Newsletter Menschenrechte - Jan Sramek Verlag
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N LM R<br />
März<br />
<strong>Newsletter</strong> <strong>Menschenrechte</strong><br />
Herausgeber:<br />
Österreichisches<br />
Institut für<br />
<strong>Menschenrechte</strong><br />
ISSN 1815-1604<br />
2011<br />
20. Jahrgang<br />
Rechtsprechung<br />
▶▶<br />
Europäischer Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong><br />
Ladislav Holub gg. Tschechien (14.12.2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
Anayo gg. Deutschland (21.12.2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />
Paksas gg. Litauen (6.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz (13.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
Haidn gg. Deutschland (13.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
Hoffer und Annen gg. Deutschland (13.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
Haas gg. die Schweiz (20.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
Herrmann gg. Deutschland (20.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />
M. S. S. gg. Belgien und Griechenland (21.1.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
Karoussiotis gg. Portugal (1.2.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
Sporer gg. Österreich (3.2.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
Andrle gg. Tschechien (17.2.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
Weitere Urteile und Entscheidungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
▶▶<br />
▶▶<br />
Gerichtshof der Europäischen Union<br />
C-356/09 v. 18.11.2010<br />
Pensionsversicherungsanstalt gg. Christine Kleist . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
C-279/09 v. 22.12.2010<br />
Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH gg.<br />
Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
Österreichische Judikatur<br />
VfGH B 1214/09 v. 1.12.2010<br />
Anerkennung einer islamischen Religionsgemeinschaft . . . . . . . . 54<br />
VfGH V 39/10 u.a. v. 15.12.2010<br />
Differenzierung bei Fahrpreisermäßigung für Senioren . . . . . . . . 56<br />
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58<br />
<br />
<strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
Abkürzungsverzeichnis<br />
ABGB<br />
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch<br />
AEUV<br />
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union<br />
ASVG<br />
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz<br />
AsylG Asylgesetz 2005<br />
AsylGH<br />
Asylgerichtshof<br />
AVG<br />
Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz<br />
BAA<br />
Bundesasylamt<br />
BayStrUBG Bayrisches Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern<br />
BekGG<br />
Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften<br />
Bf.<br />
Beschwerdeführer, Beschwerdeführerin<br />
bf.<br />
beschwerdeführend<br />
BG<br />
Bezirksgericht<br />
BGB<br />
(deutsches) Bürgerliches Gesetzbuch<br />
BGBl.<br />
Bundesgesetzblatt<br />
BGH<br />
(deutscher) Bundesgerichtshof<br />
Bsw. Nr.<br />
Beschwerdenummer<br />
BVerfG<br />
(deutsches) Bundesverfassungsgericht<br />
B-VG Bundesverfassungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929<br />
CPT<br />
European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment<br />
EG<br />
Europäische Gemeinschaft<br />
EGMR<br />
Europäischer Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong><br />
EKMR<br />
Europäische Kommission für <strong>Menschenrechte</strong><br />
EMRK<br />
Europäische Menschenrechtskonvention<br />
EU<br />
Europäische Union<br />
EuG<br />
Europäisches Gericht erster Instanz<br />
EuGH<br />
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />
EuGRZ<br />
Europäische Grundrechtezeitschrift<br />
GG<br />
(deutsches) Grundgesetz<br />
GH<br />
Europäischer Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong><br />
GK<br />
Große Kammer<br />
GlBG<br />
Gleichbehandlungsgesetz<br />
GRC<br />
Charta der Grundrechte der Europäischen Union<br />
HKÜ Haager Konvention über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung 1980<br />
Hrsg.<br />
Herausgeber<br />
LG<br />
Landesgericht<br />
NL<br />
<strong>Newsletter</strong> <strong>Menschenrechte</strong> / ÖIM-<strong>Newsletter</strong><br />
OGH<br />
Oberster Gerichtshof<br />
ÖJZ<br />
Österreichische Juristenzeitung<br />
OLG<br />
Oberlandesgericht<br />
Prot.<br />
Protokoll<br />
PVA<br />
Pensionsversicherungsanstalt<br />
RL<br />
Richtlinie<br />
Rs.<br />
Rechtssache<br />
StGB<br />
Strafgesetzbuch<br />
StGG<br />
Staatsgrundgesetz<br />
StPO<br />
Strafprozessordnung<br />
UN<br />
Vereinte Nationen (United Nations)<br />
UNHCR<br />
United Nations High Commissioner for Refugees<br />
VerfO<br />
Verfahrensordnung<br />
VfGH<br />
Verfassungsgerichtshof<br />
VO<br />
Verordnung<br />
VwGH<br />
Verwaltungsgerichtshof<br />
ZE<br />
Zulässigkeitsentscheidung<br />
ZPO<br />
Zivilprozessordnung<br />
Der <strong>Newsletter</strong> <strong>Menschenrechte</strong> erscheint mit freundlicher Unterstützung durch die<br />
Hermann und Marianne Straniak-Stiftung (Sarnen/Schweiz).
NLMR 1/2011-EGMR<br />
3<br />
Judikatur des EGMR<br />
Beschwerde über letztinstanzliche Entscheidung: kein<br />
erheblicher Nachteil für den Bf.<br />
Ladislav Holub gg. Tschechien, Zulässigkeitsentscheidung vom 14.12.2010, Kammer V, Bsw. Nr. 24.880/05<br />
Leitsatz<br />
Ob dem Bf. ein erheblicher Nachteil entstanden ist, ist<br />
nicht notwendigerweise anhand des dem nationalen<br />
Verfahren zugrunde liegenden Geldbetrags zu beurteilen,<br />
sondern kann auch davon abhängen, ob dem Bf. bei<br />
der Ausübung seines Rechts auf angemessene Teilnahme<br />
am Verfahren ein solcher Nachteil entstanden ist.<br />
Der in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK verwendete Begriff<br />
»Streitsache« ist nicht mit dem Begriff »Beschwerde«<br />
gleichzusetzen. Da somit nicht die Beschwerde selbst<br />
bereits durch ein nationales Gericht untersucht worden<br />
sein muss, kann der GH auch Beschwerdepunkte<br />
zurückweisen, die innerstaatlich nicht mehr überprüfbare<br />
Handlungen letztinstanzlicher Gerichte betreffen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 6 Abs. 1, 35 Abs. 3 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Milatová u.a./CZ v. 21.6.2005<br />
▸ MareŠ/CZ v. 26.10.2006<br />
▸ Vokoun/CZ v. 3.7.2008<br />
▸ Vladimir Petrovic Korolev/CZ v. 1.7.2010 (ZE)<br />
= NL 2010, 207<br />
Schlagworte<br />
Nachteil, erheblicher; Zulässigkeitsvoraussetzung<br />
Sarah Baier<br />
▷<br />
Sachverhalt<br />
Im Februar 1998 schloss der Bf. einen Kaufvertrag mit<br />
dem Ehepaar X ab. Als das Ehepaar nicht den gesamten<br />
Kaufpreis bezahlte, verpflichtete es sich schriftlich<br />
dazu, die ausstehende Summe nach Registrierung des<br />
Vertrags durch das Grundbuchsamt zu entrichten.<br />
Am 12.6.1998 zogen die Parteien den Antrag an das<br />
Grundbuchsamt zurück und schlossen einen neuen<br />
Kaufvertrag über dieselben Güter, der in das Grundbuch<br />
eingetragen wurde. Als das Ehepaar X die anerkannten<br />
Schulden nicht entrichtete, klagte sie der Bf. auf Zahlung<br />
von CZK 700.000,– (ungefähr € 28.540,–). Das Bezirksgericht<br />
Prag-Ost wies die Klage jedoch ab. Es nahm an,<br />
dass sich das Schuldanerkenntnis auf den Vertrag vom<br />
Februar 1998 beziehe, obwohl der Bf. mit seiner auf den<br />
Vertrag vom 12.6.1998 gesetzten Unterschrift bestätigt<br />
habe, den gesamten Kaufpreis erhalten zu haben. Das<br />
Regionalgericht von Prag bestätigte das erstinstanzliche<br />
Urteil. Die Revision des Bf. an das Höchstgericht wurde<br />
für unzulässig erklärt, da sie sich auf Tatsachen- und<br />
nicht auf Rechtsfragen beziehe und deshalb nicht von<br />
entscheidender rechtlicher Relevanz sei.<br />
Am 14.9.2004 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde,<br />
in der er eine Verletzung seines Rechts auf ein faires<br />
Verfahren geltend machte, da die Schlussfolgerungen<br />
der Gerichte den festgestellten Tatsachen und Beweisen<br />
widersprechen würden. Nach Aufforderung durch<br />
das Verfassungsgericht gaben die involvierten Gerichte<br />
zur Beschwerde des Bf. Stellungnahmen ab, die diesem<br />
jedoch nicht übermittelt wurden.<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
4<br />
Ladislav Holub gg. Tschechien<br />
Am 22.2.2005 wies das Verfassungsgericht die<br />
Beschwerde des Bf. als offensichtlich unbegründet<br />
zurück. Es fasste die Stellungnahmen der Gerichte<br />
zusammen und stellte fest, dass das Recht des Bf., zum<br />
Schutz seiner Interessen die Gerichte anzurufen, nicht<br />
beeinträchtigt und das Prinzip eines fairen Verfahrens<br />
nicht verletzt worden sei.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht<br />
auf ein faires Verfahren). Er behauptet erstens, Bezirksund<br />
Regionalgericht hätten eine willkürliche Beweiswürdigung<br />
vorgenommen und die rechtlichen Schlussfolgerungen<br />
würden den festgestellten Tatsachen<br />
widersprechen. Zweitens beschwert er sich darüber,<br />
dass das Höchstgericht nicht die Begründetheit seiner<br />
Einwendungen geprüft habe. Mit Bezug auf die Prinzipien<br />
eines kontradiktorischen Verfahrens und der<br />
Waffengleichheit sieht er eine Konventionsverletzung<br />
außerdem darin, dass das Verfassungsgericht ihm die<br />
Stellungnahmen der am Verfahren beteiligten Gerichte<br />
nicht übermittelt und ihm so die Möglichkeit genommen<br />
habe, darauf zu reagieren.<br />
In Hinblick auf die Fairness des Verfahrens vor dem<br />
Bezirks- und Regionalgericht erinnert der GH daran,<br />
dass es nicht seine Aufgabe ist, anstelle der nationalen<br />
Gerichte eine eigene Würdigung der Beweise und Tatsachen<br />
vorzunehmen, sondern sicherzustellen, dass<br />
die Beweismittel in einer einen fairen Prozess garantierenden<br />
Weise präsentiert wurden. Es obliegt ihm auch<br />
nicht, eine auf angebliche Tatsachen- oder Rechtsirrtümer<br />
der nationalen Gerichte gerichtete Beschwerde zu<br />
untersuchen. Der GH ist vorliegend der Ansicht, dass die<br />
genannten Gerichte die diversen Beweismittel souverän,<br />
mit Bedacht auf alle in den Akten vermerkten Umstände<br />
gewürdigt und ihre in einem kontradiktorischen Verfahren<br />
gefällten Entscheidungen ordnungsgemäß begründet<br />
haben. Man kann daher nicht annehmen, dass das<br />
Verfahren nicht den Bedürfnissen der Fairness entsprach.<br />
Der Beschwerdepunkt ist daher als offensichtlich<br />
unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).<br />
Was das Höchstgericht betrifft, so ist anzumerken,<br />
dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht implizit<br />
zulässige Beschränkungen enthält, insbesondere,<br />
was die Zulässigkeitsvoraussetzungen für ein Rechtsmittel<br />
betrifft. Vorliegend oblag es dem Höchstgericht,<br />
darüber zu entscheiden, ob die Revision auf eine Entscheidung<br />
von besonderer rechtlicher Relevanz hinauslief<br />
und daher zulässig oder unzulässig war. Sofern das<br />
Höchstgericht seine Entscheidung im Einklang mit seiner<br />
etablierten Praxis getroffen hat und diese nicht als<br />
willkürlich qualifiziert werden kann, sollte sie der GH<br />
nicht in Frage stellen. Auch dieser Beschwerdepunkt ist<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
daher als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen<br />
(einstimmig).<br />
Was schließlich die Beschwerde über das Vorgehen<br />
des Verfassungsgerichts anlangt, stellt der GH zunächst<br />
fest, dass diese den Beschwerden in den Fällen Milatová<br />
u.a./CZ, Mares/CZ und Vokoun/CZ entspricht, in denen<br />
er eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt<br />
hat. Die vorliegende Beschwerde ist weder unvereinbar<br />
mit der Konvention oder ihren Protokollen, noch ist sie<br />
offensichtlich unbegründet oder wurde missbräuchlich<br />
eingebracht. Es steht dem GH jedoch offen zu prüfen,<br />
ob das neue, in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK (idF. 14. Prot.<br />
EMRK) vorgesehene Zulässigkeitskriterium, das auf<br />
dem Prinzip de minimis non curat praetor beruht, anzuwenden<br />
ist.<br />
Zunächst ist zu klären, ob der Bf. einen erheblichen<br />
Nachteil erlitten hat: Das Verfahren vor dem Verfassungsgericht<br />
ist ein Sonderverfahren, das auf die Untersuchung<br />
der Verfassungsmäßigkeit beschränkt ist. Da<br />
der Bf. mit seiner Verfassungsbeschwerde die Entscheidungen<br />
des Regional- und des Höchstgerichts angefochten<br />
hatte, wurde sein Rechtsmittel diesen Instanzen zur<br />
Stellungnahme übermittelt. Beide Gerichte haben in<br />
ihren Ausführungen auf ihre in der Sache des Bf. gefällten<br />
Urteile verwiesen. Das Höchstgericht hat die Gründe<br />
für die Unzulässigerklärung der Revision zusammengefasst,<br />
ohne eine zusätzliche, von seiner früheren Entscheidung<br />
abweichende Begründung anzugeben. Nach<br />
der Analyse der verfassungsgerichtlichen Entscheidung<br />
ist der GH der Ansicht, dass diese nicht wirklich auf die<br />
von den anderen Gerichten vorgebrachten Stellungnahmen<br />
gestützt war. Untermauert wird dies dadurch, dass<br />
das Verfassungsgericht sich unzuständig sah zu prüfen,<br />
wie das Höchstgericht das Zulässigkeitskriterium<br />
der rechtlichen Relevanz angewendet hatte. Alles deutet<br />
darauf hin, dass die Verfassungsbeschwerde denselben<br />
Ausgang unabhängig davon gehabt hätte, ob das<br />
Höchstgericht eine Stellungnahme abgegeben hatte<br />
oder nicht.<br />
Der Bf. rügt, es sei ihm nicht möglich gewesen, auf die<br />
Stellungnahmen des Regional- und des Höchstgerichts<br />
zu reagieren. Er hat jedoch nicht spezifiziert, welche<br />
zusätzlichen, über die in der Verfassungsbeschwerde<br />
hinaus vorgebrachten Gründe er dem Verfassungsgericht<br />
hätte vorlegen wollen. Er hat somit in keiner Weise<br />
gezeigt, dass er in Reaktion auf die Stellungnahmen der<br />
Gerichte, die keine ihm unbekannten Punkte enthielten,<br />
neue, für die Untersuchung seiner Sache erhebliche<br />
Elemente vorbringen hätte können.<br />
Der GH gelangt zu dem Schluss, dass der Bf. keinen<br />
erheblichen Nachteil bei der Ausübung seines Rechts<br />
auf angemessene Teilnahme am verfassungsgerichtlichen<br />
Verfahren erlitten hat. Er teilt die Meinung der<br />
Regierung, wonach man den Begriff »Nachteil« iSv. Art. 5<br />
Abs. 3 lit. b EMRK nicht mit jenem dem zivilrechtlichen<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Verfahren zugrunde liegenden Geldbetrag gleichsetzen<br />
sollte, der dem Bf. nicht zugesprochen wurde.<br />
Nun ist zu prüfen, ob die Achtung der <strong>Menschenrechte</strong>,<br />
wie sie in der Konvention und ihren Protokollen<br />
garantiert werden, eine Prüfung in der Sache erfordert.<br />
Es ist darauf hinzuweisen, dass das tschechische Verfassungsgericht<br />
im Juli 2007 in Folge des Urteils des GH im<br />
Fall Milatová u.a./CZ eine Erklärung abgegeben hat, in<br />
der es dazu aufforderte, die Stellungnahmen der Parteien<br />
den Bf. mit einer Frist zur Erwiderung zukommen zu<br />
lassen, sofern sie neue Tatsachen, Behauptungen oder<br />
Argumente enthalten oder es diesbezüglich Zweifel gibt.<br />
Zudem ist den Resolutionen des Ministerkomitees zu<br />
entnehmen, dass Tschechien infolge des eben genannten<br />
Urteils seinen Verpflichtungen zur Ergreifung genereller<br />
Maßnahmen nachgekommen ist. In Anbetracht<br />
dessen und da der GH bereits mehrmals die Möglichkeit<br />
hatte, zu dem durch den vorliegenden Fall angesprochenen<br />
Problem Stellung zu nehmen, ist nicht mehr anzunehmen,<br />
dass die Beschwerde ernsthafte Fragen in<br />
Hinblick auf die Anwendung oder Auslegung der Konvention<br />
oder wichtige Fragen in Bezug auf das nationale<br />
Recht aufwirft. Die Achtung der <strong>Menschenrechte</strong> erfordert<br />
keine weitere Untersuchung.<br />
Schließlich ist zu klären, ob die Rechtssache bereits<br />
gebührlich von einem innerstaatlichen Gericht geprüft<br />
wurde. Der Begriff »Rechtssache« scheint sich vom<br />
Begriff »Beschwerde« zu unterscheiden. Es stellt sich<br />
die Frage, ob sich die Voraussetzung der gebührenden<br />
Untersuchung durch ein nationales Gericht auf die<br />
Rechtssache (iSv. Klage, Antrag, Anspruch) bezieht, die<br />
der Bf. gerichtlich klären lassen wollte, oder aber auf<br />
die Beschwerdepunkte, die er in der Folge dem GH vorgelegt<br />
hat. Der GH geht von ersterem aus. Würde man<br />
»Rechtssache« mit »Beschwerde« gleichsetzen, wären<br />
auch Beschwerdepunkte umfasst, die sich auf Handlungen<br />
letztinstanzlicher Gerichte beziehen, die auf nationaler<br />
Ebene nicht mehr überprüfbar wären und die der<br />
GH dann nicht mehr wegen Banalität der Beschwerde<br />
zurückweisen könnte. Der GH ist nicht überzeugt, mit<br />
einer sich diesfalls ergebenden, allgemeinen übergeordneten<br />
Kontrollkompetenz ausgestattet zu sein.<br />
In der Entscheidung Korolev/RUS erwog der GH, dass<br />
die Tatsache, dass der Bf., sobald seine Rechtssache von<br />
der dritten Instanz entschieden worden war, Teile seiner<br />
Beschwerdepunkte nicht mehr innerstaatlich überprüfen<br />
lassen konnte, kein Hindernis für die Anwendung<br />
des neuen Zulässigkeitskriteriums sei. Ein gegenteiliger<br />
Ansatz hielte den GH davon ab, unbedeutende<br />
Beschwerden zurückzuweisen, die eine der letzten nationalen<br />
Instanz zugeschriebene Konventionsverletzung<br />
betreffen. Ein solcher Ansatz wäre jedoch nicht mit dem<br />
Ziel von Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK vereinbar, Angelegenheiten,<br />
die keine Untersuchung in der Sache erfordern,<br />
schneller abzuhandeln.<br />
Ladislav Holub gg. Tschechien<br />
Die Behauptungen des Bf. in Hinblick auf seine aus<br />
einem Kaufvertrag resultierenden zivilrechtlichen<br />
Ansprüche und Verpflichtungen wurden in erster und<br />
zweiter Instanz in der Sache geprüft. Dem Bf. war es<br />
daher möglich, Schutz durch zumindest zwei innerstaatliche<br />
Gerichte anzustreben. Was die Wortfolge »gebührend<br />
geprüft« betrifft, sollte diese nicht gleich streng<br />
interpretiert werden wie die Anforderungen an ein faires<br />
Verfahren. Es wäre sonst nicht verständlich, weshalb<br />
die genannte und nicht die Wortfolge »in fairer Weise<br />
geprüft« verwendet wird.<br />
Der Bf. hat die mangelnde Fairness des Verfahrens<br />
vor den nationalen Gerichten gerügt. Diese Beschwerde<br />
wurde vom GH als offensichtlich unbegründet erklärt.<br />
Es ist daher nicht anzunehmen, die Rechtssache des Bf.<br />
sei nicht gebührend geprüft worden.<br />
Da die Voraussetzungen des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK<br />
in der durch das 14. Prot. EMRK geänderten Fassung<br />
somit erfüllt sind, erklärt der GH den Beschwerdepunkt<br />
für unzulässig (einstimmig).<br />
Anmerkung:<br />
Vgl. auch die Zulässigkeitsentscheidung Bratři Zátkové,<br />
a. s. gg. Tschechien vom 8.2.2011.<br />
•<br />
5<br />
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6<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Recht des leiblichen Vaters auf Umgang mit Kindern<br />
Anayo gg. Deutschland, Urteil vom 21.12.2010, Kammer V, Bsw. Nr. 20.578/07<br />
Leitsatz<br />
Bei der Klärung des Rechts eines biologischen Vaters<br />
auf Umgang mit seinen Kindern – im Falle der Existenz<br />
eines anderen, rechtlichen Vaters – haben die nationalen<br />
Gerichte stets das Kindeswohl mitzuberücksichtigen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 8 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Sommerfeld/D v. 8.7.2003 (GK)<br />
= NL 2003, 196 = EuGRZ 2004, 711<br />
▸ Lebbink/NL v. 1.6.2004<br />
▸ Pini und Bertani und Manera und Atripaldi/RO v.<br />
22.6.2004<br />
= NL 2004, 140<br />
▸ Zaunegger/D v. 3.12.2009<br />
= NL 2009, 348 = EuGRZ 2010, 42 = ÖJZ 2010, 138<br />
Schlagworte<br />
Familienleben; Interessenabwägung; Kindeswohl;<br />
Privatleben<br />
Sachverhalt<br />
Petra Pann<br />
Der Bf. wurde 1967 in Nigeria geboren und reiste 2003<br />
nach Deutschland ein, wo er um Asyl ansuchte, bevor er<br />
2008 nach Spanien zog. Die Entscheidung, mit der sein<br />
Asylantrag abgelehnt wurde, wurde im Februar 2006<br />
rechtskräftig.<br />
Zwischen 2003 und 2005 lebte der Bf. in einer Beziehung<br />
mit Frau B., die jedoch verheiratet war. Frau B.<br />
hatte mit ihrem Ehemann drei Kinder und entschied<br />
2005, sich vom Bf. zu trennen und weiterhin mit ihrer<br />
Familie zu leben. Vier Monate nach der Trennung gebar<br />
sie Zwillinge, deren biologischer Vater der Bf. ist. Rechtlicher<br />
Vater ist jedoch Herr B., der Ehemann, mit dem<br />
Frau B. die Kinder gemeinsam aufzog. Der Bf. bat mehrmals,<br />
sowohl vor als auch nach der Geburt der Zwillinge,<br />
um Kontakt zu den Kindern. Dies lehnte das Ehepaar<br />
jedoch stets ab.<br />
Am 27.9.2006 gewährte das Amtsgericht Baden-Baden<br />
