht nur behauptet, sein Leben<br />

wäre schwierig und schmerzerfüllt, sondern auch, dass<br />

eine Selbsttötung sich ohne Rückgriff auf Natrium-Pentobarbital<br />

als würdelos erweisen würde. Ferner kann der<br />

Bf. auch nicht als eine behinderte Person eingestuft werden,<br />

die sich im Endstadium einer unheilbaren degenerativen<br />

Krankheit befindet, die sie daran hindert, ihrem<br />

Leben selbst ein Ende zu bereiten.<br />

Der GH wird das Begehren des Bf. aus dem Blickwinkel<br />

einer positiven Verpflichtung der Staaten prüfen, die<br />

notwendigen Vorkehrungen für einen Selbstmord in<br />

Würde zu treffen. Im Zusammenhang mit der Prüfung<br />

einer möglichen Verletzung von Art. 8 EMRK ist jedoch<br />

auch Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) miteinzubeziehen,<br />

demzufolge es Aufgabe der Behörden ist, verwundbare<br />

Personen auch vor Handlungen zu schützen, mit denen<br />

sie ihr eigenes Leben gefährden. Die Behörden sind folglich<br />

verpflichtet, die Selbsttötung eines Individuums zu<br />

verhindern, falls seine diesbezügliche Entscheidung<br />

weder frei noch in voller Kenntnis der Umstände erfolgt<br />

ist.<br />

Die Recherchen des GH haben ergeben, dass bei den<br />

Mitgliedstaaten bezüglich des Rechts eines Individuums<br />

auf Treffen einer Wahl, wann und wie es sein Leben<br />

beenden will, kein gemeinsamer Konsens besteht. In<br />

der Schweiz ist laut Art. 115 StGB Anstiftung und Beihilfe<br />

zum Selbstmord nur strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen<br />

Beweggründen vorgenommen wurden. In den<br />

Benelux-Ländern wurde Beihilfe zum Selbstmord »entkriminalisiert«,<br />

dies allerdings unter präzisen gesetzlichen<br />

Vorgaben. Andere Staaten gestatten nur »passive«<br />

Hilfeleistung zur Selbsttötung. Die große Mehrheit<br />

der Konventionsstaaten scheint aber dem Schutz des<br />

Lebens einer Person mehr Gewicht als deren Recht einzuräumen,<br />

es freiwillig zu beenden. In diesem Bereich<br />

ist der staatliche Ermessensspielraum daher als erheblich<br />

einzustufen.<br />

Betreffend die auf dem Spiel stehenden Interessen<br />

anerkennt der GH den Wunsch des Bf., seinem Leben<br />

auf sichere, würdige und schmerzfreie Weise ein Ende<br />

zu bereiten, sind doch Selbstmordversuche im steten<br />

Steigen begriffen und haben diese oft gravierende Auswirkungen<br />

auf Opfer und nächste Angehörige.<br />

Er ist dennoch der Ansicht, dass das gesetzlich vorgeschriebene<br />

Erfordernis einer ärztlichen Verschreibung<br />

einem legitimen Ziel dient, nämlich selbsttötungswillige<br />

Personen vor übereilten Entscheidungen zu bewahren<br />

und allfälligem Missbrauch vorzubeugen, namentlich<br />

um zu verhindern, dass nicht einsichtsfähige<br />

Personen eine tödliche Dosis von Natrium-Pentobarbital<br />

bekommen. Dies muss umso mehr für ein Land wie<br />

die Schweiz gelten, in der Gesetzgebung und Praxis relativ<br />

leicht Beihilfe zum Selbstmord gestatten. Sofern ein<br />

Staat auf diesem Gebiet einen liberalen Ansatz verfolgt,<br />

müssen auch geeignete Maßnahmen zu deren Umsetzung<br />

und adäquate Vorkehrungen gegen Missbrauch<br />

bestehen.<br />

Wie die Regierung ist auch der GH der Ansicht, dass<br />

ein eingeschränkter Zugang zu Natrium-Pentobarbital<br />

dem Schutz der Gesundheit, der öffentlichen Sicher-<br />

21<br />

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22<br />

Haas gg. die Schweiz<br />

heit und der Verhinderung von Straftaten dient. Er teilt<br />

die Auffassung des Bundesgerichts, wonach das von<br />

Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben die Staaten verpflichtet,<br />

ein Kontrollverfahren vorzuschreiben, welches<br />

gewährleistet, dass die Entscheidung tatsächlich dem<br />

freien und wohlerwogenen Willen des Suizidwilligen<br />

entspricht. Das Erfordernis einer – auf Grundlage eines<br />

umfassenden psychiatrischen Gutachtens fußenden –<br />

ärztlichen Verschreibung stellt insofern ein zulässiges<br />

Mittel dar, um dem Rechnung zu tragen. Diese Lösung<br />

entspricht auch dem Geist des UN-Übereinkommens vom<br />

21.2.1971 über psychotrope Stoffe und ähnlichen, von einzelnen<br />

Konventionsstaaten implementierten Vertragswerken<br />

des Europarats.<br />

Im vorliegenden Fall divergieren die Ansichten der<br />

Parteien hinsichtlich des effektiven Zugangs zu einer<br />

für den Bf. positiven medizinischen Expertise (die ihm<br />

den Zugang zu Natrium-Pentobarbital verschafft hätte)<br />

erheblich. Der GH will nicht ausschließen, dass die Psychiater<br />

sich deswegen zurückhaltend verhalten haben,<br />

weil sie sich mit einem Ersuchen auf Verschreibung<br />

einer tödlich wirkenden Substanz konfrontiert sehen.<br />

Mit Rücksicht auf die delikate Frage der Urteilsfähigkeit<br />

des Bf. ist auch die durchaus reale Gefahr einer Strafverfolgung<br />

zu berücksichtigen, falls sich ein Mediziner<br />

dazu bereit erklärt, ein Gutachten zwecks Erleichterung<br />

des Selbstmords zu verfassen.<br />

Der GH schließt sich den Ausführungen der Regierung<br />

an, wonach die vom Bf. unternommenen Anstrengungen<br />

im Hinblick auf die Kontaktaufnahme mit<br />

einem Psychiater gewisse Fragen aufwerfen. Zum einen<br />

hat der Bf. die 170 Briefe erst nach Ergang des Urteils<br />

des Bundesgerichts weggeschickt. Sie können daher<br />

nicht von vornherein für die Bewertung des vorliegenden<br />

Falls herangezogen werden. Abgesehen davon<br />

scheinen die Schreiben ihrem Inhalt nach nicht unbedingt<br />

einen ermutigenden Einfluss auf die Psychiater<br />

gehabt zu haben, darauf positiv zu antworten. So stellte<br />

der Bf. etwa klar, grundsätzlich jegliche Therapie<br />

abzulehnen und sich einer eingehenden Prüfung, ob es<br />

nicht mögliche Alternativen gegenüber einer Selbsttötung<br />

gäbe, zu verweigen. Angesichts der vorliegenden<br />

Informationen ist der GH nicht überzeugt, dass es dem<br />

Bf. unmöglich gewesen wäre, einen Spezialisten zu finden,<br />

der ihm bei der Selbsttötung behilflich gewesen<br />

wäre. Er glaubt daher nicht, dass dessen Recht, Zeit und<br />

Art seines Todes zu wählen, theoretisch bzw. illusorisch<br />

war.<br />

Mit Rücksicht auf das vorhin Gesagte und den staatlichen<br />

Ermessensspielraum ist – auch gesetzt den Fall,<br />

die Staaten träfe eine positive Verpflichtung, Vorkehrungen<br />

für die Erleichterung eines »Selbstmords in<br />

Würde« zu treffen – keine Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

durch die schweizerischen Behörden festzustellen (einstimmig).<br />

Menschenwürde<br />

und Art 3 EMRK<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Grundrechtsverletzungen<br />

in Form von Polizeigewalt<br />

und Haft<br />

ca. 230 Seiten<br />

150 × 230 mm<br />

broschiert<br />

ca. € 44,90<br />

ISBN 978-3-902638-20-5<br />

ERSCHEINT APRIL 2011<br />

Robert Krammer, langjähriges Mitglied einer Kommission<br />

des Menschenrechtsbeirats, legt eine an den<br />

Bedürfnissen der Praxis orientierte Untersuchung vor,<br />

in deren Focus jene Handlungsweisen von Polizei- und<br />

Vollzugsbehörden stehen, die zu Eingriffen bzw Verletzungen<br />

von Grundrechten führen können. Eine zentrale<br />

Rolle spielt dabei die Schutznorm des Artikel 3 EMRK<br />

und die mit dieser Bestimmung untrennbare Würde<br />

eines jeden Einzelnen.<br />

Einleitend wird auf der Grundlage der ideengeschichtlichen<br />

Entwicklung und den in unterschiedlichsten<br />

Verfassungen verankerten Definitionen der Begriff der<br />

Menschenwürde ausgearbeitet.<br />

Darauf aufbauend findet der Leser eine umfassende<br />

Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art 3 EMRK.<br />

Im Zentrum des Buches steht sodann die Analyse der<br />

Judikatur der österreichischen Höchstgerichte und des<br />

EGMR, die in einer systematischen und praxisnahen<br />

Typologie von Grundrechtsverletzungen im Zusammenhang<br />

mit Polizeigewahrsam und Haft zusammengefasst<br />

wird. Einzelne Zwangsakte, wie das Versetzen von Stößen,<br />

Fesselungen oder Leibesvisitationen, werden ebenso<br />

behandelt wie bestimmte Vernehmungstechniken,<br />

Haftbedingungen oder prozedurale Verletzungen, zu<br />

denen etwa auch eine unzureichende Untersuchung zu<br />

zählen ist.<br />

Für die Praxis von besonderem Nutzen ist die Verknüpfung<br />

der verschiedenen Formen der Rechtsverletzung<br />

mit den jeweils relevanten Leitentscheidungen und mit<br />

der weiterführenden Literatur.<br />

Typologie der Grundrechtsverletzungen<br />

• Polizeiliche Zwangsakte<br />

• Vernehmungstechniken<br />

• Medizinische Zwangsbehandlung<br />

• Prozedurale Verletzungen<br />

• Haftbedingungen<br />

Rechtsprechungsübersicht<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

23<br />

Jagdausübungsrechte auf fremden Grundstücken<br />

Herrmann gg. Deutschland, Urteil vom 20.1.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 9.300/07<br />

Leitsatz<br />

Die obligatorische Mitgliedschaft von Eigentümern<br />

kleiner Grundstücke in Jagdgenossenschaften und die<br />

damit verbundene Verpflichtung, die Jagd auf ihren<br />

Grundstücken selbst auszuüben oder zu dulden, stellt<br />

keine Konventionsverletzung dar, wenn dies bundesweit<br />

sowohl für private als auch öffentliche Eigentümer<br />

gilt, Dritte keinen Gewinn daraus ziehen können, Ersatz<br />

bei Schäden zusteht und Eigentümer großer Grundstücke,<br />

die keiner Jagdgenossenschaft angehören, die Jagd<br />

ebenfalls ausüben oder dulden müssen.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 9, 11, 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Le Compte, Van Leuven und De Meyere/B v. 23.6.1981<br />

= EuGRZ 1981, 551<br />

▸ Chassagnou u.a./F v. 29.4.1999 (GK)<br />

= NL 1999, 94 = ÖJZ 2000, 113<br />

▸ Haas/NL v. 13.1.2004<br />

▸ Schneider/L v. 10.7.2007<br />

Schlagworte<br />

Diskriminierungsverbot; Eigentum, Recht auf<br />

Achtung des; Gewissensfreiheit; Jagdausübung;<br />

Pflichtmitgliedschaft; Vereinigungsfreiheit<br />

Sachverhalt<br />

Sofia Iliaki<br />

Der Bf., ein deutscher Staatsbürger, besitzt zwei Grundstücke<br />

in Rheinland-Pfalz, die jeweils kleiner als 75 Hektar<br />

sind. Nach dem deutschen Bundesjagdgesetz sind<br />

Eigentümer von Grundstücken, die kleiner als 75 Hektar<br />

sind, de jure Mitglieder einer Jagdgenossenschaft,<br />

während Eigentümer größerer Grundstücke ihr Revier<br />

selbst verwalten dürfen. Somit ist der Bf. automatisch<br />

Mitglied einer Jagdgenossenschaft, im vorliegenden Fall<br />

der Gemeinde Langsur.<br />

Am 14.2.2003 reichte der Bf., der die Jagd aus ethischen<br />

Gründen ablehnt, einen Antrag bei der Jagdbehörde<br />

ein, um die Zugehörigkeit zur Jagdgenossenschaft<br />

zu beenden. Die Behörde lehnte seinen Antrag<br />

ab. Der Bf. erhob Klage beim Verwaltungsgericht Trier.<br />

Unter Berufung insbesondere auf das Urteil des EGMR<br />

im Fall Chassagnou u.a./F (GK) forderte er das Gericht auf<br />

festzustellen, dass er kein Mitglied der Jagdgenossenschaft<br />

der Gemeinde Langsur sei.<br />

Am 14.1.2004 wies das Verwaltungsgericht Trier den<br />

Antrag des Bf. ab. Nach seiner Auffassung verletze das<br />

Bundesjagdgesetz die Rechte des Bf. nicht. Im Hinblick<br />

auf das Chassagnou-Urteil war das Verwaltungsgericht<br />

der Ansicht, dass sich die Situation in Deutschland von<br />

der in Frankreich unterscheide.<br />

Am 13.7.2004 und 14.4.2005 wiesen das Oberverwaltungsgericht<br />

Rheinland-Pfalz und das Bundesverwaltungsgericht<br />

die Beschwerde des Bf. aus den gleichen<br />

Gründen wie das Verwaltungsgericht zurück.<br />

Am 13.12.2006 lehnte es das Bundesverfassungsgericht<br />

ab, die Verfassungsbeschwerde des Bf. zur Entscheidung<br />

zuzulassen. Es stellte zu Beginn fest, dass die<br />

Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes das Recht des<br />

Bf. auf friedlichen Genuss seines Eigentums nicht verletzen,<br />

sondern die Ausübung dieses Rechts in angemessener<br />

Weise definieren und beschränken würden.<br />

Die maßgeblichen Bestimmungen, die ein legitimes Ziel<br />

verfolgten, seien notwendig und würden nicht zu einer<br />

übermäßigen Belastung der Grundstückeigentümer<br />

führen. Sie würden die im Allgemeininteresse gelegenen<br />

Ziele verfolgen, einen gesunden und vielfältigen Wildbestand<br />

zu sichern, Wildschäden zu vermeiden und die<br />

Beeinträchtigung einer ordnungsgemäßen land-, forstund<br />

fischereiwirtschaftlichen Nutzung zu unterbinden.<br />

Die Auswirkungen auf die Eigentumsrechte seien nicht<br />

besonders erheblich und würden das Allgemeininteresse<br />

nicht überwiegen. Das Verfassungsgericht stellte weiters<br />

fest, dass die Beschwerde des Bf. zwar in den Bereich<br />

der Gewissensfreiheit falle, aber keine Verletzung dieses<br />

Rechts vorliege, da der Bf. nicht gezwungen worden sei,<br />

die Jagd selbst auszuüben, an der Jagd teilzunehmen<br />

oder sie zu unterstützen.<br />

Bezüglich seines Rechts auf Gleichbehandlung wurde<br />

ebenfalls keine Verletzung festgestellt mit der Begründung,<br />

dass das Bundesjagdgesetz für alle Grundstückseigentümer<br />

in Deutschland bundesweit bindend sei und<br />

Grundstückseigentümer mit Ländereien größer als 75<br />

Hektar die gleichen Verpflichtungen im Jagdwesen wie<br />

jene hätten, die einer Jagdgenossenschaft angehören.<br />

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24<br />

Herrmann gg. Deutschland<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht<br />

auf Achtung des Eigentums) alleine und in Verbindung<br />

mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), von Art. 11<br />

EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) alleine<br />

und in Verbindung mit Art. 14 EMRK sowie von Art. 9<br />

EMRK (hier: Recht auf Gewissensfreiheit).<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Der Bf. behauptet, die Zulassung der Jagdausübung auf<br />

seinem Grund und die obligatorische Mitgliedschaft in<br />

einer Jagdgenossenschaft würden eine Verletzung seines<br />

Rechts auf friedlichen Genuss seines Eigentums<br />

darstellen.<br />

1. Zur Zulässigkeit<br />

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />

noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist demnach<br />

für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />

2. In der Sache<br />

Es ist unstrittig, dass die Verpflichtung des Bf., die<br />

Jagdausübung auf seinem Grundstück zu erlauben, in<br />

sein Recht auf Achtung des Eigentums eingreift. Der GH<br />

erkennt jedoch, dass die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes<br />

die Verwaltung und die Aufrechterhaltung<br />

eines vielfältigen und gesunden Wildbestands zum Ziel<br />

haben und sie außerdem auf die Vermeidung von Schäden<br />

– verursacht durch Wildtiere – gerichtet sind. Diese<br />

Ziele liegen im Interesse der Allgemeinheit.<br />

Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs<br />

nimmt der GH zur Kenntnis, dass das entsprechende<br />

Gesetz die Erhaltung einer gesunden Fauna im Einklang<br />

mit den ökologischen und ökonomischen Gegebenheiten<br />

bezweckt. Auch wenn es der Wahrheit zu entsprechen<br />

scheint, dass die Jagd in erster Linie von Privatpersonen<br />

in ihrer Freizeit ausgeübt wird, darf der Zweck des<br />

Bundesjagdgesetzes nicht dahingehend eingeschränkt<br />

werden, lediglich bestimmten Personen zu ermöglichen,<br />

eine Freizeitbeschäftigung auszuüben.<br />

Das Gericht nimmt das Argument der deutschen<br />

Regierung zur Kenntnis, dass es aufgrund der Situation<br />

in Deutschland als eines der dichtest besiedelten Gebiete<br />

in Mitteleuropa notwendig ist, eine ziemlich verbreitete<br />

Jagdausübung auf allen geeigneten Grundstücken<br />

zuzulassen. Das Bundesjagdgesetz ist in Deutschland<br />

bundesweit anwendbar, was sich von der Situation<br />

im Fall Chassagnou/F unterscheidet, wo nur 29 der 93<br />

Departements von der Regelung bezüglich der obligatorischen<br />

Mitgliedschaft in Jagdverbänden betroffen<br />

waren. Die deutsche Rechtsordnung hat im Übrigen<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

weder private noch öffentliche Eigentümer von der Verpflichtung<br />

befreit, die Jagdausübung auf ihren Grundstücken<br />

zu dulden.<br />

In dieser Hinsicht ist die Lage von jener im Fall<br />

Schneider/L zu unterscheiden, in dem das Eigentum der<br />

Krone aus der Mitgliedschaft an Jagdgenossenschaften<br />

ausgeschlossen wurde. Auch wenn Grundstücke von<br />

mindestens 75 Hektar nicht zusammengefasst werden,<br />

befreit dies die Eigentümer dieser Grundstücke nicht<br />

davon, die Jagd selbst auszuüben oder sie auf ihrem<br />

Gelände zu tolerieren.<br />

Die im Bundesjagdgesetz vorgesehenen Ausnahmen<br />

von der flächendeckenden Jagdausübung sind durch<br />

allgemeine und jagdspezifische Interessen ausreichend<br />

begründet und stellen das Prinzip der flächendeckenden<br />

Jagdausübung nicht in Frage.<br />

Der GH stellt weiters fest, dass laut Bundesjagdgesetz<br />

der Bf. Anspruch auf einen Anteil des Gewinns aus dem<br />

Pachtverhältnis 1 analog zur Größe seines Landbesitzes<br />

hat. Obwohl der Geldbetrag, den der Bf. in Anspruch<br />

nehmen könnte, nicht bedeutend erscheint, verhindern<br />

die einschlägigen Bestimmungen trotzdem, dass andere<br />

Personen einen finanziellen Gewinn aus der Verwendung<br />

seines Grundstückes ziehen können. Er hat ferner<br />

Anspruch auf Schadenersatz für Schäden, die durch die<br />

Jagdausübung auf seinem Grundstück verursacht werden<br />

könnten.<br />

Gestützt auf den weiten Ermessensspielraum, der den<br />

Vertragsstaaten in diesem Bereich gewährt wird, sind<br />

die Erwägungen ausreichend, um festzustellen, dass die<br />

Regierung einen fairen Ausgleich zwischen den konkurrierenden<br />

Interessen geschaffen hat.<br />

Aus diesen Gründen befindet der GH, dass keine Verletzung<br />

von Art. 1 1. Prot. EMRK vorliegt (4:3 Stimmen;<br />

gemeinsames Sondervotum von Richter Lorenzen und den<br />

Richterinnen Berro-Lefèvre und Kalaydjieva).<br />

II.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot.<br />

EMRK iVm. Art. 14 EMRK<br />

Der Bf. macht geltend, dass die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes<br />

ihn in zweierlei Hinsicht diskriminieren,<br />

nämlich erstens in Bezug auf sein Eigentum und<br />

zweitens bezüglich seiner ethischen Überzeugungen. Er<br />

beruft sich auf Art. 1 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK.<br />

1. Zur Zulässigkeit<br />

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />

noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist demnach<br />

für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />

1 Laut § 10 Abs. 1 Bundesjagdgesetz nutzt die Jagdgenossenschaft<br />

die Jagd in der Regel durch Verpachtung. Sie kann die<br />

Verpachtung auf den Kreis der Jagdgenossen beschränken.<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

2. In der Sache<br />

Es besteht zwar eine Ungleichbehandlung zwischen den<br />

Eigentümern kleiner Grundstücke und denen von größeren,<br />

indem die letzteren sich frei entscheiden können,<br />

in welcher Weise sie ihre Verpflichtung aus dem Jagdrecht<br />

erfüllen. Allerdings stimmt der GH der deutschen<br />

Regierung zu, dass diese unterschiedliche Behandlung<br />

speziell durch die Notwendigkeit gerechtfertigt war, kleinere<br />

Grundstücke zu vereinigen, um eine breite Jagdausübung<br />

zu ermöglichen und somit eine effiziente Verwaltung<br />

des Wildbestandes zu gewährleisten. Hinsichtlich<br />

der Tatsache, dass der Bf. anders behandelt wurde als<br />

Eigentümer von Grundstücken, die nicht einem Jagdgebiet<br />

angehören, ist der GH der Auffassung, dass deren<br />

Befreiung von der allgemeinen Regelung der Mitgliedschaft<br />

in Jagdgenossenschaften aufgrund der spezifischen<br />

Gegebenheiten der jeweiligen Grundstücke erfolgte,<br />

was die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt.<br />

Demnach ist keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1<br />

1. Prot. EMRK festzustellen (4:3 Stimmen; gemeinsames<br />

Sondervotum von Richter Lorenzen und den Richterinnen<br />

Berro-Lefèvre und Kalaydjieva).<br />

Herrmann gg. Deutschland<br />

ihrer Protokolle ergänzt. Er hat keine unabhängige Existenz,<br />

da er nur in Zusammenhang mit der Ausübung der<br />

Rechte und Freiheiten, die durch diese Bestimmungen<br />

geschützt sind, wirkt.<br />

Der GH hat bereits befunden, dass Art. 11 EMRK im<br />

vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Es wird festgestellt,<br />

dass Art. 14 EMRK nicht geltend gemacht werden<br />

kann und somit ist die Beschwerde wegen Unzulässigkeit<br />

ratione materiae zurückzuweisen (mehrheitlich).<br />

V. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK<br />

Die Beschwerde ist zwar zulässig (einstimmig), der GH<br />

hält es jedoch nicht für notwendig zu prüfen, ob die<br />

Beschwerde des Bf. unter den Anwendungsbereich von<br />

Art. 9 EMRK fällt.<br />

Es liegt daher keine Verletzung von Art. 9 EMRK vor<br />

(6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Kalaydyieva).<br />

•<br />

25<br />

III.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK<br />

Der Bf. rügt, die obligatorische Mitgliedschaft in einer<br />

Jagdgenossenschaft verletze sein Recht auf Versammlungs-<br />

und Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK.<br />

Der GH stellt fest, dass die Jagdgenossenschaften im<br />

Land Rheinland-Pfalz in Form von öffentlich-rechtlichen<br />

Vereinigungen gegründet wurden. Sie unterstehen<br />

der Kontrolle der Jagdbehörden und ihre internen Satzungen<br />

benötigen die Zustimmung dieser Behörden.<br />

Jagdgenossenschaften dürfen weiterhin Kostenaufträge<br />

über Verwaltungsakte erlassen, die vom Finanzministerium<br />

zu vollstrecken sind. Sie sind somit staatlicher Aufsicht<br />

unterworfen, welche die übliche Beaufsichtigung<br />

von privaten Vereinigungen deutlich überschreitet. Der<br />

GH hält sie daher für ausreichend integriert in die staatlichen<br />

Strukturen, um sie somit als öffentlich-rechtliche<br />

Institutionen zu qualifizieren. Daraus folgt, dass sie<br />

nicht als »Vereinigungen« iSv. Art. 11 EMRK zu klassifizieren<br />

sind. Art. 11 EMRK ist folglich nicht anwendbar.<br />

Demnach ist die Beschwerde für unzulässig zu erklären<br />

(mehrheitlich; Sondervotum von Richterin Kalaydyieva).<br />

IV.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 iVm.<br />

Art. 14 EMRK<br />

Der Bf. rügt weiters eine Diskriminierung bezüglich der<br />

obligatorischen Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft.<br />

Der GH wiederholt, dass Art. 14 EMRK die anderen<br />

materiellrechtlichen Bestimmungen der EMRK und<br />

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26<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Überstellung nach Dublin-VO verstößt gegen Art. 3 EMRK<br />

M. S. S. gg. Belgien und Griechenland, Urteil vom 21.1.2011, Große Kammer, Bsw. Nr. 30.696/09<br />

Leitsatz<br />

Asylwerber sind eine verletzliche Gesellschaftsgruppe<br />

mit besonderem Schutzbedürfnis.<br />

Besteht eine positivrechtliche Verpflichtung, Asylwerbern<br />

Unterkunft und anständige materielle Bedingungen<br />

zu gewähren, so ist Art. 3 EMRK verletzt, wenn ein<br />

Asylwerber in extremer Armut und Unsicherheit lebt und<br />

die Behörden – ohne Berücksichtigung seiner Verletzlichkeit<br />

– nicht von sich aus tätig werden, um seine Situation<br />

zu verbessern.<br />

EU-Staaten dürfen einen Asylwerber im Rahmen des<br />

Dublin-Verfahrens nicht an einen anderen EU-Staat<br />

überstellen, wenn sie wissen oder wissen müssten, dass<br />

dort keine Garantie für eine ernsthafte, konventionskonforme<br />

Untersuchung des Asylantrags besteht. Es liegt<br />

kein der EMRK gleichwertiger Grundrechtsschutz vor.<br />

Dasselbe gilt, wenn der Betroffene durch die Überstellung<br />

wissentlich Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt<br />

wird, die eine Art. 3 EMRK widersprechende<br />

Behandlung darstellen.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 2, 3, 13, 46 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ T. I./GB v. 7.3.2000<br />