als Familiengericht dem Bf. Kontakt zu den Zwillingen<br />
für eine Stunde pro Monat. Begründend führte das<br />
Gericht aus, der Bf. sei eine enge Bezugsperson für die<br />
Kinder, weshalb er gemäß § 1685 Abs. 2 BGB ein Recht<br />
auf Umgang mit den Kindern habe. Der Umstand, dass<br />
der Bf. bisher keine Verantwortung für die Kinder getragen<br />
habe, ändere nichts an seinem Anspruch. Weiters<br />
entspreche der Kontakt dem Kindeswohl, da ein psychologisches<br />
Gutachten ergeben habe, dass der Kontakt<br />
der Kinder zu ihrem biologischen (afrikanischen) Vater<br />
essentiell sei, um ihre Wurzeln kennenzulernen und ein<br />
normales Selbstwertgefühl zu entwickeln.<br />
Am 12.12.2006 hob das OLG Karlsruhe diese Entscheidung<br />
auf und verwehrte dem Bf. den Kontakt zu den<br />
Zwillingen. § 1684 BGB gewähre nur dem rechtlichen<br />
Vater ein Recht auf Umgang mit den Kindern, der vorliegend<br />
Herr B. sei. Auch unter § 1685 BGB käme dem Bf.<br />
kein Recht auf Umgang mit den Zwillingen zu, da er zwar<br />
prinzipiell als biologischer Vater eine enge Bezugsperson<br />
der Kinder sei, er jedoch die anderen Voraussetzungen<br />
der Bestimmung nicht erfülle. Er habe keine Verantwortung<br />
für die Kinder übernommen und somit bestehe<br />
keine soziale und familiäre Beziehung zu ihnen. Der<br />
Umstand, dass der Kontakt dem Kindeswohl entspreche,<br />
sei in diesem Fall irrelevant. Art. 6 Abs. 1 GG gestehe<br />
dem biologischen Vater nur ein Recht auf Umgang<br />
mit seinem Kind zu, wenn eine soziale und familiäre<br />
Beziehung bereits bestanden hat, und schütze nicht<br />
den Wunsch, eine derartige Beziehung erst aufzubauen.<br />
Die Gründe, warum eine solche nicht bestanden hat,<br />
seien irrelevant. Der Bf. werde zwar in diesem Fall nach<br />
Nigeria ausgewiesen, sodass die Kinder ihren biologischen<br />
Vater womöglich nie kennenlernen würden, dies<br />
sei jedoch dadurch bedingt, dass die Kinder mit ihrem<br />
rechtlichen Vater zusammen lebten. Der Gesetzgeber<br />
habe in § 1600 Abs. 2 BGB seiner Wertung Ausdruck verliehen,<br />
dass die Beziehung des rechtlichen Vaters zu den<br />
Kindern der Beziehung des biologischen Vaters zu diesen<br />
vorgehe.<br />
Am 29.3.2007 lehnte es das BVerfG ab, über die Verfassungsbeschwerde<br />
des Bf. zu entscheiden.<br />
▷<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. behauptet, die Weigerung, ihm Kontakt zu seinen<br />
Kindern zu gewähren, verstoße gegen sein Recht aus<br />
Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
1. Vorliegen eines Eingriffs<br />
Biologische Verwandtschaft zwischen Vater und Kind<br />
alleine, ohne weitere rechtliche oder faktische Elemente,<br />
die auf eine enge persönliche Beziehung hinweisen,<br />
ist nicht ausreichend, um den Schutz von Art. 8 EMRK<br />
auszulösen. In Ausnahmefällen, in denen die Tatsache,<br />
dass bisher noch kein Familienleben geführt wurde,<br />
nicht dem Bf. zuzurechnen war, hat der GH allerdings<br />
bereits die Absicht, ein Familienleben zu führen, als ausreichend<br />
betrachtet, um in den Anwendungsbereich von<br />
Art. 8 EMRK zu fallen. In diesen Fällen waren folgende<br />
Faktoren von Bedeutung: die Natur der Beziehung zwischen<br />
den biologischen Eltern, ein nachweisliches Interesse<br />
des Vaters an sowie das Bekenntnis des Vaters zu<br />
dem Kind vor und nach der Geburt.<br />
Vorliegend hat der biologische Vater nie mit den Kindern<br />
oder der Mutter zusammengelebt und die Kinder<br />
auch noch nie gesehen. Die Beziehung hat daher keine<br />
ausreichende Beständigkeit, um als »Familienleben« zu<br />
gelten. Der Grund dafür, dass der Bf. keinen Kontakt zu<br />
seinen Kindern hatte, besteht jedoch darin, dass die Mutter<br />
der Kinder und ihr Ehemann, die über den Kontakt<br />
der Kinder mit Dritten zu entscheiden befugt sind, den<br />
Kontakt der Kinder zum Bf. untersagten. Gemäß dem<br />
deutschen Recht konnte der Bf. weder seine Vaterschaft<br />
anerkennen noch die Vaterschaft von Herrn B. bestreiten.<br />
Der Umstand, dass er keine Beziehung zu den Kindern<br />
hat, kann daher nicht dem Bf. angelastet werden.<br />
Der Bf. äußerte mehrmals, sowohl vor als auch nach<br />
der Geburt der Zwillinge, den Wunsch, Kontakt mit diesen<br />
zu haben und initiierte rasch nach der Geburt Verfahren<br />
vor den nationalen Gerichten, um dies zu erreichen.<br />
Sein Verhalten war daher ausreichend, um sein<br />
Interesse an den Kindern nachzuweisen. Hinzu kommt,<br />
dass die Beziehung der biologischen Eltern etwa zwei<br />
Jahre lang dauerte und keineswegs als zufällig bezeichnet<br />
werden kann.<br />
Der GH schließt daher nicht aus, dass die Absicht des<br />
Bf., eine Beziehung zu seinen Kindern zu führen, den<br />
Schutz von »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK auslöst. Auf<br />
jeden Fall betrifft die Frage der rechtlichen Beziehung<br />
des Bf. zu seinen biologischen Kindern einen wichtigen<br />
Bereich seiner Identität und somit seines »Privatlebens«<br />
iSv. Art. 8 EMRK. Die Entscheidungen der nationalen<br />
Gerichte führten daher zumindest zu einem Eingriff in<br />
das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens.<br />
2. Rechtfertigung des Eingriffs<br />
Anayo gg. Deutschland<br />
Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen durch §§ 1684,<br />
1685 iVm. § 1592 Nr. 1 BGB und verfolgte das Ziel, im<br />
besten Interesse eines verheirateten Paares und der Kinder<br />
zu handeln, die während ihrer Ehe geboren wurden<br />
und für die sie sorgen. Die Entscheidung wurde daher<br />
gefällt, um ihre Rechte und Freiheiten zu schützen.<br />
Bezüglich der Frage, ob der Eingriff »in einer demokratischen<br />
Gesellschaft notwendig« war, verweist der GH<br />
auf seine etablierte Rechtsprechung und betont, dass in<br />
einem Fall wie dem vorliegenden das Kindeswohl von<br />
höchster Bedeutung und unter Umständen den Interessen<br />
der Eltern übergeordnet ist. Trotz seiner subsidiären<br />
Rolle hat der GH Einschränkungen der Rechte der Eltern<br />
auf Umgang streng zu überprüfen, da sie die Gefahr bergen,<br />
die familiären Beziehungen zwischen einem Kleinkind<br />
und einem Elternteil effektiv zu beschneiden.<br />
Das deutsche Recht, wie es durch das OLG interpretiert<br />
wurde, sieht keine Beurteilung dahingehend vor,<br />
ob der Kontakt von Kindern zum biologischen Vater im<br />
Interesse der Kinder gelegen ist, wenn eine andere Person<br />
der rechtliche Vater ist und der biologische Vater<br />
bisher keine soziale und familiäre Beziehung zu den<br />
Kindern unterhalten hat. Der Grund, warum eine solche<br />
Beziehung nicht bestanden hat, ist dabei irrelevant.<br />
Diese Regelung umfasst also auch Fälle, in denen das<br />
Fehlen einer derartigen Beziehung dem biologischen<br />
Vater nicht zuzurechnen ist.<br />
In den Konventionsstaaten besteht diesbezüglich kein<br />
einheitlicher Ansatz. Es ist jedoch festzustellen, dass in<br />
einer beachtlichen Anzahl von Staaten die Gerichte in<br />
der Position sind, eine meritorische Entscheidung darüber<br />
zu fällen, ob der Kontakt des biologischen Vaters in<br />
der Situation des Bf. mit seinem Kind dem Kindeswohl<br />
entspricht, und, wenn ersteres gegeben ist, dem Vater<br />
den Umgang mit dem Kind zu ermöglichen.<br />
Vorliegend beachtete das OLG nicht, dass der Bf.<br />
rechtlich und praktisch keine Möglichkeit hatte, seine<br />
Beziehung zu den Kindern zu ändern, da dies allein Entscheidung<br />
des Ehepaares B. war.<br />
Der GH bemerkt den Umstand, dass das OLG bezweckte,<br />
den Willen des Gesetzgebers zu befolgen, der familiären<br />
Beziehung zwischen einem rechtlichen Vater und<br />
einem Kind, die mit der Ehefrau bzw. Mutter zusammenleben,<br />
vor der Beziehung des leiblichen Vaters und<br />
dem Kind Vorrang zu geben. Der Fall unterscheidet<br />
sich von vielen anderen Beschwerden vor dem GH, da<br />
hier nicht nur ein fairer Ausgleich zwischen den Rechten<br />
zweier Eltern und dem Kind aus Art. 8 EMRK, sondern<br />
mehrerer Personen geschaffen werden muss: der<br />
Mutter, des rechtlichen Vaters, des biologischen Vaters,<br />
der Kinder des Ehepaares und der Kinder aus der Beziehung<br />
der Mutter mit dem biologischen Vater. Der GH ist<br />
jedoch trotzdem nicht davon überzeugt, dass die natio-<br />
7<br />
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8<br />
Paksas gg. Litauen<br />
nalen Gerichte einen fairen Ausgleich der widerstreitenden<br />
Interessen geschaffen haben und eine ausreichende<br />
Begründung iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK vorbrachten, um<br />
den Eingriff zu rechtfertigen. Es ist zwar Sache der nationalen<br />
Gerichte zu entscheiden, ob der Kontakt zwischen<br />
dem biologischen Vater und seinem Kind dem Kindeswohl<br />
entspricht, vorliegend wurde diese Frage jedoch<br />
gar nicht behandelt.<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Der Eingriff war daher nicht »notwendig in einer<br />
demokratischen Gesellschaft«, sodass eine Verletzung<br />
von Art. 8 EMRK festzustellen ist (einstimmig).<br />
II.<br />
Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />
€ 5.000,– für immateriellen Schaden, € 4.030,76 für Kosten<br />
und Auslagen (einstimmig).<br />
•<br />
Entzug des passiven Wahlrechts nach Amtsenthebung<br />
des Präsidenten<br />
Paksas gg. Litauen, Urteil vom 6.1.2011, Große Kammer, Bsw. Nr. 34.932/04<br />
Leitsatz<br />
Die Sechs-Monats-Frist für die Beschwerdeerhebung<br />
beginnt nicht zu laufen, wenn die Verletzung durch<br />
gesetzliche Bestimmungen hervorgerufen wird, die<br />
eine kontinuierliche Sachlage schaffen, gegen die kein<br />
Rechtsbehelf besteht. Sie läuft erst ab dem Zeitpunkt, zu<br />
dem die Sachlage nicht mehr besteht.<br />
Eine dauerhafte, unabänderliche Beschränkung des<br />
passiven Wahlrechts ist keine verhältnismäßige Sanktion<br />
in Folge einer Amtsenthebung des Staatspräsidenten<br />
wegen Verfassungsbruchs.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 3 1. Prot. EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Hirst/GB (Nr. 2) v. 6.10.2005 (GK)<br />
= NL 2005, 236<br />
▸ Ždanoka/LV v. 16.3.2006 (GK)<br />
= NL 2006, 78<br />
▸ Tănase/MD v. 27.4.2010 (GK)<br />
= NL 2010, 123<br />
Schlagworte<br />
Beschwerdeerhebung, Frist zur; Wahlen, Recht auf<br />
freie; Wahlrecht, passives; Zulässigkeitsvoraussetzung<br />
Petra Pann<br />
▷<br />
Sachverhalt<br />
Bei dem Bf. handelt es sich um Rolandas Paksas, der<br />
im Jänner 2003 zum Präsidenten der Rebublik Litauen<br />
gewählt wurde.<br />
Am 30.12.2003 stellte das Verfassungsgericht auf<br />
Antrag des litauischen Parlaments (Seimas) die Verfassungswidrigkeit<br />
eines Dekrets des Bf. fest, mit dem er<br />
einem russischen Geschäftsmann, J. B., die litauische<br />
Staatbürgerschaft verliehen hatte, obwohl die Abteilung<br />
für Staatssicherheit gegen diesen ermittelte. Das Verfassungsgericht<br />
stellte fest, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft<br />
nichts anderes als eine Belohnung für die<br />
finanzielle Unterstützung sei, die J. B. dem Bf. im Rahmen<br />
des Wahlkampfes zukommen ließ. Der Präsident<br />
habe daher gegen das fundamentale, in der Verfassung<br />
verankerte Prinzip der Gleichheit aller Personen vor den<br />
staatlichen Institutionen und Beamten sowie gegen<br />
das Prinzip, dass der Präsident gegenüber jedem gleich<br />
gerecht zu sein hat, verstoßen.<br />
Bereits am 23.12.2003 hatte der Seimas aufgrund<br />
einiger Anschuldigungen gegen den Präsidenten eine<br />
Ermittlungskommission eingesetzt, um diese zu überprüfen.<br />
Am 19.2.2004 beantragte der Seimas beim Verfassungsgericht<br />
zu prüfen, ob der Präsident gegen die<br />
Verfassung verstoßen habe. Das Verfassungsgericht entschied<br />
am 31.3.2004, dass der Bf. schwer gegen die Verfassung<br />
verstoßen und seinen Eid auf die Verfassung<br />
verletzt habe, indem er J. B. aufgrund von finanziellen<br />
Zuwendungen und anderer Unterstützung die litaui-<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
sche Staatsbürgerschaft verliehen habe und diesen über<br />
die laufenden Ermittlungen gegen ihn und die Überwachung<br />
durch die litauische Exekutive informiert habe.<br />
Weiters habe er seine amtliche Stellung ausgenutzt,<br />
indem er Einfluss auf ein privates Unternehmen nahm,<br />
um ihm nahe stehenden Personen einen Vorteil zu verschaffen.<br />
Der Bf. versuchte im Verfahren die Befangenheit<br />
des Präsidenten des Verfassungsgerichts geltend zu<br />
machen. Dies blieb jedoch genauso erfolglos wie die Einlegung<br />
eines Rechtsbehelfs zur Klarstellung der Schlussfolgerungen<br />
des Gerichts.<br />
Am 6.4.2004 enthob der Seimas den Bf. seines Amtes.<br />
Der Bf. beantragte, bei den Präsidentschaftswahlen<br />
am 13.6.2004 kandidieren zu dürfen. Am 22.4.2004 entschied<br />
das Zentrale Wahlkomitee, dass dem nichts entgegenstehe.<br />
Wenige Tage später nahm der Seimas eine<br />
Änderung des Gesetzes über die Präsidentschaftswahlen<br />
an, durch die jeder, der durch den Seimas seines<br />
Amtes enthoben wurde, für einen Zeitraum von fünf<br />
Jahren von der Kandidatur bei Präsidentschaftswahlen<br />
ausgeschlossen wurde. Daraufhin verweigerte das Zentrale<br />
Wahlkomitee die Eintragung des Bf. in die Kandidatenliste.<br />
Diese Gesetzesänderung wurde vom Verfassungsgericht<br />
hinsichtlich seiner Verfassungsmäßigkeit überprüft.<br />
Das Gericht entschied am 25.5.2004, dass der<br />
Ausschluss einer ihres Amtes enthobenen Person vom<br />
passiven Wahlrecht verfassungskonform sei. Den Auschluss<br />
zeitlich zu beschränken, sei jedoch verfassungswidrig.<br />
Da ein Bruch der Verfassung immer vorliegen<br />
werde, könne ein aus diesem Grund seines Amtes enthobener<br />
Präsident nie wieder einen Eid ablegen bzw. das<br />
Amt des Präsidenten, eines Parlamentsmitglieds oder<br />
ein anderes Amt, für das die Ablegung eines Eides auf<br />
die Verfassung notwendig ist, bekleiden.<br />
Am 15.7.2004 nahm der Seimas eine Änderung des<br />
Gesetzes über die Parlamentswahlen an, in der ihres<br />
Amtes enthobene Personen davon ausgeschlossen wurden,<br />
Mitglied des Parlaments zu sein.<br />
Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Bf. wurden<br />
aufgrund mangelnder Beweise eingestellt.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 (Recht auf<br />
ein faires Verfahren), Abs. 2 (Unschuldsvermutung) und<br />
Abs. 3 lit. b EMRK (Recht, über ausreichende Zeit und<br />
Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen).<br />
Ferner beschwert er sich über Verletzungen seines<br />
Rechts unter Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege)<br />
und Art. 4 Abs. 1 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot).<br />
Des Weiteren behauptet er, in seinen Rechten<br />
gemäß Art. 3 1. Prot. EMRK (Recht auf freie Wahlen) allei-<br />
Paksas gg. Litauen<br />
ne sowie in Verbindung mit Art. 13 EMRK (Recht auf eine<br />
wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) verletzt<br />
zu sein.<br />
I. Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 6 Abs. 1,<br />
Abs. 2 und Abs. 3, von Art. 7 EMRK sowie von Art. 4<br />
7. Prot. EMRK<br />
Diese Beschwerdepunkte werden wegen Unvereinbarkeit<br />
mit der Konvention ratione materiae als unzulässig<br />
zurückgewiesen (einstimmig).<br />
II.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 1. Prot.<br />
EMRK<br />
Der Bf. beschwert sich darüber, dass sein dauerhafter<br />
Ausschluss von der Präsidentschaftskandidatur, obwohl<br />
er als Politiker beachtliche Unterstützung durch die<br />
Bevölkerung genieße, dem Wesensgehalt freier Wahlen<br />
entgegen stehe. Sein lebenslanger Ausschluss von<br />
gewählten Ämtern sei daher gänzlich unverhältnismäßig.<br />
Die Gesetzesänderung infolge seiner Absetzung sei<br />
außerdem willkürlich und bezwecke nichts anderes,<br />
als ihn von der Ausübung öffentlicher Ämter zukünftig<br />
abzuhalten.<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Da Art. 3 1. Prot. EMRK nur auf Wahlen der »gesetzgebenden<br />
Organe« anzuwenden ist, wird die Beschwerde,<br />
insofern sie sich auf die Amtsenthebung oder den Ausschluss<br />
von der Kandidatur bei Präsidentschaftswahlen<br />
bezieht, wegen Unvereinbarkeit ratione materiae iSv.<br />
Art. 35 Abs. 3 EMRK zurückgewiesen (einstimmig).<br />
a. Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />
Die Regierung wendet ein, dass der Bf. gegen die Ablehnung<br />
der Kandidatur berufen oder aber eine Klärung der<br />
Frage durch das Verfassungsgericht beantragen hätte<br />
können, ob derartige Sanktionen unabänderlich seien.<br />
Er hätte dann die Möglichkeit gehabt, zurückzutreten,<br />
um der Amtsenthebung zu entgehen.<br />
Der GH stellt diesbezüglich fest, dass die Entscheidung<br />
des Verfassungsgerichts vom 25.5.2004 klar festlegte,<br />
dass eine aufgrund eines Verfassungsbruchs ihres<br />
Amtes enthobene Person nie wieder zum Präsidenten,<br />
Parlamentsmitglied oder in ein anderes Amt gewählt<br />
werden könne, für das die Ablegung eines Eides auf die<br />
Verfassung nötig ist. Entscheidungen des litauischen<br />
Verfassungsgerichts entfalten Gesetzeskraft und sind<br />
endgültig. Da das Verfassungsgericht an seine eigenen<br />
Entscheidungen gebunden ist, hätte eine Bekämpfung<br />
der ablehnenden Entscheidung bezüglich der Kandidatur<br />
des Bf. nur erfolglos sein können.<br />
9<br />
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10<br />
Paksas gg. Litauen<br />
Eine Klärung der Frage, ob eine Amtsenthebung<br />
einen permanenten Ausschluss von der Kandidatur<br />
nach sich ziehe, hätte zu keiner Auseinandersetzung des<br />
Verfassungsgerichts mit der konkreten Situation des<br />
Bf. geführt. Die Möglichkeit, freiwillig zurückzutreten,<br />
ist außerdem eine derart einschränkende Bedingung,<br />
dass sie es unmöglich macht, diesen Rechtsbehelf als<br />
»zugänglich« zu bezeichnen.<br />
Die Regierung konnte daher nicht zeigen, dass dem<br />
Bf. ein Rechtsbehelf zur Verfügung stand, der die Anforderungen<br />
von Art. 35 Abs. 1 EMRK erfüllt hätte.<br />
b. Einhaltung der Sechs-Monats-Frist<br />
Die Regierung wendet ferner ein, dass der Bf. seine<br />
Beschwerde unter Art. 3 1. Prot. EMRK das erste Mal in<br />
einer Ergänzung seiner Beschwerde vom 30.9.2005 und<br />
damit mehr als sechs Monate nach der endgültigen nationalen<br />
Entscheidung vom 25.5.2004 eingebracht habe.<br />
Sie sei daher unzulässig.<br />
Der GH merkt an, dass der Bf. diesen Beschwerdepunkt<br />
tatsächlich erst am 30.9.2005 vorbrachte. Zu<br />
beachten sind jedoch auch die speziellen Umstände des<br />
Falles: Die Beschwerde des Bf. betrifft generelle Normen,<br />
die keine individuellen Umsetzungsmaßnahmen<br />
nach sich zogen, die wiederum Gegenstand einer Berufung<br />
sein hätten können. Dadurch kam es zu keiner<br />
»endgültigen Entscheidung«, die den Anfangspunkt der<br />
Sechs-Monats-Frist gebildet hätte. Der Bf. beschwert<br />
sich vielmehr über Bestimmungen, die eine kontinuierliche<br />
Sachlage schufen, gegen die ihm kein Rechtsbehelf<br />
zur Verfügung stand. Die Frage der Sechs-Monats-<br />
Frist wird in solchen Fällen erst aktuell, wenn sich die<br />
Sachlage geändert hat. Da dies vorliegend nicht der Fall<br />
ist, kann nicht gesagt werden, dass die Beschwerde verspätet<br />
sei.<br />
c. Anwendbarkeit von Art. 17 EMRK<br />
Die Regierung bringt vor, der Bf. habe seine Wiederwahl<br />
als Präsident im Juni 2004 – und nicht die Mitgliedschaft<br />
im Seimas – bezweckt. Mit der Beschwerde benutze er<br />
daher die Maschinerie der Konvention, um politische<br />
Rache zu üben.<br />
Der GH erinnert, dass es Zweck von Art. 17 EMRK ist –<br />
sofern er sich auf Gruppen und Individuen bezieht – zu<br />
verhindern, dass diese aus der Konvention ein Recht herleiten,<br />
eine Tätigkeit zu verfolgen, die darauf gerichtet<br />
ist, andere Konventionsrechte zu zerstören. Die Rechtsprechung<br />
des GH zeigt, dass dieser Artikel nur ausnahmsweise<br />
in extremen Fällen anzuwenden ist.<br />
Vorliegend liegen keinerlei Hinweise auf eine Zweckverfolgung<br />
durch den Bf. vor, wie sie in Fällen, in denen<br />
der GH Art. 17 EMRK heranzog, erkennbar war. Er stützt<br />
sich legitimerweise auf Art. 3 1. Prot. EMRK, um ein<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Urteil des GH zu erlangen, dessen Vollzug wahrscheinlich<br />
dazu führen würde, dass er zur Kandidatur bei Parlamentswahlen<br />
zugelassen würde. Er bezweckt, den vollen<br />
Genuss eines Rechts wiederzuerlangen, das die Konvention<br />
prinzipiell jedem gewährleistet. Art. 17 EMRK ist<br />
daher nicht anwendbar.<br />
d. Ergebnis<br />
Soweit die Beschwerde die Möglichkeit des Bf. betrifft,<br />
bei Parlamentswahlen zu kandidieren, wirft sie komplexe<br />
Sach- und Rechtsfragen auf, die eine Prüfung in der<br />
Sache erfordern. Dieser Teil der Beschwerde ist nicht<br />
offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK. Die<br />
Beschwerde ist daher zulässig (mehrheitlich).<br />
2. In der Sache<br />
Trotz des hohen Stellenwerts des Rechts auf freie Wahlen<br />
im System der Konvention ist dieses Recht nicht<br />
absolut. Den Staaten steht ein weiter Ermessensspielraum<br />
bei der Ausgestaltung des Wahlsystems zu. Bei<br />
der Anwendung von Art. 3 1. Prot. EMRK ist dieses unter<br />
Berücksichtigung der politischen Entwicklung eines<br />
Landes zu beurteilen. Eine Regelung, die bezüglich des<br />
einen Systems inakzeptabel ist, kann im Kontext eines<br />
anderen gerechtfertigt sein, solange das gewählte System<br />
Bedingungen vorsieht, die die freie Meinungsäußerung<br />
der Bevölkerung in Bezug auf ihre Wahl der Gesetzgebung<br />
ermöglichen.<br />
Der weite Ermessensspielraum gilt besonders hinsichtlich<br />
der Regelung der Kriterien für das passive<br />
Wahlrecht, ist jedoch nicht allumfassend. Letztlich hat<br />
der GH zu beurteilen, ob der Wesensgehalt des Rechts<br />
auf freie Wahlen beschnitten wird, die Regelung ein legitimes<br />
Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist.<br />
Als seines Amtes enthobener Ex-Präsident war der<br />
Bf. von der durch das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung<br />
vom 25.5.2004 und durch das Gesetz vom<br />
15.7.2004 aufgestellten Regelung direkt betroffen. Da<br />
er davon abgehalten wurde, bei den Parlamentswahlen<br />
zu kandidieren, kann er behaupten, dass ein Eingriff in<br />
sein passives Wahlrecht erfolgt ist.<br />
Der Eingriff erfolgte aufgrund der eben erwähnten<br />
verfassungsgerichtlichen Entscheidung und Gesetzesänderung<br />
und war somit gesetzmäßig. Der Bf. beschwert<br />
sich über eine Rückwirkung der Regelung. Art. 3 1. Prot.<br />
EMRK verlangt jedoch nur, die Hinderung des Bf., bei<br />
Wahlen anzutreten, zu prüfen. Die ersten Wahlen, bei<br />
denen dies der Fall war, fanden im Oktober 2004 und<br />
somit nach der relevanten Entscheidung und Gesetzesänderung<br />
statt. Die Regelung wurde daher nicht rückwirkend<br />
angewendet.<br />
Der GH akzeptiert, dass die Einschränkung des Wahlrechts<br />
ein Ziel verfolgte, dass dem Rechtsstaatlichkeits-<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
prinzip und den generellen Zielen der Konvention entspricht.<br />
Das dem Bf. auferlegte Verbot ist Folge seiner<br />
Amtsenthebung und somit ein Teil eines Schutzmechanismus<br />
der Demokratie durch eine öffentliche und<br />
demokratische Überprüfung jener, die ein öffentliches<br />
Amt bekleiden. Die Maßnahme verfolgte das legitime<br />
Ziel, die demokratische Ordnung aufrecht zu erhalten.<br />
In Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme<br />
ist zu sagen, dass Art. 3 1. Prot. EMRK die Möglichkeit<br />
nicht ausschließt, das Wahlrecht von Personen zu<br />
beschränken, die eine amtliche Funktion schwer missbraucht<br />
haben oder durch ihr Verhalten die Rechtsstaatlichkeit<br />
oder demokratische Grundlagen gefährdet<br />
haben, wie es vorliegend der Fall ist.<br />
Die Voraussetzungen für die Maßnahme sind gesetzlich<br />
klar geregelt. Sie steht in eindeutiger Verbindung<br />
mit dem Verhalten des Bf. und seiner Situation. Der<br />
Umstand, dass der Ausschluss von der Kandidatur auf<br />
keine spezifische gerichtliche Entscheidung gestützt<br />
wurde, spielt daher keine Rolle. Das litauische Recht<br />
sieht außerdem im Rahmen des Amtsenthebungsverfahrens<br />
einige Sicherheitsmechanismen vor, um den<br />
Betroffenen vor Willkür zu schützen. Zum einen sind<br />
die Regeln des Strafprozesses und die Prinzipien eines<br />
fairen Verfahrens anzuwenden. Zum anderen liegt die<br />
Entscheidung, ein Amtsenthebungsverfahren – wie<br />
das vorliegende – einzuleiten, bei einem politischen<br />
Organ, dem Seimas, während ein gerichtliches Organ,<br />
das Verfassungsgericht, darüber entscheidet, ob eine<br />
Verletzung der Verfassung vorliegt. Der Seimas kann<br />
die Amtsenthebung nicht vornehmen, wenn das Verfassungsgericht<br />
keine Verletzung feststellt. Ferner hat<br />
bei Sitzungen des Seimas, in denen über die Amtsenthebung<br />
entschieden wird, nicht eines seiner Mitglieder<br />
den Vorsitz, sondern ein Richter des Obersten Gerichts.<br />
Für die Enthebung ist eine Dreifünftelmehrheit nötig.<br />
Letztlich konnte der Bf. im vorliegenden Fall bei öffentlichen<br />
Verhandlungen vor dem Seimas und dem Verfassungsgericht<br />
aussagen.<br />
Ohne die Ernsthaftigkeit des dem Bf. vorgeworfenen<br />
Verhaltens herabspielen zu wollen, bemerkt der GH<br />
das Ausmaß der Konsequenzen seiner Amtsenthebung:<br />
Der Bf. ist ständig und unabänderlich von der Kandidatur<br />
bei Parlamentswahlen ausgeschlossen. Dies wird<br />
erschwert durch den Umstand, dass er auch von jedem<br />
anderen Amt, für das die Ablegung eines Eides auf die<br />
Verfassung nötig ist, ausgeschlossen ist.<br />
Der GH widerspricht zwar dem Argument der Regierung<br />
nicht, dass bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit<br />
der politische Kontext des Landes mitzubeachten<br />
ist, und nimmt Kenntnis von ihrem Argument, dass es in<br />
einer erst kürzlich entstandenen Demokratie sinnvoll<br />
sei, die Überprüfung durch die Wählerschaft durch strikte<br />
gesetzliche Regelungen zu stärken. Die Entscheidung,<br />
einen hohen Beamten von der Parlamentsmitgliedschaft<br />
Paksas gg. Litauen<br />
dauerhaft auszuschließen, liegt dennoch bei den Wählern,<br />
die bei den Wahlen entscheiden können, ob sie ihr<br />
Vertrauen in die betroffene Person erneuern. Dies ist aus<br />
dem Wortlaut von Art. 3 1. Prot. EMRK ersichtlich, der<br />
sich auf »die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei<br />
der Wahl der gesetzgebenden Organe« bezieht.<br />
Auch wenn die besondere Verantwortung des Bf. als<br />
Präsident Litauens und seine Kompetenzen im Bereich<br />
der Gesetzgebung zu beachten sind, so ist dies nicht ausreichend,<br />
den GH zu überzeugen, dass der dauerhafte<br />
und unabänderliche Ausschluss von der Kandidatur bei<br />
Parlamentswahlen als Ergebnis genereller Normen eine<br />
verhältnismäßige Reaktion auf das Erfordernis war, die<br />
demokratische Ordnung zu erhalten.<br />
Der GH merkt an, dass die litauische Regelung eine<br />
Ausnahme in Europa darstellt. In vergleichbaren Staaten<br />
hat das Amtsenthebungsverfahren entweder keine Auswirkung<br />
auf das passive Wahlrecht des Betroffenen oder<br />
aber die Einschränkung erfordert eine spezielle gerichtliche<br />
Entscheidung oder sie unterliegt einer Frist.<br />
Der vorliegende Fall unterscheidet sich weiters substantiell<br />
vom Fall Ždanoka/LV, auf den sich die Regierung<br />
bezieht und in dem der GH keine Verletzung des Rechts<br />
auf freie Wahlen feststellte. Der Bf. in diesem Fall beteiligte<br />
sich an der Organisation und Durchführung von versuchten<br />
Staatsstreichen gegen ein neu geformtes demokratisches<br />
Regime. Die Relevanz des Ausschlusses des Bf.<br />
für den Erhalt der demokratischen Ordnung in Litauen<br />
im vorliegenden Fall ist damit nicht vergleichbar. Dazu<br />
kommt, dass der GH im Fall Ždanoka dem Umstand<br />
Gewicht beimaß, dass das lettische Parlament die strittige<br />
Regelung regelmäßig überprüfte und das Verfassungsgericht<br />
eine Frist für die Einschränkung vorsah.<br />
Diese Faktoren sind auch vorliegend relevant, insbesondere<br />
da sich der politische und historische Kontext eines<br />
Staates weiter entwickelt und die ursprüngliche Rechtfertigung<br />
der auferlegten Einschränkung mit der Zeit<br />
abklingen kann.<br />
Vorliegend unterliegt die Einschränkung nicht nur<br />
keiner Frist, sondern sie ist zusätzlich in verfassungsrechtlichen<br />
Stein gemeißelt. Der Ausschluss von der<br />
Kandidatur bei Parlamentswahlen hat hier eine Konnotation<br />
der Unabänderlichkeit, die kaum mit Art. 3<br />
1. Prot. EMRK in Einklang zu bringen ist.<br />
Schließlich ist anzumerken, dass die fraglichen Gesetzesbestimmungen<br />
aus einem Gesetzgebungsprozess<br />
herrühren, der stark von den Umständen dieses Falles<br />
beeinflusst war. Diesen Eindruck erweckt vor allem<br />
die Geschwindigkeit, mit der die Gesetzesänderungen<br />
durchgeführt wurden, nachdem der Bf. versucht hatte,<br />
bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Dies ist<br />
zwar unter Art. 3 1. Prot. EMRK nicht ausschlaggebend,<br />
der GH sieht darin jedoch einen weiteren Hinweis auf<br />
die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht auf<br />
freie Wahlen.<br />
11<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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12<br />
Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz<br />
Aufgrund all dieser Faktoren, besonders wegen des<br />
dauerhaften und unveränderlichen Charakters des Ausschlusses<br />
des Bf. von der Parlamentsmitgliedschaft,<br />
stellt der GH eine Verletzung von Art. 3 1. Prot. EMRK<br />
fest (14:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Costa,<br />
gefolgt von Richterin Tsotsoria und Richter Baka).<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Der Bf. rügt, dass ihm in Bezug auf die verfassungsgerichtliche<br />
Entscheidung vom 25.5.2004 kein Rechtsmittel<br />
zur Verfügung stand. Das Fehlen eines Rechtsbehelfs<br />
gegen verfassungsgerichtliche Entscheidungen<br />
fällt jedoch nicht in den Anwendungsbereich von Art. 13<br />
EMRK, da diese Bestimmung nicht so weit geht, einen<br />
Rechtsbehelf zu verlangen, der es ermöglicht, ein verfassungsgerichtliches<br />
Präjudiz mit Gesetzeskraft anzufechten.<br />
Dieser Teil der Beschwerde ist offensichtlich unbegründet<br />
und daher unzulässig (einstimmig).<br />
III.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK<br />
iVm. Art. 3 1. Prot. EMRK<br />
IV.<br />
Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />
Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt für<br />
sich selbst eine ausreichende Entschädigung für den<br />
erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig).<br />
•<br />
Verbot einer Plakatkampagne des »Mouvement raëlien«<br />
Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz, Urteil vom 13.1.2011, Kammer I, Bsw. Nr. 16.354/06<br />
Leitsatz<br />
Bei der Genehmigung von Plakatkampagnen im öffentlichen<br />
Raum steht den Staaten ein weiter Ermessensspielraum<br />
zu. Der weitere Kontext der Plakate ist bei der<br />
Prüfung, ob durch ein Verbot der Kampagne die Meinungsäußerungsfreiheit<br />
der Betroffenen verletzt wurde,<br />
mitzuberücksichtigen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 10 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ F. L./F v. 3.11.2005 (ZE)<br />
▸ Stoll/CH v. 10.12.2007 (GK)<br />
= NL 2007, 321<br />
▸ Women On Waves u.a./P v. 3.2.2009<br />
= NL 2009, 31<br />
Schlagworte<br />
Ermessensspielraum; Interessenabwägung;<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Petra Pann<br />
▷<br />
Sachverhalt<br />
Die bf. Vereinigung mit Sitz in Rennaz im Kanton Waadt<br />
wurde 1977 gegründet. Sie ist der nationale Zweig des<br />
»Mouvement raëlien« (im Folgenden: die Bewegung),<br />
eine Organisation, die 1976 von Claude Vorilhon,<br />
genannt Raël, in Genf gegründet wurde. Statutarisches<br />
Ziel des Vereins ist, erste Kontakte und gute Beziehungen<br />
mit Außerirdischen herzustellen.<br />
Am 7.3.2001 beantragte die bf. Vereinigung bei der<br />
Polizeidirektion der Stadt Neuenburg die Genehmigung<br />
einer Plakatkampagne. Die Plakate zeigten die Gesichter<br />
von Außerirdischen, eine fliegende Untertasse, die<br />
Internetadresse der Bewegung (fett gedruckt), eine französische<br />
Telefonnummer sowie die Schriftzüge: »Die<br />
Nachricht der Außerirdischen« und »Die Wissenschaft<br />
wird am Ende die Religion ersetzen«. Die Polizeidirektion<br />
lehnte den Antrag ab, da die Bewegung sich Aktivitäten<br />
gewidmet habe, die der öffentlichen Ordnung entgegen<br />
stünden und unmoralisch seien.<br />
Der Gemeinderat Neuenburg wies ein Rechtsmittel<br />
der bf. Vereinigung zurück. Diese Entscheidung wurde<br />
am 27.10.2003 vom Raumnutzungsamt Neuenburg<br />
bestätigt. Das Amt merkte an, dass die Plakate zwar keinerlei<br />
schockierenden Inhalt aufwiesen, betonte jedoch<br />
den Umstand, dass die Bewegung die »Geniokratie« –<br />
ein politisches Modell basierend auf dem Intelligenz-<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
quotienten – sowie das Klonen von Menschen befürworte.<br />
Es verwies außerdem auf eine Entscheidung des<br />
Kantonsgerichts Freiburg, in dem dieses feststellte, dass<br />
die Bewegung sich, insbesondere in den Publikationen<br />
des Gründers Raël, »in der Theorie« für Pädophilie und<br />
Inzest ausspreche. Des Weiteren würden auf der Internetseite<br />
der Gesellschaft Clonaid, die über die Homepage<br />
der Bewegung erreichbar sei, spezifische Dienstleistungen<br />
bezüglich des Klonens und der Eugenetik<br />
angeboten, die dem Prinzip der Nichtdiskriminierung<br />
widersprächen. Der Bewegung stünden ferner andere<br />
Mittel zur Verfügung, um ihre Ideen zu verbreiten.<br />
Am 22.4.2005 wies das Verwaltungsgericht des Kantons<br />
Neuenburg den Rekursantrag der bf. Vereinigung<br />
zurück, wobei es akzeptierte, dass dieser sowohl Meinungs-<br />
als auch Religionsfreiheit zustehe. Das Gericht<br />
merkte an, dass in einigen Publikationen der Bewegung<br />
über »Geniokratie« und »sinnliche Meditation«, Kinder<br />
als »privilegierte sexuelle Objekte« bezeichnet würden<br />
und gegen die Bewegung strafrechtliche Beschwerden<br />
aufgrund von sexuellen Praktiken, die Jugendliche involvierten,<br />
erfolgt seien. Die Vorschläge über die »Geniokratie«<br />
und die Kritik an der aktuellen Demokratie seien in<br />
der Lage, die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Moral<br />
zu unterlaufen.<br />
Am 20.10.2005 wies das Bundesgericht ein weiteres<br />
Rechtsmittel zurück. Das Gericht wies unter anderem<br />
darauf hin, dass nicht nur die in der Schweiz verbotene<br />
Praxis des Klonens befürwortet werde, sondern die Vereinigung<br />
mit einer Homepage in Verbindung stehe, auf<br />
der konkrete und entgeltliche Dienstleistungen in diesem<br />
Bereich angeboten würden. Ferner könne durch die<br />
Bereitstellung von öffentlichen Flächen für eine Plakatkampagne<br />
wie der vorliegenden die Vermutung geweckt<br />
werden, der Staat toleriere oder befürworte die betreffenden<br />
Meinungen und Aktionen.<br />
Rechtsausführungen<br />
Die bf. Vereinigung behauptet, durch das Verbot der Plakatkampagne<br />
in ihren Rechten unter Art. 9 EMRK (Recht<br />
auf Religionsfreiheit) und Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit)<br />
verletzt zu sein.<br />
I. Zur Zulässigkeit<br />
Die Regierung behauptet, die Beschwerde sei erst zehn<br />
Tage nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist eingebracht<br />
worden. Außerdem sei Art. 9 EMRK im vorliegenden Fall<br />
nicht anwendbar.<br />
Der GH merkt an, dass die bf. Vereinigung eine Kopie<br />
eines Dokuments der Schweizer Post übermittelt hat,<br />
das die Absendung der Beschwerde am letzten Tag der<br />
Frist bestätigt. Die Frist wurde daher eingehalten.<br />
Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz<br />
Die Frage der Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK steht in<br />
einem engen Zusammenhang mit der diesbezüglichen<br />
Prüfung in der Sache und wird daher mit dieser verbunden.<br />
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />
iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus anderen Gründen<br />
unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />
II.<br />
In der Sache<br />
1. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK<br />
Der GH stellt fest, dass durch das Verbot der Plakatkampagne<br />
ein Eingriff in das Recht der bf. Vereinigung auf<br />
Meinungsäußerungsfreiheit stattgefunden hat. Es ist<br />
daher zu klären, ob der Eingriff gemäß Art. 10 Abs. 2<br />
EMRK gerechtfertigt war.<br />
Der Eingriff basierte auf einer gesetzlichen Grundlage,<br />
nämlich auf § 19 der Verordnung über die Gemeindepolizei.<br />
Der GH akzeptiert außerdem die Aussage der<br />
Regierung, die Maßnahme habe das legitime Ziel verfolgt,<br />
Verbrechen vorzubeugen sowie die Gesundheit,<br />
die Moral und die Rechte anderer zu schützen.<br />
Die prinzipielle Frage in diesem Fall ist daher, ob der<br />
Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig<br />
war: Die einschlägigen grundlegenden Prinzipien<br />
sind in der Rechtsprechung des GH gut etabliert. Der GH<br />
hat hier jedoch zum ersten Mal die Frage zu klären, ob<br />
die nationalen Behörden es einer Vereinigung zu erlauben<br />
haben, ihre Ideen durch eine Plakatkampagne zu<br />
verbreiten, für die der öffentliche Raum genutzt wird.<br />
Der Staat hat bei der Genehmigung der Nutzung des<br />
öffentlichen Raumes das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit<br />
und dessen Relevanz in einer demokratischen<br />
Gesellschaft zu beachten. Es ist ein Ausgleich zu<br />
schaffen zwischen dem Interesse der bf. Vereinigung,<br />
ihre Ideen zu verbreiten, und jenem der Behörden, die<br />
öffentliche Ordnung zu sichern und Gesetzesbrüchen<br />
vorzubeugen.<br />
Der GH teilt die Ansicht der Regierung, dass die<br />
Genehmigung einer Plakatkampagne zur Annahme führen<br />
könnte, der Staat würde die betroffenen Meinungen<br />
und Aktionen befürworten oder tolerieren. Der GH geht<br />
hier daher, in Hinblick auf die Beurteilung der Notwendigkeit<br />
von Maßnahmen, von einem weiteren Ermessensspielraum<br />
der nationalen Behörden aus.<br />
Die Plakate wiesen zwar keinerlei gesetzeswidrigen<br />
oder schockierenden Inhalt auf, bei der Beurteilung, ob<br />
Art. 10 EMRK verletzt wurde, ist jedoch auch der weitere<br />
Kontext der Plakate mitzuberücksichtigen. Dazu gehören<br />
die propagierten Ideen in den Publikationen sowie<br />
der Inhalt der Internetseite der Vereinigung als auch der<br />
Seite von Clonaid. Die Internetseiten waren durch jedermann,<br />
einschließlich minderjähriger Kinder, zugäng-<br />
13<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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14<br />
Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz<br />
lich, wodurch der Einfluss der Plakate auf die Öffentlichkeit<br />
vervielfacht wurde.<br />
Der GH betont ferner, dass die nationalen Behörden<br />
ihre Entscheidungen genau begründet haben. Verwiesen<br />
wurde sowohl auf die Verbindung mit der Homepage<br />
von Clonaid und die darin angebotenen Dienstleistungen<br />
im Bereich des Klonens, als auch auf die<br />
Möglichkeit des Vorliegens von sexuellen Praktiken mit<br />
Kindern sowie auf die Propaganda für die »Geniokratie«<br />
und die Kritik an der aktuellen Demokratie.<br />
Besonders Besorgnis erregend sind die Anschuldigungen<br />
bezüglich einiger Mitglieder hinsichtlich der sexuellen<br />
Aktivitäten mit Minderjährigen. Es ist anzumerken,<br />
dass der GH im Fall F. L./F festgestellt hat, dass es nicht<br />
gegen Art. 8 EMRK verstößt, die Aufnahme von Kindern<br />
in die Bewegung gegen den Willen der Mutter zu verbieten.<br />
Die nationalen Behörden hatten daher ausreichende<br />
Gründe, um von der Notwendigkeit auszugehen, die<br />
Plakatkampagne zu verbieten. Die Behörden gingen weiters<br />
in gutem Glauben davon aus, dass es – angesichts<br />
der Befürwortung des Klonens durch die Vereinigung –<br />
zum Schutz der Gesundheit und der Moral sowie zur Prävention<br />
von Gesetzesbrüchen nötig war, die Kampagne<br />
zu verhindern. Das Klonen ist gemäß Art. 119 Abs. 2 der<br />
Bundesverfassung klar verboten.<br />
Die Maßnahme bezog sich außerdem nur auf die Plakatierung<br />
im öffentlichen Raum. Die bf. Vereinigung<br />
war frei, ihre Überzeugungen durch andere Kommunikationsmittel<br />
zu verbreiten. Die Vereinigung selbst<br />
oder ihre Internetseite zu verbieten, stand nie zur Diskussion.<br />
Die Schweizer Behörden haben ihren Ermessensspielraum<br />
bezüglich der Nutzung des öffentlichen<br />
Raumes daher nicht überschritten und ihre Entscheidungen<br />
ausreichend begründet. Das Verbot der Plakatkampagne<br />
hat den Wesensgehalt des Rechts der<br />
bf. Vereinigung auf Meinungsäußerungsfreiheit nicht<br />
beeinträchtigt.<br />
Es ist keine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen<br />
(5:2 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Rozakis<br />
und Richterin Vajić).<br />
2. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK<br />
Da keine Verletzung von Art. 10 EMRK festgestellt wurde,<br />
hält es der GH nicht für nötig, die Beschwerde unter<br />
Art. 9 EMRK zu prüfen (einstimmig). Die Frage, ob die<br />