▸ Kudła/PL v. 26.10.2000 (GK)<br />

= NL 2000, 219 = EuGRZ 2004, 484 = ÖJZ 2001, 908<br />

▸ Chapman/GB v. 18.1.2001 (GK)<br />

= NL 2001, 23<br />

▸ Müslim/TR v. 26.4.2005<br />

▸ Bosphorus Airways/IRL v. 30.6.2005 (GK)<br />

= NL 2005, 172 = EuGRZ 2007, 662<br />

▸ Saadi/I v. 28.2.2008 (GK)<br />

= NL 2008, 36<br />

▸ K. R. S./GB v. 2.12.2008<br />

▸ S. D./GR v. 11.6.2009<br />

= NL 2009, 162<br />

▸ A. A./GR v. 22.7.2010<br />

Schlagworte<br />

Abschiebung; Asyl; Ausweisung; Behandlung, unmenschliche<br />

oder erniedrigende; Beschwerde, wirksame; Dublin-Verfahren;<br />

Grundrechtsschutz, gleichwertiger; Haftbedingungen;<br />

Lebensbedingungen; Refoulement<br />

Sarah Baier<br />

Sachverhalt<br />

2008 verließ der Bf. Kabul und reiste über Griechenland<br />

in die EU ein. Am 10.2.2009 stellte er in Belgien einen<br />

Asylantrag. Ein Eurodac-Treffer ergab, dass er bereits in<br />

Griechenland registriert worden war, woraufhin das Ausländeramt<br />

die griechischen Behörden auf Grundlage von<br />

Art. 10 Abs. 1 der Dublin-II-VO 1 ersuchte, den Asylantrag<br />

zu übernehmen. Nachdem innerhalb der Zweimonatsfrist<br />

keine Antwort erfolgt war, ging das Ausländeramt<br />

von der stillschweigenden Stattgebung des Gesuchs aus<br />

und erteilte dem Bf. am 19.5.2009 die Anordnung, Belgien<br />

zu verlassen, da Griechenland nach der Dublin-II-VO<br />

für die Prüfung seines Asylantrags zuständig sei.<br />

Am 27.5.2009 legte das Ausländeramt die Ausreise<br />

des Bf. für den 29.5. fest. Am selben Tag brachte dessen<br />

Anwalt per Fax beim Rat für Ausländerstreitsachen<br />

Berufung sowie einen Eilantrag auf Aussetzung der Ausreiseanordnung<br />

ein, da in Griechenland die Gefahr willkürlicher<br />

Haft unter widrigen Bedingungen bestehe,<br />

das dortige Asylverfahren Mängel aufweise und der Bf.<br />

fürchte, ohne Untersuchung seiner Fluchtgründe nach<br />

Afghanistan abgeschoben zu werden. Der Eilantrag<br />

wurde zurückgewiesen, da der Anwalt nicht an der eine<br />

Stunde später stattfindenden Verhandlung teilnahm.<br />

Am 29.5.2009 verweigerte der Bf. die Ausreise.<br />

Am 4.6.2009 übersandte Griechenland ein Standarddokument,<br />

in dem es seine Zuständigkeit nach der Dublin-II-VO<br />

bestätigte. Die Überstellung des Bf. wurde<br />

danach für den 15.6.2009 angeordnet. Ein neuerlicher<br />

Antrag des Bf. auf Aufhebung der Ausreiseanordnung<br />

wurde ebenso zurückgewiesen wie der frühere. Ein<br />

Rechtsmittel an den Conseil d’ Etat unterblieb.<br />

In der Zwischenzeit wandte sich der Bf. an den EGMR,<br />

um die Aussetzung seiner Überstellung nach Griechenland<br />

zu erwirken. Zusätzlich zu den Gefahren, die er in<br />

Griechenland befürchtete, gab er an, aus Afghanistan<br />

geflohen zu sein, nachdem er einem Mordversuch – eine<br />

Vergeltungsmaßnahme der Taliban wegen seiner Tätigkeit<br />

als Dolmetscher für die Truppen der internationalen<br />

Luftwaffe in Kabul – entgangen sei. Der EGMR lehnte<br />

es ab, Art. 39 der VerfO EGMR anzuwenden.<br />

1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003<br />

zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung<br />

des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen<br />

in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags<br />

zuständig ist, Abl. L 50, S. 1.<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

Am 15.6.2009 wurde der Bf. nach Griechenland überstellt.<br />

In einem SMS an seinen Anwalt teilte er mit, dass<br />

man ihn sofort nach seiner Ankunft in einem Gebäude<br />

neben dem Flughafen in Haft genommen habe, wo er<br />

zusammen mit 20 weiteren Personen in einem kleinen<br />

Raum untergebracht gewesen sei, Zugang zu den Toiletten<br />

nur mit Erlaubnis der Wachen, keinen Zugang zu frischer<br />

Luft und nur sehr wenig zu essen erhalten habe<br />

und entweder auf schmutzigen Matratzen oder auf dem<br />

Boden schlafen habe müssen.<br />

Am 18.6.2009 wurde er freigelassen und ihm eine Asylwerberkarte<br />

(pink card) ausgehändigt. Er erhielt zudem<br />

ein Schreiben mit der Aufforderung, sich beim Ausländerdirektorat<br />

zu melden, um seine Wohnadresse anzugeben,<br />

was er jedoch mangels Adresse nicht tat. Er lebte<br />

danach ohne Unterhaltsmittel in einem Park in Athen.<br />

Am 22.6.2009 forderte der EGMR die griechische<br />

Regierung auf, Informationen zur Situation des Bf. zu<br />

übermitteln. Mangels einer Reaktion und aufgrund<br />

der steigenden Unsicherheit in Afghanistan hielt er die<br />

Regierung gemäß Art. 39 VerfO EGMR an, den Bf. bis zur<br />

Entscheidung seines Falles nicht abzuschieben.<br />

Am 1.8.2009 wurde der Bf. festgenommen, als er versuchte,<br />

Griechenland mit gefälschten Papieren zu verlassen,<br />

und wurde im selben Gebäude wie nach seiner<br />

Ankunft inhaftiert. Per SMS informierte er seinen<br />

Anwalt, dass er von Polizeibeamten geschlagen worden<br />

sei. Am 4.8.2009 wurde seine Freilassung angeordnet.<br />

Bei der Verlängerung der pink card im Dezember 2009<br />

vermerkte die Polizei, dass der Bf. sie darüber informiert<br />

habe, über keine Unterkunft zu verfügen. Im Jänner<br />

2010 fand das Ministerium für Gesundheit und soziale<br />

Sicherheit eine Unterkunft für den Bf., mangels Kenntnis<br />

seiner Adresse sei es jedoch nicht möglich gewesen,<br />

ihn darüber zu informieren.<br />

Im Juni 2010 erhielt der Bf. eine Nachricht auf Griechisch,<br />

die er in Anwesenheit eines Dolmetschers unterzeichnete<br />

und mit der er zu einer Befragung im Polizeihauptquartier<br />

von Attica am 2.7.2010 aufgefordert<br />

wurde. Der Bf. nahm die Befragung nicht wahr, da er, wie<br />

er angibt, vom Dolmetscher nicht über den Befragungstermin<br />

informiert worden sei.<br />

Im September 2010 wollte der Bf. Griechenland verlassen,<br />

wurde jedoch gestoppt und an die türkische<br />

Grenze gebracht, wo laut seinen Angaben eine Abschiebung<br />

nur durch die Anwesenheit der türkischen Polizei<br />

verhindert wurde.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier:<br />

Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung)<br />

und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame<br />

Beschwerde bei einer nationalen Instanz) in Verbindung<br />

M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />

mit Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) bzw. Art. 3 EMRK in<br />

Bezug sowohl auf Griechenland als auch auf Belgien. In<br />

seiner Überstellung nach Griechenland durch Belgien<br />

sieht er außerdem eine Verletzung von Art. 2 EMRK.<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK durch<br />

Griechenland – Haftbedingungen<br />

Nach Ansicht des Bf. stellten die Haftbedingungen,<br />

denen er am Flughafen von Athen unterworfen war, eine<br />

unmenschliche und erniedrigende Behandlung iSv.<br />

Art. 3 EMRK dar.<br />

Dieser Beschwerdepunkt wirft komplexe Rechtsund<br />

Tatsachenfragen auf, die eine Untersuchung in der<br />

Sache erfordern. Er ist weder offensichtlich unbegründet<br />

noch aus einem anderen Grund unzulässig und<br />

muss folglich für zulässig erklärt werden (einstimmig).<br />

Jene Staaten, die die Außengrenzen der EU bilden,<br />

haben aufgrund der steigenden Anzahl von Migranten<br />

und Asylwerbern mit erheblichen Schwierigkeiten zu<br />

kämpfen. Durch die Überstellung von Asylwerbern unter<br />

Anwendung der Dublin-II-VO wird diese Situation noch<br />

verschärft. Der GH ist sich der Probleme, die sich bei der<br />

Aufnahme an internationalen Flughäfen ergeben, sowie<br />

der unverhältnismäßigen Zahl von Asylwerbern, verglichen<br />

mit den Aufnahmekapazitäten der betroffenen<br />

Staaten, durchaus bewusst. In Anbetracht des absoluten<br />

Charakters von Art. 3 EMRK entbinden diese Feststellungen<br />

einen Staat jedoch nicht von seinen aus der genannten<br />

Bestimmung erwachsenden Verpflichtungen.<br />

Es ist festzuhalten, dass der Bf. nicht das Profil eines<br />

illegalen Immigranten hatte, sondern die griechischen<br />

Behörden von seiner Identität und der Tatsache, dass<br />

er ein potentieller Asylwerber war, wussten, ihn jedoch<br />

trotzdem sofort und ohne Erklärung in Haft nahmen.<br />

Diversen Berichten internationaler Institutionen und<br />

NGOs zufolge ist die systematische Inhaftierung von<br />

Asylsuchenden, ohne diese über die Gründe aufzuklären,<br />

in Griechenland weitverbreitete Praxis.<br />

Die Behauptungen des Bf., er habe während seiner<br />

zweiten Haft Gewalt und Beleidigungen von Polizeibeamten<br />

erdulden müssen, decken sich mit zahlreichen,<br />

von internationalen Organisationen gesammelten Zeugenaussagen.<br />

Auch seine Behauptungen hinsichtlich<br />

der Lebensbedingungen im Anhaltezentrum werden<br />

durch entsprechende Feststellungen etwa des CPT und<br />

des UNHCR untermauert. Der GH hat bereits festgestellt,<br />

dass solche Bedingungen, die auch in anderen griechischen<br />

Anhaltezentren zu finden sind, eine erniedrigende<br />

Behandlung iSv. Art. 3 EMRK darstellen. Es gibt keinen<br />

Grund, von diesem Ergebnis deshalb abzuweichen,<br />

weil der Bf. nur kurze Zeit in Haft war. Im Gegenteil hält<br />

der GH die Haftbedingungen, denen der Bf. unterworfen<br />

war, in Anbetracht der verfügbaren Informationen für<br />

inakzeptabel.<br />

27<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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28<br />

M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />

Das Gefühl von Willkür, oft verbunden mit Gefühlen<br />

von Minderwertigkeit und Angst, sowie die schwerwiegenden<br />

Auswirkungen solcher Bedingungen auf die<br />

Würde einer Person begründen zusammen betrachtet<br />

eine erniedrigende Behandlung. Das Leid des Bf. wurde<br />

durch seine Verletzlichkeit als Asylwerber zudem noch<br />

verstärkt. Es ist daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

festzustellen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende<br />

Sondervoten der Richter Rozakis und Sajó).<br />

II.<br />

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

durch Griechenland – Lebensbedingungen<br />

Nach Ansicht des Bf. stellte die extreme Armut, in der er<br />

seit seiner Ankunft in Griechenland lebte, eine erniedrigende<br />

und unmenschliche Behandlung dar.<br />

Auch dieser Punkt wirft komplexe Tatsachen- und<br />

Rechtsfragen auf, die eine meritorische Entscheidung<br />

erfordern. Er ist weder offensichtlich unbegründet noch<br />

aus einem anderen Grund unzulässig und muss folglich<br />

für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).<br />

Art. 3 EMRK enthält keine generelle Pflicht, Flüchtlingen<br />

finanzielle Hilfe und einen bestimmten Lebensstandard<br />

zu bieten. Die Verpflichtung, verarmten Asylwerbern<br />

eine Unterkunft und anständige materielle<br />

Bedingungen zu verschaffen, ist in Griechenland aber<br />

mittlerweile positivrechtlich verankert und die Behörden<br />

haben ihre eigenen, Gemeinschaftsrecht 2 umsetzenden<br />

Normen einzuhalten.<br />

Der GH misst dem Asylwerberstatus des Bf., aufgrund<br />

dessen er Teil einer besonders unterprivilegierten<br />

und verletzlichen Gesellschaftsschicht mit speziellem<br />

Schutzbedürfnis ist, erhebliche Bedeutung bei.<br />

Die Situation des Bf. ist besonders gravierend. Seinen<br />

Behauptungen nach hat er Monate in extremster Armut<br />

gelebt, ohne für seine Grundbedürfnisse sorgen zu können.<br />

Hinzu kam die ständig präsente Angst, angegriffen<br />

zu werden, und die fehlende Wahrscheinlichkeit einer<br />

Verbesserung der Lage. Berichten des Europäischen<br />

Kommissars für <strong>Menschenrechte</strong> und UNHCR zufolge<br />

sind Situationen wie jene des Bf. weit verbreitet und das<br />

Los einer großen Zahl von Asylwerbern, weshalb kein<br />

Grund besteht, die Behauptungen des Bf. zu bezweifeln.<br />

Der GH ist der Ansicht, dass der Bf. zu keiner Zeit<br />

angemessen über die Möglichkeiten einer Unterbringung<br />

informiert worden war, sofern solche überhaupt<br />

bestanden. Er vermag nicht zu erkennen, wie die Behörden<br />

übersehen konnten, dass der Bf. in Griechenland<br />

obdachlos war. Wie die Regierung selbst zugibt, bestehen<br />

in Aufnahmezentren weniger als 1.000 Plätze für<br />

zehntausende Asylwerber. Diese Zahlen vermindern<br />

2 Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.1.2003 über Mindestnormen<br />

für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten,<br />

ABl. L 31.<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

das Gewicht des Arguments der Regierung, die Untätigkeit<br />

des Bf. sei der Grund für seine Situation gewesen,<br />

erheblich. Jedenfalls hätten die Behörden in Anbetracht<br />

der Unsicherheit und Verletzlichkeit von Asylwerbern in<br />

Griechenland nicht einfach darauf warten dürfen, dass<br />

der Bf. die Initiative ergreift. Mangels Benachrichtigung<br />

des Bf. ändert auch die Tatsache, dass mittlerweile eine<br />

Unterkunft für ihn gefunden wurde, nichts an der Situation.<br />

Auch die pink card, mit der er grundsätzlich Zugang<br />

zum Arbeitsmarkt erhielt, hat keinen praktischen Nutzen,<br />

da diese in Anbetracht der administrativen Hindernisse,<br />

die Berichten zufolge beim Zugang zum Arbeitsmarkt<br />

bestehen, keine realistische Alternative war.<br />

Schließlich ist anzumerken, dass die Situation des<br />

Bf. seit seiner Überstellung im Juni 2009 andauert. Sie<br />

ist mit seiner Stellung als Asylwerber und der Tatsache,<br />

dass sein Asylantrag bisher noch nicht von den griechischen<br />

Behörden geprüft wurde, verknüpft. Eine sofortige<br />

Prüfung des Asylantrags hätte das Leid des Bf. nach<br />

Ansicht des GH gelindert.<br />

Die griechischen Behörden haben die Verletzlichkeit<br />

des Bf. als Asylwerber nicht angemessen berücksichtigt<br />

und müssen aufgrund ihrer Untätigkeit für dessen mehrere<br />

Monate dauernde Situation verantwortlich gemacht<br />

werden. Der Bf. war Opfer erniedrigender Behandlung,<br />

die mangelnden Respekt für seine Würde zeigte. Die<br />

Lage bescherte ihm zweifellos Gefühle von Angst und<br />

Minderwertigkeit, die geeignet waren, ihn zur Verzweiflung<br />

zu bringen. Diese Lebensbedingungen, zusammen<br />

mit der andauernden Ungewissheit und der fehlenden<br />

Aussicht auf Besserung, haben das von Art. 3 EMRK<br />

geforderte Maß an Schwere erreicht. Es liegt folglich<br />

eine Verletzung von Art. 3 EMRK vor (16:1 Stimmen; Sondervotum<br />

von Richter Sajó, im Ergebnis übereinstimmendes<br />

Sondervotum von Richter Rozakis).<br />

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 2<br />

und Art. 3 EMRK durch Griechenland<br />

In Bezug auf das Asylverfahren in Griechenland gibt der<br />

Bf. an, ihm sei hinsichtlich seiner Beschwerden unter<br />

Art. 2 und 3 EMRK kein effektives Rechtsmittel zur Verfügung<br />

gestanden.<br />

Der griechischen Regierung zufolge sei der Bf. nicht<br />

Opfer iSv. Art. 34 EMRK, da er allein für seine Situation<br />

verantwortlich sei. Zudem habe er den Instanzenzug<br />

nicht erschöpft, da er nicht zur Befragung erschienen sei<br />

und die Behörden somit keine Möglichkeit gehabt hätten,<br />

seine Behauptungen in der Sache zu untersuchen.<br />

Diese Vorbringen sind eng mit der Beschwerde unter<br />

Art. 13 EMRK verbunden und sollten daher zusammen<br />

mit deren meritorischer Untersuchung geprüft werden.<br />

Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich<br />

unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig.<br />

Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

Um die Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK zu klären,<br />

muss der GH zunächst feststellen, ob der Bf. vertretbar<br />

behaupten kann, seine Abschiebung nach Afghanistan<br />

würde Art. 2 oder Art. 3 EMRK verletzen.<br />

Die dem GH zur Verfügung stehenden Informationen<br />

liefern einen prima facie-Beweis dafür, dass die Situation<br />

in Afghanistan ein weitverbreitetes Sicherheitsproblem<br />

darstellte und dies immer noch tut und der Bf.<br />

als Dolmetscher der internationalen Luftwaffe zu einer<br />

Personenkategorie gehört, die in besonderem Maße<br />

Vergeltungsmaßnahmen seitens der Anti-Regierungskräfte<br />

ausgesetzt ist. Der Bf. verfügt folglich über eine<br />

vertretbare Beschwerde unter Art. 2 und Art. 3 EMRK.<br />

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der GH über das Vorliegen<br />

einer Verletzung dieser Bestimmungen im Falle<br />

der Abschiebung absprechen muss. Er hat zu prüfen, ob<br />

effektive Garantien bestehen, die den Bf. vor einer willkürlichen<br />

direkten oder indirekten Abschiebung in sein<br />

Heimatland schützen.<br />

Die griechische Gesetzeslage, die auf gemeinschaftsrechtlichen<br />

Standards basiert, enthält eine Reihe solcher<br />

Garantien. Seit einigen Jahren haben UNHCR, der Europäische<br />

Menschenrechtskommissar und viele NGOs<br />

jedoch wiederholt gezeigt, dass diese Gesetzgebung in<br />

der Praxis nicht angewandt wird und das Asylverfahren<br />

derartige Mängel aufweist, dass die Chance einer ernsthaften<br />

Untersuchung von Asylanträgen sehr gering ist.<br />

Diese sind: unzureichende Informationen über das Asylverfahren,<br />

erschwerter Zugang zum Polizeihauptquartier<br />

von Attica, kein verlässliches Kommunikationssystem<br />

zwischen Betroffenen und Behörden, Mangel an<br />

Dolmetschern und Prozesskostenhilfe, exzessive Verzögerungen<br />

bis zum Erhalt einer Entscheidung. Der GH ist<br />

über die Feststellungen von UNHCR betroffen, denen<br />

zufolge beinahe alle erstinstanzlichen Entscheidungen<br />

negativ ausfallen und stereotyp abgefasst sind.<br />

Was das Nichterscheinen des Bf. beim Polizeihauptquartier<br />

am 2.7.2010 betrifft, so war dieser nicht der Einzige,<br />

der die diesbezügliche Aufforderung missverstanden<br />

hatte. Dem Bf. zufolge war ihm die Aufforderung auf<br />

Griechisch ausgehändigt worden und hatte der Übersetzer<br />

kein Datum für eine Befragung erwähnt. Auch wenn<br />

der GH diese Aussagen nicht verifizieren kann, misst<br />

er der Version des Bf., die den Informations- und Kommunikationsmangel<br />

widerspiegelt, mehr Gewicht zu<br />

und teilt die Ansicht der Regierung, der Bf. habe selbst<br />

die Prüfung seiner Vorbringen in der Sache verhindert,<br />

nicht. Die griechischen Behörden haben bis heute keine<br />

Schritte unternommen, mit dem Bf. zu kommunizieren,<br />

und keine Entscheidung gefällt, wodurch sie ihm keine<br />

echte und angemessene Möglichkeit gegeben haben,<br />

seinen Asylantrag zu verteidigen.<br />

Der GH weist weiters auf die, verglichen mit anderen<br />

EU-Staaten, extrem niedrige Rate an zuerkanntem Asyl<br />

und subsidiärem Schutz hin. Er ist zudem besorgt über<br />

M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />

die Gefahr einer Abschiebung, die den Bf. in der Praxis<br />

bereits vor einer Entscheidung in der Sache trifft.<br />

Zu klären bleibt, ob die Anrufung des Obersten Verwaltungsgerichts<br />

zur Überprüfung einer möglichen<br />

Zurückweisung des Asylantrags des Bf. Sicherheit gegen<br />

willkürliche Abschiebungen bieten kann.<br />

Die Zugänglichkeit eines Rechtsbehelfs ist ein entscheidender<br />

Aspekt für dessen Effektivität. Die Tatsache,<br />

dass die Behörden nichts unternommen haben, um mit<br />

dem Bf. zu kommunizieren, machen es, zusammen mit<br />

den dokumentierten Schwierigkeiten bei der Benachrichtigung<br />

von Personen mit unbekannter Adresse, sehr<br />

ungewiss, ob der Bf. früh genug von der Entscheidung<br />

über seinen Asylantrag Kenntnis erlangen würde, um<br />

fristgerecht die nötigen Schritte zu unternehmen. Auch<br />

die fehlende Information über Rechtsberatung anbietende<br />

Organisationen und der Mangel an unentgeltlichen<br />

Rechtsbeiständen können ein Hindernis für den<br />

Zugang zu einem Rechtsmittel sein und fallen, insbesondere<br />

wenn Asylwerber betroffen sind, in den Bereich<br />

von Art. 13 EMRK.<br />

Des Weiteren hält der GH auch die Dauer der Verfahren<br />

vor dem Obersten Verwaltungsgericht für relevant.<br />

Die vom Europäischen Menschenrechtskommissar zur<br />

Verfügung gestellten Informationen, wonach die Verfahrensdauer<br />

im Schnitt über fünf Jahre beträgt, belegen,<br />

dass eine Berufung an das Oberste Verwaltungsgericht<br />

die fehlenden Garantien bezüglich der meritorischen<br />

Untersuchung von Asylanträgen nicht ausgleicht.<br />

In Anbetracht des Gesagten können die Einreden der<br />

Regierung nicht akzeptiert werden und ist aufgrund der<br />

Unzulänglichkeiten bei der Untersuchung des Asylantrags<br />

des Bf. sowie der für ihn bestehenden Gefahr, ohne<br />

ernsthafte meritorische Überprüfung und ohne Zugang<br />

zu einem wirksamen Rechtsbehelf in sein Heimatland<br />

abgeschoben zu werden, eine Verletzung von Art. 13 iVm.<br />

Art. 3 EMRK festzustellen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende<br />

Sondervoten der Richter Villiger und Sajó).<br />

Eine Prüfung von Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK ist nicht<br />

notwendig (einstimmig).<br />

IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 3<br />

EMRK durch Belgien – griechisches Asylverfahren<br />

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK,<br />

da ihn die belgischen Behörden entsprechend der Dublin-II-VO,<br />

in Kenntnis der Unzulänglichkeiten im dortigen<br />

Asylverfahren, nach Griechenland überstellt hatten,<br />

ohne eine Risikobewertung vorzunehmen.<br />

Belgien wendet die Nichterschöpfung des innerstaatlichen<br />

Instanzenzugs ein. Der GH ist der Ansicht, dass<br />

dieser Punkt zusammen mit der meritorischen Untersuchung<br />

der Beschwerde unter Art. 13 iVm. Art. 2 und Art. 3<br />

EMRK geprüft werden sollte (einstimmig). Der vorliegende<br />

Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbe-<br />

29<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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30<br />

M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />

gründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig.<br />

Er ist für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />

1. Zur Verantwortlichkeit Belgiens<br />

Die Konvention hindert Staaten nicht daran, Hoheitsrechte<br />

auf internationale Organisationen zu übertragen.<br />

Ihr Handeln unter Einhaltung der damit verbundenen<br />

völkerrechtlichen Verpflichtungen ist gerechtfertigt,<br />

solange von der Organisation anzunehmen ist, dass<br />

sie einen der EMRK zumindest gleichwertigen Grundrechtsschutz<br />

bietet. Für alle Akte, die nicht in seine<br />

strengen internationalen Verpflichtungen fallen, wo<br />

etwa Ermessen besteht, ist ein Staat jedoch voll konventionsrechtlich<br />

verantwortlich.<br />

Nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO kann jeder EU-Mitgliedstaat<br />

durch Derogation der generellen Regelung des<br />

Art. 3 Abs. 1 einen Asylantrag untersuchen, auch wenn<br />

er nach den Kriterien der Dublin-II-VO nicht für dessen<br />

Prüfung zuständig ist (»Souveränitätsklausel«). Die belgischen<br />

Behörden hätten demnach von der Überstellung<br />

des Bf. nach Griechenland absehen können, wenn<br />

sie annahmen, dass das Aufnahmeland seine Verpflichtungen<br />

aus der Konvention nicht erfülle. Da die von Belgien<br />

ergriffene Maßnahme demnach nicht streng in<br />

seine völkerrechtlichen Verpflichtungen fiel, findet die<br />

Vermutung eines gleichwertigen Grundrechtsschutzes<br />

vorliegend keine Anwendung.<br />

2. In der Sache<br />

Wie der GH bereits dargelegt hat, kann der Bf. vertretbar<br />

behaupten, seine Abschiebung nach Afghanistan würde<br />

eine Verletzung von Art. 2 oder Art. 3 EMRK begründen.<br />

Es ist daher zu prüfen, ob Belgien die Vermutung, Griechenland<br />

würde seinen internationalen Verpflichtungen<br />

in Asylsachen nachkommen, als widerlegt betrachten<br />

hätte müssen – trotz der Feststellungen des GH im<br />

Fall K. R. S./GB 3 aus dem Jahr 2008, denen die Regierung,<br />

wie sie behauptet, folgen wollte.<br />

Zu den dem GH bei seiner Entscheidung im Fall<br />

K. R. S./GB im Jahr 2008 zur Verfügung stehenden Informationen<br />

kamen seither zahlreiche Berichte und Materialien<br />

hinzu, die alle hinsichtlich der Probleme bei der<br />

Anwendung des Dublin-Systems in Griechenland und<br />

der Mängel des Asylverfahrens übereinstimmten. Derartige<br />

Dokumente wurden seit 2006 regelmäßig und 2008<br />

und 2009 vermehrt veröffentlicht, die meisten davon vor<br />

Erlass des Ausweisungsbescheides gegen den Bf. Bedeutend<br />

ist zudem, dass UNHCR im April 2009 einen Brief<br />

3 In diesem Fall, der ebenfalls eine Überstellung gemäß der<br />

Dublin-II-VO nach Griechenland betraf, ging der EGMR davon<br />

aus, Griechenland würde seinen Verpflichtungen aus auf<br />

Gemeinschaftsrecht basierendem nationalen Recht und aus<br />

Art. 3 EMRK entsprechen.<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

an den für Migrationsangelegenheiten zuständigen belgischen<br />

Minister gesandt hat, in dem um die Aussetzung<br />

von Überstellungen nach Griechenland ersucht<br />

wurde. Hinzu kommt, dass das europäische Asylsystem<br />

seit Dezember 2008 selbst in eine Reformphase eingetreten<br />

ist, in der unter anderem vorgeschlagen wurde,<br />

eine vorübergehende Aussetzung von Überstellungen<br />

entsprechend der Dublin-II-VO einzuführen, um zu verhindern,<br />

dass Asylwerber in Mitgliedstaaten zurückgeschickt<br />

werden, die ihnen keinen ausreichenden Schutz<br />

bieten können.<br />

Der GH ist der Ansicht, dass die belgischen Behörden<br />

über die generelle Situation in Griechenland informiert<br />

waren und den Bf. nicht die gesamte Beweislast<br />

hätte treffen dürfen. Er sieht es als erwiesen an, dass<br />

das Ausländeramt die Dublin-II-VO systematisch angewandt<br />

hat, um Personen nach Griechenland zu überstellen,<br />

ohne auch nur die Möglichkeit einer Ausnahme in<br />

Erwägung zu ziehen.<br />

Das Bestehen nationaler Gesetze und der Beitritt<br />

zu internationalen Abkommen reichen grundsätzlich<br />

nicht aus, um einen angemessenen Schutz gegen Misshandlung<br />

zu garantieren, wenn, wie vorliegend, verlässliche<br />

Quellen auf Praktiken hinweisen, die offensichtlich<br />

gegen die Prinzipien der Konvention verstoßen.<br />

Auch die diplomatischen Zusicherungen Griechenlands<br />

haben keine ausreichenden Garantien geboten.<br />

Die Überstellung wurde lediglich aufgrund einer stillschweigenden<br />

Zustimmung der griechischen Behörden,<br />

die Zuständigkeit nach der Dublin-II-VO wahrzunehmen,<br />

angeordnet. Die erst danach übersandte Zustimmung<br />

Griechenlands war stereotyp verfasst und enthielt<br />

keine Garantien in Bezug auf die Person des Bf.<br />

Der GH kommt zu dem Schluss, dass die belgischen<br />

Behörden zum Zeitpunkt der Ausweisung des Bf. wussten<br />

oder wissen hätten müssen, dass dieser keine Garantie<br />

für eine ernsthafte Untersuchung seines Asylantrags<br />

durch die griechischen Behörden hatte. Belgien hätte<br />

auch die Mittel gehabt, die Überstellung zu verweigern.<br />

Es war Sache der belgischen Behörden, nicht einfach<br />

anzunehmen, dass der Bf. im Einklang mit konventionsrechtlichen<br />

Standards behandelt werden würde,<br />

sondern zunächst klarzustellen, wie die griechischen<br />

Behörden ihre Asylgesetze in der Praxis anwandten. Hätten<br />

sie dies getan, hätten sie gesehen, dass die Gefahren<br />

real und individuell genug waren, um unter Art. 3 EMRK<br />

zu fallen. Die Tatsache, dass sich eine Vielzahl von Asylwerbern<br />

in derselben Lage wie der Bf. befinden, macht<br />

diese Gefahr nicht weniger individuell.<br />

Der GH stellt somit fest, dass die Überstellung des<br />

Bf. von Belgien nach Griechenland eine Verletzung von<br />

Art. 3 EMRK auslöste (16:1 Stimmen; Sondervotum von<br />

Richter Bratza).<br />

Es ist nicht erforderlich, diesen Beschwerdepunkt<br />

unter Art. 2 EMRK zu prüfen (einstimmig).<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

V. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

durch Belgien – Haft- und Lebensbedingungen in<br />

Griechenland<br />

Der Bf. rügt, die belgischen Behörden hätten ihn durch<br />

seine Rückverbringung nach Griechenland wegen der<br />

dort für Asylwerber herrschenden Haft- und Existenzbedingungen<br />

einer Art. 3 EMRK entgegenstehenden<br />

Behandlung ausgesetzt.<br />

Dieser Punkt wirft komplexe Tatsachen- und Rechtsfragen<br />

auf, die eine Behandlung in der Sache erfordern.<br />

Er ist daher weder offensichtlich unbegründet noch aus<br />

einem anderen Grund unzulässig und muss für zulässig<br />

erklärt werden (einstimmig).<br />

Der GH hat die Haft- und Lebensbedingungen, denen<br />

der Bf. in Griechenland ausgesetzt war, bereits als erniedrigend<br />

qualifiziert. Diese Tatsachen waren schon vor der<br />

Überstellung des Bf. wohlbekannt und frei zugänglich<br />

über eine große Anzahl an Quellen feststellbar. Durch<br />

die Überstellung nach Griechenland haben die belgischen<br />

Behörden den Bf. wissentlich Bedingungen ausgesetzt,<br />

die eine erniedrigende Behandlung darstellen.<br />

Es ist eine Verletzung von Art. 3 EMRK festzustellen (15:2<br />

Stimmen; Sondervoten der Richter Sajó und Bratza).<br />

VI. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 2<br />

und Art. 3 EMRK durch Belgien<br />

Der Bf. rügt, dass nach belgischem Recht kein Rechtsmittel<br />

bestand, mit dem er sich über die behaupteten<br />

Verletzungen von Art. 2 und Art. 3 EMRK hätte beschweren<br />

können.<br />

Da der GH in der Überstellung des Bf. nach Griechenland<br />

bereits eine Verletzung von Art. 3 EMRK erkannt<br />

hat, ist seine Beschwerde für die Zwecke des Art. 13<br />

EMRK vertretbar.<br />

Nach belgischem Recht hat eine Berufung an den Rat<br />

für Ausländerstreitsachen keine aufschiebende Wirkung<br />

für die Ausweisungsanordnung. Der Regierung<br />

zufolge gilt dies jedoch für Eilanträge, die vor derselben<br />

Behörde gestellt werden.<br />

Bei einer Beschwerde, die Misshandlungen entgegen<br />

Art. 3 EMRK im Falle einer Ausweisung betrifft, erfordert<br />

Art. 13 EMRK, dass eine kompetente Behörde diese substantiell<br />

prüfen und eine angemessene Entschädigung<br />

zusprechen kann. Das Erfordernis, die Vollstreckung<br />

der strittigen Maßnahme vorübergehend auszusetzen,<br />

kann nicht als subsidiäre Maßnahme erwogen werden,<br />

ohne dass dabei Rücksicht auf den Umfang der Überprüfung<br />

genommen wird. Andernfalls wäre es möglich,<br />

jemanden abzuschieben, ohne seine Vorbringen unter<br />

Art. 3 EMRK genau geprüft zu haben.<br />

Das erwähnte Eilverfahren führt aber genau zu diesem<br />

Ergebnis. Wie die Regierung selbst zugibt, reduziert<br />

es die Rechte der Verteidigung und die Untersuchung<br />

des Falls auf ein Minimum. Bisherige Urteile<br />

waren darauf beschränkt, zu klären, ob der Betroffene<br />

konkrete Beweise für aus der behaupteterweise drohenden<br />

Konventionsverletzung resultierende, irreparable<br />

Schäden erbringen konnte. Dies hat die Beweislast<br />

derart erhöht, dass sie eine Untersuchung in der Sache<br />

verhinderte. Auch Material, das nach der Befragung der<br />

Betroffenen von diesen vorgelegt wurde, wurde nicht<br />

immer berücksichtigt.<br />

Das Eilverfahren zur Aussetzung der Ausweisungsanordnung<br />

erfüllt folglich nicht die Erfordernisse des<br />

Art. 13 EMRK.<br />

Dem Bf. kann auch kein Mangel an Sorgfalt angelastet<br />

werden, weil sein Anwalt nicht in der Verhandlung vor<br />

dem Rat für Ausländerstreitsachen erschienen ist. Es ist<br />

nicht zu sehen, wie dieser der Verhandlung rechtzeitig<br />

hätte beiwohnen können.<br />

Die Parteien scheinen sich zudem darüber einig zu<br />

sein, dass die Berufung des Bf. in Anbetracht der ständigen<br />

Rechtsprechung und der Unmöglichkeit, die Unwiederbringlichkeit<br />

des Schadens aufzuzeigen, keine Aussicht<br />

auf Erfolg gehabt hätte. Auch wenn die Effektivität<br />

eines Rechtsmittels nicht von der Gewissheit eines positiven<br />

Verfahrensausgangs abhängt, so wirft das Fehlen<br />

jeglicher Aussicht auf eine angemessene Wiedergutmachung<br />

doch eine Frage unter Art. 13 EMRK auf.<br />

In Anbetracht des Gesagten stellt der GH eine Verletzung<br />

von Art. 13 iVm. Art 3 EMRK fest (einstimmig;<br />

im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter<br />

Sajó). Folglich kann dem Bf. auch nicht vorgeworfen<br />

werden, den Instanzenzug nicht ausgeschöpft zu<br />

haben, weshalb die diesbezügliche Einrede der Regierung<br />

zurückzuweisen ist (einstimmig).<br />

Es ist nicht erforderlich, die Beschwerde auch noch<br />

unter Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK zu prüfen (einstimmig).<br />

VII.<br />

M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />

Zur Anwendung von Art. 46 und Art. 41 EMRK<br />

Der GH hält es für nötig, individuelle Maßnahmen zur<br />

Durchführung des vorliegenden Urteils aufzuzeigen,<br />

ohne dabei über die zur Verhinderung künftiger Konventionsverletzungen<br />

erforderlichen, generellen Maßnahmen<br />

abzusprechen. In Anbetracht der besonderen<br />

Umstände des Falls und der dringenden Notwendigkeit,<br />

die Verletzung von Art. 13 und Art. 3 EMRK zu beenden,<br />

obliegt es Griechenland, ohne Verzögerung eine meritorische<br />

Untersuchung des Asylantrags des Bf. durchzuführen,<br />

die den konventionsrechtlichen Anforderungen<br />

entspricht, und bis zum Abschluss dieser Prüfung von<br />

der Abschiebung des Bf. abzusehen.<br />

€ 1.000,– für immateriellen Schaden und € 4.725,– für<br />

Kosten und Auslagen durch Griechenland (einstimmig).<br />

€ 24.900,– für immateriellen Schaden und € 7.350,–<br />

für Kosten und Auslagen durch Belgien (15:2 Stimmen;<br />

Sondervoten der Richter Sajó und Bratza).<br />

31<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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32<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Zulässigkeit bei vorhergehender Beschwerde bei der<br />

Europäischen Kommission<br />

Karoussiotis gg. Portugal, Urteil vom 1.2.2011, Kammer II, Bsw. Nr. 23.205/08<br />

Leitsatz<br />

Eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission<br />

bezüglich einer Vertragsverletzung des Staates bedeutet<br />

nicht, dass die Individualbeschwerde iSv. Art. 35<br />

Abs. 2 lit. b EMRK bereits »einer anderen internationalen<br />

Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz« unterbreitet<br />

worden ist.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 8 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Hokkanen/FIN v. 23.9.1994<br />

= NL 1994, 333 = ÖJZ 1995, 271<br />

▸ McMichael/GB v. 24.2.1995<br />

= ÖJZ 1995, 704<br />

▸ Ignaccolo-Zenide/RO v. 25.1.2000<br />

▸ Folgero u.a./N v. 14.7.2006 (ZE)<br />

▸ Celniku/GR v. 5.7.2007 (ZE)<br />

▸ Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK)<br />

= NL 2010, 211<br />

Schlagworte<br />

Familienleben; Kindesentführung; Kindeswohl;<br />

Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz, internationale;<br />

Zulässigkeit<br />

Sachverhalt<br />

Petra Pann<br />

Die Bf. lebt in Krefeld (Deutschland) und brachte am<br />

25.8.2001 ein Kind von ihrem damaligen Partner, einem<br />

portugiesischen Staatsbürger, zur Welt. Der Vater des<br />

Kindes wurde 2004 aus Deutschland ausgewiesen, da er<br />

wegen Drogenhandels strafrechtlich verurteilt worden<br />

war. Die Bf. trennte sich in der Folge von ihm.<br />

Im Jänner 2005 reiste der Sohn der Bf. nach Portugal,<br />

um seinen Vater zu besuchen. Die Bf. begab sich kurze<br />

Zeit später ebenfalls nach Portugal, um ihren Sohn wieder<br />

abzuholen, kam jedoch am 22.2.2005 allein nach<br />

Deutschland zurück.<br />

Im März 2005 wandte sich die Bf. an die deutschen<br />

Behörden und bat um Unterstützung, um die Rückkehr<br />

ihres Sohnes gemäß der Haager Konvention über die<br />

zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung<br />

1980 (im Folgenden: HKÜ) zu erreichen. Am 27.10.2005<br />

stellten die deutschen Behörden eine Anfrage an die portugiesischen<br />

Behörden, um die Rückverbringung aufgrund<br />

der Widerrechtlichkeit der Verbringung gemäß<br />

Art. 3 HKÜ zu veranlassen.<br />

Am 24.1.2006 entschied das Familiengericht Braga,<br />

dass die Verbringung des Kindes rechtmäßig gewesen<br />

sei, da diese von den Eltern gemeinsam vereinbart worden<br />

wäre. Nachdem diese Entscheidung wegen mangelnden<br />

rechtlichen Gehörs der Mutter aufgehoben und<br />

an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen worden<br />

war, wiederholte das Familiengericht Braga 2008 diese<br />

Entscheidung.<br />

Das Gericht zweiter Instanz entschied am 9.1.2009,<br />

dass die Verbringung des Kindes nach Portugal zwar<br />

illegal gewesen sei, das Kind jedoch gemäß der VO (EG)<br />

Nr. 2201/2003 1 nicht nach Deutschland verbracht werden<br />

könne, da inzwischen die Urgroßmutter Bezugsperson<br />

des Kindes geworden sei und eine Trennung von ihr<br />

das psychische Gleichgewicht des Kindes beeinträchtigen<br />

könne. Eine Rückverbringung entspreche daher<br />

nicht dem Kindeswohl.<br />

Bereits im März 2005 wurde ein Verfahren zur Klärung<br />

des Sorgerechts für das Kind eingeleitet. Das Verfahren<br />

wurde bis zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit<br />

der Verbringung des Kindes ausgesetzt. Das provisorische<br />

Sorgerecht wurde zunächst dem Vater, dann<br />

der Urgroßmutter des Kindes übertragen. 2009 beantragte<br />

die Bf. das Sorgerecht, wobei sie angab, der Vater<br />

habe dem zugestimmt. Auch die Urgroßmutter des Kindes<br />

hatte das Sorgerecht beantragt. Die Sache ist derzeit<br />

noch anhängig.<br />

Am 2.4.2008 brachte die Bf. eine Beschwerde bei der<br />

Europäischen Kommission ein und behauptete eine<br />

Verletzung der VO (EG) Nr. 2201/2003 durch Portugal.<br />

1 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 23. November<br />

2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung<br />

von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren<br />

betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung<br />

der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000.<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

Sie rügte die überlange Verfahrensdauer vor dem Familiengericht<br />

Braga. Informationen der Bf. vom 2.7.2010<br />

zufolge ist das Verfahren vor der Europäischen Kommission<br />

noch im Gange.<br />

Rechtsausführungen<br />

Die Bf. rügt eine Verletzung ihres Rechts unter Art. 8<br />

EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), da die<br />

Rückverbringung ihres Sohnes nach Deutschland abgelehnt<br />

und das vorläufige Sorgerecht der Urgroßmutter<br />

des Kindes übertragen wurde. Sie stützt sich außerdem<br />

darauf, dass die portugiesischen Gerichte den Umstand<br />

außer Acht ließen, dass der Vater der Übertragung des<br />

Sorgerechts auf die Mutter zugestimmt habe.<br />

Weiters behauptet sie eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />

EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) wegen der exzessiven<br />

Verfahrensdauer bezüglich der Rückverbringung<br />

ihres Sohnes.<br />

Auf Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde<br />

bei einer nationalen Instanz) beruft sie sich, da ihr kein<br />

effektives Rechtsmittel zur Verfügung gestanden habe,<br />

um die überlange Verfahrensdauer geltend machen zu<br />

können.<br />

Der GH beschließt angesichts seiner rechtlichen Beurteilung<br />

des Falles, die Sache im Lichte von Art. 8 EMRK<br />

zu prüfen.<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

1. Zur Zulässigkeit<br />

Die Regierung äußert sowohl Einwände in Bezug auf<br />

die Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs als auch<br />

bezüglich der Ausnahme unter Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK.<br />

a. Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />

Die Regierung bringt vor, die Eingabe die Beschwerde<br />

sei verfrüht, da beide gegenständlichen Verfahren noch<br />

anhängig seien.<br />

Die Beschwerde muss zuerst, zumindest in ihrer Substanz,<br />

gemäß den nationalen Regelungen vor den zuständigen<br />

nationalen Behörden vorgebracht werden. Der<br />

GH akzeptiert, dass dies erst kurz nach Einbringung<br />

der Beschwerde erfolgte, jedoch noch bevor er über die<br />

Zulässigkeit der Beschwerde befunden hat. Die Einwendung<br />

bezüglich der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />

hängt hinsichtlich der behaupteten Verletzung<br />

des Rechts auf Achtung des Familienlebens, bedingt<br />

durch die Verfahrensdauer, eng mit der Prüfung des Falles<br />

in der Sache zusammen und wird daher mit dieser<br />

verbunden (einstimmig).<br />

Karoussiotis gg. Portugal<br />

b. Zulässigkeit nach Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK<br />

Die Regierung rügt, die Bf. habe dieselbe Beschwerde<br />

bereits vor der Europäischen Kommission vorgebracht.<br />

Der GH merkt an, dass die Beschwerde der Bf. vom<br />

2.4.2008 an die Europäische Kommission den gleichen<br />

Sachverhalt betrifft.<br />

Die Konvention schließt es aus, dass der GH eine<br />

Beschwerde behandelt, die bereits durch eine internationale<br />

Instanz überprüft wurde. Der GH hat daher zu klären,<br />

ob die Natur des Kontrollorgans, das Verfahren vor<br />

diesem und die Auswirkung seiner Entscheidungen derart<br />

ausgestaltet sind, dass Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK die<br />

Zuständigkeit des GH ausschließt.<br />

Im vorliegenden Fall hat der GH zu prüfen, ob die<br />

Beschwerde essentiell dieselbe ist wie jene, die bei der<br />

Europäischen Kommission anhängig ist. Dies ist der<br />

Fall, wenn die Parteien und der Beschwerdegrund identisch<br />

sind. Die Identität beider Punkte ist vorliegend<br />

unstrittig.<br />

Zu klären ist nun, ob das Verfahren vor diesem Organ<br />

in verfahrensrechtlicher Hinsicht sowie mit Blick auf<br />

die potentiellen Auswirkungen der Entscheidung mit<br />

der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK gleichgesetzt<br />

werden kann.<br />

Bei der Europäischen Kommission kann sich ein Individuum<br />

über eine gesetzliche Regelung, Vorschrift oder<br />

Verwaltungsmaßnahme bzw. über eine Praxis eines EU-<br />

Mitgliedstaates beschweren, von der es glaubt, sie verletze<br />

eine Regelung oder einen Grundsatz des Unionsrechts.<br />

Die Kommission hat einen Ermessensspielraum<br />

hinsichtlich der Entscheidung, ein Vertragsverletzungsverfahren<br />

vor dem EuGH gemäß Art. 258 AEUV zu initiieren.<br />

Zweck dieses Vorverfahrens ist, die freiwillige<br />

Anpassung an die Vorgaben des Unionsrechts durch<br />

die Mitgliedstaaten zu erreichen. Bezüglich der Auswirkungen<br />

einer Entscheidung regelt Art. 260 AEUV, dass –<br />

wenn der EuGH eine Vertragsverletzung feststellt und<br />

der Staat dem Urteil nicht nachkommt – die Zahlung<br />

eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängt werden<br />

kann. Eine diesbezügliche Entscheidung des EuGH<br />

hat jedoch keine Auswirkungen auf die Rechte des Bf.,<br />

da sie keine individuelle Situation regelt. Aus diesem<br />

Grund hat der Bf. auch kein rechtliches Interesse oder<br />

direkte Betroffenheit nachzuweisen. Der EuGH spricht<br />

auch keine individuelle Entschädigung zu.<br />

Aufgrunddessen kann dieses Verfahren weder hinsichtlich<br />

der verfahrensrechtlichen Regelung noch<br />

hinsichtlich der potentiellen Auswirkungen mit der<br />

Individualbeschwerde iSv. Art. 34 EMRK gleichgesetzt<br />

werden.<br />

Die Europäische Kommission stellt daher vorliegend<br />

keine »internationale Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz«<br />

iSv. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK dar. Die Einrede<br />

der Regierung wird zurückgewiesen.<br />

33<br />

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34<br />

Karoussiotis gg. Portugal<br />

c. Ergebnis<br />

Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet<br />

iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und auch nicht aus sonstigen<br />

Gründen unzulässig. Sie ist daher zulässig (einstimmig).<br />

2. In der Sache<br />

Die Bf. behauptet, in ihrem Recht gemäß Art. 8 EMRK<br />

verletzt zu sein, da die portugiesischen Behörden es verabsäumt<br />

hätten, schnelle und effektive Maßnahmen zu<br />

setzen, um ihren Sohn nach Deutschland zurückzuholen<br />

und ihr das Sorgerecht zuzusprechen.<br />

Der GH hat bezüglich der positiven Verpflichtung der<br />

Staaten unter Art. 8 EMRK schon oft festgestellt, dass ein<br />

Elternteil ein Recht auf angemessene Maßnahmen zur<br />

Wiederzusammenführung mit seinem Kind hat und die<br />

nationalen Behörden eine Verpflichtung haben, diese zu<br />

ergreifen. Dieses Recht des Elternteils ist jedoch nicht<br />

absolut. Nach einer bestimmten Zeit, die das Kind mit<br />

dem anderen Elternteil verbracht hat, kann eine Wiederzusammenführung<br />

nicht sofort stattfinden und erfordert<br />

Vorbereitungen. Die Umstände des Einzelfalls sowie<br />

die Interessen, Rechte und Freiheiten der verschiedenen<br />

Beteiligten, insbesondere das Kindeswohl und die<br />

Rechte des Kindes unter Art. 8 EMRK, sind zu beachten.<br />

Die Behörden haben einen fairen Ausgleich zu schaffen.<br />

Die positiven Verpflichtungen des Staates bezüglich der<br />

Wiedervereinigung eines Elternteils mit dem Kind sind<br />

weiters im Lichte des HKÜ zu interpretieren.<br />

Bei der Beurteilung, ob das Familienleben der Betroffenen<br />

effektiv respektiert wurde, kann der GH auch die<br />

Art und Dauer des Entscheidungsprozesses miteinbeziehen.<br />

Verfahren in Bezug auf die Übertragung des<br />

Sorgerechts, einschließlich der Exekution der darin<br />

ergangenen Entscheidungen, verlangen eine schnelle<br />

Abwicklung, da das Verstreichen von Zeit für das Verhältnis<br />

zwischen einem Kind und dem von ihm getrennt<br />

lebenden Elternteil unwiederbringliche Nachteile mit<br />

sich bringen kann. Art. 11 HKÜ und Art. 11 Abs. 3 VO<br />

(EG) Nr. 2201/2003 regeln, dass die Verfahren zur Rückverbringung<br />

der Kinder mit gebotener Eile durchzuführen<br />

sind. Zentrale Frage ist vorliegend daher, ob die<br />

portugiesischen Behörden alle Maßnahmen ergriffen<br />

haben, die ihnen im Rahmen des Verfahrens betreffend<br />

die Rückverbringung sowie des Verfahrens bezüglich<br />

des Sorgerechts vernünftigerweise zur Verfügung standen.<br />

Es dauerte fast drei Monate, bis das Familiengericht<br />

Braga auf die Anfrage bezüglich der Rückverbringung<br />

des Kindes reagierte. Insgesamt dauerte das Verfahren<br />

etwa drei Jahre und zehn Monate in zwei Instanzen. Die<br />

Verfahrensdauer führte zu einer für die Bf. nachteiligen<br />

Situation, vor allem da das Kind zum Zeitpunkt seiner<br />

Verbringung nach Portugal unter vier Jahre alt war.<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Das Verfahren bezüglich des Sorgerechts ist zur Zeit<br />

noch anhängig und dauerte bisher fünf Jahre und acht<br />

Monate.<br />

Aufgrund dieser Feststellungen findet der GH, dass<br />

die nationalen Behörden keine effektiven Mittel ergriffen<br />

haben, um die beiden Verfahren rasch abzuwickeln.<br />

Die Verzögerungen bewirkten eine Trennung von Mutter<br />

und Kind von mehr als fünf Jahren, die zu einer Entfremdung<br />

der beiden führte, die dem Kindeswohl entgegensteht.<br />

Der GH weist daher die Einrede der Regierung bezüglich<br />

der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />

zurück und stellt eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest<br />

(einstimmig).<br />

II.<br />

Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />

Da die Bf. ihre Entschädigungsforderungen nicht rechtzeitig<br />

gestellt hat, wird ihr keine Entschädigung nach<br />

Art. 41 EMRK zugesprochen (einstimmig).<br />

•<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

35<br />

Diskriminierung unverheirateter Väter beim Sorgerecht<br />

Sporer gg. Österreich, Urteil vom 3.2.2011, Kammer I, Bsw. Nr. 35.637/03<br />

Leitsatz<br />

Angesichts der unterschiedlichen Lebenssituation, in<br />

der sich unehelich geborene Kinder befinden, ist es für<br />

den Fall einer fehlenden Vereinbarung über die gemeinsame<br />

Ausübung des Sorgerechts gerechtfertigt, die elterliche<br />

Obsorge vorerst der Mutter zu übertragen, um zu<br />

gewährleisten, dass das Kind von Geburt an eine Person<br />

hat, die als dessen gesetzlicher Vertreter fungieren kann.<br />

Die Tatsache, dass das österreichische Recht keine<br />

gerichtliche Prüfung der Frage vorsieht, ob ein gemeinsames<br />

Sorgerecht im Interesse des unehelich geborenen<br />

Kindes liegt, und, wenn nein, ob dem Kindeswohl besser<br />

mit der Zuweisung des alleinigen Sorgerechts an die<br />

Mutter oder den Vater gedient wäre, stellt eine diskriminierende<br />

Behandlung außerehelicher Väter dar.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 6 Abs. 1, 8, 14 EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Zaunegger/D v. 3.12.2009<br />