Bestimmung auf den Fall anwendbar ist, erübrigt sich.<br />
•<br />
Frauen im Asylrecht<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Begriffsbestimmungen<br />
Fluchtgründe<br />
Judikatur<br />
Erika-Weinzierl-Preis 2010<br />
ika-W<br />
XV, 256 Seiten<br />
150 × 230 mm<br />
broschiert<br />
€ 55,–<br />
ISBN 978-3-902638-30-4<br />
ERSCHIENEN<br />
Die Asylpolitik und –rechtsprechung steht im Zentrum<br />
der gesellschaftlichen und politischen Debatte. Ein<br />
dabei in der öffentlichen Wahrnehmung wenig beachteter<br />
Aspekt sind geschlechtsspezifische, Frauen betreffende<br />
Flucht- und Asylgründe.<br />
So wird Geschlecht in der Rechtsprechung etwa einmal<br />
als biologisches Geschlecht, dann wieder als soziales<br />
Geschlecht, dann in einer biologisch fixierten<br />
Geschlechtsrolle verstanden.<br />
THEMEN UND FRAGESTELLUNGEN<br />
Anna Wildt, ehemalige Mitarbeiterin der Caritas, zeigt<br />
auf, dass behördliche und gerichtliche Asylentscheidungen<br />
unterschiedliche Auffassungen über den<br />
Geschlechtsbegriff aufweisen. Die Auswirkungen dieser<br />
Divergenzen auf die rechtliche Beurteilung von<br />
frauenspezifischer Verfolgung werden ebenso dargestellt<br />
wie der Einfluss von stereotypen Rollenbildern im<br />
(Beweis)Verfahren.<br />
Der Einfluss des Geschlechtsbegriffs auf die rechtliche<br />
Beurteilung von Fluchtvorbringen wird anhand von Asylentscheidungen<br />
zu sozioökonomischer oder familiärer<br />
Gewalt, zu Zwangsverheiratung und Missbrauch oder<br />
drohender Genitalverstümmelung umfassend behandelt,<br />
und die aktuellen Rechtsquellen, die Doktrin und<br />
die Staatenpraxis herausgearbeitet. Für Österreich wie<br />
Deutschland von Interesse ist der Vergleich der Rechtslage<br />
in Bezug auf die Umsetzung der Statusrichtlinie,<br />
der aufzeigt, wie sich die Judikaturlinien auseinander<br />
entwickeln, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen in<br />
beiden Ländern ähnlich sind.<br />
Untersucht wird weiters, welcher Geschlechtsbegriff in<br />
Asylverfahren und in den Auslegungsempfehlungen des<br />
UNHCR verwendet wird. Die Untersuchung macht den<br />
Genderbegriff in der Auslegung internationaler und<br />
regionaler Menschenrechtsschutzverträge für die Asylpraxis<br />
nutzbar, die bisher die Judikatur des CEDAW-<br />
Ausschusses und des europäischen Gerichtshofes für<br />
<strong>Menschenrechte</strong> zur häuslichen Gewalt weitgehend<br />
unberücksichtigt ließ.<br />
201<br />
eis<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
15<br />
Nachträgliche Unterbringung zu Präventivzwecken<br />
Haidn gg. Deutschland, Urteil vom 13.1.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 6.587/04<br />
Leitsatz<br />
Lediglich die Verurteilung wegen einer Straftat durch<br />
ein Strafgericht ist als »Verurteilung« iSv. Art. 5 Abs. 1<br />
lit. a EMRK zu werten. Die Entscheidung eines Strafvollzugsgerichts,<br />
eine Person ungeachtet vollständiger Verbüßung<br />
der Freiheitsstrafe weiter in Haft zu behalten,<br />
genügt den Anforderungen an eine »Verurteilung« nicht,<br />
da sie keine neue Feststellung, die betreffende Person<br />
sei einer Straftat schuldig, beinhaltet.<br />
Voraussetzung für einen rechtmäßigen Freiheitsentzug<br />
bei psychisch kranken Personen iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e<br />
EMRK ist, dass von den Gerichten anhand einer objektiven<br />
medizinischen Expertise festgestellt wurde, dass<br />
ein Bf. einwandfrei als geisteskrank einzustufen sei.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 3, 5 Abs. 1 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ M./D v. 17.12.2009<br />
= NL 2009, 371 = EuGRZ 2010, 25<br />
Schlagworte<br />
Alter; Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende;<br />
Freiheit, Recht auf persönliche; Haftbedingungen;<br />
Sicherungsverwahrung; Strafvollzug<br />
Sachverhalt<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Der 1934 geborene Bf. befindet sich derzeit in einem psychiatrischen<br />
Krankenhaus in Bayreuth. Am 16.3.1999<br />
wurde er vom Landgericht Passau wegen Vergewaltigung<br />
in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />
drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Laut einer<br />
psychiatrischen Expertise litt der Bf. an einer angeborenen<br />
Persönlichkeitsstörung, durch die seine Fähigkeit,<br />
das Unrecht seiner Tat einzusehen, eingeschränkt war.<br />
Am 10.4.2002 – drei Tage vor Verbüßung der Haft – ordnete<br />
die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts<br />
Bayreuth die Unterbringung des Bf. in einem Gefängnis<br />
auf unbestimmte Zeit gemäß dem am 1.1.2002 in Kraft<br />
getretenen Bayerischen Gesetz zur Unterbringung von<br />
besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern<br />
(im Folgenden: BayStrUBG) an. Beim Bf. seien die<br />
Voraussetzungen für eine Unterbringung im Gefängnis<br />
iSv. § 1 BayStrUBG erfüllt, da er eine Strafe verbüßt habe,<br />
bei der Sicherungsverwahrung iSv. § 66 Abs. 3 StGB in<br />
Frage komme. Sie schließe sich außerdem der Meinung<br />
eines von ihr herangezogenen Psychiaters bzw. Psychologen<br />
an, wonach nach der Verurteilung des Bf. neue Tatsachen<br />
ans Licht gelangt wären, die den Schluss nahe<br />
legten, er stelle gegenwärtig eine ernste Gefahr für Leib<br />
und Leben bzw. die sexuelle Selbstbestimmung anderer<br />
dar. Zudem habe er sich während der Haft einer Therapie<br />
widersetzt. Aufgrund seines fortschreitenden Persönlichkeitsabbaus<br />
sei er nicht in der Lage, sein abweichendes<br />
sexuelles Verhalten sowie Grenzen zu erkennen. Das<br />
OLG Bamberg bestätigte diese Entscheidung.<br />
Dagegen erhob der Bf. Beschwerde beim BVerfG, das<br />
dieser am 10.2.2004 teilweise stattgab. Es befand, dass<br />
das BayStrUBG verfassungswidrig sei, da die Länder<br />
keine Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Straftäterunterbringung<br />
hätten. Das überragende Interesse der<br />
Allgemeinheit an einem effektiven Schutz vor hochgefährlichen<br />
Straftätern könne jedoch in Ausnahmefällen<br />
das Freiheitsinteresse des von der Fortgeltung der Regelung<br />
Betroffenen überwiegen. Im Falle der Nichtigerklärung<br />
des Gesetzes wäre die Entlassung aller auf Grundlage<br />
des BayStrUBG Untergebrachten unvermeidlich.<br />
Damit müsse eine Person in die Freiheit entlassen werden,<br />
von der eine erhebliche Gefahr für die körperliche<br />
Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung anderer<br />
ausgehe. Das BayStrUBG sei daher bis 30.9.2004 weiter<br />
anzuwenden, um dem Bundesgesetzgeber Gelegenheit<br />
zum Erlass einer gesetzlichen Regelung zu geben.<br />
In der Zwischenzeit hatte das Landgericht Bayreuth<br />
die Unterbringung des Bf. im Gefängnis mit Beschluss<br />
vom 16.12.2003 für ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt<br />
und diesen angewiesen, in der psychiatrischen Abteilung<br />
eines Seniorenheims Wohnung zu nehmen. Im<br />
März 2004 wurde die Anordnung jedoch widerrufen, da<br />
es seitens des Bf. zu sexuellen Übergriffen gekommen<br />
war. Am 28.7.2004 wurde er vom Gefängnis in ein psychiatrisches<br />
Krankenhaus überstellt.<br />
Im Juni 2005 ordnete das Landgericht Passau gemäß<br />
§ 66b StGB 1 die nachträgliche Unterbringung des Bf. in<br />
Sicherungsverwahrung an. Der Beschluss wurde vom<br />
1 Diese Bestimmung wurde mit dem »Gesetz zur Einführung der<br />
nachträglichen Sicherungsverwahrung« eingeführt. Sie trat<br />
am 29.7.2004 in Kraft.<br />
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16<br />
Haidn gg. Deutschland<br />
BGH aufgehoben und der Fall zur neuerlichen Entscheidung<br />
zurückverwiesen. Das Verfahren wurde von der<br />
Staatsanwaltschaft eingestellt, nachdem das Landgericht<br />
Hof am 14.6.2007 unter Berufung auf § 63 StGB die<br />
Unterbringung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />
wegen sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger<br />
Personen (§ 179 StGB) angeordnet hatte.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot<br />
der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung)<br />
und von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK<br />
Der Bf. beklagt sich über seine nach vollständiger Verbüßung<br />
seiner Freiheitsstrafe erfolgte Unterbringung<br />
im Gefängnis zu Präventionszwecken auf Grundlage des<br />
später für verfassungswidrig erklärten BayStrUBG.<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet<br />
nach Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen<br />
Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären<br />
(einstimmig).<br />
2. In der Sache<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Laut der Regierung sei die nachträgliche Unterbringung<br />
des Bf. im Gefängnis zu Präventivzwecken als rechtmäßiger<br />
Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges<br />
Gericht iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zu werten.<br />
Der GH hat bereits im Fall M./D klargestellt, dass nur<br />
die Verurteilung wegen einer Straftat durch ein Strafgericht<br />
als »Verurteilung« im Sinne des oben genannten<br />
Artikels zu werten ist. Die Entscheidung eines Strafvollzugsgerichts,<br />
eine Person weiter in Haft zu behalten,<br />
genügt den Anforderungen an eine »Verurteilung« nicht,<br />
da sie keine neue Feststellung, die betreffende Person<br />
sei einer Straftat schuldig, beinhaltet. Im vorliegenden<br />
Fall kann folglich nur das Urteil des Landgerichts Passau<br />
vom 16.3.1999 als »Verurteilung« gelten. Die Präventivhaft<br />
des Bf. nach Verbüßung der Haft mit Ablauf des<br />
13.4.2002 wäre nur dann unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK<br />
gerechtfertigt gewesen, wenn sie unmittelbar nach seiner<br />
Verurteilung erfolgt wäre, also mit anderen Worten<br />
ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen<br />
der Verurteilung und dem Freiheitsentzug bestanden<br />
hätte. Vom Landgericht Passau war aber die Anhaltung<br />
des Bf. zu Präventivzwecken – zusätzlich zu der verhängten<br />
Haftstrafe – nicht angeordnet worden. Das besagte<br />
Gericht wäre zu einer solchen Maßnahme auch nicht<br />
befugt gewesen, da die rechtlichen Voraussetzungen für<br />
eine Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB im speziellen<br />
Fall des Bf. nicht vorgelegen wären. Da somit eine<br />
präventive Anhaltung des Bf. auf Basis des BayStrUBG<br />
nicht vorgesehen bzw. für das Strafgericht Passau nach<br />
der damaligen Rechtslage nicht möglich war, kann nicht<br />
einfach gesagt werden, sie habe sich aus der strafrechtlichen<br />
Verurteilung ergeben, weil die von der Strafvollstreckungskammer<br />
getroffene Anordnung der Präventivhaft<br />
sich auf die Verurteilung bezog und noch während<br />
der Verbüßung der Freiheitsstrafe erfolgte. Es bestand<br />
somit kein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen<br />
der Verurteilung des Bf. und seiner nachträglich<br />
angeordneten Unterbringung im Gefängnis zu Präventionszwecken.<br />
Die Anhaltung war daher nicht unter Art. 5<br />
Abs. 1 lit. a EMRK gerechtfertigt.<br />
Im Folgenden ist zu prüfen, ob die Anhaltung des Bf.<br />
aus einem anderen der in Art. 5 Abs. 1 EMRK aufgelisteten<br />
Haftgründe gerechtfertigt war. So bringt etwa<br />
die Regierung vor, die Unterbringung wäre unter Art. 5<br />
Abs. 1 lit. c EMRK notwendig gewesen, um den Bf. an der<br />
Begehung einer Straftat zu hindern.<br />
Die Unterbringung auf unbestimmte Zeit, die von den<br />
Strafvollzugsgerichten damit gerechtfertigt wurde, es<br />
bestehe ein Risiko, dass der Bf. weitere Straftaten gegen<br />
die sexuelle Selbstbestimmung anderer begehen werde,<br />
war jedoch nicht von dieser Bestimmung gedeckt, richtete<br />
sich doch die Anhaltung des Bf. zu Präventivzwecken<br />
nicht darauf, ihn gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK unver-<br />
züglich einem Richter vorzuführen und ihn innerhalb<br />
angemessener Frist (wegen eines potentiellen Strafdelikts)<br />
abzuurteilen. Es handelte sich daher auch nicht<br />
um Untersuchungshaft iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK.<br />
Darüber hinaus war die Begehung potentieller Straftaten<br />
im Falle einer Freilassung nicht ausreichend<br />
konkret und spezifisch, um den Anforderungen der<br />
einschlägigen Rechtsprechung des GH zu genügen, insbesondere<br />
was Ort und Zeit der Tatbegehung bzw. die<br />
Situation der Opfer angeht. Die Anhaltung des Bf. konnte<br />
somit nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gerechtfertigt<br />
werden.<br />
War die Anhaltung von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK (rechtmäßiger<br />
Freiheitsentzug bei psychisch kranken Personen)<br />
gedeckt Laut dem Fallrecht des GH ist Voraussetzung<br />
dafür, dass anhand einer objektiven medizinischen<br />
Expertise gerichtlicherseits festgestellt wurde, dass ein<br />
Bf. einwandfrei als geisteskrank einzustufen ist. Die<br />
Strafvollstreckungskammer stützte ihre Entscheidung<br />
auf zwei Experten, welche beim Bf. eine angeborene –<br />
fortschreitende – Persönlichkeitsstörung konstatierten<br />
und bestätigten, er würde eine ernste Gefahr für die<br />
sexuelle Selbstbestimmung anderer darstellen.<br />
Der GH zieht das Ergebnis dieser Expertisen nicht in<br />
Zweifel. Er weist allerdings darauf hin, dass das deutsche<br />
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Rechtssystem einen Unterschied zwischen der Anhaltung<br />
gefährlicher Straftäter in einem Gefängnis zu Präventionszwecken<br />
und einer Unterbringung psychisch<br />
Kranker in einem psychiatrischen Krankenhaus macht.<br />
Im vorliegenden Fall hatte sich jedoch das Gesundheitsamt<br />
geweigert, die Unterbringung des Bf. in einer psychiatrischen<br />
Klinik gemäß dem Bayerischen Gesetz über<br />
die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung<br />
beim Landgericht Bayreuth zu beantragen.<br />
Im Übrigen ist der GH nicht überzeugt, dass beim Bf.<br />
eine Geistesstörung iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK vorlag.<br />
Er bezweifelt außerdem, dass eine solche nach deutschem<br />
Recht »von der zuständigen Behörde festgestellt«<br />
werden konnte, da die Strafvollzugsgerichte unter dem<br />
BayStrUBG nicht zu entscheiden hatten, ob der Bf. als<br />
geisteskranke Person unterzubringen sei, sondern darüber,<br />
ob er eine besondere Gefahr für die Gesellschaft,<br />
ungeachtet seines Geisteszustands, darstelle. Folglich<br />
waren auch die Sachverständigen nur zur Prüfung der<br />
Frage berechtigt, ob der Bf. eine ernste Gefahr für die<br />
sexuelle Selbstbestimmung anderer verkörpere.<br />
Abgesehen davon wäre die Anhaltung des Bf. als geisteskranke<br />
Person nur »rechtmäßig« iSv. Art. 5 Abs. 1<br />
lit. e EMRK gewesen, wenn sie in einem Krankenhaus,<br />
einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung<br />
erfolgt wäre.<br />
Im vorliegenden Fall war der Bf. allerdings bis Juli<br />
2004 in einem Gefängnis untergebracht. Für seine<br />
Unterbringung wären demnach laut § 6 BayStrUBG<br />
die einschlägigen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes<br />
betreffend den Vollzug der Sicherungsverwahrung<br />
anzuwenden gewesen. Wie der GH bereits im Fall<br />
M./D festgestellt hat, besteht in der Praxis kein wesentlicher<br />
Unterschied zwischem dem Vollzug einer (langjährigen)<br />
Gefängnisstrafe und der Durchführung der<br />
Sicherungsverwahrung. Es ist nach deutschem Recht<br />
nun einmal so, dass psychiatrische Kliniken als für die<br />
Unterbringung von geisteskranken Personen geeignete<br />
Anstalten angesehen werden. Folglich bestand keine<br />
ausreichende Beziehung zwischen der Anhaltung des<br />
Bf. als geisteskrankem Patienten und seiner Unterbringung<br />
im Gefängnis inklusive der dortigen Haftbedingungen.<br />
Die Anhaltung des Bf. war daher weder nach Art. 5<br />
Abs. 1 lit. e EMRK noch nach einem der übrigen in Art. 5<br />
Abs. 1 EMRK genannten Haftgründe gerechtfertigt. Verletzung<br />
von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).<br />
II.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
Der Bf. behauptet, die fortgesetzte Anhaltung zu Präventivzwecken<br />
habe angesichts der Umstände, unter denen<br />
sie angeordnet wurde, und im Hinblick auf ihre Geltung<br />
auf unbestimmte Zeit eine unmenschliche bzw. erniedrigende<br />
Behandlung iSv. Art. 3 EMRK dargestellt.<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Haidn gg. Deutschland<br />
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet<br />
noch aus einem anderen Grund unzulässig und<br />
daher für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />
2. In der Sache<br />
Der Bf. war zum Zeitpunkt der Verhängung der Sicherungsverwahrung<br />
67 Jahre alt. Er hat nicht behauptet,<br />
im Gefängnis nicht die notwendige medizinische<br />
Betreuung erhalten zu haben. Der GH hatte bereits<br />
Gelegenheit zur Feststellung, dass ein fortgeschrittenes<br />
Alter in keinem der Europaratsstaaten ein Hindernisgrund<br />
für eine Anhaltung ist. Das fortgeschrittene,<br />
aber noch nicht besonders hohe Alter des Bf. und sein<br />
Gesundheitszustand, der für eine Haft nicht als kritisch<br />
zu bewerten war, erreichten nicht das Mindestmaß<br />
an Schwere, um in den Anwendungsbereich von Art. 3<br />
EMRK zu fallen.<br />
Die Umstände, unter denen der Bf. nach vollständiger<br />
Verbüßung seiner Freiheitsstrafe weiter im Gefängnis<br />
angehalten wurde, mussten bei ihm zweifellos Gefühle<br />
der Demütigung und Unsicherheit auslösen, die das<br />
zwangsläufig mit jeder Freiheitsentziehung verbundene<br />
unvermeidliche Leid überstiegen. Angesichts der<br />
Tatsache, dass das BayStrUBG erst kurz vor der Anordnung<br />
seiner fortgesetzten Freiheitsentziehung in Kraft<br />
getreten war, konnte den Behörden jedoch nicht vorgeworfen<br />
werden, vorsätzlich darauf abgezielt zu haben,<br />
ihn zu erniedrigen, indem sie eine Sicherungsverwahrung<br />
drei Tage vor seiner vorgesehenen Freilassung<br />
anordneten.<br />
Ferner waren die nationalen Gerichte nach § 5<br />
BayStrUBG verpflichtet, mindestens alle zwei Jahre<br />
nachzuprüfen, ob die Unterbringung der betroffenen<br />
Person im Gefängnis noch notwendig war und – falls<br />
die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen – die Unterbringung<br />
zur Bewährung auszusetzen. Das Landgericht<br />
Bayreuth entschied am 23.12.2003, die Unterbringung<br />
des Bf. auszusetzen, widerrief diese Anordnung jedoch,<br />
nachdem er wieder rückfällig geworden war. Dies zeigt,<br />
dass für ihn, ungeachtet der unbefristeten Dauer seiner<br />
Anhaltung, die Möglichkeit einer Freilassung bestand.<br />
Der GH kommt somit zu dem Ergebnis, dass die<br />
Umstände der Anordnung der fortgesetzten Anhaltung<br />
des Bf. zu Präventivzwecken und deren Dauer nicht das<br />
Mindestmaß an Schwere erreichten, um eine unmenschliche<br />
oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darzustellen.<br />
Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).<br />
III.<br />
Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />
Der Bf. stellte keinen Antrag auf gerechte Entschädigung<br />
innerhalb der dafür vorgesehenen Frist.<br />
17<br />
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18<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Vergleich von Abtreibungen mit dem Holocaust<br />
Hoffer und Annen gg. Deutschland, Urteil vom 13.1.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 397/07 und 2.322/07<br />
Leitsatz<br />
Die Auswirkungen einer Meinungsäußerung auf die Persönlichkeitsrechte<br />
können nicht ohne den sozial-historischen<br />
Kontext betrachtet werden, in dem diese getätigt<br />
wird.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 10 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Sürek/TR (Nr. 1) v. 8.7.1999<br />
Schlagworte<br />
Meinungsäußerungsfreiheit; Persönlichkeitsrechte;<br />
Verfahrensdauer<br />
Julius Lagodny<br />
Am 24.5.2006 hob das BVerfG das Urteil des Landgerichts<br />
teilweise auf. Das BVerfG erinnerte dabei an<br />
die Vorinstanzen, welche angenommen hatten, dass<br />
das strittige Flugblatt die professionelle Tätigkeit des<br />
Mediziners auf eine Stufe mit dem Holocaust stelle.<br />
Obwohl die Äußerungen der Bf. nicht als Schmähkritik<br />
zu bezeichnen waren, sei, laut BVerfG, die Entscheidung<br />
des Landgerichts nicht zu beanstanden, weil das Urteil<br />
einen gerechten Ausgleich zwischen den konkurrierenden<br />
Interessen der Bf. und denen von Dr. F. bilde.Nicht<br />
der Holocaust-Vergleich an sich, sondern die Tatsache,<br />
dass die Bf. diesen direkt gegen Dr. F. gerichtet hatten,<br />
würde die Persönlichkeitsrechte des Mediziners stark<br />
verletzen. Nach Zurückverweisung der Sache belegte das<br />
Landgericht die Bf. mit je einer Geldstrafe von € 100,–<br />
bzw. € 150,–.<br />
Rechtsausführungen<br />
Sachverhalt<br />
Am 8.10.1997 verteilten die Bf. vor einer Nürnberger Klinik<br />
ein Flugblatt, in welchem namentlich der Frauenarzt<br />
Dr. F. wegen der von ihm durchgeführten Abtreibungen<br />
als »Tötungsspezialist« bezeichnet wurde. Das<br />
Schreiben enthielt den Appell: »Stoppen Sie den Kinder-<br />
Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikums;<br />
damals: Holocaust – heute: Babycaust«. Der ZweitBf. gab<br />
auf dem Schreiben seine Adresse an.<br />
Daraufhin erstattete Dr. F. Anzeige wegen übler Nachrede.<br />
Im Juli 1998 sprach das Amtsgericht Nürnberg die<br />
Bf. in allen Anklagepunkten – gestützt auf die »Wahrnehmung<br />
berechtigter Interessen« (§ 193 StGB) – frei.<br />
Am 26.5.1999 hob das Landgericht Nürnberg-Fürth<br />
das Urteil auf und verurteilte die Bf. wegen übler Nachrede<br />
zum Nachteil der Klinik und von Dr. F. mit der Begründung,<br />
dass ein Vergleich mit dem Holocaust nicht mehr<br />
in den Bereich der freien Meinungsäußerung falle, da es<br />
Dr. F. unnötig stark herabwürdige (Schmähkritik). Das<br />
Landgericht verurteilte beide Bf. zu einer Geldstrafe.<br />
Die von den Bf. eingebrachte Revision gegen das<br />
Urteil wies das Bayrische Oberste Landesgericht am<br />
8.12.1999 ab.<br />
Im Jänner 2000 erhoben die Bf. Verfassungsbeschwerde<br />
beim BVerfG.<br />
Die Bf. rügen Verletzungen von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit)<br />
und Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht<br />
auf angemessene Verfahrensdauer).<br />
Des Weiteren rügen sie Verletzungen von Art. 7 Abs. 1<br />
EMRK (Nulla poena sine lege) und Art. 6 EMRK (hier:<br />
Recht auf ein faires Verfahren).<br />
Die beiden Beschwerden werden miteinander verbunden<br />
(einstimmig).<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK<br />
Es wird festgestellt, dass die Beschwerde hinsichtlich<br />
der Verletzung von Art. 10 EMRK gemäß Art. 35 Abs. 3<br />
EMRK nicht offensichtlich unbegründet und auch aus<br />
keinem anderen Grund unzulässig ist. Die Beschwerde<br />
wird für zulässig erklärt (einstimmig).<br />
Die Bf. sehen durch ihre Verurteilung ihr Recht auf<br />
freie Meinungsäußerung verletzt.<br />
Die Verurteilungen der Bf. stellen unstrittig einen Eingriff<br />
in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Sie<br />
basierten auf § 185 StGB und waren damit »gesetzlich<br />
vorgesehen«. Sie dienen dazu, den guten Ruf und die<br />
Rechte anderer, in diesem Fall die von Dr. F., zu schützen.<br />
Daher bleibt zu prüfen, ob die Beeinträchtigung der<br />
freien Meinungsäußerung »notwendig in einer demokratischen<br />
Gesellschaft« iSv. Art. 10 EMRK war.<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
Insoweit hatte bereits das Landgericht eingeräumt,<br />
dass die Bf. eine Problematik von öffentlichem Interesse<br />
angesprochen hatten, und es ihnen erlaubt war, ihre<br />
politischen Ziele zu verfolgen, und zwar auch mit Hilfe<br />
von polemischer Kritik.<br />
Das Landgericht hat alle Passagen des Flugblatts,<br />
außer dem Ausspruch »damals: Holocaust / heute: Babycaust«,<br />
als akzeptable Bestandteile einer öffentlichen<br />
Diskussion anerkannt, die sich innerhalb der Grenzen<br />
der freien Meinungsäußerung bewegten. Der GH wird<br />
daher nur die erwähnte Textstelle behandeln.<br />
Nach Meinung der nationalen Gerichte verletzten die<br />
Bf. die persönlichen Rechte des Mediziners besonders<br />
schwerwiegend, indem sie die Durchführung der Abtreibung<br />
mit dem Massenmord während des Holocaust verglichen.<br />
Es hätte von ihnen erwartet werden können,<br />
dass sie ihren Vorwurf auf eine Art und Weise ausdrückten,<br />
die weniger nachteilig für das Ansehen des Mediziners<br />
gewesen wäre.<br />
Das BVerfG hatte außerdem eingeräumt, dass das<br />
Flugblatt der Bf. auf verschiedene Art und Weise interpretiert<br />
werden könne, dabei aber bedacht, dass alle<br />
möglichen Interpretationen auf eine schwerwiegende<br />
Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Mediziners<br />
hinausliefen.<br />
Zudem stellt der GH fest, dass Auswirkungen, die Meinungsäußerungen<br />
auf die Persönlichkeitsrechte eines<br />
Anderen haben, nicht abgelöst vom historischen und<br />
sozialen Kontext, in dem diese getätigt werden, betrachtet<br />
werden können. Der Hinweis auf den Holocaust muss<br />
also im spezifischen Zusammenhang der deutschen<br />
Geschichte betrachtet werden. Daher akzeptiert der GH<br />
die abschließende Erklärung des BVerfG, wonach das<br />
umstrittene Flugblatt eine schwerwiegende Verletzung<br />
der Persönlichkeitsrechte des Mediziners sei.<br />
Die nationalen Gerichte schufen somit einen gerechten<br />
Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung<br />
der Bf. und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte<br />
des Arztes. Der Eingriff war »in einer demokratischen<br />
Gesellschaft notwendig«. Die Geldstrafen sind außerdem<br />
als verhältnismäßig zu bezeichnen.<br />
Im Ergebnis ist keine Verletzung von Art. 10 EMRK<br />
festzustellen (einstimmig).<br />
Hoffer und Annen gg. Deutschland<br />
Der GH hat bereits in früheren ähnlichen Fällen eine<br />
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt. Er geht<br />
auch vorliegend von einer Verletzung dieser Bestimmung<br />
aus (einstimmig).<br />
III.<br />
Zu den übrigen behaupteten Verletzungen<br />
Die Bf. behaupten, ihnen wäre die Auslegung ihrer Aussagen<br />
durch die Strafgerichte nicht bewusst gewesen. Sie<br />
hätten folglich nicht den Vorsatz gehabt, eine kriminelle<br />
Handlung zu begehen. Das Verfahren vor dem BVerfG<br />
sei des Weiteren nicht fair gewesen, da nur drei Richter<br />
und nicht ein Senat über die Sache entschieden hätten.<br />
Zudem beschwert sich der ZweitBf. darüber, dass er eine<br />
höhere Strafe bekommen habe, nur weil er seine Adresse<br />
auf dem Dokument angegeben hatte.<br />
Die diesbezüglichen Beschwerden unter Art. 7 Abs. 1,<br />
Art. 10 und Art. 6 EMRK werden als offensichtlich unbegründet<br />
zurückgewiesen (einstimmig).<br />
IV.<br />
Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />
€ 4000,– je Bf. für immateriellen Schaden und € 1000,–<br />
für Kosten und Auslagen (einstimmig).<br />
•<br />
19<br />
II.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Es wird festgestellt, dass die Beschwerde unter Art. 6<br />
Abs. 1 nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35<br />
Abs. 3 EMRK und auch aus keinem anderen Grund<br />
unzulässig ist. Die Beschwerde wird für zulässig erklärt<br />
(einstimmig).<br />
Für die Bf. stellt die Länge des Verfahrens vor dem<br />
BVerfG von fast sechseinhalb Jahren einen Verstoß<br />
gegen ihr Recht auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen<br />
Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK dar.<br />
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20<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Keine Verpflichtung der Schweiz, Suizid zu ermöglichen<br />
Haas gg. die Schweiz, Urteil vom 20.1.2011, Kammer I, Bsw. Nr. 31.322/07<br />
Leitsatz<br />
Die große Mehrheit der Konventionsstaaten scheint<br />
dem Schutz des Lebens einer Person (Art. 2 EMRK) mehr<br />
Gewicht als deren Recht einzuräumen, es freiwillig zu<br />
beenden (Art. 8 EMRK). In diesem Bereich ist der staatliche<br />
Ermessensspielraum also als erheblich einzustufen.<br />
Aus Art. 8 Abs. 2 EMRK folgt, dass selbsttötungswil-<br />
lige Personen durch entsprechende Maßnahmen vor<br />
übereilten Entscheidungen zu bewahren sind und Missbräuchen<br />
vorzubeugen ist. Dies muss umso mehr für ein<br />
Land wie die Schweiz gelten, in der Gesetzgebung und<br />
Praxis relativ leicht Beihilfe zum Selbstmord gestatten.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 2, 8 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Pretty/GB v. 29.4.2002<br />
= NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311<br />
Schlagworte<br />
Erkrankung, psychische; Ermessen; Leben, Recht auf;<br />
Privatleben; Selbstbestimmungsrecht; Sterbehilfe<br />
Sachverhalt<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Der 1953 geborene Bf. leidet seit etwa 20 Jahren an einer<br />
schweren bipolaren affektiven Störung. 1 Während dieser<br />
Zeit beging er zwei Selbstmordversuche und wurde<br />
wiederholt stationär behandelt. Am 1.7.2004 trat er der<br />
privaten Sterbehilfeorganisation »Dignitas« bei. Da der<br />
Bf. sein Leben aufgrund der schwer behandelbaren<br />
Krankheit als nicht mehr menschenwürdig erachtete,<br />
ersuchte er »Dignitas«, für ihn eine Freitodbegleitung in<br />
die Wege zu leiten. Seiner an mehrere Psychiater gestellten<br />
Bitte, ihm hierfür das Präparat Natrium-Pentobarbital<br />
2 zu verschreiben, wurde jedoch nicht entsprochen.<br />
1 Besser bekannt auch als »manisch-depressive Erkrankung«.<br />
2 Es handelt sich hierbei um ein starkes Schlafmittel, das in<br />
der Veterinärmedizin zum Einschläfern von Tieren verwendet<br />
wird. Es führt ab einer gewissen Dosis (15g) einen raschen und<br />
schmerzlosen Tod durch Einschlafen und Ersticken herbei.<br />
In der Folge wandte sich der Bf. mit dem Ersuchen an<br />
die Behörden, ihm möge erlaubt werden, die genannte<br />
Substanz rezeptfrei zu beziehen. Sowohl das Bundesamt<br />
für Gesundheit als auch die Gesundheitsdirektion des<br />
Kantons Zürich wiesen sein Gesuch mit der Begründung<br />
ab, Natrium-Pentobarbital könne in Apotheken nur<br />
gegen ärztliche Verschreibung bezogen werden. Dagegen<br />
eingebrachte Rechtsmittel blieben erfolglos.<br />
Der Bf. brachte daraufhin zwei Verwaltungsgerichtsbeschwerden<br />
beim Bundesgericht ein, das diese mit<br />
Urteil vom 3.11.2006 abwies. Begründend führte es aus,<br />
zum Selbstbestimmungsrecht iSv. Art. 8 EMRK gehöre<br />
auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung<br />
des eigenen Lebens zu entscheiden, soweit der<br />
Betroffene in der Lage sei, seinen entsprechenden Willen<br />
frei zu bilden und danach zu handeln. Vom Recht<br />
auf den eigenen Tod gelte es den Anspruch auf Beihilfe<br />
zum Suizid seitens des Staates oder Dritter abzugrenzen.<br />
Ein solcher lasse sich weder aus Art. 10 Abs. 2 der<br />
Bundesverfassung noch aus Art. 8 EMRK entnehmen.<br />
Ein Anspruch des Sterbewilligen, dass ihm Beihilfe bei<br />
der Selbsttötung oder aktive Sterbehilfe geleistet werde,<br />
wenn er sich außerstande sehe, seinem Leben selbst ein<br />
Ende zu setzen, bestehe nicht.<br />
Der Fall Pretty/GB sei mit dem vorliegenden nicht vergleichbar:<br />
Die Suizidfreiheit des Bf. bzw. die Straffreiheit<br />
eines allfälligen Helfers sei hier nicht in Frage gestellt.<br />
Umstritten sei vielmehr, ob der Staat darüber hinaus,<br />
gestützt auf Art. 8 EMRK, auch sicherstellen müsse, dass<br />
der Bf. schmerz- und risikolos sterben könne, und deshalb<br />
dafür zu sorgen habe, dass er entgegen den gesetzlichen<br />
Regelungen ohne ärztliche Verschreibung Natrium-Pentobarbital<br />
erhalte. Diese Frage müsse verneint<br />
werden, sei doch nicht ersichtlich, inwiefern – im Hinblick<br />
auf mögliche Alternativen – die Suizidfreiheit bzw.<br />
die Freiheit, über die eigene Lebensqualität entscheiden<br />
zu können, vorliegend dadurch beeinträchtigt werde,<br />
dass der Staat die Abgabe des Präparats nur aufgrund<br />
einer ärztlichen Verschreibung und in Kenntnis des<br />
Gesundheitszustands des Betroffenen zulasse.<br />
Als besonders heikel erweise sich die Frage nach der<br />
Verschreibung und Abgabe von Natrium-Pentobarbital<br />
für einen begleiteten Suizid bei psychisch kranken<br />
Personen. Ob die Voraussetzungen dafür gegeben<br />
seien, lasse sich nur anhand von medizinischen Spezialkenntnissen<br />
beurteilen und erweise sich in der Praxis<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
als schwierig. Eine solche Einschätzung setze deshalb<br />
notwendigerweise das Vorliegen eines vertieften psychiatrischen<br />
Fachgutachtens voraus, was nur sichergestellt<br />
erscheine, wenn an der ärztlichen Verschreibungspflicht<br />
von Natrium-Pentobarbital festgehalten und die<br />
Verantwortung nicht (allein) in die Hände privater Sterbehilfeorganisationen<br />
gelegt werde, deren Aktivitäten<br />
übrigens mehrmals Anlass zu Kritik gegeben hätten.<br />
Im Mai 2007 richtete der Bf. an 170 – fast ausschließlich<br />
in der Umgebung von Basel praktizierende – Psychiiater<br />
ein Schreiben, in dem er seinen Fall schilderte und<br />
anfragte, ob sie für ihn ein psychiatrisches Gutachten<br />
mit dem letztlichen Ziel einer Verschreibung von Natrium-Pentobarbital<br />
ausstellen könnten. Keiner der angeschriebenen<br />
Mediziner antwortete darauf positiv.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. beklagt sich über die Vorgaben, die erfüllt werden<br />
müssten, um Natrium-Pentobarbital zu erhalten.<br />
Er rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht<br />
auf Achtung des Privatlebens) wegen Verletzung seines<br />
Rechts, über den Zeitpunkt und die Art seines Todes zu<br />
entscheiden. In einer außergewöhnlichen Situation wie<br />
der seinigen hätte der Staat den Zugang zu Selbstmord<br />
ermöglichenden Medikamenten garantieren müssen.<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
Haas gg. die Schweiz<br />
Im Fall Pretty/GB erachtete der GH den Wunsch der Bf.,<br />
ein in ihren Augen zutiefst unwürdiges und mühseliges<br />
Leben zu beenden, als in den Anwendungsbereich von<br />
Art. 8 EMRK fallend. Im Lichte dieses Urteils stellt das<br />
Recht einer Person zu entscheiden, wann und in welcher<br />
Form ihr Leben enden sollte – vorausgesetzt, sie ist in<br />
der Lage, darüber eine freie Entscheidung zu treffen und<br />
entsprechend zu handeln – einen Aspekt ihres Rechts<br />
auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK dar.<br />
Der vorliegende Fall unterscheidet sich allerdings<br />
vom Fall Pretty/GB. Wie das Bundesgericht korrekt hervorgehoben<br />
hat, betrifft die gegenständliche Angelegenheit<br />
nämlich nicht die Freiheit zu sterben und die eventuelle<br />
Straflosigkeit der beim Selbstmord assistierenden<br />
Person. Gegenstand der Kontroverse ist, ob Art. 8 EMRK<br />
dem Staat eine Verpflichtung auferlegt, dafür Sorge zu<br />
tragen, dass der Bf. entgegen der einschlägigen Gesetzeslage<br />
Natrium-Pentobarbital ohne ärztliche Verschreibung<br />
bekommt, um schmerz- und risikolos sterben zu<br />
können. Anders gesagt besteht der Unterschied zu Pretty/GB<br />
darin, dass der Bf. nicht nur behauptet, sein Leben<br />
wäre schwierig und schmerzerfüllt, sondern auch, dass<br />
eine Selbsttötung sich ohne Rückgriff auf Natrium-Pentobarbital<br />
als würdelos erweisen würde. Ferner kann der<br />
Bf. auch nicht als eine behinderte Person eingestuft werden,<br />
die sich im Endstadium einer unheilbaren degenerativen<br />
Krankheit befindet, die sie daran hindert, ihrem<br />
Leben selbst ein Ende zu bereiten.<br />
Der GH wird das Begehren des Bf. aus dem Blickwinkel<br />
einer positiven Verpflichtung der Staaten prüfen, die<br />
notwendigen Vorkehrungen für einen Selbstmord in<br />
Würde zu treffen. Im Zusammenhang mit der Prüfung<br />
einer möglichen Verletzung von Art. 8 EMRK ist jedoch<br />
auch Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) miteinzubeziehen,<br />
demzufolge es Aufgabe der Behörden ist, verwundbare<br />
Personen auch vor Handlungen zu schützen, mit denen<br />
sie ihr eigenes Leben gefährden. Die Behörden sind folglich<br />
verpflichtet, die Selbsttötung eines Individuums zu<br />
verhindern, falls seine diesbezügliche Entscheidung<br />
weder frei noch in voller Kenntnis der Umstände erfolgt<br />
ist.<br />
Die Recherchen des GH haben ergeben, dass bei den<br />
Mitgliedstaaten bezüglich des Rechts eines Individuums<br />
auf Treffen einer Wahl, wann und wie es sein Leben<br />
beenden will, kein gemeinsamer Konsens besteht. In<br />
der Schweiz ist laut Art. 115 StGB Anstiftung und Beihilfe<br />
zum Selbstmord nur strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen<br />
Beweggründen vorgenommen wurden. In den<br />
Benelux-Ländern wurde Beihilfe zum Selbstmord »entkriminalisiert«,<br />
dies allerdings unter präzisen gesetzlichen<br />
Vorgaben. Andere Staaten gestatten nur »passive«<br />
Hilfeleistung zur Selbsttötung. Die große Mehrheit<br />
der Konventionsstaaten scheint aber dem Schutz des<br />
Lebens einer Person mehr Gewicht als deren Recht einzuräumen,<br />
es freiwillig zu beenden. In diesem Bereich<br />
ist der staatliche Ermessensspielraum daher als erheblich<br />
einzustufen.<br />
Betreffend die auf dem Spiel stehenden Interessen<br />
anerkennt der GH den Wunsch des Bf., seinem Leben<br />
auf sichere, würdige und schmerzfreie Weise ein Ende<br />
zu bereiten, sind doch Selbstmordversuche im steten<br />
Steigen begriffen und haben diese oft gravierende Auswirkungen<br />
auf Opfer und nächste Angehörige.<br />
Er ist dennoch der Ansicht, dass das gesetzlich vorgeschriebene<br />
Erfordernis einer ärztlichen Verschreibung<br />
einem legitimen Ziel dient, nämlich selbsttötungswillige<br />
Personen vor übereilten Entscheidungen zu bewahren<br />
und allfälligem Missbrauch vorzubeugen, namentlich<br />
um zu verhindern, dass nicht einsichtsfähige<br />
Personen eine tödliche Dosis von Natrium-Pentobarbital<br />
bekommen. Dies muss umso mehr für ein Land wie<br />
die Schweiz gelten, in der Gesetzgebung und Praxis relativ<br />
leicht Beihilfe zum Selbstmord gestatten. Sofern ein<br />
Staat auf diesem Gebiet einen liberalen Ansatz verfolgt,<br />
müssen auch geeignete Maßnahmen zu deren Umsetzung<br />
und adäquate Vorkehrungen gegen Missbrauch<br />
bestehen.<br />
Wie die Regierung ist auch der GH der Ansicht, dass<br />
ein eingeschränkter Zugang zu Natrium-Pentobarbital<br />
dem Schutz der Gesundheit, der öffentlichen Sicher-<br />
21<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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22<br />
Haas gg. die Schweiz<br />
heit und der Verhinderung von Straftaten dient. Er teilt<br />
die Auffassung des Bundesgerichts, wonach das von<br />
Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben die Staaten verpflichtet,<br />
ein Kontrollverfahren vorzuschreiben, welches<br />
gewährleistet, dass die Entscheidung tatsächlich dem<br />
freien und wohlerwogenen Willen des Suizidwilligen<br />
entspricht. Das Erfordernis einer – auf Grundlage eines<br />
umfassenden psychiatrischen Gutachtens fußenden –<br />
ärztlichen Verschreibung stellt insofern ein zulässiges<br />
Mittel dar, um dem Rechnung zu tragen. Diese Lösung<br />
entspricht auch dem Geist des UN-Übereinkommens vom<br />
21.2.1971 über psychotrope Stoffe und ähnlichen, von einzelnen<br />
Konventionsstaaten implementierten Vertragswerken<br />
des Europarats.<br />
Im vorliegenden Fall divergieren die Ansichten der<br />
Parteien hinsichtlich des effektiven Zugangs zu einer<br />
für den Bf. positiven medizinischen Expertise (die ihm<br />
den Zugang zu Natrium-Pentobarbital verschafft hätte)<br />
erheblich. Der GH will nicht ausschließen, dass die Psychiater<br />
sich deswegen zurückhaltend verhalten haben,<br />
weil sie sich mit einem Ersuchen auf Verschreibung<br />
einer tödlich wirkenden Substanz konfrontiert sehen.<br />
Mit Rücksicht auf die delikate Frage der Urteilsfähigkeit<br />
des Bf. ist auch die durchaus reale Gefahr einer Strafverfolgung<br />
zu berücksichtigen, falls sich ein Mediziner<br />
dazu bereit erklärt, ein Gutachten zwecks Erleichterung<br />
des Selbstmords zu verfassen.<br />
Der GH schließt sich den Ausführungen der Regierung<br />
an, wonach die vom Bf. unternommenen Anstrengungen<br />
im Hinblick auf die Kontaktaufnahme mit<br />
einem Psychiater gewisse Fragen aufwerfen. Zum einen<br />
hat der Bf. die 170 Briefe erst nach Ergang des Urteils<br />
des Bundesgerichts weggeschickt. Sie können daher<br />
nicht von vornherein für die Bewertung des vorliegenden<br />
Falls herangezogen werden. Abgesehen davon<br />
scheinen die Schreiben ihrem Inhalt nach nicht unbedingt<br />
einen ermutigenden Einfluss auf die Psychiater<br />
gehabt zu haben, darauf positiv zu antworten. So stellte<br />
der Bf. etwa klar, grundsätzlich jegliche Therapie<br />
abzulehnen und sich einer eingehenden Prüfung, ob es<br />
nicht mögliche Alternativen gegenüber einer Selbsttötung<br />
gäbe, zu verweigen. Angesichts der vorliegenden<br />
Informationen ist der GH nicht überzeugt, dass es dem<br />
Bf. unmöglich gewesen wäre, einen Spezialisten zu finden,<br />
der ihm bei der Selbsttötung behilflich gewesen<br />
wäre. Er glaubt daher nicht, dass dessen Recht, Zeit und<br />
Art seines Todes zu wählen, theoretisch bzw. illusorisch<br />
war.<br />
Mit Rücksicht auf das vorhin Gesagte und den staatlichen<br />
Ermessensspielraum ist – auch gesetzt den Fall,<br />