= NL 2009, 348 = EuGRZ 2010, 42 = ÖJZ 2010, 138<br />

Schlagworte<br />

Diskriminierung; Familienleben; Kinder, uneheliche;<br />

Kindeswohl; Privatleben; Sorgerecht; Verhandlung,<br />

mündliche<br />

Sachverhalt<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Der Bf. lebt in Schalchen, Oberösterreich. Ende Mai 2000<br />

wurde er Vater des unehelich geborenen Sohnes K. Die<br />

Kindesmutter hielt sich zu diesem Zeitpunkt als Mieterin<br />

im Haus des Bf. auf, der in einer separaten Wohnung<br />

mit seiner langjährigen Partnerin U. und ihrem gemeinsamen<br />

Sohn D. zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr<br />

von K. kümmerten sich die Kindeseltern abwechselnd<br />

um das Kind und nahmen nacheinander Karenzurlaub.<br />

Anfang Jänner 2002 zog die Mutter von K. aus ihrer<br />

Wohnung aus. In der Folge beantragte der Bf. beim BG<br />

Mattighofen gemäß § 176 ABGB die Übertragung des<br />

alleinigen Sorgerechts mit der Begründung, er und U.<br />

hätten sich bisher hauptsächlich um das Kind gekümmert,<br />

die leibliche Mutter sei dazu nicht in der Lage.<br />

Am 12.3.2002 hielt das BG Mattighofen eine mündliche<br />

Verhandlung ab, bei der die Eltern einvernehmlich<br />

der Einholung der Meinung eines Kinderpsychiaters zu<br />

der Frage zustimmten, wem die alleinige Obsorge eingeräumt<br />

werden solle. Sie einigten sich ferner darauf, dass<br />

K. bis zu einer endgültigen Entscheidung mit beiden<br />

Elternteilen jeweils eine halbe Woche verbringen würde.<br />

Am 8.7.2002 kam es zu einer weiteren mündlichen<br />

Verhandlung, bei der die Ergebnisse der kinderpsychiatrischen<br />

Expertise diskutiert wurden, derzufolge die Mutter<br />

unreif und derzeit nicht in der Lage sei, sich um das<br />

Kind zu kümmern. Der Vertreter des Jugendamts widersprach<br />

dieser Einschätzung. Das BG Mattighofen holte<br />

daraufhin die Meinung einer Kinderpsychologin ein.<br />

Diese kam zu dem Schluss, die Mutter würde weder mangelnde<br />

Reife noch emotionale Instabilität aufweisen<br />

und könne für das Kind Sorge tragen. Der Bf. beantragte<br />

sodann erfolgreich die Einholung eines Obergutachtens.<br />

Dr. B. vertrat darin die Ansicht, dass das Kindeswohl<br />

durch den Verbleib des Sorgerechts bei der Mutter<br />

nicht gefährdet sei. Von der ihm eingeräumten Möglichkeit,<br />

zum Obergutachten Stellung zu nehmen, machte<br />

der Bf. keinen Gebrauch, stellte jedoch den Antrag, es in<br />

einer mündlichen Verhandlung zu erörtern.<br />

Mit Beschluss vom 4.12.2002 lehnte das BG Mattighofen<br />

den Antrag des Bf. auf Übertragung des alleinigen<br />

Sorgerechts ab. § 166 ABGB zufolge sei mit der Obsorge<br />

für das uneheliche Kind die Mutter allein betraut.<br />

Ein Entzug des Sorgerechts komme nur dann in Frage,<br />

wenn das Kindeswohl gefährdet sei. Davon könne im<br />

vorliegenden Fall angesichts des eingeholten zweiten<br />

und dritten Gutachtens sowie der positiven Stellungnahme<br />

des Jugendamts jedoch keine Rede sein. Von der<br />

Abhaltung einer weiteren mündlichen Verhandlung sei<br />

abgesehen worden, da das Obergutachten schlüssig und<br />

überzeugend gewesen sei und eine zusätzliche Verhandlung<br />

das Sorgerechtsverfahren nur verzögert hätte.<br />

Der Bf. rief daraufhin das LG Ried an und brachte vor,<br />

die §§ 166 und 176 ABGB seien diskriminierend, könne<br />

der Mutter eines unehelich geborenen Kindes das alleinige<br />

Sorgerecht doch nur unter der Voraussetzung entzogen<br />

werden, dass sie dessen Wohl gefährde. Bei einem<br />

ehelichen Kind würde den Eltern hingegen auch im<br />

Fall der Trennung oder der Scheidung die gemeinsame<br />

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36<br />

Sporer gg. Österreich<br />

Obsorge zukommen, außer das Kindeswohl erfordere<br />

die Übertragung des alleinigen Sorgerechts.<br />

Das LG Ried wies das Rechtsmittel unter anderem mit<br />

der Begründung ab, eine Unterscheidung zwischen ehelichen<br />

und unehelichen Kindern stelle keine diskriminierende<br />

Behandlung dar, solange sie objektiv gerechtfertigt<br />

sei. Der in § 176 ABGB festgelegte Grundsatz<br />

beruhe auf der Erwägung, dass bei der Mehrzahl der<br />

unehelich geborenen Kinder es tatsächlich die Mutter<br />

sei, welche sich um die Pflege kümmere. Eine außerordentliche<br />

Revision an den OGH blieb erfolglos.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht<br />

auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (Recht auf<br />

Achtung des Privat- und Familienlebens) allein und in Verbindung<br />

mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Der Bf. beklagt, das BG Mattighofen habe ihm die Möglichkeit<br />

verwehrt, in einer mündlichen Verhandlung zu<br />

dem Obergutachten persönlich Stellung zu nehmen.<br />

Der GH erachtet die vom BG Mattighofen herangezogenen<br />

Gründe für die Nichtabhaltung einer weiteren<br />

mündlichen Verhandlung als überzeugend, hatten<br />

vor diesem doch bereits zwei Verhandlungen – eine zur<br />

Vorbereitung und eine weitere in der Sache – stattgefunden,<br />

die es ihm gestatteten, einen persönlichen Eindruck<br />

von den Parteien zu gewinnen und die verschiedenen<br />

Aspekte des Falls zu diskutieren. Insoweit der Bf.<br />

darauf beharrt, ihm sei keine angemessene Gelegenheit<br />

zu mündlichem Vorbringen gegeben worden, ist festzuhalten,<br />

dass er diese Behauptung nicht substantiiert<br />

hat und er außerdem bei der mündlichen Verhandlung<br />

am 8.7.2002 anwesend und anwaltlich vertreten war. Es<br />

bestehen keine Anhaltspunkte, dass er im Zuge der Erörterung<br />

der zweiten Expertise nicht zusätzliches Vorbringen<br />

hätte erstatten können, falls er dies gewollt hätte.<br />

Im vorliegenden Fall kam der Bf. in den Genuss eines<br />

kontradiktorischen Verfahrens, bei dem ihm Gelegenheit<br />

gegeben wurde, all seine Argumente vorzubringen.<br />

Auch das Obergutachten war Gegenstand kontradiktorischer<br />

Erörterung, konnten die Streitteile doch umfassende<br />

schriftliche Stellungnahmen zur behaupteten<br />

fehlenden Eignung des jeweiligen Elternteils, das Sorgerecht<br />

auszuüben, erstatten. Abgesehen davon waren<br />

die Eltern von Dr. B befragt und war dem Bf. Gelegenheit<br />

eingeräumt worden, zum Gutachten schriftlich Stellung<br />

zu nehmen. Unter diesen Umständen konnte das BG<br />

Mattighofen in fairer Weise über den Fall absprechen,<br />

ohne eine weitere Verhandlung anordnen zu müssen.<br />

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8<br />

EMRK<br />

Der Bf. behauptet, die einschlägigen Bestimmungen des<br />

ABGB in ihrer Anwendung durch die Gerichte würden<br />

ihn als Vater eines unehelichen Kindes benachteiligen.<br />

Der GH hält es für angemessen, den Fall zuerst unter<br />

Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK zu prüfen.<br />

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK<br />

Der GH erinnert daran, dass der Begriff der Familie<br />

in Art. 8 EMRK nicht auf eheliche Verbindungen<br />

beschränkt ist, sondern auch andere De facto-Familienbande<br />

– etwa wenn ein nicht verheiratetes Paar zusammenlebt<br />

– umfasst. Ein außerehelich geborenes Kind ist<br />

insofern ipso iure Teil der »Familie« bereits vom Augenblick<br />

und aufgrund seiner Geburt an.<br />

Zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt lebten<br />

der Bf. und die Mutter von K. jedoch nicht zusammen.<br />

Allerdings handelt es sich beim Bestehen oder Nichtbestehen<br />

von Familienleben iSv. Art. 8 EMRK um eine<br />

Tatsachenfrage, die von der realen Existenz von engen<br />

persönlichen Bindungen in der Praxis abhängt. Entscheidend<br />

ist ein nachweisliches Interesse bzw. Engagement<br />

des Vaters für sein Kind vor und nach der Geburt.<br />

Im vorliegenden Fall übernahm der Bf. seine Rolle als<br />

Vater von K. von Beginn an. K. wurde der Familienname<br />

des Bf. gegeben und dieser nahm Karenzurlaub, um<br />

sich um ihn kümmern zu können. Während des Sorgerechtsverfahrens<br />

schloss der Bf. mit der Kindesmutter<br />

eine Vereinbarung, der zufolge er die Hälfte der Woche<br />

mit seinem Sohn verbringen würde. Nachdem der Mutter<br />

das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden war,<br />

wurde ihm ein ausgedehntes Besuchsrecht eingeräumt.<br />

Unter diesen Umständen stellte die Beziehung des<br />

Bf. zu seinem Sohn »Familienleben« dar. Der vorliegende<br />

Fall fällt somit in den Anwendungsbereich von Art. 8<br />

EMRK, sodass auch Art. 14 EMRK anwendbar ist.<br />

2. In der Sache<br />

Der Bf. beklagt sich als Vater eines unehelichen Kindes<br />

zum einen über eine unterschiedliche Behandlung<br />

im Vergleich zur Kindesmutter, da er keine Möglichkeit<br />

habe, die gemeinsame Obsorge ohne deren Zustimmung<br />

zu bekommen, zum anderen über eine Benachteiligung<br />

gegenüber verheirateten bzw. geschiedenen<br />

Vätern, welche das gemeinsame Sorgerecht nach Scheidung<br />

oder Trennung von der Mutter behalten können.<br />

Der GH weist darauf hin, dass Eltern eines ehelich<br />

geborenen Kindes einen Rechtsanspruch auf gemeinsame<br />

Obsorge bereits von Beginn an haben. Im Prinzip<br />

behalten sie diese nach der Scheidung oder Trennung,<br />

außer deren Ausübung dient nicht dem Kindeswohl.<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

Demgegenüber wird die Pflege und Erziehung für ein<br />

unehelich geborenes Kind der Mutter übertragen, außer<br />

beide Eltern stellen einen Antrag auf Einräumung der<br />

gemeinsamen Obsorge. Ab Juli 2001 können sie einen<br />

solchen Antrag auch dann stellen, wenn sie nicht im<br />

gemeinsamen Haushalt leben. Stimmt die Kindesmutter<br />

dem nicht zu, so sieht das nationale Recht keine<br />

gerichtliche Prüfung dahingehend vor, ob die Einräumung<br />

der gemeinsamen Obsorge dem Kindeswohl<br />

dient. Dem Vater verbleibt in einem solchen Fall nur<br />

mehr die Möglichkeit, einen Antrag auf Einräumung des<br />

alleinigen Sorgerechts zu stellen – das ihm jedoch nur<br />

unter der Bedingung eingeräumt werden kann, dass die<br />

Mutter das Wohlergehen des Kindes gefährdet.<br />

Im vorliegenden Fall beantragte der Bf. das alleinige<br />

Sorgerecht für K., nachdem die Beziehung zur Kindesmutter<br />

im Jänner 2002 geendet hatte. Aufgrund der einschlägigen<br />

Gesetzeslage konnten die nationalen Gerichte<br />

jedoch keine Prüfung dahingehend vornehmen, ob<br />

ein gemeinsames Sorgerecht dem Kindeswohl diene, da<br />

hierfür die Zustimmung der Mutter notwendig gewesen<br />

wäre. Sie hatten auch nicht darüber zu befinden, welcher<br />

Elternteil besser in der Lage wäre, das Sorgerecht auszuüben.<br />

Die einzige Frage, die sich stellte, war jene nach<br />

§ 176 ABGB, ob die Mutter von K. das Kindeswohl gefährden<br />

könnte. Da das Obergutachten zu einem gegenteiligen<br />

Schluss kam, wurde der Antrag des Bf. auf Übertragung<br />

des alleinigen Sorgerechts abgewiesen. Dem<br />

Vorbringen des Bf., er werde als Vater eines unehelichen<br />

Kindes diskriminiert, hielten die Gerichte im Wesentlichen<br />

entgegen, die relevanten Bestimmungen des ABGB<br />

beruhten auf der Erwägung, dass es in der Mehrzahl der<br />

Fälle von unehelich geborenen Kindern tatsächlich die<br />

Mutter sei, welche sich um sie kümmere.<br />

Im vorliegenden Fall führten die Entscheidungen der<br />

Gerichte und die ihnen zugrunde liegende Gesetzeslage<br />

hinsichtlich der beantragten Zuweisung des Sorgerechts<br />

an den Bf. somit zu einer Ungleichbehandlung in seiner<br />

Eigenschaft als Vater eines unehelichen Kindes im Vergleich<br />

zu der Mutter bzw. zu verheirateten Vätern.<br />

Im Fall Zaunegger/D fand der GH, dass es angesichts<br />

der unterschiedlichen Lebenssituation, in der sich<br />

unehelich geborene Kinder befinden, und in Ermangelung<br />

einer Vereinbarung über die gemeinsame Ausübung<br />

des Sorgerechts gerechtfertigt ist, die elterliche<br />

Obsorge vorerst der Mutter zu übertragen, um zu<br />

gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person<br />

hat, die als gesetzlicher Vertreter fungieren kann.<br />

Der GH sieht keinen Grund, im vorliegenden Fall zu<br />

einem anderen Schluss zu gelangen. Die unterschiedliche<br />

Behandlung des nicht verheirateten Vaters gegenüber<br />

der Kindesmutter ist somit, was die Zuweisung des<br />

Sorgerechts zuerst an letztere anlangt, gerechtfertigt.<br />

Zu prüfen bleibt, ob die vom Bf. weiters gerügte unterschiedliche<br />

Behandlung gerechtfertigt ist, nämlich dass<br />

Sporer gg. Österreich<br />

er als Vater eines unehelichen Kindes nicht die gemeinsame<br />

Obsorge ohne Zustimmung der Mutter erlangen<br />

kann und ein Entzug des alleinigen Sorgerechts nur<br />

statthaft ist, sofern diese das Kindeswohl gefährdet.<br />

Im Fall Zaunegger/D teilte der GH nicht die Annahme<br />

der Regierung, wonach ein gemeinsames Sorgerecht<br />

gegen den Willen der Mutter von vornherein dem Kindeswohl<br />

zuwiderlaufe. Zwar gebe es unter den Mitgliedstaaten<br />

des Europarats keine Einigkeit darüber, ob Väter<br />

unehelicher Kinder ein Recht haben, das gemeinsame<br />

Sorgerecht auch ohne Zustimmung der Mutter zu beantragen.<br />

In den meisten Staaten müsse sich die Übertragung<br />

des Sorgerechts allerdings am Kindeswohl orientieren<br />

und sei diese Frage im Fall eines Streits zwischen den<br />

Eltern darüber Gegenstand gerichtlicher Überprüfung.<br />

Im gegenständlichen Fall sah das österreichische<br />

Recht keine gerichtliche Prüfung der Frage vor, ob ein<br />

gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohl läge, und,<br />

wenn nein, ob diesem besser mit der Zuweisung des<br />

alleinigen Sorgerechts an die Mutter oder den Vater<br />

gedient wäre. Die einzige Frage, welche die Gerichte prüfen<br />

konnten, war, ob gemäß § 176 ABGB das Kindeswohl<br />

gefährdet sei, wenn die Mutter weiterhin das alleinige<br />

Sorgerecht ausüben würde. Demgegenüber sieht<br />

das nationale Recht eine volle gerichtliche Prüfung der<br />

Zuweisung der elterlichen Obsorge und eine Lösung des<br />

darüber bestehenden Konflikts zwischen getrennten<br />

Eltern in Fällen vor, in denen der Vater bereits elterliche<br />

Rechte ausgeübt hat – entweder, weil die Eltern verheiratet<br />

waren oder, falls nicht, weil sie eine Vereinbarung<br />

über eine gemeinsame Sorgerechtsausübung getroffen<br />

hatten. In solchen Fällen behalten die Eltern die gemeinsame<br />

Obsorge, außer die Gerichte weisen antragsgemäß<br />

einem Elternteil das alleinige Sorgerecht zu, sofern es<br />

das Kindeswohl verlangt (§ 177a Abs. 2 ABGB).<br />

Die Regierung hat keine ausreichenden Gründe dargelegt,<br />

warum die Situation des Bf., der seine Rolle als<br />

Vater von K. sofort angenommen hatte, Gegenstand<br />

einer geringeren gerichtlichen Prüfung sein sollte als<br />

diejenige von Vätern, die zunächst das Sorgerecht innehatten<br />

und sich später von der Kindesmutter trennten<br />

oder scheiden ließen. Im Fall Zaunegger/D hat der GH<br />

in einer vergleichbaren Situation eine Verletzung von<br />

Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK festgestellt. Es besteht kein<br />

Grund, hier zu einem anderen Schluss zu gelangen. Verletzung<br />

von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).<br />

Angesichts dieser Feststellungen hält der GH eine<br />

Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

alleine nicht für notwendig (einstimmig).<br />

III.<br />

Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />

Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt eine<br />

ausreichende Entschädigung für immateriellen Schaden<br />

dar. € 3.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).<br />

37<br />

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38<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

39<br />

Unterschiedliches Pensionsalter von Männern und Frauen<br />

Andrle gg. Tschechien, Urteil vom 17.2.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 6.268/08<br />

Leitsatz<br />

Ein Staat kann nicht dafür kritisiert werden, ein aus<br />

historischer Sicht gerechtfertigtes, unterschiedliches<br />

Pensionsalter von Männern und Frauen nur schrittweise<br />

– unter Berücksichtigung von demografischen<br />

Veränderungen und Wandlungen bei der Auffassung<br />

der Geschlechterrollen – anzupassen. Die unterschiedliche<br />

Höhe des Pensionsalters reflektiert und kompensiert<br />

Ungleichheiten aus früheren Zeiten. Die Vorhersehbarkeit<br />

des Pensionssystems muss gewahrt werden.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Vom GH zitierte Judikatur<br />

▸ Konstantin Markin/RUS v. 7.10.2010<br />

= NL 2010, 304<br />

Schlagworte<br />

Alter; Alterspension; Diskriminierung; Eigentums,<br />

Recht auf Achtung des; Pensionsrecht<br />

Sarah Baier<br />

Am 1.12.2004 setzte das Landesgericht das Verfahren<br />

des Bf. aus, um eine Entscheidung des Verfassungsgerichts<br />

abzuwarten, das in einem anderen Fall vom Obersten<br />

Verwaltungsgericht angerufen worden war, um<br />

die Verfassungsmäßigkeit von § 32 Pensionsversicherungsgesetz<br />

zu überprüfen. Mit Urteil vom 16.10.2007<br />

entschied das Verfassungsgericht, dass die genannte<br />

Bestimmung nicht diskriminierend und daher mit der<br />

Charta der Grundrechte und -freiheiten vereinbar sei.<br />

Unter Bezugnahme auf dieses Urteil wurde die Klage<br />

des Bf. am 12.12.2007 zunächst durch das Landesgericht,<br />

am 13.6.2008 auch vom Obersten Verwaltungsgericht<br />

abgewiesen.<br />

Der Bf. erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde,<br />

in der er eine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 1<br />

1. Prot. EMRK behauptete. Diese wurde jedoch als offensichtlich<br />

unbegründet zurückgewiesen.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot)<br />

in Verbindung mit Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

(Recht auf Achtung des Eigentums).<br />

Sachverhalt<br />

Der Bf. wurde 1946 geboren und lebt in Vysoké Mýto.<br />

1998 ließ er sich von seiner Frau scheiden und beantragte<br />

erfolgreich das Sorgerecht für zwei seiner vier Kinder,<br />

die 1982 bzw. 1985 geboren wurden.<br />

Am 14.11.2003 wies die tschechische Sozialversicherungsbehörde<br />

einen Antrag des Bf. auf Alterspension<br />

ab, da er das nach § 32 Pensionsversicherungsgesetz 1<br />

geforderte Pensionsalter noch nicht erreicht habe, welches<br />

in seinem Fall 61 Jahre und zehn Monate betrage.<br />

Der Bf. focht diese Entscheidung vor dem Landesgericht<br />

Hradec Králové mit der Begründung an, er habe für zwei<br />

Kinder gesorgt, weshalb er bereits mit 57 Jahren in Pension<br />

gehen könne und das Pensionsalter folglich schon<br />

erreicht habe.<br />

1 Diese Bestimmung macht das Pensionsalter von Frauen, nicht<br />

jedoch jenes von Männern, von der Anzahl der von ihnen großgezogenen<br />

Kinder abhängig.<br />

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm.<br />

Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Der Bf. ist der Ansicht, aufgrund seines Geschlechts<br />

beim Genuss seines Eigentums diskriminiert worden zu<br />

sein. Die nationale Regelung, welche für Frauen, die Kinder<br />

versorgt haben, ein unterschiedliches Pensionsalter<br />

vorsieht als für Männer in derselben Position, verfolge<br />

kein legitimes Ziel.<br />

1. Zur Zulässigkeit<br />

Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK geht über<br />

den Genuss der von der Konvention und ihren Protokollen<br />

garantierten Rechte und Freiheiten hinaus. Es<br />

ist auch auf jene Rechte anwendbar, die in den generellen<br />

Anwendungsbereich einer Konventionsbestimmung<br />

fallen und für deren Gewährung sich ein Staat entschieden<br />

hat.<br />

Sehen die geltenden Gesetze eines Staates aus einem<br />

Sozialleistungsanspruch resultierende Zahlungen – ob<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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40<br />

Andrle gg. Tschechien<br />

sie von vorausgegangen Beitragszahlungen abhängen<br />

oder nicht – vor, muss dies für jene Personen, die die<br />

Voraussetzungen dafür erfüllen, als Einräumung eines<br />

Eigentumsinteresses angesehen werden, das in den<br />

Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK fällt. Auch<br />

wenn diese Bestimmung kein Recht auf Erhalt von Sozialversicherungsleistungen<br />

jeglicher Art enthält, muss<br />

ein Staat, wenn er sich für die Errichtung eines Sozialleistungssystems<br />

entscheidet, dieses in Einklang mit<br />

Art. 14 EMRK errichten.<br />

Die Interessen des Bf. fallen in den Anwendungsbereich<br />

von Art. 1 1. Prot. EMRK und des darin garantierten<br />

Rechts auf Eigentum. Dies reicht auch für die Anwendbarkeit<br />

von Art. 14 EMRK aus.<br />

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />

noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss<br />

daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).<br />

2. In der Sache<br />

Art. 14 EMRK verbietet den Konventionsstaaten nicht,<br />

Gruppen unterschiedlich zu behandeln, um »tatsächliche<br />

Ungleichheiten« zu korrigieren. Eine unterschiedliche<br />

Behandlung ist jedoch diskriminierend, wenn es für<br />

sie keine objektive und vernünftige Rechtfertigung gibt.<br />

Es müssen schwerwiegende Gründe vorliegen, um<br />

eine allein auf dem Geschlecht basierende Ungleichbehandlung<br />

als konventionskonform zu betrachten. Dieses<br />

Prinzip wird durch die Anstrengungen zur Verbesserung<br />

der Gleichheit der Geschlechter – heute ein bedeutendes<br />

Ziel in den Mitgliedstaaten des Europarats – noch verstärkt.<br />

Ein weiter Ermessensspielraum steht den Staaten<br />

normalerweise aber bei generellen Maßnahmen im Rahmen<br />

einer wirtschaftlichen oder sozialen Strategie zu.<br />

Pensionssysteme sind Eckpfeiler moderner europäischer<br />

Wohlfahrtssysteme. Sie gründen auf dem Prinzip<br />

von Langzeitbeiträgen und dem daraus folgenden,<br />

zumindest teilweise vom Staat garantierten Pensionsanspruch.<br />

Die Besonderheiten dieses Systems – Stabilität<br />

und Zuverlässigkeit – erlauben eine lebenslange Familien-<br />

und Karriereplanung. Jede Anpassung des Pensionssystems<br />

muss daher sukzessive, behutsam und maßvoll<br />

vorgenommen werden. Ein anderer Ansatz würde den<br />

sozialen Frieden, die Vorhersehbarkeit des Pensionssystems<br />

und die Rechtssicherheit gefährden.<br />

Die Beschwerde des Bf. betrifft die Herabsetzung<br />

des Pensionsalters von Frauen, die Kinder aufgezogen<br />

haben, welche bei Männern in derselben Situation<br />

jedoch nicht möglich ist. Der Bf. gibt an, für seine 1982<br />

bzw. 1985 geborenen Kinder jedenfalls von 1997 bis zu<br />

deren Volljährigkeit gesorgt zu haben. Sein Antrag auf<br />

Alterspension wurde abgewiesen, da er das Pensionsalter<br />

für Männer, das nicht entsprechend der Anzahl der<br />

großgezogenen Kinder gesenkt werden konnte, noch<br />

nicht erreicht hatte.<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

In der früheren Tschechoslowakei war die günstigere<br />

Behandlung von Frauen, die Kinder aufzogen, darauf<br />

gerichtet, einen Ausgleich für die tatsächlichen<br />

Ungleichheiten und Härten zu schaffen, die aus der<br />

Kombination von traditioneller Mutterrolle und der<br />

sozialen Erwartung einer Vollzeitberufstätigkeit von<br />

Frauen resultierten. Dies stellte nach Ansicht des GH ein<br />

legitimes Ziel dar. Es kann nicht ignoriert werden, dass<br />

die vorliegende Maßnahme in spezifischen historischen<br />

Umständen wurzelt. Sie wurde 1964 eingeführt und spiegelt<br />

die Realität der damals sozialistischen Tschechoslowakei<br />

wider, in der Frauen für das Großziehen der Kinder<br />

verantwortlich waren, während sie unter dem Druck<br />

standen, Vollzeit zu arbeiten. Die Höhe der Lohnzahlungen<br />

und Pensionen von Frauen war allgemein geringer<br />

als jene von Männern.<br />

Auch wenn dieses Modell jüngere Familien unzweifelhaft<br />

geprägt hat, mögen sich die Rollen des Gebärens<br />

und der Kindererziehung in der heutigen Gesellschaft<br />

in weniger großem Umfang decken. Die Anstrengungen<br />

des Staates, das Pensionssystem zu modifizieren, sind<br />

darauf gerichtet, auf diese und weitreichendere soziale<br />

und demografische Entwicklungen zu reagieren. Es<br />

ist schwierig, einen konkreten Moment zu erkennen,<br />

in dem die Ungleichbehandlung von Männern die Notwendigkeit<br />

von Maßnahmen zum Ausgleich der nachteiligen<br />

Position von Frauen zu überwiegen beginnt. Die<br />

nationalen Behörden sind besser dazu geeignet, über<br />

ein solch komplexes, mit sozialen und wirtschaftlichen<br />

Strategien verbundenes Thema zu entscheiden. Ihnen<br />

steht hier ein weiter Ermessensspielraum zu.<br />

Die tschechische Regierung hat bereits Schritte zur<br />

Angleichung des Pensionssystems unternommen.<br />

Durch ein mit 1.1.2010 in Kraft getretenes Gesetz ist das<br />

Pensionsalter für nach 1968 geborene Frauen, die kein<br />

oder nur ein Kind großgezogen haben, nun gleich wie<br />

jenes von nach 1968 geborenen Männern. Für Frauen,<br />

die zwei oder mehr Kinder großgezogen haben, bleibt<br />

die Senkung des Pensionsalters zwar aufrecht, doch<br />

scheint dennoch ein allgemeiner Anstieg des Pensionsalters<br />

angestrebt zu sein.<br />

Wegen der schwierigen politischen Verhandlungen<br />

ist der Wandel im tschechischen Pensionssystem<br />

begrenzt. Demografische Veränderungen und Wandlungen<br />

hinsichtlich der Auffassung der Geschlechterrollen<br />

verlaufen jedoch von Natur aus schrittweise und<br />

es ist, nach einem 45-jährigen Bestehen der vorliegenden<br />

Maßnahme, erforderlich, Novellierungen zeitlich<br />

entsprechend abzustimmen. Deshalb kann der Staat für<br />

eine progressive, die graduellen Änderungen reflektierende<br />

Modifizierung des Pensionssystems bzw. dafür,<br />

dass nicht schneller eine komplette Angleichung des<br />

Pensionsalters vorangetrieben wurde, nicht kritisiert<br />

werden. Die verantwortliche Regierung muss zwischen<br />

verschiedenen Methoden zur Angleichung des Pensi-<br />

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NLMR 1/2011-EGMR Andrle gg. Tschechien 41<br />

onsalters wählen. Dies ist umso anspruchsvoller und<br />

erfordert gut durchdachte Lösungen, da die Reform<br />

auch in einem weiteren Kontext anderer demografischer<br />

Entwicklungen, etwa der Alterung der Bevölkerung<br />

oder der Migration, vorgenommen werden muss,<br />

während gleichzeitig die Vorhersehbarkeit des Systems<br />

für die Betroffenen, die zur Beitragsleistung verpflichtet<br />

sind, zu wahren ist.<br />

Der Fall ist daher auch von der Diskriminierungsfrage<br />

im Rahmen der Elternkarenz zu unterscheiden.<br />

Im Fall Konstantin Markin/RUS stellte der GH fest, dass<br />

die traditionelle Rolle von Frauen als primäre Kindererzieher<br />

kein ausreichender Grund für den Ausschluss<br />

von Vätern von der Elternkarenz sein kann. Anders als<br />

das Pensionssystem ist die Elternkarenz eine Kurzzeitmaßnahme,<br />

die nicht das ganze Leben der Mitglieder<br />

der Gesellschaft betrifft. Sie bezieht sich auf das heutige<br />

Leben einer Person, wohingegen das Pensionsalter<br />

Ungleichheiten aus früheren Zeiten reflektiert und kompensiert.<br />

Nach Ansicht des GH bewirkt die Änderung des<br />

Elternkarenzsystems, auf das im Fall Konstantin Markin/<br />

RUS Bezug genommen wurde, keine Änderungen der feinen<br />

Balance des Pensionssystems, hat keine ernsthaften<br />

finanziellen Auswirkungen und ändert die Langzeitplanung<br />

nicht, was jedoch hinsichtlich des Pensionssystems,<br />

das einen Teil der nationalen wirtschaftlichen<br />

und sozialen Strategien bildet, der Fall sein könnte.<br />

Im Ergebnis hält der GH fest, dass es ursprüngliches<br />

Ziel des unterschiedlichen, auf der Anzahl der von Frauen<br />

großgezogenen Kinder basierenden Pensionsalters<br />

war, die tatsächlichen Ungleichheiten zwischen Männern<br />

und Frauen auszugleichen. Unter den besonderen<br />

Umständen des vorliegenden Falls bleibt dieser Ansatz<br />

weiterhin vernünftig und objektiv gerechtfertigt, bis<br />

soziale und wirtschaftliche Veränderungen die Notwendigkeit<br />

einer Sonderbehandlung von Frauen beseitigen.<br />

Der GH ist nicht überzeugt, dass die zeitliche Abstimmung<br />

und die fraglichen Ungleichheiten so offensichtlich<br />

unangebracht waren, dass sie den weiten staatlichen<br />

Ermessensspielraum überstiegen.<br />

Der Staat kann nicht dafür kritisiert werden, kein<br />

angemessenes Gleichgewicht zwischen der behaupteten<br />

unterschiedlichen Behandlung und dem verfolgten,<br />

legitimen Ziel gewahrt zu haben. Es liegt keine Verletzung<br />

von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK vor<br />

(einstimmig).<br />

Grenzen und Gefahren des<br />

Schutzes der Grundrechte<br />

Fünf Studien<br />

XVIII, 325 Seiten<br />

150 × 230 mm<br />

broschiert<br />

€ 68,–<br />

ISBN 978-3-902638-06-9<br />

Unter Berücksichtigung des theoretischen juristischen,<br />

aber auch politologischen bzw historischen Hintergrundes<br />

vereinigt der vorliegende Band fünf jeweils in<br />

sich abgeschlossene Studien zu aktuellen rechtspolitischen<br />

Fragestellungen des Grundrechtsschutzes, insbesondere:<br />

Wie kann und soll sich die der nunmehr in Wien<br />

errichteten Agentur der EU für Grundrechte<br />

aufgetragene »Zusammenarbeit« gestalten<br />

Ist die Errichtung einer »Nationalen Menschen-rechtsinstitution«<br />

in Österreich, als eines nationalen Pendants<br />

zur EU-Grundrechte-Agentur, sinnvoll<br />

und machbar<br />

Wie kann und soll der Diskriminierungsschutz<br />

vor dem Hintergrund der EU-Grundrechte-Charta<br />

ausgestaltet werden<br />

Auf welche Weise ist das Spannungsverhältnis im<br />

Datenschutz aufzulösen, das zwischen Art 8 Abs 3<br />

und Art 47 EU-Grundrechte-Charta besteht,<br />

und was bedeutet dies für Österreich<br />

Auf welcher Grundlage gelten die Grundrechte in<br />

bello (dies vor dem Hintergrund der rezenten Erfahrung<br />

mit dem US-Gefangenenlager »Guantánamo«)<br />

Die enge Verbindung von (mehrdimensionaler) Theorie<br />

und Praxis, die dieses Werk auszeichnet, bietet damit<br />

dem Leser in seiner Gesamtheit einen repräsentativen<br />

Überblick über wesentliche Fragestellungen des Grundrechteschutzes.<br />

•<br />

<br />

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Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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42<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Weitere Urteile und Entscheidungen<br />

des Europäischen Gerichtshofs für <strong>Menschenrechte</strong><br />

Art. 2 EMRK<br />

Lebensgefahr<br />

Schwere Verletzung eines der Bf., einem Roma, nach<br />

einem unter unklaren Umständen erfolgten Kopfschuss<br />

in Polizeigewahrsam: Verletzung von Art. 2, Art. 3 und<br />

Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK; keine Verletzung von Art. 14 iVm.<br />

Art. 2 und Art. 3 EMRK<br />

Soare u.a. gg. Rumänien<br />

24.329/02, Urteil vom 22.2.2011<br />

Ermittlungspflicht<br />

Angemessene Untersuchung des Verschwindens eines<br />

militärischen Befehlshabers 1995 während des Kriegs<br />

in Bosnien und Herzegowina: keine Verletzung von Art. 2,<br />

Art. 3 und Art. 5 EMRK<br />

Palić gg. Bosnien und Herzegowina<br />

4.704/04, Urteil vom 15.2.2011<br />

Recht auf Leben<br />

Ausreichende medizinische Versorgung des während<br />

seiner Haft verstorbenen Sohnes der Bf.: keine Verletzung<br />

von Art. 2 und Art. 3 EMRK<br />

Geppa gg. Russland<br />

8.532/06, Urteil vom 3.2.2011<br />

Recht auf Leben<br />

Tod eines Häftlings aufgrund seiner Diabeteserkrankung,<br />

die nicht behandelt wurde, obwohl der Anwalt des<br />

Betroffenen darauf hingewiesen hatte: Verletzung von<br />

Art. 2 EMRK<br />

Iordanovi gg. Bulgarien<br />

10.907/04, Urteil vom 27.1.2011<br />

Recht auf Leben<br />

Tod eines Häftlings infolge von schwerer Gewaltanwendung<br />

seitens anderer Insassen und unzureichende diesbezügliche<br />

Ermittlungen: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />

Iorga u.a. gg. Rumänien<br />

26.246/05, Urteil vom 25.1.2011<br />

▷<br />

Ermittlungspflicht<br />

Unzureichende Untersuchungen zur Aufklärung des im<br />

Kroatienkrieg 1991 erfolgten Todes bzw. Verschwindens<br />

der Ehemänner der Bf.: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />

Jularić gg. Kroatien<br />

Skendžić und Krznarić gg. Kroatien<br />

20.106/06 und 16.212/08, Urteile vom 20.1.2011<br />

Recht auf Leben<br />

Selbstmord des psychisch labilen Verwandten der Bf.<br />

während seines verpflichtenden Militärdienstes an der<br />

Südostgrenze der Türkei: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />

Servet Gündüz u.a. gg. die Türkei<br />

4.611/05, Urteil vom 11.1.2011<br />

Recht auf Leben<br />

Tötung eines Mädchens durch streunende Hunde, deren<br />

Gefährlichkeit bereits bekannt war, nahe einer Polizeistation:<br />

keine Verletzung von Art. 2 EMRK; Verletzung von<br />

Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Berü gg. die Türkei<br />

47.304/07, Urteil vom 11.1.2011<br />

Recht auf Leben<br />

Tötung von zwei Kindern bei der Explosion eines Wurfgeschoßes<br />

in Tschetschenien : keine Verletzung von Art. 2<br />

EMRK (materieller Aspekt); Verletzung von Art. 2 EMRK<br />

(verfahrensrechtlicher Aspekt)<br />

Udayeva und Yusupova gg. Russland<br />

36.542/05, Urteil vom 21.12.2010<br />

Recht auf Leben<br />

Tod eines Taubstummen, dem nach einem Sturz in<br />

einer Ausnüchterungszelle keine geeignete Möglichkeit<br />

gegeben wurde, seinen Gesundheitszustand mitzuteilen,<br />

obwohl man über seine Behinderung informiert<br />

war: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />

Jasinskis gg. Lettland<br />

45.744/08, Urteil vom 21.12.2010<br />

▷<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

EGMR kurz gefasst<br />

43<br />

Art. 3 EMRK<br />

Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />

Systematische Misshandlung des Bf. durch Mithäftlinge<br />

ohne Einschreiten der Aufseher: Verletzung von Art. 3 und<br />

Art. 5 Abs. 4 EMRK<br />

Premininy gg. Russland<br />

44.973/04, Urteil vom 10.2.2011<br />

Auslieferung<br />

Drohende Auslieferung des Bf. nach Kasachstan, wo er<br />

Misshandlungen befürchtet, ohne jedoch ausreichende<br />

individuelle Umstände für seine Befürchtungen geltend<br />

zu machen: keine Verletzung von Art. 3 und Art. 6 EMRK im<br />

Falle der Auslieferung; Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK<br />

Dzhaksybergenov gg. die Ukraine<br />

12.343/10, Urteil vom 10.2.2011<br />

Haftbedingungen<br />

Haft unter widrigen Bedingungen, wofür der Bf. nur eine<br />

geringe Entschädigung erhielt: Verletzung von Art. 3 und<br />

Art. 13 EMRK<br />

Radkov gg. Bulgarien (Nr. 2)<br />

18.382/05, Urteil vom 10.2.2011<br />

Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />

Entführung eines Soldaten durch PKK-Mitglieder, worüber<br />

die Bf. – dessen Verwandte – in Unklarheit gelassen<br />

wurden: Verletzung von Art. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK; keine<br />

Verletzung von Art. 14 EMRK<br />

Açiş gg. die Türkei<br />

7.050/05, Urteil vom 1.2.2011<br />

Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />

Gynäkologische Untersuchung einer Minderjährigen in<br />

Polizeigewahrsam, ohne ihre Zustimmung einzuholen<br />

oder weitere Schutzvorkehrungen zu treffen: Verletzung<br />

von Art. 3 EMRK<br />

Yazgül Yilmaz gg. die Türkei<br />

36.369/06, Urteil vom 1.2.2011<br />

Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />

Verletzung des Bf. während eines Polizeieinsatzes, den<br />

er selbst auslöste, indem er seinen Vater mit Waffen<br />

bedrohte: keine Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

Sambor gg. Polen<br />

15.579/05, Urteil vom 1.2.2011<br />

▷<br />

Haftbedingungen<br />

Haft, während der der Bf. dem Zigarettenrauch seiner<br />

Mithäftlinge ausgesetzt war: Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

Elefteriadis gg. Rumänien<br />

38.427/05, Urteil vom 25.1.2011<br />

Refoulement<br />

Drohende Abschiebung der Bf. nach Usbekistan, wo sie<br />

befürchten, wegen ihres Asylantrags und des Ablaufs<br />

ihres Ausreisevisums misshandelt zu werden : unzulässig<br />

N. M. und M. M. gg. das Vereinigte Königreich<br />

38.851/09 und 39.128/09, Entscheidung vom 25.1.2011<br />

Refoulement<br />

Drohende Abschiebung von Tamilen nach Sri Lanka, wo<br />

sie aufgrund ihrer Verbindungen zu den LTTE befürchten,<br />

verfolgt und misshandelt zu werden: keine Verletzung<br />

von Art. 3 EMRK im Falle der Abschiebung<br />

T. N. gg. Dänemark<br />

T. N. und S. N. gg. Dänemark<br />

S. S. u.a. gg. Dänemark<br />

P. K. gg. Dänemark<br />

N. S. gg. Dänemark<br />

20.594/08, 36.517/08, 54.703/08, 54.705/08 und<br />

58.359/08, Urteile vom 20.1.2011<br />

Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />

Wiederholte, mit Video festgehaltene und von mit<br />

Sturmhauben bekleideten Beamten durchgeführte Leibesvisitation<br />

des inhaftierten Bf.: Verletzung von Art. 3<br />

und Art. 13 EMRK<br />

El Shennawy gg. Frankreich<br />

51.246/08, Urteil vom 20.1.2011<br />

Haftbedingungen<br />

26-fache Überstellung eines Hochrisiko-Häftlings in<br />

unterschiedliche Gefängnisse, um die Ausbruchsgefahr<br />

zu reduzieren: Verletzung von Art. 3 EMRK (Haftbedingungen)<br />

und Art. 13 EMRK; keine Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

(Überstellungen)<br />

Payet gg. Frankreich<br />

19.606/08, Urteil vom 20.1.2011<br />

Haftbedingungen<br />

Haft des Bf. unter widrigen Bedingungen und unzureichende<br />

medizinische Versorgung: Verletzung von Art. 3<br />

EMRK; keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Gladkiy gg. Russland<br />

3.242/03, Urteil vom 21.12.2010<br />

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44<br />

EGMR kurz gefasst<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Haftbedingungen<br />

Unangemessene Unterbringung bzw. unzureichende<br />

medizinische Behandlung der an Anorexie leidenden,<br />

inhaftierten Bf.: Verletzung von Art. 3 EMRK<br />

Raffray Taddei gg. Frankreich<br />

36.435/07, Urteil vom 21.12.2010<br />

Rechtmäßigkeit der Haft<br />

30 Tage dauernde Anhaltung von zwei strafunmündigen<br />

Jugendlichen in einer Jugendeinrichtung, weil sie Essen<br />

gestohlen hatten: Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK<br />

Ichin u.a. gg. die Ukraine<br />

28.189/04 und 28.192/04, Urteil vom 21.12.2010<br />

Art. 5 EMRK<br />

Rechtmäßigkeit der Haft<br />

Mehr als zwei Jahre dauernde, unrechtmäßige Untersuchungshaft<br />

des Bf. und Anweisung an die Regierung,<br />

eine Strategie zur Beseitigung der diesbezüglichen Probleme<br />

struktureller Natur vorzulegen: Verletzung von Art. 3<br />

und Art. 5 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 4 EMRK<br />

Kharchenko gg. die Ukraine<br />

40.107/02, Urteil vom 10.2.2011<br />

Schubhaft<br />

Verhängung der Schubhaft über die Bf. kurz nach der<br />

Geburt ihres Kindes, obwohl das italienische Recht eine<br />

Ausweisung bis sechs Monate nach der Geburt untersagt:<br />

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. f und Abs. 5 EMRK<br />

Seferovic gg. Italien<br />

12.921/04, Urteil vom 8.2.2011<br />

Rechtmäßigkeit der Haft<br />

Anhaltung des Bf. in einem Ausnüchterungszentrum:<br />

keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK<br />

Kharin gg. Russland<br />

37.345/03, Urteil vom 3.2.2011<br />

Dauer der Untersuchungshaft<br />

Exzessive Dauer der Untersuchungshaft des Bf., die<br />

erneut verhängt wurde, nachdem der EGMR schon zuvor<br />

eine exzessive Haftdauer festgestellt hatte: Verletzung<br />

von Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Choumakov gg. Polen (Nr. 2)<br />

55.777/08, Urteil vom 1.2.2011<br />

Rechtmäßigkeit der Haft<br />

Über die zur Tatzeit zulässige Höchstdauer hinaus verlängerte<br />

Unterbringung der Bf. in Sicherungsverwahrung:<br />

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK<br />

Kallweit gg. Deutschland<br />

Mautes gg. Deutschland<br />

Schummer gg. Deutschland<br />

17.792/07, 20.008/07, 27.360/04 und 42.225/07,<br />

Urteile vom 13.1.2011<br />

Art. 6 EMRK – zivilrechtliche Verfahren<br />

Faires Verfahren<br />

Auferlegung der Kosten eines Exekutionsverfahrens aufgrund<br />

richterlicher Auslegung einer Rechtsnorm: Verletzung<br />

von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

3A. CZ s. r. o. gg. Tschechien<br />

21.835/06, Urteil vom 10.2.2011<br />

Faires Verfahren<br />

Keine Möglichkeit für die Bf., in Verfahren betreffend<br />

ihre Militärpension auf die schriftliche Stellungnahme<br />

des Verteidigungsministeriums zu antworten: Verletzung<br />

von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Hubka gg. Tschechien<br />

PalŠovič gg. Tschechien<br />

500/06 und 39.278/04, Urteile vom 3.2.2011<br />

Faires Verfahren<br />

Fehlerhaftes Verfahren, in dem die Bf. geltend machten,<br />

ihre Felder infolge der Erbauung eines Flughafens nicht<br />

mehr bewässern zu können: Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />

EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Gereksar u.a. gg. die Türkei<br />

34.764/05 u.a., Urteil vom 1.2.2011<br />

Zugang zu einem Gericht<br />

Unzuständigerklärung der italienischen Gerichte hinsichtlich<br />

eines Rechtsstreits betreffend die Anstellung<br />

der Bf. an der französischen Schule in Rom: Verletzung<br />

von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Guadagnino gg. Italien und Frankreich<br />

2.555/03, Urteil vom 18.1.2011<br />

Faires Verfahren<br />

Nichteinhaltung einer vom BVerfG erlassenen einstweiligen<br />

Anordnung an das Justizministerium, bis zum<br />

Ergebnis der Verfassungsbeschwerde des Bf. einen Notariatsposten<br />

nicht zu besetzen: Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />

EMRK<br />

Kübler gg. Deutschland<br />

32.715/06, Urteil vom 13.1.2011<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

EGMR kurz gefasst<br />

45<br />

Unparteilichkeit<br />

Parteilichkeit einer Richterin in einem Insolvenzverfahren,<br />

da sie gleichzeitig auch Gläubigerin war: Verletzung<br />

von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Gajewski gg. Polen<br />

27.225/05, Urteil vom 21.12.2010<br />

Art. 6 EMRK – Strafverfahren<br />

Faires Verfahren<br />

Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils, mit dem der<br />

Bf. freigesprochen worden war: Verletzung von Art. 6<br />

Abs. 1 EMRK<br />

Butuşină gg. Rumänien<br />

30.818/04, Urteil vom 8.2.2011<br />

Recht auf Achtung des Privatlebens<br />

Ausweisung des Bf., dem 1998 politisches Asyl gewährt<br />

worden war, aus Gründen der nationalen Sicherheit<br />

ohne ausreichende Vorkehrungen gegen eine willkürliche<br />

Entscheidung: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

Geleri gg. Rumänien<br />

33.118/05, Urteil vom 15.2.2011<br />

Recht auf Achtung der Wohnung<br />

Durchsuchung der Wohnung bzw. des Büros der Bf. ohne<br />

richterliche Anordnung oder nachträgliche gerichtliche<br />

Überprüfung: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

Harju gg. Finnland<br />

Heino gg. Finnland<br />

56.716/09 und 56.720/09, Urteile vom 15.2.2011<br />

Unschuldsvermutung<br />

Zurückweisung einer zivilrechtlichen Schadenersatzklage<br />

wegen Führung eines – im Freispruch des Bf. endenden<br />

– Strafverfahrens, da dieser nicht beweisen konnte,<br />

der Verdacht gegen ihn sei unbegründet gewesen: keine<br />

Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK<br />

Bok gg. die Niederlande<br />

45.482/06, Urteil vom 18.1.2011<br />

Verteidigungsrechte<br />

Ausreichende Schutzvorkehrungen hinsichtlich der<br />

Zurückbehaltung von Beweismaterial gegen den unter<br />

Terrorismusverdacht stehenden Bf.: keine Verletzung von<br />

Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

McKeown gg. das Vereinigte Königreich<br />

6.684/05, Urteil vom 11.1.2011<br />

Verfahrensdauer<br />

Überlange Dauer eines Verfahrens wegen Steuerhinterziehung,<br />

das zunächst in Erwartung einer anderen Entscheidung<br />

ausgesetzt und letztlich eingestellt wurde:<br />

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Wienholtz gg. Deutschland<br />

974/07, Urteil vom 21.12.2010<br />

Art. 8 EMRK<br />

Recht auf Achtung des Privatlebens<br />

Abweisung eines Antrags auf Änderung des Vornamens<br />

der Bf., die angab, unter einem anderen Vornamen<br />

bekannt zu sein: keine Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

Golemanova gg. Bulgarien<br />

11.369/04, Urteil vom 17.2.2011<br />

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens<br />

Seit Inkrafttreten der Konvention andauernde Beeinträchtigung<br />

der Bf. durch von einer Kohlemine bzw. -fabrik<br />

ausgehende Umweltverschmutzung: Verletzung von<br />

Art. 8 EMRK<br />

Dubetska u.a. gg. die Ukraine<br />

30.499/03, Urteil vom 10.2.2011<br />

Recht auf Achtung des Familienlebens<br />

Über sechs Jahre dauerndes Verfahren betreffend die<br />

Besuchsrechte des Bf. und unzureichende Maßnahmen<br />

zum Schutz des Familienlebens: Verletzung von Art. 6<br />

Abs. 1 und Art. 8 EMRK<br />

Tsikakis gg. Deutschland<br />

1.521/06, Urteil vom 10.2.2011<br />

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens<br />

Verfügung, mit der die Bf., die wie ein fahrendes Volk<br />

umherzieht, ohne jedoch einer ethnischen oder traditionellen<br />

Gruppe anzugehören, am Betreten bzw. Belagern<br />

von Waldgebieten gehindert wurde: unzulässig<br />

Sharon Horie gg. das Vereinigte Königreich<br />

31.845/10, Entscheidung vom 1.2.2011<br />

Recht auf Achtung des Familienlebens<br />

Säumnisse der Behörden in Hinblick auf das Ersuchen<br />

des Bf., dessen von der Mutter nach Portugal verbrachtes<br />

Kind aufzufinden und nach Großbritannien zurückzuholen:<br />

Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

Dore gg. Portugal<br />

775/08, Urteil vom 1.2.2011<br />

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46<br />

EGMR kurz gefasst<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Recht auf Achtung des Privatlebens<br />

Lange Verzögerungen in Strafverfahren, bei dem auch<br />

ein Säureangriff auf die Bf. untersucht wurde: Verletzung<br />

von Art. 3 und Art. 8 EMRK<br />

Ebcin gg. die Türkei<br />

19.506/05, Urteil vom 1.2.2011<br />

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit<br />

Unterbrechung eines religiösen Treffens durch die Polizei,<br />

wofür es keine ausreichende gesetzliche Grundlage<br />

gab: Verletzung von Art. 9 und Art. 13 EMRK<br />

Boychev u.a. gg. Bulgarien<br />

77.185/01, Urteil vom 27.1.2011<br />

Recht auf Achtung des Familienlebens<br />

Fehlende Vollstreckung eines Urteils zugunsten der Bf.,<br />

mit der ihr das Sorgerecht für ihre Tochter zugesprochen<br />

wurde: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

Bordeianu gg. Moldawien<br />

49.868/08, Urteil vom 11.1.2011<br />

Recht auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz<br />

Keine gesetzliche Grundlage für Weigerung der Gefängnisbehörden,<br />

Briefe in einer anderen Sprache als der<br />

türkischen zu versenden: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />

Nuri Özen u.a. gg. die Türkei<br />

15.672/08 u.a., Urteil vom 11.1.2011<br />

Recht auf Achtung des Familienlebens<br />

Keine Möglichkeit für den Bf., die rechtliche Vaterschaft<br />

für die drei Kinder feststellen zu lassen, die während der<br />

Ehe mit seiner Exfrau zur Welt kamen: keine Verletzung<br />

von Art. 8 EMRK<br />

Chavdarov gg. Bulgarien<br />

3.465/03, Urteil vom 21.12.2010<br />

Art. 9 EMRK<br />

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit<br />

Verpflichtung, auf der Lohnsteuerkarte zwecks Erhebung<br />

der Kirchensteuer die Mitglied- oder Nichtmitgliedschaft<br />

in einer Religionsgemeinschaft anzugeben:<br />

keine Verletzung von Art. 8 und Art. 9 EMRK<br />

Wasmuth gg. Deutschland<br />

12.884/03, Urteil vom 17.2.2011<br />

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit<br />

Auf Loyalitätsgründen beruhende Kündigung der Bf.,<br />

die in einem evangelischen Kindergarten angestellt war,<br />

jedoch einer anderen Religionsgemeinschaft angehörte<br />

und für diese tätig war: keine Verletzung von Art. 9 EMRK<br />

Siebenhaar gg. Deutschland<br />

18.136/02, Urteil vom 3.2.2011<br />

Art. 10 EMRK<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung wegen Veröffentlichung eines Buchs über<br />

das türkische Gefängnissystem, in dem die Bf. Propaganda<br />

für illegale bewaffnete Gruppen betrieben haben<br />

sollen: Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 EMRK<br />

Çamyar und Berktaş gg. die Türkei<br />

41.959/02, Urteil vom 15.2.2011<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Ausschluss des Bf. aus der Anwaltskammer wegen offensiver<br />

Bemerkungen gegenüber einem Richter, der ihn<br />

von einem Verfahren ausgeschlossen hatte: Verletzung<br />

von Art. 10 und Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />

Igor Kabanov gg. Russland<br />

8.921/05, Urteil vom 3.2.2011<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung des Bf., der in der Presse gegen die US-<br />

Intervention im Irak und die Einzelhaft Öcalans protestiert<br />

hatte: Verletzung von Art. 10 und Art. 6 Abs. 1 und<br />

Abs. 3 lit. c EMRK<br />

Faruk Temel gg. die Türkei<br />

16.853/05, Urteil vom 1.2.2011<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung wegen Unterzeichnung einer Erklärung zur<br />

Aufhebung des im deutschen Vereinsgesetz vorgesehnen<br />

Verbots der PKK: keine Verletzung von Art. 10 EMRK<br />

Aydin gg. Deutschland<br />

16.637/07, Urteil vom 27.1.2011<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Für Insassen nordirischer Gefängnisse geltendes Verbot,<br />

außerhalb der Zellen Symbole mit politischem Hintergrund<br />

zu tragen: unzulässig<br />

Christopher Donaldson gg. das Vereinigte Königreich<br />

56.975/09, Entscheidung vom 25.1.2011<br />

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

EGMR kurz gefasst<br />

47<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung wegen Berichterstattung über das Privatleben<br />

der Kommunikationsmanagerin eines Präsidentschaftskandidaten:<br />

Verletzung von Art. 10 EMRK; keine<br />

Verletzung von Art. 7 EMRK<br />

Reinboth u.a. gg. Finnland<br />

30.865/08, Urteil vom 25.1.2011<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung wegen Berichterstattung über Drogenentzugsmaßnahmen<br />