die Staaten träfe eine positive Verpflichtung, Vorkehrungen<br />
für die Erleichterung eines »Selbstmords in<br />
Würde« zu treffen – keine Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
durch die schweizerischen Behörden festzustellen (einstimmig).<br />
Menschenwürde<br />
und Art 3 EMRK<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Grundrechtsverletzungen<br />
in Form von Polizeigewalt<br />
und Haft<br />
ca. 230 Seiten<br />
150 × 230 mm<br />
broschiert<br />
ca. € 44,90<br />
ISBN 978-3-902638-20-5<br />
ERSCHEINT APRIL 2011<br />
Robert Krammer, langjähriges Mitglied einer Kommission<br />
des Menschenrechtsbeirats, legt eine an den<br />
Bedürfnissen der Praxis orientierte Untersuchung vor,<br />
in deren Focus jene Handlungsweisen von Polizei- und<br />
Vollzugsbehörden stehen, die zu Eingriffen bzw Verletzungen<br />
von Grundrechten führen können. Eine zentrale<br />
Rolle spielt dabei die Schutznorm des Artikel 3 EMRK<br />
und die mit dieser Bestimmung untrennbare Würde<br />
eines jeden Einzelnen.<br />
Einleitend wird auf der Grundlage der ideengeschichtlichen<br />
Entwicklung und den in unterschiedlichsten<br />
Verfassungen verankerten Definitionen der Begriff der<br />
Menschenwürde ausgearbeitet.<br />
Darauf aufbauend findet der Leser eine umfassende<br />
Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art 3 EMRK.<br />
Im Zentrum des Buches steht sodann die Analyse der<br />
Judikatur der österreichischen Höchstgerichte und des<br />
EGMR, die in einer systematischen und praxisnahen<br />
Typologie von Grundrechtsverletzungen im Zusammenhang<br />
mit Polizeigewahrsam und Haft zusammengefasst<br />
wird. Einzelne Zwangsakte, wie das Versetzen von Stößen,<br />
Fesselungen oder Leibesvisitationen, werden ebenso<br />
behandelt wie bestimmte Vernehmungstechniken,<br />
Haftbedingungen oder prozedurale Verletzungen, zu<br />
denen etwa auch eine unzureichende Untersuchung zu<br />
zählen ist.<br />
Für die Praxis von besonderem Nutzen ist die Verknüpfung<br />
der verschiedenen Formen der Rechtsverletzung<br />
mit den jeweils relevanten Leitentscheidungen und mit<br />
der weiterführenden Literatur.<br />
Typologie der Grundrechtsverletzungen<br />
• Polizeiliche Zwangsakte<br />
• Vernehmungstechniken<br />
• Medizinische Zwangsbehandlung<br />
• Prozedurale Verletzungen<br />
• Haftbedingungen<br />
Rechtsprechungsübersicht<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
23<br />
Jagdausübungsrechte auf fremden Grundstücken<br />
Herrmann gg. Deutschland, Urteil vom 20.1.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 9.300/07<br />
Leitsatz<br />
Die obligatorische Mitgliedschaft von Eigentümern<br />
kleiner Grundstücke in Jagdgenossenschaften und die<br />
damit verbundene Verpflichtung, die Jagd auf ihren<br />
Grundstücken selbst auszuüben oder zu dulden, stellt<br />
keine Konventionsverletzung dar, wenn dies bundesweit<br />
sowohl für private als auch öffentliche Eigentümer<br />
gilt, Dritte keinen Gewinn daraus ziehen können, Ersatz<br />
bei Schäden zusteht und Eigentümer großer Grundstücke,<br />
die keiner Jagdgenossenschaft angehören, die Jagd<br />
ebenfalls ausüben oder dulden müssen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 9, 11, 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Le Compte, Van Leuven und De Meyere/B v. 23.6.1981<br />
= EuGRZ 1981, 551<br />
▸ Chassagnou u.a./F v. 29.4.1999 (GK)<br />
= NL 1999, 94 = ÖJZ 2000, 113<br />
▸ Haas/NL v. 13.1.2004<br />
▸ Schneider/L v. 10.7.2007<br />
Schlagworte<br />
Diskriminierungsverbot; Eigentum, Recht auf<br />
Achtung des; Gewissensfreiheit; Jagdausübung;<br />
Pflichtmitgliedschaft; Vereinigungsfreiheit<br />
Sachverhalt<br />
Sofia Iliaki<br />
Der Bf., ein deutscher Staatsbürger, besitzt zwei Grundstücke<br />
in Rheinland-Pfalz, die jeweils kleiner als 75 Hektar<br />
sind. Nach dem deutschen Bundesjagdgesetz sind<br />
Eigentümer von Grundstücken, die kleiner als 75 Hektar<br />
sind, de jure Mitglieder einer Jagdgenossenschaft,<br />
während Eigentümer größerer Grundstücke ihr Revier<br />
selbst verwalten dürfen. Somit ist der Bf. automatisch<br />
Mitglied einer Jagdgenossenschaft, im vorliegenden Fall<br />
der Gemeinde Langsur.<br />
Am 14.2.2003 reichte der Bf., der die Jagd aus ethischen<br />
Gründen ablehnt, einen Antrag bei der Jagdbehörde<br />
ein, um die Zugehörigkeit zur Jagdgenossenschaft<br />
zu beenden. Die Behörde lehnte seinen Antrag<br />
ab. Der Bf. erhob Klage beim Verwaltungsgericht Trier.<br />
Unter Berufung insbesondere auf das Urteil des EGMR<br />
im Fall Chassagnou u.a./F (GK) forderte er das Gericht auf<br />
festzustellen, dass er kein Mitglied der Jagdgenossenschaft<br />
der Gemeinde Langsur sei.<br />
Am 14.1.2004 wies das Verwaltungsgericht Trier den<br />
Antrag des Bf. ab. Nach seiner Auffassung verletze das<br />
Bundesjagdgesetz die Rechte des Bf. nicht. Im Hinblick<br />
auf das Chassagnou-Urteil war das Verwaltungsgericht<br />
der Ansicht, dass sich die Situation in Deutschland von<br />
der in Frankreich unterscheide.<br />
Am 13.7.2004 und 14.4.2005 wiesen das Oberverwaltungsgericht<br />
Rheinland-Pfalz und das Bundesverwaltungsgericht<br />
die Beschwerde des Bf. aus den gleichen<br />
Gründen wie das Verwaltungsgericht zurück.<br />
Am 13.12.2006 lehnte es das Bundesverfassungsgericht<br />
ab, die Verfassungsbeschwerde des Bf. zur Entscheidung<br />
zuzulassen. Es stellte zu Beginn fest, dass die<br />
Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes das Recht des<br />
Bf. auf friedlichen Genuss seines Eigentums nicht verletzen,<br />
sondern die Ausübung dieses Rechts in angemessener<br />
Weise definieren und beschränken würden.<br />
Die maßgeblichen Bestimmungen, die ein legitimes Ziel<br />
verfolgten, seien notwendig und würden nicht zu einer<br />
übermäßigen Belastung der Grundstückeigentümer<br />
führen. Sie würden die im Allgemeininteresse gelegenen<br />
Ziele verfolgen, einen gesunden und vielfältigen Wildbestand<br />
zu sichern, Wildschäden zu vermeiden und die<br />
Beeinträchtigung einer ordnungsgemäßen land-, forstund<br />
fischereiwirtschaftlichen Nutzung zu unterbinden.<br />
Die Auswirkungen auf die Eigentumsrechte seien nicht<br />
besonders erheblich und würden das Allgemeininteresse<br />
nicht überwiegen. Das Verfassungsgericht stellte weiters<br />
fest, dass die Beschwerde des Bf. zwar in den Bereich<br />
der Gewissensfreiheit falle, aber keine Verletzung dieses<br />
Rechts vorliege, da der Bf. nicht gezwungen worden sei,<br />
die Jagd selbst auszuüben, an der Jagd teilzunehmen<br />
oder sie zu unterstützen.<br />
Bezüglich seines Rechts auf Gleichbehandlung wurde<br />
ebenfalls keine Verletzung festgestellt mit der Begründung,<br />
dass das Bundesjagdgesetz für alle Grundstückseigentümer<br />
in Deutschland bundesweit bindend sei und<br />
Grundstückseigentümer mit Ländereien größer als 75<br />
Hektar die gleichen Verpflichtungen im Jagdwesen wie<br />
jene hätten, die einer Jagdgenossenschaft angehören.<br />
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24<br />
Herrmann gg. Deutschland<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht<br />
auf Achtung des Eigentums) alleine und in Verbindung<br />
mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), von Art. 11<br />
EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) alleine<br />
und in Verbindung mit Art. 14 EMRK sowie von Art. 9<br />
EMRK (hier: Recht auf Gewissensfreiheit).<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Der Bf. behauptet, die Zulassung der Jagdausübung auf<br />
seinem Grund und die obligatorische Mitgliedschaft in<br />
einer Jagdgenossenschaft würden eine Verletzung seines<br />
Rechts auf friedlichen Genuss seines Eigentums<br />
darstellen.<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />
noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist demnach<br />
für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />
2. In der Sache<br />
Es ist unstrittig, dass die Verpflichtung des Bf., die<br />
Jagdausübung auf seinem Grundstück zu erlauben, in<br />
sein Recht auf Achtung des Eigentums eingreift. Der GH<br />
erkennt jedoch, dass die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes<br />
die Verwaltung und die Aufrechterhaltung<br />
eines vielfältigen und gesunden Wildbestands zum Ziel<br />
haben und sie außerdem auf die Vermeidung von Schäden<br />
– verursacht durch Wildtiere – gerichtet sind. Diese<br />
Ziele liegen im Interesse der Allgemeinheit.<br />
Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs<br />
nimmt der GH zur Kenntnis, dass das entsprechende<br />
Gesetz die Erhaltung einer gesunden Fauna im Einklang<br />
mit den ökologischen und ökonomischen Gegebenheiten<br />
bezweckt. Auch wenn es der Wahrheit zu entsprechen<br />
scheint, dass die Jagd in erster Linie von Privatpersonen<br />
in ihrer Freizeit ausgeübt wird, darf der Zweck des<br />
Bundesjagdgesetzes nicht dahingehend eingeschränkt<br />
werden, lediglich bestimmten Personen zu ermöglichen,<br />
eine Freizeitbeschäftigung auszuüben.<br />
Das Gericht nimmt das Argument der deutschen<br />
Regierung zur Kenntnis, dass es aufgrund der Situation<br />
in Deutschland als eines der dichtest besiedelten Gebiete<br />
in Mitteleuropa notwendig ist, eine ziemlich verbreitete<br />
Jagdausübung auf allen geeigneten Grundstücken<br />
zuzulassen. Das Bundesjagdgesetz ist in Deutschland<br />
bundesweit anwendbar, was sich von der Situation<br />
im Fall Chassagnou/F unterscheidet, wo nur 29 der 93<br />
Departements von der Regelung bezüglich der obligatorischen<br />
Mitgliedschaft in Jagdverbänden betroffen<br />
waren. Die deutsche Rechtsordnung hat im Übrigen<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
weder private noch öffentliche Eigentümer von der Verpflichtung<br />
befreit, die Jagdausübung auf ihren Grundstücken<br />
zu dulden.<br />
In dieser Hinsicht ist die Lage von jener im Fall<br />
Schneider/L zu unterscheiden, in dem das Eigentum der<br />
Krone aus der Mitgliedschaft an Jagdgenossenschaften<br />
ausgeschlossen wurde. Auch wenn Grundstücke von<br />
mindestens 75 Hektar nicht zusammengefasst werden,<br />
befreit dies die Eigentümer dieser Grundstücke nicht<br />
davon, die Jagd selbst auszuüben oder sie auf ihrem<br />
Gelände zu tolerieren.<br />
Die im Bundesjagdgesetz vorgesehenen Ausnahmen<br />
von der flächendeckenden Jagdausübung sind durch<br />
allgemeine und jagdspezifische Interessen ausreichend<br />
begründet und stellen das Prinzip der flächendeckenden<br />
Jagdausübung nicht in Frage.<br />
Der GH stellt weiters fest, dass laut Bundesjagdgesetz<br />
der Bf. Anspruch auf einen Anteil des Gewinns aus dem<br />
Pachtverhältnis 1 analog zur Größe seines Landbesitzes<br />
hat. Obwohl der Geldbetrag, den der Bf. in Anspruch<br />
nehmen könnte, nicht bedeutend erscheint, verhindern<br />
die einschlägigen Bestimmungen trotzdem, dass andere<br />
Personen einen finanziellen Gewinn aus der Verwendung<br />
seines Grundstückes ziehen können. Er hat ferner<br />
Anspruch auf Schadenersatz für Schäden, die durch die<br />
Jagdausübung auf seinem Grundstück verursacht werden<br />
könnten.<br />
Gestützt auf den weiten Ermessensspielraum, der den<br />
Vertragsstaaten in diesem Bereich gewährt wird, sind<br />
die Erwägungen ausreichend, um festzustellen, dass die<br />
Regierung einen fairen Ausgleich zwischen den konkurrierenden<br />
Interessen geschaffen hat.<br />
Aus diesen Gründen befindet der GH, dass keine Verletzung<br />
von Art. 1 1. Prot. EMRK vorliegt (4:3 Stimmen;<br />
gemeinsames Sondervotum von Richter Lorenzen und den<br />
Richterinnen Berro-Lefèvre und Kalaydjieva).<br />
II.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot.<br />
EMRK iVm. Art. 14 EMRK<br />
Der Bf. macht geltend, dass die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes<br />
ihn in zweierlei Hinsicht diskriminieren,<br />
nämlich erstens in Bezug auf sein Eigentum und<br />
zweitens bezüglich seiner ethischen Überzeugungen. Er<br />
beruft sich auf Art. 1 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK.<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />
noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist demnach<br />
für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />
1 Laut § 10 Abs. 1 Bundesjagdgesetz nutzt die Jagdgenossenschaft<br />
die Jagd in der Regel durch Verpachtung. Sie kann die<br />
Verpachtung auf den Kreis der Jagdgenossen beschränken.<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
2. In der Sache<br />
Es besteht zwar eine Ungleichbehandlung zwischen den<br />
Eigentümern kleiner Grundstücke und denen von größeren,<br />
indem die letzteren sich frei entscheiden können,<br />
in welcher Weise sie ihre Verpflichtung aus dem Jagdrecht<br />
erfüllen. Allerdings stimmt der GH der deutschen<br />
Regierung zu, dass diese unterschiedliche Behandlung<br />
speziell durch die Notwendigkeit gerechtfertigt war, kleinere<br />
Grundstücke zu vereinigen, um eine breite Jagdausübung<br />
zu ermöglichen und somit eine effiziente Verwaltung<br />
des Wildbestandes zu gewährleisten. Hinsichtlich<br />
der Tatsache, dass der Bf. anders behandelt wurde als<br />
Eigentümer von Grundstücken, die nicht einem Jagdgebiet<br />
angehören, ist der GH der Auffassung, dass deren<br />
Befreiung von der allgemeinen Regelung der Mitgliedschaft<br />
in Jagdgenossenschaften aufgrund der spezifischen<br />
Gegebenheiten der jeweiligen Grundstücke erfolgte,<br />
was die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt.<br />
Demnach ist keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1<br />
1. Prot. EMRK festzustellen (4:3 Stimmen; gemeinsames<br />
Sondervotum von Richter Lorenzen und den Richterinnen<br />
Berro-Lefèvre und Kalaydjieva).<br />
Herrmann gg. Deutschland<br />
ihrer Protokolle ergänzt. Er hat keine unabhängige Existenz,<br />
da er nur in Zusammenhang mit der Ausübung der<br />
Rechte und Freiheiten, die durch diese Bestimmungen<br />
geschützt sind, wirkt.<br />
Der GH hat bereits befunden, dass Art. 11 EMRK im<br />
vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Es wird festgestellt,<br />
dass Art. 14 EMRK nicht geltend gemacht werden<br />
kann und somit ist die Beschwerde wegen Unzulässigkeit<br />
ratione materiae zurückzuweisen (mehrheitlich).<br />
V. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK<br />
Die Beschwerde ist zwar zulässig (einstimmig), der GH<br />
hält es jedoch nicht für notwendig zu prüfen, ob die<br />
Beschwerde des Bf. unter den Anwendungsbereich von<br />
Art. 9 EMRK fällt.<br />
Es liegt daher keine Verletzung von Art. 9 EMRK vor<br />
(6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Kalaydyieva).<br />
•<br />
25<br />
III.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK<br />
Der Bf. rügt, die obligatorische Mitgliedschaft in einer<br />
Jagdgenossenschaft verletze sein Recht auf Versammlungs-<br />
und Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK.<br />
Der GH stellt fest, dass die Jagdgenossenschaften im<br />
Land Rheinland-Pfalz in Form von öffentlich-rechtlichen<br />
Vereinigungen gegründet wurden. Sie unterstehen<br />
der Kontrolle der Jagdbehörden und ihre internen Satzungen<br />
benötigen die Zustimmung dieser Behörden.<br />
Jagdgenossenschaften dürfen weiterhin Kostenaufträge<br />
über Verwaltungsakte erlassen, die vom Finanzministerium<br />
zu vollstrecken sind. Sie sind somit staatlicher Aufsicht<br />
unterworfen, welche die übliche Beaufsichtigung<br />
von privaten Vereinigungen deutlich überschreitet. Der<br />
GH hält sie daher für ausreichend integriert in die staatlichen<br />
Strukturen, um sie somit als öffentlich-rechtliche<br />
Institutionen zu qualifizieren. Daraus folgt, dass sie<br />
nicht als »Vereinigungen« iSv. Art. 11 EMRK zu klassifizieren<br />
sind. Art. 11 EMRK ist folglich nicht anwendbar.<br />
Demnach ist die Beschwerde für unzulässig zu erklären<br />
(mehrheitlich; Sondervotum von Richterin Kalaydyieva).<br />
IV.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 iVm.<br />
Art. 14 EMRK<br />
Der Bf. rügt weiters eine Diskriminierung bezüglich der<br />
obligatorischen Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft.<br />
Der GH wiederholt, dass Art. 14 EMRK die anderen<br />
materiellrechtlichen Bestimmungen der EMRK und<br />
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26<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Überstellung nach Dublin-VO verstößt gegen Art. 3 EMRK<br />
M. S. S. gg. Belgien und Griechenland, Urteil vom 21.1.2011, Große Kammer, Bsw. Nr. 30.696/09<br />
Leitsatz<br />
Asylwerber sind eine verletzliche Gesellschaftsgruppe<br />
mit besonderem Schutzbedürfnis.<br />
Besteht eine positivrechtliche Verpflichtung, Asylwerbern<br />
Unterkunft und anständige materielle Bedingungen<br />
zu gewähren, so ist Art. 3 EMRK verletzt, wenn ein<br />
Asylwerber in extremer Armut und Unsicherheit lebt und<br />
die Behörden – ohne Berücksichtigung seiner Verletzlichkeit<br />
– nicht von sich aus tätig werden, um seine Situation<br />
zu verbessern.<br />
EU-Staaten dürfen einen Asylwerber im Rahmen des<br />
Dublin-Verfahrens nicht an einen anderen EU-Staat<br />
überstellen, wenn sie wissen oder wissen müssten, dass<br />
dort keine Garantie für eine ernsthafte, konventionskonforme<br />
Untersuchung des Asylantrags besteht. Es liegt<br />
kein der EMRK gleichwertiger Grundrechtsschutz vor.<br />
Dasselbe gilt, wenn der Betroffene durch die Überstellung<br />
wissentlich Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt<br />
wird, die eine Art. 3 EMRK widersprechende<br />
Behandlung darstellen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 2, 3, 13, 46 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ T. I./GB v. 7.3.2000<br />
▸ Kudła/PL v. 26.10.2000 (GK)<br />
= NL 2000, 219 = EuGRZ 2004, 484 = ÖJZ 2001, 908<br />
▸ Chapman/GB v. 18.1.2001 (GK)<br />
= NL 2001, 23<br />
▸ Müslim/TR v. 26.4.2005<br />
▸ Bosphorus Airways/IRL v. 30.6.2005 (GK)<br />
= NL 2005, 172 = EuGRZ 2007, 662<br />
▸ Saadi/I v. 28.2.2008 (GK)<br />
= NL 2008, 36<br />
▸ K. R. S./GB v. 2.12.2008<br />
▸ S. D./GR v. 11.6.2009<br />
= NL 2009, 162<br />
▸ A. A./GR v. 22.7.2010<br />
Schlagworte<br />
Abschiebung; Asyl; Ausweisung; Behandlung, unmenschliche<br />
oder erniedrigende; Beschwerde, wirksame; Dublin-Verfahren;<br />
Grundrechtsschutz, gleichwertiger; Haftbedingungen;<br />
Lebensbedingungen; Refoulement<br />
Sarah Baier<br />
Sachverhalt<br />
2008 verließ der Bf. Kabul und reiste über Griechenland<br />
in die EU ein. Am 10.2.2009 stellte er in Belgien einen<br />
Asylantrag. Ein Eurodac-Treffer ergab, dass er bereits in<br />
Griechenland registriert worden war, woraufhin das Ausländeramt<br />
die griechischen Behörden auf Grundlage von<br />
Art. 10 Abs. 1 der Dublin-II-VO 1 ersuchte, den Asylantrag<br />
zu übernehmen. Nachdem innerhalb der Zweimonatsfrist<br />
keine Antwort erfolgt war, ging das Ausländeramt<br />
von der stillschweigenden Stattgebung des Gesuchs aus<br />
und erteilte dem Bf. am 19.5.2009 die Anordnung, Belgien<br />
zu verlassen, da Griechenland nach der Dublin-II-VO<br />
für die Prüfung seines Asylantrags zuständig sei.<br />
Am 27.5.2009 legte das Ausländeramt die Ausreise<br />
des Bf. für den 29.5. fest. Am selben Tag brachte dessen<br />
Anwalt per Fax beim Rat für Ausländerstreitsachen<br />
Berufung sowie einen Eilantrag auf Aussetzung der Ausreiseanordnung<br />
ein, da in Griechenland die Gefahr willkürlicher<br />
Haft unter widrigen Bedingungen bestehe,<br />
das dortige Asylverfahren Mängel aufweise und der Bf.<br />
fürchte, ohne Untersuchung seiner Fluchtgründe nach<br />
Afghanistan abgeschoben zu werden. Der Eilantrag<br />
wurde zurückgewiesen, da der Anwalt nicht an der eine<br />
Stunde später stattfindenden Verhandlung teilnahm.<br />
Am 29.5.2009 verweigerte der Bf. die Ausreise.<br />
Am 4.6.2009 übersandte Griechenland ein Standarddokument,<br />
in dem es seine Zuständigkeit nach der Dublin-II-VO<br />
bestätigte. Die Überstellung des Bf. wurde<br />
danach für den 15.6.2009 angeordnet. Ein neuerlicher<br />
Antrag des Bf. auf Aufhebung der Ausreiseanordnung<br />
wurde ebenso zurückgewiesen wie der frühere. Ein<br />
Rechtsmittel an den Conseil d’ Etat unterblieb.<br />
In der Zwischenzeit wandte sich der Bf. an den EGMR,<br />
um die Aussetzung seiner Überstellung nach Griechenland<br />
zu erwirken. Zusätzlich zu den Gefahren, die er in<br />
Griechenland befürchtete, gab er an, aus Afghanistan<br />
geflohen zu sein, nachdem er einem Mordversuch – eine<br />
Vergeltungsmaßnahme der Taliban wegen seiner Tätigkeit<br />
als Dolmetscher für die Truppen der internationalen<br />
Luftwaffe in Kabul – entgangen sei. Der EGMR lehnte<br />
es ab, Art. 39 der VerfO EGMR anzuwenden.<br />
1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003<br />
zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung<br />