Naomi Campbells und Auferlegung<br />

der Verfahrenskosten, die auch ein zwischen Klägerin<br />

und Anwalt vereinbartes Erfolgshonorar umfassten:<br />

keine Verletzung von Art. 10 EMRK (Privatsphäre); Verletzung<br />

von Art. 10 EMRK (Erfolgshonorarkosten)<br />

MGN Limited gg. das Vereinigte Königreich<br />

39.401/04, Urteil vom 18.1.2011<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung zweier Politiker wegen Diffamierung, da<br />

sie ihrem politischen Gegner in einer Pressekonferenz<br />

schwere, auch strafrechtlich relevante Vorwürfe<br />

gemacht hatten: keine Verletzung von Art. 10 EMRK<br />

Barata Monteiro da Costa Nogueira und Patrício Pereira<br />

gg. Portugal<br />

4.035/08, Urteil vom 11.1.2011<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung zu Schadenersatzzahlung wegen Veröffentlichung<br />

eines Artikels über angebliche Veruntreuung<br />

von Staatsvermögen, ohne dass die Gerichte das Vorliegen<br />

einer Tatsachenbasis ausreichend geprüft haben:<br />

Verletzung von Art. 10 EMRK<br />

Novaya Gazeta V Voronezhe gg. Russland<br />

27.570/03, Urteil vom 21.12.2010<br />

Meinungsäußerungsfreiheit<br />

Verurteilung des Bf. zu Schadenersatzzahlung wegen<br />

Diffamierung, weil er einen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl<br />

in einem Brief an Behörden kritisiert hatte:<br />

Verletzung von Art. 10 EMRK<br />

Sofranschi gg. Moldawien<br />

34.690/05, Urteil vom 21.12.2010<br />

Art. 11 EMRK<br />

Versammlungsfreiheit<br />

Gewaltvoller Zusammenstoß zwischen Polizei und<br />

Demonstranten bei der Niederschlagung eines Protestmarsches<br />

gegen Hochsicherheitsgefängnisse: Verletzung<br />

von Art. 3 und Art. 11 EMRK<br />

Gülizar Tuncer gg. die Türkei (Nr. 2)<br />

12.903/02, Urteil vom 8.2.2011<br />

Art. 14 EMRK<br />

Diskriminierungsverbot<br />

Keine Gewährung einer Witwenrente, da die Bf. nicht<br />

mit ihrem verstorbenen Partner verheiratet war: keine<br />

Verletzung von Art. 14 EMRK; Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />

und Art. 13 EMRK<br />

Korosidou gg. Griechenland<br />

9.957/08, Urteil vom 10.2.2011<br />

Art. 46 EMRK<br />

Strukturelles Problem<br />

Chronisches Problem exzessiver Verfahrensdauer vor<br />

allem vor den Verwaltungsbehörden: Verletzung von<br />

Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK<br />

Vassilios Athanasiou u.a. gg. Griechenland<br />

50.973/08, Urteil vom 21.12.2010<br />

Strukturelles Problem<br />

Strukturelle Verzögerungen bei der Vollstreckung von<br />

sogenannten »Pinto«-Entscheidungen, mit denen Entschädigungen<br />

für überlange Gerichtsverfahren zugesprochen<br />

wurden: Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und<br />

Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Gaglione u.a. gg. Italien<br />

45.867/07, Urteil vom 21.12.2010<br />

Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Recht auf Achtung des Eigentums<br />

Wertverlust von Unternehmensanteilen, deren Verkauf<br />

zur Sicherung der Steuerschulden der Bf. von der<br />

Finanzbehörde untersagt worden war: Verletzung von<br />

Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Metalco BT gg. Ungarn<br />

34.976/05, Urteil vom 1.2.2011<br />

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48<br />

EGMR kurz gefasst<br />

NLMR 1/2011-EGMR<br />

Recht auf Achtung des Eigentums<br />

Keine Erteilung einer Baugenehmigung auf dem Land<br />

des Bf., auf dem laut Bebauungsplan eine Schule errichtet<br />

werden sollte: Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Hakan Ari gg. die Türkei<br />

13.331/07, Urteil vom 11.1.2011<br />

Recht auf Achtung des Eigentums<br />

Gerechtfertigte Beschränkung der Eigentumsrechte der<br />

Bf. durch ein Gesetz, das die Beendigung von bereits 20<br />

Jahre bestehenden Mietverhältnissen untersagt: keine<br />

Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK<br />

Almeida Ferreira und Melo Ferreira gg. Portugal<br />

41.696/07, Urteil vom 21.12.2010<br />

Art. 2 1. Prot. EMRK<br />

Recht auf Bildung<br />

Schulausschluss für 45 Tage nach Brandlegung in Schulgebäude,<br />

wobei dem Bf. alternativer Unterricht angeboten<br />

wurde: keine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK<br />

Ali gg. das Vereinigte Königreich<br />

40.385/06, Urteil vom 11.1.2011<br />

Freizügigkeit<br />

Verweigerung der Ausstellung eines Reisepasses für den<br />

in Staatsgeheimnisse eingeweihten Bf., um ihn an Auslandsreisen<br />

zu hindern: Verletzung von Art. 2 4. Prot.<br />

EMRK<br />

Soltysyak gg. Russland<br />

4.663/05, Urteil vom 10.2.2011<br />

Freizügigkeit<br />

Entzug des Reisepasses des in einem überlangen Strafverfahren<br />

wegen Diebstahls verurteilten Bf., um ihn<br />

an der Ausreise zu hindern: Verletzung von Art. 6 Abs. 1,<br />

Art. 13 EMRK und Art. 2 4. Prot. EMRK<br />

Nalbantski gg. Bulgarien<br />

30.943/04, Urteil vom 10.2.2011<br />

Sarah Baier<br />

•<br />

Art. 3 1. Prot. EMRK<br />

Recht auf freie Wahlen<br />

Automatischer Entzug des Wahlrechts von zu lebenslanger<br />

Freiheitsstrafe verurteilten Häftlingen: Verletzung<br />

von Art. 3 1. Prot. EMRK<br />

Scoppola gg. Italien (Nr. 3)<br />

126/05, Urteil vom 18.1.2011<br />

Art. 2 4. Prot. EMRK<br />

Freizügigkeit<br />

Mehr als sechs Jahre dauerndes, im Zuge eines Strafverfahrens<br />

über den Bf. verhängtes Ausreiseverbot, dessen<br />

Frau und Kind in Deutschland leben: Verletzung von<br />

Art. 2 4. Prot. EMRK und Art. 13 EMRK<br />

Pfeifer gg. Bulgarien<br />

24.733/04, Urteil vom 17.2.2011<br />

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NLMR 1/2011-EuGH<br />

49<br />

Judikatur des EuGH<br />

Kündigung, sobald Anspruch auf Alterspension besteht<br />

Pensionsversicherungsanstalt gg. Christine Kleist, Urteil vom 18.11.2010, Rs. C-356/09<br />

Leitsatz<br />

Eine nationale Regelung, die die Kündigung von Arbeitnehmern<br />

vorsieht, die einen Anspruch auf Alterspension<br />

erworben haben, stellt eine unmittelbare Diskriminierung<br />

aufgrund des Geschlechts dar, wenn Frauen diesen<br />

Anspruch fünf Jahre früher erwerben als Männer.<br />

Rechtsquellen<br />

RL 76/207/EWG<br />

Schlagworte<br />

Alter; Alterspension; Arbeitsrecht; Diskriminierung;<br />

Kündigungsschutz; Pension; Sicherheit, soziale<br />

Sachverhalt<br />

Petra Pann<br />

Die Klägerin war leitende Ärztin bei der Pensionsversicherungsanstalt<br />

(im Folgenden: PVA). Kurz vor ihrem<br />

59. Geburtstag teilte sie ihrem Arbeitgeber mit Schreiben<br />

vom 9.1.2007 mit, dass sie beabsichtige, bis zur Vollendung<br />

ihres 65. Lebensjahres weiterzuarbeiten und<br />

nicht im Alter von 60 Jahren den Ruhestand anzutreten. 1<br />

Die PVA hatte zuvor beschlossen, Arbeitnehmer, die die<br />

1 Gemäß § 253 Abs. 1 ASVG erwerben Frauen den Anspruch auf<br />

Alterspension nach Vollendung des 60., Männer nach Vollendung<br />

des 65. Lebensjahres.<br />

Voraussetzungen 2 für eine Versetzung in den Ruhestand<br />

nach der Dienstordnung B für die Ärzte und Dentisten<br />

bei den Sozialversicherungsträgern Österreichs (im Folgenden:<br />

DO.B) erfüllen, zu kündigen. Mit Schreiben vom<br />

6.12.2007 wurde die Klägerin informiert, dass sie mit<br />

1.7.2008 in den Ruhestand versetzt werde.<br />

Die Klägerin focht ihre Kündigung vor dem LG Innsbruck<br />

erfolglos an. Das OLG Innsbruck in Arbeits- und<br />

Sozialrechtssachen gab ihrer Berufung jedoch statt. Die<br />

PVA legte daraufhin Revision beim OGH ein.<br />

Der OGH verwies auf den Umstand, dass die DO.B insofern<br />

einen stärkeren Kündigungsschutz als der österreichische<br />

allgemeine Kündigungsschutz darstellt, da<br />

sie eine Kündigung von Beschäftigten, deren Betriebszugehörigkeit<br />

zehn Jahre oder mehr beträgt, nur aus<br />

bestimmten Gründen zulässt. Der allgemeine Kündigungsschutz<br />

sieht dagegen vor, dass eine Kündigung<br />

im Allgemeinen keines Grundes bedarf. Dadurch werde<br />

jedoch die Anwendung des allgemeinen Kündigungsschutzes<br />

hinsichtlich missbräuchlicher Kündigungen<br />

nicht berührt, der unter bestimmten Voraussetzungen<br />

gelte, wenn die Kündigung wesentliche Interessen des<br />

Arbeitnehmers beeinträchtige und nicht durch betriebliche<br />

Gründe oder Gründe in der Person des Arbeitnehmers<br />

gerechtfertigt werden könne. Eine soziale Absicherung,<br />

insbesondere durch Bezug einer Alterspension,<br />

werde bei der Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher<br />

Interessen mitberücksichtigt.<br />

Der OGH stellte sich die Frage, ob das Kriterium der<br />

sozialen Situation des Arbeitnehmers, auf das das öster-<br />

2 Voraussetzung ist u.a. ein Anspruch auf Alterspension.<br />

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50<br />

Pensionsversicherungsanstalt gg. Christine Kleist<br />

reichische Kündigungsrecht verweise, bei der Beurteilung<br />

der Vergleichbarkeit der Situation der Arbeitnehmer<br />

nicht ebenso zu berücksichtigen sei wie das<br />

Alterskriterium. Männer und Frauen seien insofern<br />

gleichgestellt, als sie, wenn sie über eine soziale Absicherung<br />

verfügten, den verstärkten Kündigungsschutz<br />

der DO.B verlören.<br />

Im Rahmen dieses Verfahrens legte der OGH die folgenden<br />

Fragen zur Vorabentscheidung vor:<br />

1. Ist im Falle einer Ausgestaltung des allgemeinen<br />

Kündigungsschutzes wie in Österreich Art. 3 Abs. 1 lit. c<br />

der RL 76/207/EWG 3 dahin auszulegen, dass er einer<br />

kollektivvertraglichen Bestimmung entgegensteht, die<br />

einen weitergehenden Kündigungsschutz nur bis zu<br />

dem Zeitpunkt vorsieht, in dem typischerweise eine<br />

soziale Absicherung in Form eines Anspruchs auf Alterspension<br />

gegeben ist, wenn letzterer für Männer und<br />

Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten entsteht<br />

2. Steht diese Bestimmung im Rahmen dieses<br />

Arbeitsrechtssystems der Entscheidung eines öffentlichen<br />

Arbeitgebers entgegen, der eine Arbeitnehmerin<br />

wenige Monate nach dem Zeitpunkt kündigt, in dem<br />

sie eine Absicherung durch eine Alterspension hat, um<br />

neue am Arbeitsmarkt bereits andrängende Arbeitnehmer<br />

einzustellen<br />

Rechtsausführungen<br />

Der GH prüft die vorgelegten Fragen zusammen und<br />

klärt somit, ob – im Falle einer Rechtslage, die Frauen<br />

einen Anspruch auf Alterspension fünf Jahre früher<br />

zuspricht als Männern – eine nationale Regelung, die<br />

es einem öffentlichen Arbeitgeber erlaubt, Arbeitnehmer<br />

zu kündigen, die einen Anspruch auf Alterspension<br />

erworben haben, um den Zugang jüngerer Menschen<br />

zur Beschäftigung zu fördern, eine verbotene Diskriminierung<br />

aufgrund des Geschlechts darstellt.<br />

Art. 3 Abs. 1 lit. c der RL 76/207/EWG sieht vor, dass<br />

die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes<br />

hinsichtlich der Entlassungsbedingungen bedeutet,<br />

dass es im öffentlichen und privaten Bereich einschließlich<br />

öffentlicher Stellen keinerlei unmittelbare oder<br />

mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts<br />

geben darf. Eine Altersgrenze für das obligatorische Ausscheiden<br />

der Arbeitnehmer im Rahmen einer allgemeinen<br />

Pensionierungspolitik eines Arbeitgebers fällt unter<br />

den Begriff der Entlassungsbedingungen im Sinne dieser<br />

Bestimmung, auch wenn dieses Ausscheiden die<br />

Gewährung einer Altersrente mit sich bringt.<br />

NLMR 1/2011-EuGH<br />

Der GH hat bereits entschieden, dass eine allgemeine<br />

Entlassungspolitik, die auf das Alter einer Arbeitnehmerin<br />

abstellt, in dem sie einen Anspruch auf Altersrente<br />

erwirbt und das nach dem nationalen Recht für<br />

Männer und Frauen unterschiedlich ist, eine durch die<br />

RL 76/207/EWG verbotene Diskriminierung aufgrund<br />

des Geschlechts darstellt.<br />

Eine unmittelbare Diskriminierung gemäß Art. 2<br />

Abs. 2 erster Gedankenstrich der RL 76/207/EWG liegt<br />

dann vor, wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts<br />

in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige<br />

Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt,<br />

erfahren hat oder erfahren würde.<br />

Gemäß den Regelungen der DO.B können unkündbare<br />

Ärzte doch gekündigt werden, wenn sie einen Anspruch<br />

auf Alterspension erworben haben. Dies führt dazu, dass<br />

Frauen bereits im Alter von 60 Jahren gekündigt werden<br />

können, während bei Männern dies erst im Alter von 65<br />

Jahren möglich ist. Es liegt somit eine Ungleichbehandlung<br />

vor, die unmittelbar auf das Geschlecht gestützt ist.<br />

Es ist sodann zu prüfen, ob sich Arbeitnehmer weiblichen<br />

Geschlechts im Alter von 60 bis 65 Jahren in diesem<br />

Zusammenhang in einer vergleichbaren Situation iSd.<br />

RL 76/207/EWG befinden, wie Männer derselben Altersgruppe.<br />

Beachtlich ist vor allem der Umstand, dass Frauen<br />

in diesem Alter über eine soziale Absicherung in Form<br />

von Alterspension verfügen, während männliche Arbeitnehmer<br />

diesen Anspruch noch nicht erworben haben.<br />

Die Vergleichbarkeit einer Situation ist auch hinsichtlich<br />

des Zieles der Regelung, die die Ungleichbehandlung<br />

festsetzt, zu prüfen. Im Ausgangsverfahren soll die<br />

Regelung die Bedingungen festlegen, unter denen die<br />

Arbeitnehmer ihre Beschäftigung verlieren können. Das<br />

Ziel der Regelung steht dabei in keinem unmittelbaren<br />

Zusammenhang mit dem Vorteil der weiblichen Arbeitnehmer,<br />

der darin besteht, dass sie den Anspruch auf<br />

Alterspension fünf Jahre früher erwerben als männliche<br />

Arbeitnehmer.<br />

Der GH stellt fest, dass eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz<br />

gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. a RL 79/7/<br />

EWG 4 , nach der die Festsetzung des Rentenalters vom<br />

Anwendungsbereich der RL ausgenommen werden<br />

kann, eng auszulegen ist und nicht für den Bereich der<br />

Entlassung iSv. Art. 3 Abs. 1 lit. c der RL 79/207/EWG gilt.<br />

Des Weiteren besteht für eine unmittelbare Diskriminierung<br />

iSv. Art. 2 Abs. 2 erster Gedankenstrich der<br />

RL 79/207/EWG keine Möglichkeit, der Einstufung als<br />

Diskriminierung durch eine sachliche Rechtfertigung<br />

und der Einsetzung verhältnismäßiger Mittel zu entgehen,<br />

wie dies für eine mittelbare Diskriminierung<br />

3 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung<br />

des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern<br />

und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung,<br />

zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug<br />

auf die Arbeitsbedingungen.<br />

4 Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur<br />

schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung<br />

von Männern und Frauen im Bereich der sozialen<br />

Sicherheit.<br />

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NLMR 1/2011-EuGH<br />

gemäß dem zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung<br />

vorgesehen ist. Die vorliegende Ungleichbehandlung<br />

ist als unmittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />

Geschlechts anzusehen und kann daher nicht durch das<br />

Ziel gerechtfertigt werden, die Beschäftigung jüngerer<br />

Menschen zu fördern.<br />

Die Prüfung einer Diskriminierung aufgrund des<br />

Alters gemäß der RL 2000/78/EG ist vorliegend nicht<br />

sachdienlich, da das Vorlagegericht nicht nach der Auslegung<br />

dieser RL gefragt hat.<br />

DEB gg. Deutschland<br />

Der EuGH hat für Recht erkannt:<br />

Die RL 76/207/EWG ist dahin auszulegen, dass eine<br />

nationale Regelung, die einem Arbeitgeber erlaubt, zur<br />

Förderung des Zugangs von jüngeren Menschen zur<br />

Beschäftigung Arbeitnehmer zu kündigen, die einen<br />

Anspruch auf Alterspension erworben haben, eine verbotene<br />

unmittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />

Geschlechts darstellt, wenn Frauen diesen Anspruch<br />

in einem Alter erwerben, das fünf Jahre niedriger ist als<br />

jenes, in dem der Anspruch für Männer entsteht.<br />

51<br />

•<br />

Prozesskostenhilfe für juristische Person<br />

Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH gg. Deutschland, Urteil vom 22.12.2010, Rs. C-279/09<br />

Leitsatz<br />

Der in Art. 47 GRC verankterte Effektivitätsgrundsatz<br />

kann auch durch juristische Personen geltend gemacht<br />

werden.<br />

Rechtsquellen<br />

RL 98/30/EG, RL 2003/55/EG, Art. 47 GRC<br />

Schlagworte<br />

Diskriminierung; Person, juristische;<br />

Prozesskostenhilfe; Zugang zu einem Gericht, Recht auf<br />

Sachverhalt<br />

Sofia Iliaki<br />

Das vorliegende, vom Kammergericht eingereichte Vorabentscheidungsersuchen<br />

ergeht aus einem Rechtsstreit<br />

über die Voraussetzungen der Bewilligung von<br />

Prozesskostenhilfe für juristische Personen.<br />

Bei der Klägerin handelt es sich um die Deutsche Energiehandels-<br />

und Beratungsgesellschaft mbH (im Folgenden:<br />

DEB), die als juristische Person Prozesskostenhilfe<br />

für eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland<br />

beantragte, mit der ein unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch<br />

verfolgt werden sollte. DEB begehrt<br />

Schadenersatz für einen entgangenen Gewinn in Höhe<br />

von € 3,7 Milliarden aufgrund der verspäteten Umsetzung<br />

der RL 98/30/EG 1 und RL 2003/55/EG 2 durch diesen<br />

Mitgliedstaat, die den diskriminierungsfreien Zugang<br />

zu den nationalen Gasnetzen hätten ermöglichen sollen.<br />

Aufgrund der fehlenden Umsetzung habe DEB<br />

gegenüber den deutschen Netzbetreibern ihren Zugang<br />

zu deren Gasnetzen nicht durchsetzen können, wodurch<br />

der erwähnte Gewinnentgang bewirkt worden sei.<br />

DEB wies darauf hin, dass sie derzeit weder Arbeitnehmer<br />

noch Gläubiger beschäftige und den gemäß § 12<br />

Abs. 1 Gerichtskostengesetz erforderlichen Gerichtskostenvorschuss<br />

in Höhe von € 274.368,– mangels Einnahmen<br />

und Vermögen nicht erbringen könne. Ihr stünden<br />

ebenso keine finanziellen Mittel zur Verfügung, einen<br />

Rechtsanwalt, dessen Mitwirkung zwingend vorgeschrieben<br />

sei, als Prozessbevollmächtigten zu beauftragen.<br />

Das Landgericht Berlin wies die Bewilligung von Prozesskostenhilfe<br />

zurück, weil die Voraussetzungen des<br />

§ 116 Nr. 2 ZPO 3 nicht vorlägen.<br />

1 Richtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates<br />

vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für<br />

den Erdgasbinnenmarkt.<br />

2 Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des<br />

Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für<br />

den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie<br />

98/30/EG.<br />

3 Dieser Bestimmung zufolge erhält eine (näher umschriebene)<br />

juristische Person auf Antrag Prozesskostenhilfe, »enn<br />

die Kosten weder von ihr noch von den am Gegenstand des<br />

Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden<br />

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52<br />

DEB gg. Deutschland<br />

Das Kammergericht bestätigte diese Entscheidung. Es<br />

ist unter Bezugnahme auf die zu dieser Vorschrift ergangene<br />

Rechtsprechung des BGH der Auffassung, dass die<br />

Unterlassung der Rechtsverfolgung im vorliegenden Fall<br />

allgemeinen Interessen nicht zuwiderlaufe. Dies wäre<br />

nur dann der Fall, wenn die Entscheidung größere Kreise<br />

der Bevölkerung oder des Wirtschaftslebens anspreche<br />

oder soziale Auswirkung nach sich ziehen könne.<br />

Das Kammergericht hat das Verfahren ausgesetzt und<br />

dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung<br />

vorgelegt: Bestehen Bedenken gegen eine nationale<br />

Regelung, nach der eine gerichtliche Geltendmachung<br />

von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig<br />

gemacht wird und einer juristischen Person, die diesen<br />

Vorschuss nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe<br />

nicht zu bewilligen ist – Bedenken insofern, als<br />

die Erlangung einer Entschädigung nach den Grundsätzen<br />

des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs<br />

nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig<br />

erschwert werden darf.<br />

Rechtsausführungen<br />

Die Frage des vorlegenden Gerichts bezieht sich auf den<br />

Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.<br />

Gemäß diesem darf die Art und Weise einer Verfahrensdurchführung<br />

die Ausübung der Rechte des Einzelnen<br />

nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig<br />

erschweren. Demnach ist zu prüfen, ob die Tatsache,<br />

dass einer juristischen Person Prozesskostenhilfe nicht<br />

gewährt wird, ihr die Ausübung ihrer Rechte praktisch<br />

unmöglich macht oder übermäßig erschwert, sodass<br />

diese deshalb keinen Zugang zu einem Gericht hat, weil<br />

es ihr unmöglich ist, die Vorleistung für die Gerichtskosten<br />

aufzubringen und sich des Beistands eines Rechtsanwalts<br />

zu versichern.<br />

Bezüglich der Grundrechte ist Art. 47 Abs. 1 GRC zu<br />

berücksichtigen, der besagt, dass jede Person, deren<br />

unionsrechtlich garantierten Rechte oder Freiheiten<br />

verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der<br />

in dieser Bestimmung vorgesehenen Bedingungen bei<br />

einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.<br />

Nach Abs. 2 desselben Artikels hat jede Person ein<br />

Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen,<br />

unparteiischen und zuvor durch das Gesetz errichteten<br />

Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb<br />

angemessener Frist verhandelt wird. Abs. 3 sieht<br />

sogar speziell vor, dass Personen, die nicht über ausreichende<br />

Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe bewilligt<br />

können und wenn die Unterlassung der Rechtsverfolgung<br />

oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen<br />

würde.«<br />

NLMR 1/2011-EuGH<br />

wird, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang<br />

zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.<br />

Die Vorlagefrage ist daher folgendermaßen umzuformulieren:<br />

Steht Art. 47 GRC im Zusammenhang mit<br />

einem Verfahren zur Geltendmachung des unionsrechtlichen<br />

Staatshaftungsanspruchs einer nationalen Regelung<br />

entgegen, die die gerichtliche Geltendmachung<br />

von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig<br />

macht und nach der einer juristischen Person, wenn sie<br />

diesen nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe nicht<br />

zu bewilligen ist<br />

Bezüglich der Prozesskostenhilfe ist sowohl der Aspekt<br />

der Gerichtskosten als auch der Aspekt der Ansprüche<br />

des Rechtsanwalts gegen die Partei zu prüfen.<br />

Da Art. 47 Abs. 3 GRC Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht,<br />

ist bezüglich der Bedeutung und Tragweite der garantierten<br />

Rechte die diesbezügliche Rechtsprechung des<br />

EGMR zu berücksichtigen.<br />

In den Erläuterungen zu Art. 47 GRC wird das Urteil<br />

Airey/IRL 4 des EGMR erwähnt, wonach Prozesskostenhilfe<br />

zu gewähren ist, wenn mangels einer solchen Hilfe<br />

die Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs nicht<br />

gewährleistet wäre. In dieser Bestimmung wird weder<br />

angeben, ob einer juristischen Person Prozesskostenhilfe<br />

zu gewähren ist, noch, was sie abdeckt.<br />

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften<br />

erwähnte in ihren schriftlichen Erklärungen, dass der in<br />

Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC verwendete Begriff »Person« auf<br />

natürliche Personen hinweise, aber auch juristische Personen<br />

rein sprachlich nicht ausschließe. Auch die Verwendung<br />

des Begriffs »Person«, im Gegensatz zum teilweise<br />

verwendeten Begriff »Mensch«, spricht dafür, dass<br />

Art. 47 GRC auch durch juristische Personen geltend<br />

gemacht werden kann. Dies gilt ebenso für die Einordnung<br />

des Rechts, bei einem Gericht einen wirksamen<br />

Rechtsbehelf einzulegen, in den Titel IV der Charta (»Justizielle<br />

Rechte«), in dem weitere, auch für juristische Personen<br />

geltende Verfahrensgrundsätze verankert sind.<br />

Der EGMR hat außerdem wiederholt darauf hingewiesen,<br />

dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht<br />

Bestandteil des Rechts auf einen fairen Prozess iSv.<br />

Art. 6 Abs. 1 EMRK sei. Was die Prozesskostenhilfe in<br />

Form des Beistands eines Rechtsanwalts betrifft, hat der<br />

EGMR entschieden, dass die besonderen Umstände des<br />

Einzelfalls zu prüfen seien und die Erforderlichkeit der<br />

Gewährung von Prozesskostenhilfe u.a. vom Umfang der<br />

Auswirkungen auf den Kläger, der Komplexität des geltenden<br />

Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie<br />

von der Fähigkeit des Klägers abhänge, seine Sache<br />

wirksam zu verteidigen. Den finanziellen Verhältnissen<br />

des Betroffenen oder seinen Erfolgsaussichten im Verfahren<br />

darf dabei Rechnung getragen werden. 5<br />

4 EGMR 9.10.1979, Airey/IRL v. 9.10.1979, EuGRZ 1979, 626.<br />

5 EGMR 15.2.2005, Steel und Morris/GB, NL 2005, 27.<br />

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NLMR 1/2011-EuGH<br />

Bezüglich der Prozesskostenhilfe in der Form der<br />

Befreiung von den Gerichtskosten ist der EGMR der Meinung,<br />

dass zu prüfen sei, ob die Beschränkungen des<br />

Rechts auf Zugang zu den Gerichten das Recht in seinem<br />

Wesensgehalt beeinträchtigen, ob sie einen legitimen<br />

Zweck verfolgten und ob die eingesetzten Mittel in angemessenem<br />

Verhältnis zum verfolgten Ziel standen. Daraus<br />

ergibt sich, dass die Prozesskostenhilfe sowohl den<br />

Beistand eines Rechtsanwalts als auch die Befreiung von<br />

den Gerichtskosten decken kann. Aus der Prüfung der<br />

Rechtsprechung ist ferner abzuleiten, dass die Gewährleistung<br />

von Prozesskostenhilfe für juristische Personen<br />

nicht grundsätzlich ausgeschlossen, jedoch nach Maßgabe<br />

der geltenden Vorschriften und der Verhältnisse<br />

der jeweiligen Gesellschaft zu beurteilen ist. Der Gegenstand<br />

des Rechtsstreits, insbesondere seine wirtschaftliche<br />

Bedeutung, kann dabei berücksichtigt werden. Bei<br />

der Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit<br />

von juristischen Personen kann insbesondere die<br />

Gesellschaftsform, die Finanzkraft der Anteilseigner,<br />

der Gesellschaftszweck, die Modalitäten ihrer Gründung<br />

und speziell das Verhältnis zwischen den ihr zur<br />

Verfügung gestellten Mitteln und der geplanten Tätigkeit<br />

beachtet werden.<br />

Der EFTA-Überwachungsbehörde zufolge könne nach<br />

deutschem Recht einem Unternehmen niemals Prozesskostenhilfe<br />

bewilligt werden, wenn es noch nicht in der<br />

Lage gewesen sei, sich richtig mit Arbeitnehmern und<br />

anderen Betriebsfaktoren zu etablieren. Die nationalen<br />

Gerichte müssen zwar einen solchen Umstand berücksichtigen,<br />

sie haben allerdings auch einen gerechten<br />

Ausgleich anzustreben, um den Zugang von Antragstellern<br />

zu den Gerichten zu gewährleisten, ohne aber diese<br />

gegenüber anderen Antragstellern zu bevorzugen. Das<br />

vorlegende Gericht und die deutsche Regierung haben<br />

hierzu ausgeführt, dass der Begriff »allgemeine Interessen«<br />

es erlaubt, alle nur denkbaren allgemeinen Interessen<br />

zugunsten einer juristischen Person einzubeziehen.<br />

DEB gg. Deutschland<br />

die Bedeutung des Rechtsstreits für diesen, die Komplexität<br />

des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens<br />

sowie die Fähigkeit des Klägers berücksichtigen,<br />

sein Anliegen wirksam zu verteidigen. Bezüglich der Verhältnismäßigkeit<br />

kann der nationale Richter die Höhe<br />

der vorzuleistenden Gerichtskosten und dem Umstand<br />

Rechnung tragen, ob sie überhaupt für den Zugang zum<br />

Recht ein unüberwindliches Hindernis darstellen oder<br />

nicht. Insbesondere bei juristischen Personen kann der<br />

nationale Richter deren Verhältnisse erwägen.<br />

•<br />

53<br />

Der EuGH hat für Recht erkannt:<br />

Auf die Vorlagefrage ist zu antworten, dass der in Art. 47<br />

GRC verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen<br />

Rechtsschutzes in Art. 47 GRC so auszulegen ist, dass<br />

seine Geltendmachung durch juristische Personen nicht<br />

ausgeschlossen ist. Die Befreiung kann die Zahlung des<br />

Gerichtskostenvorschusses und/oder der Gebühren für<br />

den Beistand eines Rechtsanwalts umfassen.<br />

Der nationale Richter muss insoweit untersuchen, ob<br />

die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe<br />

das Recht auf Zugang zu den Gerichten in seinem<br />

Wesensgehalt beinträchtigen, ob die Beschränkung<br />

einem legitimen Zweck dient und ob die eingesetzten<br />

Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten<br />

Ziel stehen. Er kann sowohl den Streitgegenstand,<br />

die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers als auch<br />

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54<br />

NLMR 1/2011-VfGH<br />

Österreichische Judikatur<br />

Anerkennung einer islamischen Religionsgemeinschaft<br />

VfGH B 1214/09, Erkenntnis vom 1.12.2010<br />

Leitsatz der Redaktion<br />

Es würde gegen die Garantien der Religionsfreiheit verstoßen,<br />

wollte der Gesetzgeber einer Personengruppe,<br />

für deren religiöse Überzeugung es essentiell ist, sich zu<br />

einem bestimmten Glauben zu bekennen, die Möglichkeit<br />

verwehren, neben der auf einem bestimmten Gebiet<br />

einzig bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft<br />

eine andere dieses Glaubens zu gründen.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 9 EMRK, Art. 15 StGG, § 2 AnerkennungsG, §§ 2,<br />