des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen<br />
in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags<br />
zuständig ist, Abl. L 50, S. 1.<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
Am 15.6.2009 wurde der Bf. nach Griechenland überstellt.<br />
In einem SMS an seinen Anwalt teilte er mit, dass<br />
man ihn sofort nach seiner Ankunft in einem Gebäude<br />
neben dem Flughafen in Haft genommen habe, wo er<br />
zusammen mit 20 weiteren Personen in einem kleinen<br />
Raum untergebracht gewesen sei, Zugang zu den Toiletten<br />
nur mit Erlaubnis der Wachen, keinen Zugang zu frischer<br />
Luft und nur sehr wenig zu essen erhalten habe<br />
und entweder auf schmutzigen Matratzen oder auf dem<br />
Boden schlafen habe müssen.<br />
Am 18.6.2009 wurde er freigelassen und ihm eine Asylwerberkarte<br />
(pink card) ausgehändigt. Er erhielt zudem<br />
ein Schreiben mit der Aufforderung, sich beim Ausländerdirektorat<br />
zu melden, um seine Wohnadresse anzugeben,<br />
was er jedoch mangels Adresse nicht tat. Er lebte<br />
danach ohne Unterhaltsmittel in einem Park in Athen.<br />
Am 22.6.2009 forderte der EGMR die griechische<br />
Regierung auf, Informationen zur Situation des Bf. zu<br />
übermitteln. Mangels einer Reaktion und aufgrund<br />
der steigenden Unsicherheit in Afghanistan hielt er die<br />
Regierung gemäß Art. 39 VerfO EGMR an, den Bf. bis zur<br />
Entscheidung seines Falles nicht abzuschieben.<br />
Am 1.8.2009 wurde der Bf. festgenommen, als er versuchte,<br />
Griechenland mit gefälschten Papieren zu verlassen,<br />
und wurde im selben Gebäude wie nach seiner<br />
Ankunft inhaftiert. Per SMS informierte er seinen<br />
Anwalt, dass er von Polizeibeamten geschlagen worden<br />
sei. Am 4.8.2009 wurde seine Freilassung angeordnet.<br />
Bei der Verlängerung der pink card im Dezember 2009<br />
vermerkte die Polizei, dass der Bf. sie darüber informiert<br />
habe, über keine Unterkunft zu verfügen. Im Jänner<br />
2010 fand das Ministerium für Gesundheit und soziale<br />
Sicherheit eine Unterkunft für den Bf., mangels Kenntnis<br />
seiner Adresse sei es jedoch nicht möglich gewesen,<br />
ihn darüber zu informieren.<br />
Im Juni 2010 erhielt der Bf. eine Nachricht auf Griechisch,<br />
die er in Anwesenheit eines Dolmetschers unterzeichnete<br />
und mit der er zu einer Befragung im Polizeihauptquartier<br />
von Attica am 2.7.2010 aufgefordert<br />
wurde. Der Bf. nahm die Befragung nicht wahr, da er, wie<br />
er angibt, vom Dolmetscher nicht über den Befragungstermin<br />
informiert worden sei.<br />
Im September 2010 wollte der Bf. Griechenland verlassen,<br />
wurde jedoch gestoppt und an die türkische<br />
Grenze gebracht, wo laut seinen Angaben eine Abschiebung<br />
nur durch die Anwesenheit der türkischen Polizei<br />
verhindert wurde.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier:<br />
Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung)<br />
und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame<br />
Beschwerde bei einer nationalen Instanz) in Verbindung<br />
M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />
mit Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) bzw. Art. 3 EMRK in<br />
Bezug sowohl auf Griechenland als auch auf Belgien. In<br />
seiner Überstellung nach Griechenland durch Belgien<br />
sieht er außerdem eine Verletzung von Art. 2 EMRK.<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK durch<br />
Griechenland – Haftbedingungen<br />
Nach Ansicht des Bf. stellten die Haftbedingungen,<br />
denen er am Flughafen von Athen unterworfen war, eine<br />
unmenschliche und erniedrigende Behandlung iSv.<br />
Art. 3 EMRK dar.<br />
Dieser Beschwerdepunkt wirft komplexe Rechtsund<br />
Tatsachenfragen auf, die eine Untersuchung in der<br />
Sache erfordern. Er ist weder offensichtlich unbegründet<br />
noch aus einem anderen Grund unzulässig und<br />
muss folglich für zulässig erklärt werden (einstimmig).<br />
Jene Staaten, die die Außengrenzen der EU bilden,<br />
haben aufgrund der steigenden Anzahl von Migranten<br />
und Asylwerbern mit erheblichen Schwierigkeiten zu<br />
kämpfen. Durch die Überstellung von Asylwerbern unter<br />
Anwendung der Dublin-II-VO wird diese Situation noch<br />
verschärft. Der GH ist sich der Probleme, die sich bei der<br />
Aufnahme an internationalen Flughäfen ergeben, sowie<br />
der unverhältnismäßigen Zahl von Asylwerbern, verglichen<br />
mit den Aufnahmekapazitäten der betroffenen<br />
Staaten, durchaus bewusst. In Anbetracht des absoluten<br />
Charakters von Art. 3 EMRK entbinden diese Feststellungen<br />
einen Staat jedoch nicht von seinen aus der genannten<br />
Bestimmung erwachsenden Verpflichtungen.<br />
Es ist festzuhalten, dass der Bf. nicht das Profil eines<br />
illegalen Immigranten hatte, sondern die griechischen<br />
Behörden von seiner Identität und der Tatsache, dass<br />
er ein potentieller Asylwerber war, wussten, ihn jedoch<br />
trotzdem sofort und ohne Erklärung in Haft nahmen.<br />
Diversen Berichten internationaler Institutionen und<br />
NGOs zufolge ist die systematische Inhaftierung von<br />
Asylsuchenden, ohne diese über die Gründe aufzuklären,<br />
in Griechenland weitverbreitete Praxis.<br />
Die Behauptungen des Bf., er habe während seiner<br />
zweiten Haft Gewalt und Beleidigungen von Polizeibeamten<br />
erdulden müssen, decken sich mit zahlreichen,<br />
von internationalen Organisationen gesammelten Zeugenaussagen.<br />
Auch seine Behauptungen hinsichtlich<br />
der Lebensbedingungen im Anhaltezentrum werden<br />
durch entsprechende Feststellungen etwa des CPT und<br />
des UNHCR untermauert. Der GH hat bereits festgestellt,<br />
dass solche Bedingungen, die auch in anderen griechischen<br />
Anhaltezentren zu finden sind, eine erniedrigende<br />
Behandlung iSv. Art. 3 EMRK darstellen. Es gibt keinen<br />
Grund, von diesem Ergebnis deshalb abzuweichen,<br />
weil der Bf. nur kurze Zeit in Haft war. Im Gegenteil hält<br />
der GH die Haftbedingungen, denen der Bf. unterworfen<br />
war, in Anbetracht der verfügbaren Informationen für<br />
inakzeptabel.<br />
27<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
28<br />
M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />
Das Gefühl von Willkür, oft verbunden mit Gefühlen<br />
von Minderwertigkeit und Angst, sowie die schwerwiegenden<br />
Auswirkungen solcher Bedingungen auf die<br />
Würde einer Person begründen zusammen betrachtet<br />
eine erniedrigende Behandlung. Das Leid des Bf. wurde<br />
durch seine Verletzlichkeit als Asylwerber zudem noch<br />
verstärkt. Es ist daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
festzustellen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende<br />
Sondervoten der Richter Rozakis und Sajó).<br />
II.<br />
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
durch Griechenland – Lebensbedingungen<br />
Nach Ansicht des Bf. stellte die extreme Armut, in der er<br />
seit seiner Ankunft in Griechenland lebte, eine erniedrigende<br />
und unmenschliche Behandlung dar.<br />
Auch dieser Punkt wirft komplexe Tatsachen- und<br />
Rechtsfragen auf, die eine meritorische Entscheidung<br />
erfordern. Er ist weder offensichtlich unbegründet noch<br />
aus einem anderen Grund unzulässig und muss folglich<br />
für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).<br />
Art. 3 EMRK enthält keine generelle Pflicht, Flüchtlingen<br />
finanzielle Hilfe und einen bestimmten Lebensstandard<br />
zu bieten. Die Verpflichtung, verarmten Asylwerbern<br />
eine Unterkunft und anständige materielle<br />
Bedingungen zu verschaffen, ist in Griechenland aber<br />
mittlerweile positivrechtlich verankert und die Behörden<br />
haben ihre eigenen, Gemeinschaftsrecht 2 umsetzenden<br />
Normen einzuhalten.<br />
Der GH misst dem Asylwerberstatus des Bf., aufgrund<br />
dessen er Teil einer besonders unterprivilegierten<br />
und verletzlichen Gesellschaftsschicht mit speziellem<br />
Schutzbedürfnis ist, erhebliche Bedeutung bei.<br />
Die Situation des Bf. ist besonders gravierend. Seinen<br />
Behauptungen nach hat er Monate in extremster Armut<br />
gelebt, ohne für seine Grundbedürfnisse sorgen zu können.<br />
Hinzu kam die ständig präsente Angst, angegriffen<br />
zu werden, und die fehlende Wahrscheinlichkeit einer<br />
Verbesserung der Lage. Berichten des Europäischen<br />
Kommissars für <strong>Menschenrechte</strong> und UNHCR zufolge<br />
sind Situationen wie jene des Bf. weit verbreitet und das<br />
Los einer großen Zahl von Asylwerbern, weshalb kein<br />
Grund besteht, die Behauptungen des Bf. zu bezweifeln.<br />
Der GH ist der Ansicht, dass der Bf. zu keiner Zeit<br />
angemessen über die Möglichkeiten einer Unterbringung<br />
informiert worden war, sofern solche überhaupt<br />
bestanden. Er vermag nicht zu erkennen, wie die Behörden<br />
übersehen konnten, dass der Bf. in Griechenland<br />
obdachlos war. Wie die Regierung selbst zugibt, bestehen<br />
in Aufnahmezentren weniger als 1.000 Plätze für<br />
zehntausende Asylwerber. Diese Zahlen vermindern<br />
2 Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.1.2003 über Mindestnormen<br />
für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten,<br />
ABl. L 31.<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
das Gewicht des Arguments der Regierung, die Untätigkeit<br />
des Bf. sei der Grund für seine Situation gewesen,<br />
erheblich. Jedenfalls hätten die Behörden in Anbetracht<br />
der Unsicherheit und Verletzlichkeit von Asylwerbern in<br />
Griechenland nicht einfach darauf warten dürfen, dass<br />
der Bf. die Initiative ergreift. Mangels Benachrichtigung<br />
des Bf. ändert auch die Tatsache, dass mittlerweile eine<br />
Unterkunft für ihn gefunden wurde, nichts an der Situation.<br />
Auch die pink card, mit der er grundsätzlich Zugang<br />
zum Arbeitsmarkt erhielt, hat keinen praktischen Nutzen,<br />
da diese in Anbetracht der administrativen Hindernisse,<br />
die Berichten zufolge beim Zugang zum Arbeitsmarkt<br />
bestehen, keine realistische Alternative war.<br />
Schließlich ist anzumerken, dass die Situation des<br />
Bf. seit seiner Überstellung im Juni 2009 andauert. Sie<br />
ist mit seiner Stellung als Asylwerber und der Tatsache,<br />
dass sein Asylantrag bisher noch nicht von den griechischen<br />
Behörden geprüft wurde, verknüpft. Eine sofortige<br />
Prüfung des Asylantrags hätte das Leid des Bf. nach<br />
Ansicht des GH gelindert.<br />
Die griechischen Behörden haben die Verletzlichkeit<br />
des Bf. als Asylwerber nicht angemessen berücksichtigt<br />
und müssen aufgrund ihrer Untätigkeit für dessen mehrere<br />
Monate dauernde Situation verantwortlich gemacht<br />
werden. Der Bf. war Opfer erniedrigender Behandlung,<br />
die mangelnden Respekt für seine Würde zeigte. Die<br />
Lage bescherte ihm zweifellos Gefühle von Angst und<br />
Minderwertigkeit, die geeignet waren, ihn zur Verzweiflung<br />
zu bringen. Diese Lebensbedingungen, zusammen<br />
mit der andauernden Ungewissheit und der fehlenden<br />
Aussicht auf Besserung, haben das von Art. 3 EMRK<br />
geforderte Maß an Schwere erreicht. Es liegt folglich<br />
eine Verletzung von Art. 3 EMRK vor (16:1 Stimmen; Sondervotum<br />
von Richter Sajó, im Ergebnis übereinstimmendes<br />
Sondervotum von Richter Rozakis).<br />
III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 2<br />
und Art. 3 EMRK durch Griechenland<br />
In Bezug auf das Asylverfahren in Griechenland gibt der<br />
Bf. an, ihm sei hinsichtlich seiner Beschwerden unter<br />
Art. 2 und 3 EMRK kein effektives Rechtsmittel zur Verfügung<br />
gestanden.<br />
Der griechischen Regierung zufolge sei der Bf. nicht<br />
Opfer iSv. Art. 34 EMRK, da er allein für seine Situation<br />
verantwortlich sei. Zudem habe er den Instanzenzug<br />
nicht erschöpft, da er nicht zur Befragung erschienen sei<br />
und die Behörden somit keine Möglichkeit gehabt hätten,<br />
seine Behauptungen in der Sache zu untersuchen.<br />
Diese Vorbringen sind eng mit der Beschwerde unter<br />
Art. 13 EMRK verbunden und sollten daher zusammen<br />
mit deren meritorischer Untersuchung geprüft werden.<br />
Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich<br />
unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig.<br />
Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
Um die Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK zu klären,<br />
muss der GH zunächst feststellen, ob der Bf. vertretbar<br />
behaupten kann, seine Abschiebung nach Afghanistan<br />
würde Art. 2 oder Art. 3 EMRK verletzen.<br />
Die dem GH zur Verfügung stehenden Informationen<br />
liefern einen prima facie-Beweis dafür, dass die Situation<br />
in Afghanistan ein weitverbreitetes Sicherheitsproblem<br />
darstellte und dies immer noch tut und der Bf.<br />
als Dolmetscher der internationalen Luftwaffe zu einer<br />
Personenkategorie gehört, die in besonderem Maße<br />
Vergeltungsmaßnahmen seitens der Anti-Regierungskräfte<br />
ausgesetzt ist. Der Bf. verfügt folglich über eine<br />
vertretbare Beschwerde unter Art. 2 und Art. 3 EMRK.<br />
Dies bedeutet jedoch nicht, dass der GH über das Vorliegen<br />
einer Verletzung dieser Bestimmungen im Falle<br />
der Abschiebung absprechen muss. Er hat zu prüfen, ob<br />
effektive Garantien bestehen, die den Bf. vor einer willkürlichen<br />
direkten oder indirekten Abschiebung in sein<br />
Heimatland schützen.<br />
Die griechische Gesetzeslage, die auf gemeinschaftsrechtlichen<br />
Standards basiert, enthält eine Reihe solcher<br />
Garantien. Seit einigen Jahren haben UNHCR, der Europäische<br />
Menschenrechtskommissar und viele NGOs<br />
jedoch wiederholt gezeigt, dass diese Gesetzgebung in<br />
der Praxis nicht angewandt wird und das Asylverfahren<br />
derartige Mängel aufweist, dass die Chance einer ernsthaften<br />
Untersuchung von Asylanträgen sehr gering ist.<br />
Diese sind: unzureichende Informationen über das Asylverfahren,<br />
erschwerter Zugang zum Polizeihauptquartier<br />
von Attica, kein verlässliches Kommunikationssystem<br />
zwischen Betroffenen und Behörden, Mangel an<br />
Dolmetschern und Prozesskostenhilfe, exzessive Verzögerungen<br />
bis zum Erhalt einer Entscheidung. Der GH ist<br />
über die Feststellungen von UNHCR betroffen, denen<br />
zufolge beinahe alle erstinstanzlichen Entscheidungen<br />
negativ ausfallen und stereotyp abgefasst sind.<br />
Was das Nichterscheinen des Bf. beim Polizeihauptquartier<br />
am 2.7.2010 betrifft, so war dieser nicht der Einzige,<br />
der die diesbezügliche Aufforderung missverstanden<br />
hatte. Dem Bf. zufolge war ihm die Aufforderung auf<br />
Griechisch ausgehändigt worden und hatte der Übersetzer<br />
kein Datum für eine Befragung erwähnt. Auch wenn<br />
der GH diese Aussagen nicht verifizieren kann, misst<br />
er der Version des Bf., die den Informations- und Kommunikationsmangel<br />
widerspiegelt, mehr Gewicht zu<br />
und teilt die Ansicht der Regierung, der Bf. habe selbst<br />
die Prüfung seiner Vorbringen in der Sache verhindert,<br />
nicht. Die griechischen Behörden haben bis heute keine<br />
Schritte unternommen, mit dem Bf. zu kommunizieren,<br />
und keine Entscheidung gefällt, wodurch sie ihm keine<br />
echte und angemessene Möglichkeit gegeben haben,<br />
seinen Asylantrag zu verteidigen.<br />
Der GH weist weiters auf die, verglichen mit anderen<br />
EU-Staaten, extrem niedrige Rate an zuerkanntem Asyl<br />
und subsidiärem Schutz hin. Er ist zudem besorgt über<br />
M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />
die Gefahr einer Abschiebung, die den Bf. in der Praxis<br />
bereits vor einer Entscheidung in der Sache trifft.<br />
Zu klären bleibt, ob die Anrufung des Obersten Verwaltungsgerichts<br />
zur Überprüfung einer möglichen<br />
Zurückweisung des Asylantrags des Bf. Sicherheit gegen<br />
willkürliche Abschiebungen bieten kann.<br />
Die Zugänglichkeit eines Rechtsbehelfs ist ein entscheidender<br />
Aspekt für dessen Effektivität. Die Tatsache,<br />
dass die Behörden nichts unternommen haben, um mit<br />
dem Bf. zu kommunizieren, machen es, zusammen mit<br />
den dokumentierten Schwierigkeiten bei der Benachrichtigung<br />
von Personen mit unbekannter Adresse, sehr<br />
ungewiss, ob der Bf. früh genug von der Entscheidung<br />
über seinen Asylantrag Kenntnis erlangen würde, um<br />
fristgerecht die nötigen Schritte zu unternehmen. Auch<br />
die fehlende Information über Rechtsberatung anbietende<br />
Organisationen und der Mangel an unentgeltlichen<br />
Rechtsbeiständen können ein Hindernis für den<br />
Zugang zu einem Rechtsmittel sein und fallen, insbesondere<br />
wenn Asylwerber betroffen sind, in den Bereich<br />
von Art. 13 EMRK.<br />
Des Weiteren hält der GH auch die Dauer der Verfahren<br />
vor dem Obersten Verwaltungsgericht für relevant.<br />
Die vom Europäischen Menschenrechtskommissar zur<br />
Verfügung gestellten Informationen, wonach die Verfahrensdauer<br />
im Schnitt über fünf Jahre beträgt, belegen,<br />
dass eine Berufung an das Oberste Verwaltungsgericht<br />
die fehlenden Garantien bezüglich der meritorischen<br />
Untersuchung von Asylanträgen nicht ausgleicht.<br />
In Anbetracht des Gesagten können die Einreden der<br />
Regierung nicht akzeptiert werden und ist aufgrund der<br />
Unzulänglichkeiten bei der Untersuchung des Asylantrags<br />
des Bf. sowie der für ihn bestehenden Gefahr, ohne<br />
ernsthafte meritorische Überprüfung und ohne Zugang<br />
zu einem wirksamen Rechtsbehelf in sein Heimatland<br />
abgeschoben zu werden, eine Verletzung von Art. 13 iVm.<br />
Art. 3 EMRK festzustellen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende<br />
Sondervoten der Richter Villiger und Sajó).<br />
Eine Prüfung von Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK ist nicht<br />
notwendig (einstimmig).<br />
IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 3<br />
EMRK durch Belgien – griechisches Asylverfahren<br />
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK,<br />
da ihn die belgischen Behörden entsprechend der Dublin-II-VO,<br />
in Kenntnis der Unzulänglichkeiten im dortigen<br />
Asylverfahren, nach Griechenland überstellt hatten,<br />
ohne eine Risikobewertung vorzunehmen.<br />
Belgien wendet die Nichterschöpfung des innerstaatlichen<br />
Instanzenzugs ein. Der GH ist der Ansicht, dass<br />
dieser Punkt zusammen mit der meritorischen Untersuchung<br />
der Beschwerde unter Art. 13 iVm. Art. 2 und Art. 3<br />
EMRK geprüft werden sollte (einstimmig). Der vorliegende<br />
Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbe-<br />
29<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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30<br />
M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />
gründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig.<br />
Er ist für zulässig zu erklären (einstimmig).<br />
1. Zur Verantwortlichkeit Belgiens<br />
Die Konvention hindert Staaten nicht daran, Hoheitsrechte<br />
auf internationale Organisationen zu übertragen.<br />
Ihr Handeln unter Einhaltung der damit verbundenen<br />
völkerrechtlichen Verpflichtungen ist gerechtfertigt,<br />
solange von der Organisation anzunehmen ist, dass<br />
sie einen der EMRK zumindest gleichwertigen Grundrechtsschutz<br />
bietet. Für alle Akte, die nicht in seine<br />
strengen internationalen Verpflichtungen fallen, wo<br />
etwa Ermessen besteht, ist ein Staat jedoch voll konventionsrechtlich<br />
verantwortlich.<br />
Nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO kann jeder EU-Mitgliedstaat<br />
durch Derogation der generellen Regelung des<br />
Art. 3 Abs. 1 einen Asylantrag untersuchen, auch wenn<br />
er nach den Kriterien der Dublin-II-VO nicht für dessen<br />
Prüfung zuständig ist (»Souveränitätsklausel«). Die belgischen<br />
Behörden hätten demnach von der Überstellung<br />
des Bf. nach Griechenland absehen können, wenn<br />
sie annahmen, dass das Aufnahmeland seine Verpflichtungen<br />
aus der Konvention nicht erfülle. Da die von Belgien<br />
ergriffene Maßnahme demnach nicht streng in<br />
seine völkerrechtlichen Verpflichtungen fiel, findet die<br />
Vermutung eines gleichwertigen Grundrechtsschutzes<br />
vorliegend keine Anwendung.<br />
2. In der Sache<br />
Wie der GH bereits dargelegt hat, kann der Bf. vertretbar<br />
behaupten, seine Abschiebung nach Afghanistan würde<br />
eine Verletzung von Art. 2 oder Art. 3 EMRK begründen.<br />
Es ist daher zu prüfen, ob Belgien die Vermutung, Griechenland<br />
würde seinen internationalen Verpflichtungen<br />
in Asylsachen nachkommen, als widerlegt betrachten<br />
hätte müssen – trotz der Feststellungen des GH im<br />
Fall K. R. S./GB 3 aus dem Jahr 2008, denen die Regierung,<br />
wie sie behauptet, folgen wollte.<br />
Zu den dem GH bei seiner Entscheidung im Fall<br />
K. R. S./GB im Jahr 2008 zur Verfügung stehenden Informationen<br />