4 Abs. 1 Z. 2, 11 BekGG, Art. I und § 1 Islamgesetz, § 1<br />

Islam-Verordnung<br />

Schlagworte<br />

Glaubensfreiheit; Religionsfreiheit<br />

Sachverhalt<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Mit Bescheid der Bundesministerin für Unterricht,<br />

Kunst und Kultur vom 25.8.2009 wurden die Anträge<br />

des »Kulturvereins von Aleviten in Wien« auf Anerkennung<br />

als Islamische-Alevitische Glaubensgemeinschaft<br />

bzw. Bekenntnisgemeinschaft abgewiesen. Die belangte<br />

Behörde nahm dabei Bezug auf eine Stellungnahme der<br />

Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (im<br />

Folgenden: IGGiÖ) als mitbeteiligte Partei. Demnach<br />

handle es sich beim Alevitentum um eine synkretistische<br />

Glaubensrichtung, die mit den religiösen Praktiken<br />

der muslimischen Gemeinschaft der Sunniten und<br />

Schiiten in keiner Weise etwas zu tun habe, sondern vielmehr<br />

eine Glaubenslehre vertrete, die der islamischen<br />

Glaubenstheologie diametral entgegenstehe.<br />

Die Abweisung des Antrags auf Anerkennung als<br />

gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft gemäß § 2<br />

AnerkennungsG wurde damit begründet, dass weder im<br />

Islamgesetz noch in der Islam-Verordnung die Möglichkeit<br />

der Gründung einer weiteren islamischen Glaubensgemeinschaft<br />

vorgesehen sei. Angesichts des Erkenntnisses<br />

VfSlg. 11.574/1987, 1 mit welchem die Wortfolge<br />

»nach hanefitischem Ritus« aufgehoben wurde, seien<br />

nunmehr alle Anhänger des Islam dem Wirkungsbereich<br />

des Islamgesetzes zugeordnet. Eine Anerkennung<br />

würde daher einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten<br />

der IGGiÖ darstellen. Die Abweisung des Antrags auf<br />

Erwerb der Rechtspersönlichkeit als religiöse Bekenntnisgemeinschaft<br />

nach § 2 BekGG gründe sich hingegen<br />

auf das Fehlen einer dem § 4 Abs. 1 Z. 2 BekGG entsprechenden<br />

Religionslehre. Die Lehre der antragstellenden<br />

Gemeinschaft enthalte sowohl Elemente, wie sie im sunnitischen<br />

und schiitischen Islam vorhanden seien, als<br />

auch Inhalte, die in keiner anderen Religion vorkämen;<br />

daher sei letztendlich die Selbstzuordnung der Antragsteller<br />

zum Islam ausschlaggebend. Da für die Anhänger<br />

des Islam jedoch bereits eine gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft,<br />

die IGGiÖ, bestehe und spätestens<br />

nach Erfüllung der Voraussetzungen des § 11 BekGG<br />

1 VfGH 10.12.1987, G 146/87 u.a.<br />

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NLMR 1/2011-VfGH VfGH B 1214/09<br />

55<br />

eine Anerkennung zu erfolgen hätte, würde es schließlich<br />

zwei sich als islamisch verstehende Religionsgesellschaften<br />

geben, was das Islamgesetz jedoch ausschließe.<br />

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende<br />

Beschwerde an den VfGH wegen behaupteter Verletzung<br />

im Recht auf Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK).<br />

Rechtsausführungen<br />

Soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des<br />

Antrags auf Anerkennung als gesetzlich anerkannte<br />

Religionsgesellschaft richtet, ist sie nicht begründet,<br />

setzt doch § 11 Abs. 1 Z. 1 BekGG für eine Anerkennung<br />

den Bestand als religiöse Bekenntnisgemeinschaft voraus,<br />

der im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben ist.<br />

Dieser Beschwerdepunkt ist daher abzuweisen.<br />

Die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf<br />

Feststellung des Erwerbs der Rechtspersönlichkeit als<br />

religiöse Bekenntnisgemeinschaft ist begründet: Weder<br />

dem Wortlaut des Art. I Islamgesetz, wonach den Anhängern<br />

des Islam die Anerkennung als Religionsgesellschaft<br />

gewährt wird, noch jenem des § 1 leg. cit., der die<br />

Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse an den Zeitpunkt<br />

der Errichtung wenigstens einer Kultusgemeinde<br />

knüpft, kann entnommen werden, dass es nur eine<br />

einzige islamische Religionsgesellschaft bzw. Bekenntnisgemeinschaft<br />

geben darf. Ebenso wenig ergibt sich<br />

eine solche Beschränkung aus § 1 Islam-Verordnung,<br />

wonach die Anhänger des Islam die Bezeichnung »Islamische<br />

Glaubensgemeinschaft in Österreich« führen.<br />

Im Übrigen ist aus dem Erkenntnis VfSlg. 11.574/1987,<br />

demzufolge die (damals) bestehende Gesetzeslage es in<br />

verfassungswidriger Weise nicht erlaube, alle Anhänger<br />

der religiösen Gemeinschaft des Islam in einer anerkannten<br />

Religionsgemeinschaft zusammenzufassen,<br />

keineswegs der Umkehrschluss zu ziehen, dass nun alle<br />

Anhänger des Islam zwingend in einer einzigen Religionsgemeinschaft<br />

zusammenzufassen wären.<br />

Aus Art. 15 StGG kann nicht abgeleitet werden, dass<br />

nur eine einzige rechtlich verfasste islamische Religionsgemeinschaft<br />

bestehen darf. Ein solches Ergebnis<br />

stünde auch im Konflikt mit Art. 9 EMRK, ist doch der<br />

Staat laut der Rechtsprechung des EGMR zur Neutralität<br />

und Unparteilichkeit verpflichtet. 2 Eine Verletzung<br />

des Art. 9 EMRK ist dann anzunehmen, wenn die Anerkennung<br />

einer – keine neue Bewegung darstellenden –<br />

Religionsgemeinschaft vom Willen einer bereits anerkannten<br />

kirchlichen Autorität abhängig gemacht wird. 3<br />

Ferner verstieße es gegen die Garantien der Religions-<br />

2 Siehe EGMR 31.7.2008, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas<br />

u.a./A, NL 2008, 232; ÖJZ 2008, 865.<br />

3 Vgl. EGMR 13.12.2001, Metropolitanische Kirche von Bessarabien<br />

u.a./MD, NL 2001, 250.<br />

freiheit, wollte der Gesetzgeber einer Personengruppe,<br />

für deren religiöse Überzeugung es essentiell ist, sich zu<br />

einem bestimmten Glauben zu bekennen, die Möglichkeit<br />

verwehren, neben der auf einem bestimmten Gebiet<br />

einzig bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft<br />

eine andere dieses Glaubens zu gründen.<br />

Die relevanten Bestimmungen des Islamgesetzes<br />

bzw. der Islam-Verordnung überschreiten weder die<br />

vom EGMR markierte Grenze des konventionsrechtlich<br />

Zulässigen noch gebieten sie, dass es nur eine rechtlich<br />

verfasste islamische Religionsgemeinschaft geben darf.<br />

Sie sind vielmehr dahingehend auszulegen, dass eine<br />

Vertretung aller Anhänger des Islam durch eine (islamische)<br />

»Einheitsgemeinde« nicht vorgegeben ist und stehen<br />

somit dem – von den Voraussetzungen des BekGG<br />

und des AnerkennungsG abhängigen – Bestand einer<br />

weiteren islamischen Religionsgemeinschaft nicht entgegen.<br />

Bei Erfüllung der im AnerkennungsG bzw. im BekGG<br />

festgelegten Voraussetzungen kann – entsprechend der<br />

das Erkenntnis VfSlg. 11.574/1987 tragenden Grundposition<br />

– auch eine weitere sich als islamisch verstehende<br />

Religionsgemeinschaft gesetzlich anerkannt bzw. als<br />

religiöse Bekenntnisgemeinschaft eingetragen werden.<br />

Die von der belangten Behörde vorgenommene Auslegung<br />

führt somit zu einem unverhältnismäßigen Eingriff<br />

in das Grundrecht der Religionsfreiheit, wurde von<br />

ihr doch die Voraussetzung des Bestehens einer Religionslehre,<br />

die sich von der Lehre anderer Bekenntnisgemeinschaften<br />

bzw. gesetzlich anerkannter Kirchen und<br />

Religionsgesellschaften unterscheidet, im Wesentlichen<br />

mit der Begründung verneint, dass es bereits eine<br />

sich ebenfalls als islamisch verstehende – gesetzlich<br />

anerkannte – Religionsgesellschaft gebe und die Zuerkennung<br />

des Status einer Bekenntnisgemeinschaft eine<br />

Einmischung in die Angelegenheiten einer gesetzlich<br />

anerkannten Religionsgesellschaft bilden würde.<br />

Damit hat die belangte Behörde § 4 Abs. 1 Z. 2 BekGG<br />

einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt, der mit<br />

Art. 9 EMRK – in der Bedeutung, die ihm die Rechtsprechung<br />

des EGMR und des VfGH gegeben haben –<br />

nicht im Einklang steht. Bei der Beurteilung, ob die<br />

beschwerdeführende Partei dem Erfordernis der Darstellung<br />

einer sich von der Lehre religiöser Bekenntnisgemeinschaften<br />

sowie gesetzlich anerkannter Kirchen<br />

und Religionsgesellschaften unterscheidenden<br />

Religionslehre entsprochen hat, hätte sich die belangte<br />

Behörde mit deren Vorbringen näher auseinandersetzen<br />

müssen. Die Formulierung des § 4 Abs. 1 Z. 2 BekGG<br />

legt nahe, dass sie dabei auf die Beurteilung der Frage<br />

der ausreichenden Darstellung der Unterschiedlichkeit<br />

beschränkt, nicht aber dazu berufen ist, über die Legitimität<br />

der Religionslehre inhaltlich abzusprechen. Der<br />

angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung des<br />

Rechts auf Religionsfreiheit aufzuheben.<br />

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56<br />

NLMR 1/2011-VfGH<br />

Differenzierung bei Fahrpreisermäßigung für Senioren<br />

VfGH V 39/10 u.a., Erkenntnis vom 15.12.2010<br />

Leitsatz der Redaktion<br />

Bei der Fahrpreisermäßigung für Senioren kann eine<br />

Anknüpfung am unterschiedlichen gesetzlichen Pensionsalter,<br />

welches jedoch auf die Benützung öffentlicher<br />

Verkehrsmittel nicht unmittelbar Auswirkung hat, nicht<br />

als »spezifische Maßnahme« iSv. Art. 6 der RL 2004/113/<br />

EG angesehen werden, um geschlechtsspezifische<br />

Benachteiligungen zu verhindern oder auszugleichen.<br />

Rechtsquellen<br />

Art. 89 Abs. 2, Art. 139 Abs. 1 und 2 B-VG, § 40a ff. GlBG,<br />

Art. 7 RL 79/7/EWG, Art. 6 RL 2004/113/EG<br />

Schlagworte<br />

Alter; Diskriminierung; Geschlecht; Pension;<br />

Unionsrecht<br />

Sachverhalt<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Mit auf Art. 89 Abs. 2 iVm. Art. 139 Abs. 1 und Abs. 3<br />

B-VG gestützten Anträgen vom 26.2.2010 und 2.3.2010<br />

begehrten das BG für Handelssachen Wien bzw. das BG<br />

Innere Stadt Wien, der VfGH möge die Wortfolge »Senioren<br />

– das sind Männer ab dem 65. und Frauen ab dem 60.<br />

Lebensjahr« in Punkt 9 der Anlage 1 der VO des Bundesministers<br />

für Verkehr, Innovation und Technologie über<br />

die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den<br />

Kraftfahrlinienverkehr (im Folgenden: Kfl-Bef-Bed-VO)<br />

vom 18.1.2001, BGBl. II 47/2001, 1 aufheben. Bei ihnen<br />

wären Rechtssachen anhängig, in denen im Ruhestand<br />

befindliche Kläger, die noch nicht das 65. Lebensjahr<br />

erreicht hätten, behaupten würden, die Ermäßigung für<br />

die Benutzung von Verkehrsmitteln auf der Grundlage<br />

unterschiedlicher Altersgrenzen für Frauen und Männer<br />

stelle eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />

Geschlechts dar. Es bestünden Bedenken hinsichtlich<br />

der Gesetzmäßigkeit der Wortfolge in Punkt 9 der Anlage<br />

1 der Kfl-Bef-Bed-VO im Hinblick auf § 40a ff. GlBG.<br />

1 Demnach kann Senioren – das sind Männer ab dem 65. und<br />

Frauen ab dem 60. Lebensjahr – bei Vorweis eines gültigen<br />

amtlichen Lichtbildausweises eine Fahrpreisermäßigung in<br />

der Höhe von 50 Prozent gewährt werden.<br />

Rechtsausführungen<br />

Der VfGH hält es für denkmöglich, dass die beiden<br />

Gerichte die angefochtene Wortfolge in den bei ihnen<br />

anhängigen Verfahren – in denen Schadenersatzansprüche<br />

wegen der Anwendung diskriminierender Seniorenfahrpreisermäßigungen<br />

geltend gemacht werden –<br />

anzuwenden haben. Die Anträge sind somit, da auch die<br />

übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, zulässig.<br />

Ziel des Kraftfahrlinienrechts ist die optimale Versorgung<br />

der Bevölkerung mit Kraftfahrlinien. Der Verordnungsgeber<br />

hat bei der Festlegung von Ermäßigungskriterien<br />

iSv. § 46 Kraftfahrliniengesetz aber auch darauf<br />

Bedacht zu nehmen, nicht gegen andere Bundesgesetze,<br />

wie etwa das Gleichbehandlungsgesetz, zu verstoßen.<br />

§ 40b GlBG verbietet grundsätzlich jede unmittelbare<br />

oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />

Geschlechts bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen,<br />

die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.<br />

Gemäß § 40c GlBG liegt eine unmittelbare Diskriminierung<br />

vor, wenn eine Person auf Grund ihres Geschlechts<br />

in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige<br />

Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren<br />

hat oder erfahren würde. Im vorliegenden Fall wird bei<br />

der Gewährung von Preisermäßigungen für Senioren<br />

unmittelbar zwischen Männern und Frauen unterschieden<br />

und an unterschiedliche Lebensalter angeknüpft.<br />

Selbst wenn man die vorliegende Differenzierung bloß<br />

als mittelbare Diskriminierung qualifizieren würde,<br />

indem man unterstellt, sie knüpfe an das unterschiedliche<br />

gesetzliche Pensionsalter an (was naheliegend ist),<br />

würde dies nichts am Ergebnis ändern: Auch mittelbare<br />

Diskriminierungen – wenn dem Anschein nach neutrale<br />

Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen eines<br />

Geschlechts in besonderer Weise gegenüber dem anderen<br />

Geschlecht benachteiligen – sind nur zulässig, wenn<br />

die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren<br />

durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und<br />

die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und<br />

erforderlich sind (§ 40c Abs. 2 GlBG).<br />

Die Zulässigkeit unterschiedlicher Altersgrenzen<br />

von männlichen und weiblichen Sozialversicherten<br />

für den Anspruch auf Pension wurde mit BVG BGBl.<br />

832/1992 verfassungsrechtlich abgesichert. Es wurde<br />

darin jedoch keine ausdrückliche Regelung getroffen,<br />

dass darüber hinausgehend etwa bei Dienstleistungen<br />

an das unterschiedliche gesetzliche Pensionsalter ange-<br />

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NLMR 1/2011-VfGH<br />

knüpft werden dürfe. Gemäß Art. 7 der RL 79/7/EWG<br />

zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der<br />

Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich<br />

der sozialen Sicherheit sind die Mitgliedstaaten berechtigt,<br />

die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung<br />

der Alters- oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen<br />

daraus auf andere Leistungen von der Richtlinie<br />

auszunehmen.<br />

Nach der einschlägigen Judikatur des EuGH rechtfertigt<br />

dies aber nicht Ungleichbehandlungen, die nicht<br />

objektiv und notwendig mit dem unterschiedlichen<br />

Rentenalter für Männer und Frauen zusammenhängen.<br />

Ein solcher objektiver und notwendiger Zusammenhang<br />

wird im Hinblick auf das finanzielle Gleichgewicht<br />

von beitragsabhängigen Rentensystemen oder etwa bei<br />

der Frage der Kohärenz zwischen Altersrenten und sonstigen<br />

Vorruhestandsregelungen gesehen. 2 Keine Rechtfertigung<br />

für eine Anknüpfung an das unterschiedliche<br />

Rentenalter sieht der EuGH hingegen etwa bei der<br />

Gewährung von Rezeptgebührenbefreiungen oder Heizkostenzuschüssen,<br />

da diese Leistungen nicht notwendig<br />

und objektiv mit dem unterschiedlichen Rentenalter<br />

verbunden sind. 3 Die Anknüpfung an das gesetzliche<br />

Pensionsalter kann auch nicht damit gerechtfertigt werden,<br />

dass bei Erreichen dieser – unterschiedlichen –<br />

Altersgrenzen regelmäßig eine entsprechend größere<br />

soziale Bedürftigkeit eintreten würde, liegt doch das<br />

tatsächliche Pensionsantrittsalter nicht bei den in der<br />

Kfl-Bef-Bed-VO festgelegten Altersgrenzen. Das bloße<br />

Anknüpfen am gesetzlichen Pensionsalter ist daher<br />

auch nicht geeignet, tatsächlich bestehende Nachteile<br />

von Frauen im Hinblick auf geringere Pensionsleistungen<br />

angemessen auszugleichen. Schließlich ist auch die<br />

Ausnahmebestimmung des § 40d GlBG nicht anwendbar,<br />

da öffentliche Beförderungsleistungen nicht überwiegend<br />

für ein Geschlecht angeboten werden.<br />

Die durch § 40e GlBG 4 eingeräumte Erlaubnis für<br />

positive Maßnahmen kommt für die in Prüfung gezogene<br />

Verordnungsbestimmung ebenso wenig in Betracht,<br />

da es für eine solche positive Maßnahme im Sinne einer<br />

Förderung von Frauen eines Konnexes zwischen einer<br />

Benachteiligung und der Fördermaßnahme bedarf. Es<br />

ist nicht ersichtlich, inwiefern im Rahmen der Beförderung<br />

nach dem Kraftfahrliniengesetz eine spezifische<br />

Benachteiligung von Frauen bestünde, die durch eine<br />

im Vergleich zu Männern fünf Jahre früher gewährte<br />

Fahrpreisermäßigung zweckmäßig und verhältnismä-<br />

VfGH V 39/10 u.a.<br />

ßig ausgeglichen werden könnte. Art. 6 der RL 2004/113/<br />

EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung<br />

von Männern und Frauen beim Zugang zu<br />

und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen,<br />

der durch § 40e GlBG in das österreichische Recht<br />

umgesetzt wurde, erlaubt positive Maßnahmen im Sinne<br />

»spezifischer Maßnahmen, mit denen geschlechtsspezifische<br />

Benachteiligungen verhindert oder ausgeglichen<br />

werden«. Eine generelle Anknüpfung am unterschiedlichen<br />

gesetzlichen Pensionsalter, welches jedoch auf die<br />

Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht unmittelbar<br />

Auswirkung hat, kann nicht als eine derartige »spezifische<br />

Maßnahme« angesehen werden.<br />

Die in der angefochtenen Verordnungsbestimmung<br />

getroffene Differenzierung zwischen Männern und<br />

Frauen bei der Gewährung von Fahrpreisermäßigungen<br />

für Senioren verstößt somit gegen § 40b GlBG und war<br />

daher aufzuheben. Die Gesetzwidrigkeit kann bereits<br />

durch die Aufhebung der Wortfolge »– das sind Männer<br />

ab dem 65. und Frauen ab dem 60. Lebensjahr –« in<br />

Punkt 9 der Anlage 1 der Kfl-Bef Bed beseitigt werden.<br />

•<br />

57<br />

2 Vgl. etwa EuGH 30.1.1997, Rs. C-139/95, Slg. 1997 I-00549.<br />

3 Vgl. EuGH 19.10.1995, Rs. C-137/94, Slg. 1995 I-03407; EuGH<br />

16.12.1999, Rs. C-382/98, Slg. 1999 I-08955.<br />

4 Danach gelten die in Gesetzen, Verordnungen oder auf andere<br />

Weise getroffenen Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung,<br />

mit denen Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts<br />

verhindert oder ausgeglichen werden, nicht als Diskriminierung<br />

im Sinne dieses Gesetzes.<br />

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58<br />

NLMR 1/2011-Literatur<br />

Buchanzeigen<br />

Nadja Capus<br />

Strafrecht und Souveränität: Das Erfordernis der<br />

beidseitigen Strafbarkeit in der internationalen<br />

Rechtshilfe in Strafsachen<br />

Stämpfli <strong>Verlag</strong> / Nomos, Bern / Baden-Baden 2010<br />

ISBN 978-3-7272-8764-0 / ISBN 978-3-8329-6211-1, geb.,<br />

570 S., € 100,80<br />

Bereits im 19. Jahrhundert kooperierten die souveränen<br />

Staaten im Bereich der Justiz und boten einander<br />

Rechtshilfe in Strafsachen. Zentrale Voraussetzung<br />

war traditionell die Strafbarkeit des verfolgten Verhaltens<br />

sowohl im um Rechtshilfe ersuchenden als auch<br />

im ersuchten Staat. Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung<br />

und der somit auch verstärkten Internationalisierung<br />

der Kriminalität wird diese Voraussetzung<br />

jedoch zunehmend als veraltet und effizienzmindernd<br />

bezeichnet.<br />

Nadja Capus geht in ihrer vorliegenden Habilitationsschrift<br />

der Frage nach, ob das Prinzip der beidseitigen<br />

Strafbarkeit notwendig ist, um das Tätigwerden<br />

von Staatsorganen im Bereich des Strafrechts zu rechtfertigen,<br />

obwohl gemäß der für sie geltenden Rechtsordnung<br />

kein Strafanspruch besteht. Neben internationalen<br />

Rechtsquellen wird zur Konkretisierung der<br />

Ausführungen Schweizer Recht herangezogen.<br />

In den ersten beiden Teilen der dreigeteilten Arbeit<br />

widmet sich die schweizerisch-italienische Autorin<br />

zunächst den für die Beantwortung der Forschungsfrage<br />

notwendigen Grundlagen. Erläutert werden die Begriffe<br />

der Souveränität und der Strafgewalt der Staaten, wobei<br />

der Wandel des Souveräntitätsverständnisses, wie etwa<br />

Reaktionen auf Globalisierungsprozesse durch Einrichtung<br />

von internationalen Gerichten, analysiert wird.<br />

Sodann wird das Wesen der Strafrechtshilfe ergründet.<br />

Capus geht davon aus, dass diese als kooperative Strafrechtspflege<br />

konzipiert ist. Sie unterscheidet zwischen<br />

primärer und sekundärer Rechtshilfe, abhängig davon,<br />

ob der um Hilfe ersuchte Staat das Strafverfahren übernimmt<br />

(primär) oder nur stellvertretenderweise tätig<br />

wird (sekundär). Genauer wird die Rechtsnatur der letztgenannten<br />

Form der Rechtshilfe betrachtet. Am Ende<br />

des zweiten Teils wird der Frage nachgegangen, inwieweit<br />

das materielle Strafrecht eine Legitimation für<br />

rechtshilfeweise erfolgende Zwangsmaßnahmen bieten<br />

kann.<br />

Im dritten Teil des Werks geht Capus auf die aktuelle<br />

Konzeption der Regel der beidseitigen Strafbarkeit<br />

und die Tendenzen zu deren Abschaffung und richterlichen<br />

Durchbrechung ein. In einem weiteren Schritt<br />

wird gezeigt, aus welchen Prinzipien heraus sich die<br />

Regel rechtfertigen lässt. Schließlich erarbeitet sie, wie<br />

die Regel ausgestaltet bzw. angewendet werden muss,<br />

um ihr eine materiellrechtliche Legitimationsfunktion<br />

zu verleihen.<br />

In ihrer besonders schlüssig aufgebauten Arbeit zeigt<br />

Nadja Capus anschaulich, dass die Auflösung des Prinzips<br />

der beidseitigen Strafbarkeit in Bezug auf die internationale<br />

Strafrechtshilfe auch unter den aktuellen Einflüssen<br />

der Globalisierung nicht ohne substantielle<br />

rechtsstaatliche Bedenken erfolgen kann.<br />

Petra Pann<br />

Christine Hohmann-Dennhardt / Peter Masuch /<br />

Mark Villiger (Hrsg.)<br />

Festschrift für Renate Jaeger – Grundrechte und<br />

Solidarität.<br />

Durchsetzung und Verfahren<br />

N. P. Engel <strong>Verlag</strong>, Kehl am Rhein 2011<br />

ISBN 978-3-88357-155-3, geb., 880 S., € 198,–<br />

»Grundrechte und Solidarität« ist eine Festschrift, die<br />

der ehemaligen Richterin am EGMR, seit 2011 Leiterin<br />

der Schlichtungsstelle der (deutschen) Bundesrechtsan-<br />

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NLMR 1/2011-Literatur<br />

59<br />

waltskammer, Dr. h.c. Renate Jaeger, anlässlich ihres 70.<br />

Geburtstags gewidmet ist. Das vorliegende Werk beschäftigt<br />

sich grundsätzlich mit der Entwicklung der Grundbzw.<br />

<strong>Menschenrechte</strong> in Deutschland und Europa.<br />

In den ersten drei Kapiteln wird sowohl die gesamte<br />

Tätigkeit von Renate Jaeger vom Anfang ihrer Karriere<br />

bis heute als auch ihr Beitrag als Richterin am EGMR in<br />

Straßburg präsentiert.<br />

Die weiteren Kapitel bilden zahlreiche Aufsätze von<br />

Juristen, die die Ehre hatten, Renate Jaeger kennen zu<br />

lernen oder mit ihr zu arbeiten. Die Aufsätze werden in<br />

speziellen Bereichen je nach Thema gegliedert. Transnationale<br />

Rechtsstaatlichkeit, der EuGH als neoliberale<br />

Institution, der Beitritt der EU zur EMRK u.ä. werden im<br />

Abschnitt »Institutionelle Aspekte« analysiert, während<br />

über Grundrechte in verschiedenen Lebensbereichen<br />

unter dem Schlagwort »Demokratie und Solidarität«<br />

diskutiert wird. Schließlich werden materiellrechtliche<br />

Gewährleistungen des Grundgesetzes, der innerstaatlichen<br />

(deutschen) Rechtsordnung sowie der EMRK und<br />

in einem letzten Abschnitt verfahrensrechtliche Garantien<br />

dargestellt.<br />

Eine sehr interessante Präsentation der Demokratie<br />

als weibliches Wesen findet man im Beitrag von Gertrude<br />

Lübbe-Wolff mit der Überschrift »Demokratie als Weiberkram«.<br />

Die Begründung, warum wichtige Begriffe<br />

wie »Staat«, »Demokratie«, »Heroismus« weiblicher oder<br />

männlicher Natur sind, wird ausführlich in Bezug auf<br />

Werke bekannter Sprachwissenschaftler, Philosophen<br />

und Autoren sowohl der Antike als auch der modernen<br />

Zeit dargestellt und analysiert.<br />

Das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen<br />

in allen Lebensbereichen und die Umsetzung<br />

der UN-Behindertenrechtskonvention im alltäglichen<br />

Leben ist ein weiteres interessantes Thema dieses<br />

Werkes und im Aufsatz von Peter Masuch zu finden, während<br />

die Rechtsstellung von Patienten, insbesondere<br />

nach ärztlichen Fehlern, im Aufsatz von Hansjörg Geiger<br />

behandelt wird.<br />

Die Grundidee des vorliegenden Werkes liegt in der<br />

Frage, inwiefern <strong>Menschenrechte</strong> im wirtschaftlichen,<br />

kulturellen und sozialen Bereich verwirklicht werden<br />

und welche Unterstützung der Einzelne bei der Sicherung<br />

und Durchsetzung seiner Grundrechte bekommt,<br />

sei es die Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen, der<br />

Schutz des Familienlebens, die Informationsfreiheit,<br />

Schutz für Transsexuelle in Deutschland und Europa<br />

oder der Schutzraum der privaten Lebensführung (Beispielsfall:<br />

die prominente Person).<br />

Die vorliegende Festschrift bietet einen ausführlichen<br />

Einblick über die Polemik zwischen Staat und Mensch,<br />

einschließlich seiner Grundrechte der zweiten und der<br />

ersten Generation.<br />

Sofia Iliaki<br />

Andreas Stricker<br />

Die Bedeutung der Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention und der gemeinsamen<br />

Verfassungsüberlieferungen für den Grundrechtsschutz<br />

der Europäischen Union<br />

Peter Lang, Frankfurt am Main 2010<br />

ISBN 978-3-631-58719-5, geb., 243 S., € 51,20<br />

Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union ist<br />

nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, mit dem<br />

die EU-Grundrechtecharta Verbindlichkeit erlangte und<br />

eine Rechtsgrundlage für den Beitritt zur EMRK geschaffen<br />

wurde, zunehmend in das Blickfeld wissenschaftlicher<br />

Erörterungen geraten. Die vorliegende Dissertation<br />

bezieht sich allerdings noch auf die alte Rechtslage nach<br />

dem Vertrag von Nizza und trägt daher Art. 6 Abs. 2 EU-<br />

Vertrag in der Lissaboner Fassung, der mittlerweile den<br />

Beitritt der EU zur EMRK vorsieht, noch keine Rechnung.<br />

Nach einer kurzen Einführung in den Gegenstand<br />

der Arbeit stellt der Autor die – historisch gewachsenen<br />

– Grundlagen der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzkonzeption<br />

vor, wobei er auch auf Besonderheiten<br />

aus dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht<br />

und EMRK sowie auf die Rechtsprechungsdivergenzen<br />

zwischen EuGH und EKMR bzw. EGMR eingeht. Stricker<br />

stellt sodann drei Modelle eines verbesserten – teilweise<br />

bereits verwirklichten – Grundrechtsschutzes im Wege<br />

der »richterrechtlichen« Gewährleistung durch den<br />

EuGH (sog. prätorische Lösung), der Katalogisierung<br />

bzw. Kodifizierung von Grundrechten (vgl. die Charta<br />

der Grundrechte der EU) und des bereits erwähnten,<br />

noch ausstehenden, Beitritts der EU zur EMRK vor.<br />

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Art. 6 Abs. 2<br />

EU-Vertrag in der Fassung von Nizza, wonach die Union<br />

die Grundrechte achtet, wie sie in der am 4.11.1950 in<br />

Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum<br />

Schutze der <strong>Menschenrechte</strong> und Grundfreiheiten<br />

gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen<br />

Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten<br />

als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts<br />

ergeben. Dabei wird vor allem der Frage nachgegangen,<br />

ob aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme auf die<br />

EMRK in Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag die in ihr verankerten<br />

Grundrechte als für das Gemeinschaftsrecht unmittelbar<br />

verbindlich erachtet werden können, wobei auch auf<br />

die Rolle der EU-Grundrechtecharta eingegangen wird.<br />

Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 2<br />

EU-Vertrag die EMRK für das Gemeinschaftsrecht verbindlich<br />

mache, gleichzeitig aber eine dynamische Weiterentwicklung<br />

des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes<br />

über die parallele Beachtlichkeit der in<br />

ständiger Entwicklung begriffenen Verfassungsüberlieferungen<br />

der Mitgliedstaaten zugelassen werde.<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


60<br />

NLMR 1/2011-Literatur<br />

Jörn Eschment<br />

Musterprozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für<br />

<strong>Menschenrechte</strong>.<br />

Probleme und Perspektiven des Piloturteilsverfahrens<br />

Peter Lang, Frankfurt a. M. 2011<br />

ISBN 978-3-631-61469-3, geb., 349 S., € 60,–<br />

Der massenhafte Anstieg an Beschwerden beansprucht<br />

die Arbeitskapazitäten des EGMR erheblich. Ein großer<br />

Teil davon besteht aus Parallelverfahren, welche oft aus<br />

strukturellen Konventionsverletzungen (z.B. überlange<br />

Verfahrensdauer) resultieren. In so genannten Piloturteilsverfahren<br />

versucht der EGMR dieser Problematik<br />

Herr zu werden, indem in einem Fall eine prioritäre Entscheidung<br />

für weitere, rechtlich gleich gelagerte Verfahren<br />

getroffen wird. In diesen Folgeverfahren kann dann<br />

unter vereinfachten Bedingungen entschieden werden.<br />

Jörn Eschment beschreibt in seiner Monografie in vier<br />

Kapiteln Theorie und Praxis des Piloturteilsverfahrens<br />

und analysiert dessen Potential und Probleme kritisch.<br />

Nach einer kurzen Einleitung über die gesamteuropäische<br />

Menschenrechtsordnung und die führende<br />

Rolle des EGMR darin wird im ersten Kapitel vor allem<br />

die Funktionsweise des Konventionssystems erläutert,<br />

bevor Eschment auf seine Reformen eingeht. Besonders<br />

hervorzuheben ist dabei das 14. Prot. EMRK, welches die<br />

Aussonderungskompetenzen des EGMR verstärkt und<br />

den Umgang mit Parallelverfahren verbessert.<br />

Im zweiten Kapitel beschreibt Eschment anfangs den<br />

Fall Broniowski gg. Polen, das erste Piloturteilsverfahren.<br />

Darauf aufbauend kritisiert er den Begriff an sich und<br />

formuliert einen eigenständigen Definitionsvorschlag.<br />

Im Folgenden geht der Autor auf die Rechtsgrundlage<br />

ein und zeigt anhand verschiedener Beispiele den<br />

Anwendungsbereich auf. Dies gliedert er nach aktuellen<br />

und potentiellen Einsatzgebieten.<br />

Im dritten Kapitel geht Eschment sehr ausführlich auf<br />

das Piloturteilsverfahren in der Praxis ein, indem er in<br />

einem Dreischritt Verfahrenseröffnung, Hauptsacheverfahren<br />

im Pilotfall und Folgeverfahren in Parallelsachen<br />

beschreibt.<br />

Abschließend stellt Eschment in Kapitel vier die Perspektiven<br />

des Piloturteilsverfahrens dar. Dabei unterscheidet<br />

er zwischen Fortführungsprognosen und der<br />

Umsetzung von Piloturteilen.<br />

In einer abschließenden Schlussbetrachtung resümiert<br />

Eschment nochmals sämtliche Befunde.<br />

Der übersichtlich logische Aufbau und Zwischenresümees<br />

erleichtern den Einstieg in die Thematik. Eschment<br />

kommt immer zu einem ausgewogenen eigenen Ansatz,<br />

nachdem er das herrschende Verständnis dargestellt<br />

hat. Die Dissertation stellt einen hilfreichen Beitrag zur<br />

Diskussion um die zukünftige Arbeit des EGMR dar.<br />

Julius Lagodny<br />

<strong>Jan</strong> Martin Hoffmann<br />

Die Europäische Menschenrechtskonvention und<br />

nationales Recht.<br />

Ein Vergleich der Wirkungsweise in den<br />

Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs und der<br />

Bundesrepublik Deutschland<br />

Carl Heymanns <strong>Verlag</strong>, Köln 2010<br />

ISBN 978-3-452-27461-8, geb., 165 S., € 45,30<br />

Die Art und Weise der Umsetzung der EMRK im Vereinigten<br />

Königreich und in der BRD wurde bis dato noch keiner<br />

umfassenden vergleichenden Untersuchung unterzogen.<br />

Der Autor legt den Schwerpunkt auf die Situation<br />

im Vereinigten Königreich, war doch jene in Deutschland<br />

bereits Gegenstand zahlreicher Abhandlungen.<br />

Der erste, eher kurz gehaltene Teil richtet das Augenmerk<br />

auf die Wirkungen der Entscheidungen des EGMR.<br />

Im zweiten Teil setzt sich <strong>Jan</strong> Martin Hoffmann intensiv<br />

mit der Stellung der EMRK im Rechtssystem des Vereinigten<br />

Königreichs auseinander. Nach einem Überblick<br />

über die historische Entwicklung (das Vereinigte<br />

Königreich hat lange davon abgesehen, die in der EMRK<br />

verankerten Grundrechte und -freiheiten in das innerstaatliche<br />

Recht zu überführen) wird von ihm insbesondere<br />

die rechtliche Situation nach dem 1998 erfolgten<br />

Inkrafttreten des »Human Rights Act« (HRA) beleuchtet.<br />

Mit diesem Gesetz wurden die substantiellen Artikel der<br />

EMRK in britisches Recht inkorporiert. Der Autor geht<br />

ausführlich auf unterschiedliche Vorgaben des HRA<br />

ein, die zum einen die Behörden verpflichten, die nationalen<br />

Gesetze konventionskonform auszulegen, zum<br />

anderen die Gerichte bei Fragen, welche ein Konventionsrecht<br />

betreffen, dazu aufrufen, unter anderem Urteile<br />

des EGMR in ihre Entscheidung miteinzubeziehen.<br />

Er kommt zu dem Schluss, dass der HRA das Problem,<br />

die verfassungsrechtlichen Eigenheiten des britischen<br />

Rechtssystems mit der Einhaltung der Konventionsrechte<br />

in Einklang zu bringen, überzeugend gelöst hat.<br />

Bei der Schilderung der Situation in der BRD, wo die<br />

EMRK bekanntlich einfachgesetzlichen Rang aufweist,<br />

konzentriert sich <strong>Jan</strong> Martin Hoffmann auf Fragen der<br />

Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR durch<br />

das BVerfG, das immerhin festgestellt hat, dass dessen<br />

Judikate in den Willensbildungsprozess des zu einer<br />

Entscheidung berufenen Gerichts einfließen müssen.<br />

Im dritten Teil, »Vergleich und Ergebnis«, hält der<br />

Autor fest, dass die Konventionsrechte in der BRD in<br />

aller Regel als Ergänzung des aktuellen Grundrechtsschutzsystems<br />

verstanden würden, während sie im Vereinigten<br />

Königreich den maßgeblichen Katalog menschenrechtlicher<br />

Gewährleistungen darstellten. Beide<br />

Systeme würden genügend Flexibilität aufweisen, um<br />

den Anforderungen der EMRK gerecht zu werden.<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


NLMR 1/2011-Literatur<br />

61<br />

Cesla Amarelle / Minh Son Nguyen (Hrsg.)<br />

Le principe de non-refoulement.<br />

Fondements et enjeux pratiques<br />

Stämpfli <strong>Verlag</strong>, Bern 2010<br />

ISBN 978-3-7272-8765-7, brosch., 208 S., € 56,70<br />

Das Prinzip, Personen nicht in ihr Heimatland zurückzuschicken,<br />

insofern sie dort eine Gefahr für ihr Leben<br />

oder ihre Freiheit zu befürchten haben bzw. Gefahr laufen,<br />

dort Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender<br />

Behandlung oder Strafe ausgesetzt zu werden, ist<br />

international anerkannt. Dieses sogenannte Non-Refoulement-Prinzip<br />

gehört sogar zu den zwingenden Bestimmungen<br />

des Völkerrechts. Trotzdem wird es, sowohl in<br />

der Schweiz als auch in den meisten übrigen westlichen<br />

Nationen, in der Praxis teils nur eingeschränkt angewendet.<br />

Dies entspricht der aktuellen Tendenz im so demokratischen<br />

und an den <strong>Menschenrechte</strong>n orientierten<br />

Westen, in Bezug auf die Rechte von Immigranten einen<br />

zweiten Maßstab anzulegen. Sei es, dass man ihnen den<br />

Bau von Gebetshäusern verbietet oder man sie gemäß<br />

der Dublin-Verordnung in Staaten abschiebt, in denen<br />

ihre Grundbedürfnisse nicht gedeckt werden können.<br />

Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit<br />

der soeben freilich verkürzt dargestellten Problematik<br />

in Bezug auf die Schweiz. Der erste Beitrag von Pascal<br />

Mahon und Olivier Bigler beschäftigt sich zunächst mit<br />

der Grundlage des Non-Refoulement-Prinzips im internationalen<br />

Recht sowie in Art. 25 der Schweizer Bundesverfassung<br />

im Kontext von Migrationen und behandelt<br />

unter anderem die Zulässigkeit von Volksinitiativen, die<br />

dem Prinzip zuwiderlaufen.<br />

Der Beitrag von Susin Park widmet sich sodann den<br />

Bemühungen des Flüchtlingshochkommissars der UN,<br />

die Beachtung des Non-Refoulement-Prinzips voranzutreiben.<br />

Neben der Klärung des personellen und territorialen<br />

Anwendungsbereichs des Prinzips weist die<br />

Autorin auf die Problematik der in Europa stark variierenden<br />

Auslegung des Flüchtlingsstatus und der unter<br />

dem Aspekt des Non-Refoulement-Prinzips bedenklich<br />

ausgestalteten Asylverfahren in Europa hin.<br />

Das derzeit umstrittene Dublin-Verfahren und die<br />

Fragen eines gemeinsamen europäischen Asylsystems<br />

sind Gegenstand des Beitrags von Francesco Maiani.<br />

Schließlich beschäftigen sich die Herausgeber in<br />

einem gemeinsamen Aufsatz mit den Einzelheiten des<br />

Verfahrens bezüglich des Non-Refoulement im Kontext<br />

der Abschiebung von Fremden. Unter dem Aspekt des<br />

Non-Refoulement iSv. Art. 3 EMRK wird die einschlägige<br />

Rechtsprechung des EGMR unter dem Aspekt des Non-<br />

Refoulement gemäß Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention<br />

und Art. 5 Schweizer Asylgesetz jene des Schweizer<br />

Bundesverwaltungsgerichts analysiert.<br />

In einem abschließenden Kapitel bietet das Werk eine<br />

Zusammenfassung der gesamten, für das Non-Refoulement-Prinzip<br />

relevanten Judikatur, vor allem des EGMR,<br />

aber auch des EuGH sowie des Schweizer Bundesgerichts<br />

und Bundesverwaltungsgerichts, erstellt von den<br />

Herausgebern gemeinsam mit Stefanie Tamara Kurt und<br />

Dieyla Sow.<br />

Der in französischer Sprache verfasste Sammelband<br />

ist nicht nur anlässlich der kürzlich erfolgten Schweizer<br />

Volksinitiative zur »Ausschaffung krimineller Ausländer«,<br />

sondern auch hinsichtlich der derzeit lodernden<br />

Diskussion über das Dublin-Verfahren an sich und der<br />

Zulässigkeit von Abschiebungen nach Griechenland –<br />

und somit auch für Nichtschweizer – hoch aktuell und<br />

interessant.<br />

Petra Pann<br />

Franz Matscher / Peter Pernthaler / Andreas<br />

Raffeiner (Hrsg.)<br />

Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit.<br />

Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag<br />

Neuer Wissenschaftlicher <strong>Verlag</strong>, Wien – Graz 2010<br />

ISBN 978-3-7083-0705-3, geb., 921 S., € 98,–<br />

Die vorliegende Festschrift ist dem renommierten Verfassungsjuristen<br />

und ehemaligem Bundesminister für<br />

Justiz Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag gewidmet.<br />

In ihr spiegeln sich das wissenschaftliche Werk und das<br />

Gedankengut des Geehrten wider, das von einer durch<br />

und durch humanistischen Gesinnung geprägt ist. So<br />

führte Klecatsky in seiner Eigenschaft als amtierender<br />

Justizminister der Jahre 1966 bis 1970 die erste große<br />

Strafrechtsreform in der Nachkriegszeit durch und geht<br />

die Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft<br />

nicht zuletzt auf sein Wirken – so Justizministerin<br />

Claudia Bandion-Ortner in ihrem Grußwort – zurück.<br />

Die in der Festschrift aufgeführten Beiträge befassen<br />

sich vorwiegend mit grund- und menschenrechtlichen<br />

sowie rechtsphilosophischen Fragen – wie zum Beispiel<br />

der Moscheen- und Minarettdebatte, der Todesstrafe,<br />

den Problemen des »digital bewegten Menschen«, der<br />

Verhältnismäßigkeit der Haft, aber auch Umweltthemen<br />

wie dem als Schutz für den Alpenraum gedachten<br />

Verkehrsprotokoll der Alpenkonvention. Daneben finden<br />

sich Beiträge, die sich ausschließlich auf die Situation<br />

Österreich – Südtirol – Italien konzentrieren,<br />

brachte doch Hans R. Klecatsky dem Schicksal Südtirols<br />

stets große Anteilnahme bzw. reges Interesse entgegen.<br />

Behandelt werden unter anderem die Frage, wie<br />

die Südtirol-Autonomie weiter ausgebaut werden könnte,<br />

die Rolle des Gruber-Degasperi-Abkommens bei der<br />

Wiederversöhnung der Länder und Völker sowie seine<br />

politisch-institutionelle Aktualität, die Entwicklung und<br />

Zukunft der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


62<br />

NLMR 1/2011-Literatur<br />

zwischen Tirol und Südtirol-Trentino und zwei Wendepunkte<br />

der Südtirolpolitik Anfang und Ende der 1960-<br />

er Jahre. Brennende religionsrechtliche Fragen, wie die<br />

Anerkennung neuer Religionsgemeinschaften bzw. der<br />

Rechtsstatus von Muslimen in Österreich sowie die Frage<br />

des Anbringens von Kreuzen im öffentlichen Raum,<br />

kommen ebenso nicht zu kurz wie rein menschenrechtliche<br />

Themen – genannt seien hier die »Rechte des Menschen«,<br />

die Ideengeschichte der <strong>Menschenrechte</strong> und<br />

die Grenzen des Rechts bzw. der Rechtsstaatlichkeit,<br />

die durch rücksichtslos verfolgte wirtschaftliche und<br />

finanzpolitische Macht dramatisch offengelegt werden.<br />

Die vorliegende Festschrift, zu deren Herausgabe der<br />

Südtiroler Student Andreas Raffeiner die Initiative ergriffen<br />

hat, ist eine sehr gelungene Würdigung des reichhaltigen<br />

Schaffens und Wirkens von Hans R. Klecatsky.<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

Julia Kozma / Manfred Nowak / Martin Scheinin<br />

(Hrsg.)<br />

A World Court of Human Rights – Consolidated Statute<br />

and Commentary<br />

Neuer Wissenschaftlicher <strong>Verlag</strong>, Wien – Graz 2010<br />

ISBN 978-3-7083-0734-3, brosch., 113 S., € 28,80<br />

Trotz einer Vielzahl an völkerrechtlichen Instrumenten<br />

zum Schutze der <strong>Menschenrechte</strong> existieren auf<br />

der Welt noch weit verbreitete und zum Teil gravierende<br />

Menschenrechtsverletzungen, vor allem in Afrika<br />

und Asien. Dazu kommt, dass die zur Ahndung von<br />

Menschenrechtsverletzungen eingerichteten regionalen<br />

Menschenrechtsgerichtshöfe bei weitem nicht<br />

den hohen Entwicklungsstand aufweisen wie der Europäische<br />

Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong>. Der Interamerikanische<br />

Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong> verfügt<br />

weder über Berufsrichter noch haben alle Staaten<br />

Latein- und Nordamerikas bzw. der Karibik seine<br />

Zuständigkeit anerkannt. Der Afrikanische Gerichtshof<br />

für <strong>Menschenrechte</strong> wiederum wurde erst kürzlich<br />

ins Leben gerufen, während man in Asien noch immer<br />

auf die Errichtung eines regionalen Menschenrechtsgerichtshofs<br />

wartet.<br />

Der vorliegende Entwurf eines konsolidierten Statuts<br />

für einen »Weltgerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong>«<br />

einschließlich Kommentars, ausgearbeitet von den<br />

Herausgebern, geht auf eine Initiative der Schweizer<br />

Regierung mit dem Ziel der Präsentation eines Menschenrechtsprogramms<br />

in Erinnerung an den 60.<br />

Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der <strong>Menschenrechte</strong><br />

(2008) zurück. Er beruht auf Einzelentwürfen von<br />

Julia Kozma und Manfred Nowak vom Wiener Ludwig<br />

Boltzmann Institut für <strong>Menschenrechte</strong> und von Martin<br />

Scheinin von der Abo Akademi in Turku bzw. dem Europainstitut<br />

in Florenz.<br />

Das konsolidierte Statut trägt dem Umstand Rechnung,<br />

dass vielen Menschen auf der ganzen Welt ein<br />

Zugang zu effektiven nationalen, regionalen und universellen<br />

Mechanismen zum Schutze ihrer <strong>Menschenrechte</strong><br />

verwehrt wird und sie auch keine Möglichkeit<br />

haben, angemessene Wiedergutmachung für erlittenes<br />

Unrecht zu erhalten. Laut der Präambel soll der ständige<br />

und unabhängige »Weltgerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong>«<br />

mit (vorgeschlagenem) Sitz in Genf, Schweiz,<br />

nicht als Rechtsmittelinstanz für regionale Menschenrechtsgerichtshöfe<br />

verstanden werden, sondern helfen,<br />

die enorme Lücke im Zusammenhang mit der Um- und<br />

Durchsetzung von internationalen Menschenrechsverpflichtungen<br />

zu schließen. Insofern bezieht sich seine<br />

Zuständigkeit ausschließlich auf Menschenrechtsverträge,<br />

die im Rahmen der Vereinten Nationen abgeschlossen<br />

wurden, wie etwa die UN-Menschenrechtspakte<br />

I und II. Zentrale Bestimmung ist das in Art. 7<br />

des Entwurfs verankerte Individualbeschwerderecht,<br />

das dem in Art. 34 EMRK festgelegten nachgebildet ist.<br />

Gemäß Art. 18 des Entwurfs sollen die Urteile des »Weltgerichtshofs<br />

für <strong>Menschenrechte</strong>« endgültig und bindend<br />

sein, womit eine entscheidende Schwäche des<br />

derzeitigen Überwachungssystems der Vereinten Nationen<br />

– die Entscheidungen ihrer Organe sind für die<br />

Vertragsstaaten nicht bindend – beseitigt wäre. Begrüßenswert<br />

ist auch die in Art. 39 des Entwurfs vorgesehene<br />

Einrichtung eines Treuhänderfonds, um Opfer von<br />

Menschenrechtsverletzungen und ihre Familien finanziell<br />

zu unterstützen bzw. Staaten zu helfen, ihr nationales<br />

Rechtssystem menschenrechtskonform umzugestalten.<br />

Mit Recht weisen die Herausgeber darauf hin, dass<br />

Staaten angesichts der Vorlage eines Expertenentwurfs<br />

keine »Ausrede« mehr haben, der Diskussion über die<br />

Einrichtung eines »Weltgerichtshofs für <strong>Menschenrechte</strong>«<br />

aus dem Weg zu gehen. Es ist den Autoren zu wünschen,<br />

dass ihr Entwurf auf fruchtbaren Boden stößt.<br />

Eduard Christian Schöpfer<br />

•<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>


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<strong>Verlag</strong>s- und Herstellungsort: Wien<br />

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Erscheint sechsmal pro Jahr<br />

Jahresabonnement: € 48,– (exkl. Porto und Versand)<br />

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ISSN: 1815-1604<br />

Ausgabe 2011/1 | Redaktionsschluss 28.2.2011

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