kamen seither zahlreiche Berichte und Materialien<br />
hinzu, die alle hinsichtlich der Probleme bei der<br />
Anwendung des Dublin-Systems in Griechenland und<br />
der Mängel des Asylverfahrens übereinstimmten. Derartige<br />
Dokumente wurden seit 2006 regelmäßig und 2008<br />
und 2009 vermehrt veröffentlicht, die meisten davon vor<br />
Erlass des Ausweisungsbescheides gegen den Bf. Bedeutend<br />
ist zudem, dass UNHCR im April 2009 einen Brief<br />
3 In diesem Fall, der ebenfalls eine Überstellung gemäß der<br />
Dublin-II-VO nach Griechenland betraf, ging der EGMR davon<br />
aus, Griechenland würde seinen Verpflichtungen aus auf<br />
Gemeinschaftsrecht basierendem nationalen Recht und aus<br />
Art. 3 EMRK entsprechen.<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
an den für Migrationsangelegenheiten zuständigen belgischen<br />
Minister gesandt hat, in dem um die Aussetzung<br />
von Überstellungen nach Griechenland ersucht<br />
wurde. Hinzu kommt, dass das europäische Asylsystem<br />
seit Dezember 2008 selbst in eine Reformphase eingetreten<br />
ist, in der unter anderem vorgeschlagen wurde,<br />
eine vorübergehende Aussetzung von Überstellungen<br />
entsprechend der Dublin-II-VO einzuführen, um zu verhindern,<br />
dass Asylwerber in Mitgliedstaaten zurückgeschickt<br />
werden, die ihnen keinen ausreichenden Schutz<br />
bieten können.<br />
Der GH ist der Ansicht, dass die belgischen Behörden<br />
über die generelle Situation in Griechenland informiert<br />
waren und den Bf. nicht die gesamte Beweislast<br />
hätte treffen dürfen. Er sieht es als erwiesen an, dass<br />
das Ausländeramt die Dublin-II-VO systematisch angewandt<br />
hat, um Personen nach Griechenland zu überstellen,<br />
ohne auch nur die Möglichkeit einer Ausnahme in<br />
Erwägung zu ziehen.<br />
Das Bestehen nationaler Gesetze und der Beitritt<br />
zu internationalen Abkommen reichen grundsätzlich<br />
nicht aus, um einen angemessenen Schutz gegen Misshandlung<br />
zu garantieren, wenn, wie vorliegend, verlässliche<br />
Quellen auf Praktiken hinweisen, die offensichtlich<br />
gegen die Prinzipien der Konvention verstoßen.<br />
Auch die diplomatischen Zusicherungen Griechenlands<br />
haben keine ausreichenden Garantien geboten.<br />
Die Überstellung wurde lediglich aufgrund einer stillschweigenden<br />
Zustimmung der griechischen Behörden,<br />
die Zuständigkeit nach der Dublin-II-VO wahrzunehmen,<br />
angeordnet. Die erst danach übersandte Zustimmung<br />
Griechenlands war stereotyp verfasst und enthielt<br />
keine Garantien in Bezug auf die Person des Bf.<br />
Der GH kommt zu dem Schluss, dass die belgischen<br />
Behörden zum Zeitpunkt der Ausweisung des Bf. wussten<br />
oder wissen hätten müssen, dass dieser keine Garantie<br />
für eine ernsthafte Untersuchung seines Asylantrags<br />
durch die griechischen Behörden hatte. Belgien hätte<br />
auch die Mittel gehabt, die Überstellung zu verweigern.<br />
Es war Sache der belgischen Behörden, nicht einfach<br />
anzunehmen, dass der Bf. im Einklang mit konventionsrechtlichen<br />
Standards behandelt werden würde,<br />
sondern zunächst klarzustellen, wie die griechischen<br />
Behörden ihre Asylgesetze in der Praxis anwandten. Hätten<br />
sie dies getan, hätten sie gesehen, dass die Gefahren<br />
real und individuell genug waren, um unter Art. 3 EMRK<br />
zu fallen. Die Tatsache, dass sich eine Vielzahl von Asylwerbern<br />
in derselben Lage wie der Bf. befinden, macht<br />
diese Gefahr nicht weniger individuell.<br />
Der GH stellt somit fest, dass die Überstellung des<br />
Bf. von Belgien nach Griechenland eine Verletzung von<br />
Art. 3 EMRK auslöste (16:1 Stimmen; Sondervotum von<br />
Richter Bratza).<br />
Es ist nicht erforderlich, diesen Beschwerdepunkt<br />
unter Art. 2 EMRK zu prüfen (einstimmig).<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
V. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
durch Belgien – Haft- und Lebensbedingungen in<br />
Griechenland<br />
Der Bf. rügt, die belgischen Behörden hätten ihn durch<br />
seine Rückverbringung nach Griechenland wegen der<br />
dort für Asylwerber herrschenden Haft- und Existenzbedingungen<br />
einer Art. 3 EMRK entgegenstehenden<br />
Behandlung ausgesetzt.<br />
Dieser Punkt wirft komplexe Tatsachen- und Rechtsfragen<br />
auf, die eine Behandlung in der Sache erfordern.<br />
Er ist daher weder offensichtlich unbegründet noch aus<br />
einem anderen Grund unzulässig und muss für zulässig<br />
erklärt werden (einstimmig).<br />
Der GH hat die Haft- und Lebensbedingungen, denen<br />
der Bf. in Griechenland ausgesetzt war, bereits als erniedrigend<br />
qualifiziert. Diese Tatsachen waren schon vor der<br />
Überstellung des Bf. wohlbekannt und frei zugänglich<br />
über eine große Anzahl an Quellen feststellbar. Durch<br />
die Überstellung nach Griechenland haben die belgischen<br />
Behörden den Bf. wissentlich Bedingungen ausgesetzt,<br />
die eine erniedrigende Behandlung darstellen.<br />
Es ist eine Verletzung von Art. 3 EMRK festzustellen (15:2<br />
Stimmen; Sondervoten der Richter Sajó und Bratza).<br />
VI. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 2<br />
und Art. 3 EMRK durch Belgien<br />
Der Bf. rügt, dass nach belgischem Recht kein Rechtsmittel<br />
bestand, mit dem er sich über die behaupteten<br />
Verletzungen von Art. 2 und Art. 3 EMRK hätte beschweren<br />
können.<br />
Da der GH in der Überstellung des Bf. nach Griechenland<br />
bereits eine Verletzung von Art. 3 EMRK erkannt<br />
hat, ist seine Beschwerde für die Zwecke des Art. 13<br />
EMRK vertretbar.<br />
Nach belgischem Recht hat eine Berufung an den Rat<br />
für Ausländerstreitsachen keine aufschiebende Wirkung<br />
für die Ausweisungsanordnung. Der Regierung<br />
zufolge gilt dies jedoch für Eilanträge, die vor derselben<br />
Behörde gestellt werden.<br />
Bei einer Beschwerde, die Misshandlungen entgegen<br />
Art. 3 EMRK im Falle einer Ausweisung betrifft, erfordert<br />
Art. 13 EMRK, dass eine kompetente Behörde diese substantiell<br />
prüfen und eine angemessene Entschädigung<br />
zusprechen kann. Das Erfordernis, die Vollstreckung<br />
der strittigen Maßnahme vorübergehend auszusetzen,<br />
kann nicht als subsidiäre Maßnahme erwogen werden,<br />
ohne dass dabei Rücksicht auf den Umfang der Überprüfung<br />
genommen wird. Andernfalls wäre es möglich,<br />
jemanden abzuschieben, ohne seine Vorbringen unter<br />
Art. 3 EMRK genau geprüft zu haben.<br />
Das erwähnte Eilverfahren führt aber genau zu diesem<br />
Ergebnis. Wie die Regierung selbst zugibt, reduziert<br />
es die Rechte der Verteidigung und die Untersuchung<br />
des Falls auf ein Minimum. Bisherige Urteile<br />
waren darauf beschränkt, zu klären, ob der Betroffene<br />
konkrete Beweise für aus der behaupteterweise drohenden<br />
Konventionsverletzung resultierende, irreparable<br />
Schäden erbringen konnte. Dies hat die Beweislast<br />
derart erhöht, dass sie eine Untersuchung in der Sache<br />
verhinderte. Auch Material, das nach der Befragung der<br />
Betroffenen von diesen vorgelegt wurde, wurde nicht<br />
immer berücksichtigt.<br />
Das Eilverfahren zur Aussetzung der Ausweisungsanordnung<br />
erfüllt folglich nicht die Erfordernisse des<br />
Art. 13 EMRK.<br />
Dem Bf. kann auch kein Mangel an Sorgfalt angelastet<br />
werden, weil sein Anwalt nicht in der Verhandlung vor<br />
dem Rat für Ausländerstreitsachen erschienen ist. Es ist<br />
nicht zu sehen, wie dieser der Verhandlung rechtzeitig<br />
hätte beiwohnen können.<br />
Die Parteien scheinen sich zudem darüber einig zu<br />
sein, dass die Berufung des Bf. in Anbetracht der ständigen<br />
Rechtsprechung und der Unmöglichkeit, die Unwiederbringlichkeit<br />
des Schadens aufzuzeigen, keine Aussicht<br />
auf Erfolg gehabt hätte. Auch wenn die Effektivität<br />
eines Rechtsmittels nicht von der Gewissheit eines positiven<br />
Verfahrensausgangs abhängt, so wirft das Fehlen<br />
jeglicher Aussicht auf eine angemessene Wiedergutmachung<br />
doch eine Frage unter Art. 13 EMRK auf.<br />
In Anbetracht des Gesagten stellt der GH eine Verletzung<br />
von Art. 13 iVm. Art 3 EMRK fest (einstimmig;<br />
im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter<br />
Sajó). Folglich kann dem Bf. auch nicht vorgeworfen<br />
werden, den Instanzenzug nicht ausgeschöpft zu<br />
haben, weshalb die diesbezügliche Einrede der Regierung<br />
zurückzuweisen ist (einstimmig).<br />
Es ist nicht erforderlich, die Beschwerde auch noch<br />
unter Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK zu prüfen (einstimmig).<br />
VII.<br />
M. S. S. gg. Belgien und Griechenland<br />
Zur Anwendung von Art. 46 und Art. 41 EMRK<br />
Der GH hält es für nötig, individuelle Maßnahmen zur<br />
Durchführung des vorliegenden Urteils aufzuzeigen,<br />
ohne dabei über die zur Verhinderung künftiger Konventionsverletzungen<br />
erforderlichen, generellen Maßnahmen<br />
abzusprechen. In Anbetracht der besonderen<br />
Umstände des Falls und der dringenden Notwendigkeit,<br />
die Verletzung von Art. 13 und Art. 3 EMRK zu beenden,<br />
obliegt es Griechenland, ohne Verzögerung eine meritorische<br />
Untersuchung des Asylantrags des Bf. durchzuführen,<br />
die den konventionsrechtlichen Anforderungen<br />
entspricht, und bis zum Abschluss dieser Prüfung von<br />
der Abschiebung des Bf. abzusehen.<br />
€ 1.000,– für immateriellen Schaden und € 4.725,– für<br />
Kosten und Auslagen durch Griechenland (einstimmig).<br />
€ 24.900,– für immateriellen Schaden und € 7.350,–<br />
für Kosten und Auslagen durch Belgien (15:2 Stimmen;<br />
Sondervoten der Richter Sajó und Bratza).<br />
31<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
32<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Zulässigkeit bei vorhergehender Beschwerde bei der<br />
Europäischen Kommission<br />
Karoussiotis gg. Portugal, Urteil vom 1.2.2011, Kammer II, Bsw. Nr. 23.205/08<br />
Leitsatz<br />
Eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission<br />
bezüglich einer Vertragsverletzung des Staates bedeutet<br />
nicht, dass die Individualbeschwerde iSv. Art. 35<br />
Abs. 2 lit. b EMRK bereits »einer anderen internationalen<br />
Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz« unterbreitet<br />
worden ist.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 8 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Hokkanen/FIN v. 23.9.1994<br />
= NL 1994, 333 = ÖJZ 1995, 271<br />
▸ McMichael/GB v. 24.2.1995<br />
= ÖJZ 1995, 704<br />
▸ Ignaccolo-Zenide/RO v. 25.1.2000<br />
▸ Folgero u.a./N v. 14.7.2006 (ZE)<br />
▸ Celniku/GR v. 5.7.2007 (ZE)<br />
▸ Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK)<br />
= NL 2010, 211<br />
Schlagworte<br />
Familienleben; Kindesentführung; Kindeswohl;<br />
Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz, internationale;<br />
Zulässigkeit<br />
Sachverhalt<br />
Petra Pann<br />
Die Bf. lebt in Krefeld (Deutschland) und brachte am<br />
25.8.2001 ein Kind von ihrem damaligen Partner, einem<br />
portugiesischen Staatsbürger, zur Welt. Der Vater des<br />
Kindes wurde 2004 aus Deutschland ausgewiesen, da er<br />
wegen Drogenhandels strafrechtlich verurteilt worden<br />
war. Die Bf. trennte sich in der Folge von ihm.<br />
Im Jänner 2005 reiste der Sohn der Bf. nach Portugal,<br />
um seinen Vater zu besuchen. Die Bf. begab sich kurze<br />
Zeit später ebenfalls nach Portugal, um ihren Sohn wieder<br />
abzuholen, kam jedoch am 22.2.2005 allein nach<br />
Deutschland zurück.<br />
Im März 2005 wandte sich die Bf. an die deutschen<br />
Behörden und bat um Unterstützung, um die Rückkehr<br />
ihres Sohnes gemäß der Haager Konvention über die<br />
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung<br />
1980 (im Folgenden: HKÜ) zu erreichen. Am 27.10.2005<br />
stellten die deutschen Behörden eine Anfrage an die portugiesischen<br />
Behörden, um die Rückverbringung aufgrund<br />
der Widerrechtlichkeit der Verbringung gemäß<br />
Art. 3 HKÜ zu veranlassen.<br />
Am 24.1.2006 entschied das Familiengericht Braga,<br />
dass die Verbringung des Kindes rechtmäßig gewesen<br />
sei, da diese von den Eltern gemeinsam vereinbart worden<br />
wäre. Nachdem diese Entscheidung wegen mangelnden<br />
rechtlichen Gehörs der Mutter aufgehoben und<br />
an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen worden<br />
war, wiederholte das Familiengericht Braga 2008 diese<br />
Entscheidung.<br />
Das Gericht zweiter Instanz entschied am 9.1.2009,<br />
dass die Verbringung des Kindes nach Portugal zwar<br />
illegal gewesen sei, das Kind jedoch gemäß der VO (EG)<br />
Nr. 2201/2003 1 nicht nach Deutschland verbracht werden<br />
könne, da inzwischen die Urgroßmutter Bezugsperson<br />
des Kindes geworden sei und eine Trennung von ihr<br />
das psychische Gleichgewicht des Kindes beeinträchtigen<br />
könne. Eine Rückverbringung entspreche daher<br />
nicht dem Kindeswohl.<br />
Bereits im März 2005 wurde ein Verfahren zur Klärung<br />
des Sorgerechts für das Kind eingeleitet. Das Verfahren<br />
wurde bis zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit<br />
der Verbringung des Kindes ausgesetzt. Das provisorische<br />
Sorgerecht wurde zunächst dem Vater, dann<br />
der Urgroßmutter des Kindes übertragen. 2009 beantragte<br />
die Bf. das Sorgerecht, wobei sie angab, der Vater<br />
habe dem zugestimmt. Auch die Urgroßmutter des Kindes<br />
hatte das Sorgerecht beantragt. Die Sache ist derzeit<br />
noch anhängig.<br />
Am 2.4.2008 brachte die Bf. eine Beschwerde bei der<br />
Europäischen Kommission ein und behauptete eine<br />
Verletzung der VO (EG) Nr. 2201/2003 durch Portugal.<br />
1 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 23. November<br />
2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung<br />
von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren<br />
betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung<br />
der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000.<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
Sie rügte die überlange Verfahrensdauer vor dem Familiengericht<br />
Braga. Informationen der Bf. vom 2.7.2010<br />
zufolge ist das Verfahren vor der Europäischen Kommission<br />
noch im Gange.<br />
Rechtsausführungen<br />
Die Bf. rügt eine Verletzung ihres Rechts unter Art. 8<br />
EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), da die<br />
Rückverbringung ihres Sohnes nach Deutschland abgelehnt<br />
und das vorläufige Sorgerecht der Urgroßmutter<br />
des Kindes übertragen wurde. Sie stützt sich außerdem<br />
darauf, dass die portugiesischen Gerichte den Umstand<br />
außer Acht ließen, dass der Vater der Übertragung des<br />
Sorgerechts auf die Mutter zugestimmt habe.<br />
Weiters behauptet sie eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />
EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) wegen der exzessiven<br />
Verfahrensdauer bezüglich der Rückverbringung<br />
ihres Sohnes.<br />
Auf Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde<br />
bei einer nationalen Instanz) beruft sie sich, da ihr kein<br />
effektives Rechtsmittel zur Verfügung gestanden habe,<br />
um die überlange Verfahrensdauer geltend machen zu<br />
können.<br />
Der GH beschließt angesichts seiner rechtlichen Beurteilung<br />
des Falles, die Sache im Lichte von Art. 8 EMRK<br />
zu prüfen.<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Die Regierung äußert sowohl Einwände in Bezug auf<br />
die Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs als auch<br />
bezüglich der Ausnahme unter Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK.<br />
a. Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />
Die Regierung bringt vor, die Eingabe die Beschwerde<br />
sei verfrüht, da beide gegenständlichen Verfahren noch<br />
anhängig seien.<br />
Die Beschwerde muss zuerst, zumindest in ihrer Substanz,<br />
gemäß den nationalen Regelungen vor den zuständigen<br />
nationalen Behörden vorgebracht werden. Der<br />
GH akzeptiert, dass dies erst kurz nach Einbringung<br />
der Beschwerde erfolgte, jedoch noch bevor er über die<br />
Zulässigkeit der Beschwerde befunden hat. Die Einwendung<br />
bezüglich der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />
hängt hinsichtlich der behaupteten Verletzung<br />
des Rechts auf Achtung des Familienlebens, bedingt<br />
durch die Verfahrensdauer, eng mit der Prüfung des Falles<br />
in der Sache zusammen und wird daher mit dieser<br />
verbunden (einstimmig).<br />
Karoussiotis gg. Portugal<br />
b. Zulässigkeit nach Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK<br />
Die Regierung rügt, die Bf. habe dieselbe Beschwerde<br />
bereits vor der Europäischen Kommission vorgebracht.<br />
Der GH merkt an, dass die Beschwerde der Bf. vom<br />
2.4.2008 an die Europäische Kommission den gleichen<br />
Sachverhalt betrifft.<br />
Die Konvention schließt es aus, dass der GH eine<br />
Beschwerde behandelt, die bereits durch eine internationale<br />
Instanz überprüft wurde. Der GH hat daher zu klären,<br />
ob die Natur des Kontrollorgans, das Verfahren vor<br />
diesem und die Auswirkung seiner Entscheidungen derart<br />
ausgestaltet sind, dass Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK die<br />
Zuständigkeit des GH ausschließt.<br />
Im vorliegenden Fall hat der GH zu prüfen, ob die<br />
Beschwerde essentiell dieselbe ist wie jene, die bei der<br />
Europäischen Kommission anhängig ist. Dies ist der<br />
Fall, wenn die Parteien und der Beschwerdegrund identisch<br />
sind. Die Identität beider Punkte ist vorliegend<br />
unstrittig.<br />
Zu klären ist nun, ob das Verfahren vor diesem Organ<br />
in verfahrensrechtlicher Hinsicht sowie mit Blick auf<br />
die potentiellen Auswirkungen der Entscheidung mit<br />
der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK gleichgesetzt<br />
werden kann.<br />
Bei der Europäischen Kommission kann sich ein Individuum<br />
über eine gesetzliche Regelung, Vorschrift oder<br />
Verwaltungsmaßnahme bzw. über eine Praxis eines EU-<br />
Mitgliedstaates beschweren, von der es glaubt, sie verletze<br />
eine Regelung oder einen Grundsatz des Unionsrechts.<br />
Die Kommission hat einen Ermessensspielraum<br />
hinsichtlich der Entscheidung, ein Vertragsverletzungsverfahren<br />
vor dem EuGH gemäß Art. 258 AEUV zu initiieren.<br />
Zweck dieses Vorverfahrens ist, die freiwillige<br />
Anpassung an die Vorgaben des Unionsrechts durch<br />
die Mitgliedstaaten zu erreichen. Bezüglich der Auswirkungen<br />
einer Entscheidung regelt Art. 260 AEUV, dass –<br />
wenn der EuGH eine Vertragsverletzung feststellt und<br />
der Staat dem Urteil nicht nachkommt – die Zahlung<br />
eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängt werden<br />
kann. Eine diesbezügliche Entscheidung des EuGH<br />
hat jedoch keine Auswirkungen auf die Rechte des Bf.,<br />
da sie keine individuelle Situation regelt. Aus diesem<br />
Grund hat der Bf. auch kein rechtliches Interesse oder<br />
direkte Betroffenheit nachzuweisen. Der EuGH spricht<br />
auch keine individuelle Entschädigung zu.<br />
Aufgrunddessen kann dieses Verfahren weder hinsichtlich<br />
der verfahrensrechtlichen Regelung noch<br />
hinsichtlich der potentiellen Auswirkungen mit der<br />
Individualbeschwerde iSv. Art. 34 EMRK gleichgesetzt<br />
werden.<br />
Die Europäische Kommission stellt daher vorliegend<br />
keine »internationale Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz«<br />
iSv. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK dar. Die Einrede<br />
der Regierung wird zurückgewiesen.<br />
33<br />
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34<br />
Karoussiotis gg. Portugal<br />
c. Ergebnis<br />
Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet<br />
iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und auch nicht aus sonstigen<br />
Gründen unzulässig. Sie ist daher zulässig (einstimmig).<br />
2. In der Sache<br />
Die Bf. behauptet, in ihrem Recht gemäß Art. 8 EMRK<br />
verletzt zu sein, da die portugiesischen Behörden es verabsäumt<br />
hätten, schnelle und effektive Maßnahmen zu<br />
setzen, um ihren Sohn nach Deutschland zurückzuholen<br />
und ihr das Sorgerecht zuzusprechen.<br />
Der GH hat bezüglich der positiven Verpflichtung der<br />
Staaten unter Art. 8 EMRK schon oft festgestellt, dass ein<br />
Elternteil ein Recht auf angemessene Maßnahmen zur<br />
Wiederzusammenführung mit seinem Kind hat und die<br />
nationalen Behörden eine Verpflichtung haben, diese zu<br />
ergreifen. Dieses Recht des Elternteils ist jedoch nicht<br />
absolut. Nach einer bestimmten Zeit, die das Kind mit<br />
dem anderen Elternteil verbracht hat, kann eine Wiederzusammenführung<br />
nicht sofort stattfinden und erfordert<br />
Vorbereitungen. Die Umstände des Einzelfalls sowie<br />
die Interessen, Rechte und Freiheiten der verschiedenen<br />
Beteiligten, insbesondere das Kindeswohl und die<br />
Rechte des Kindes unter Art. 8 EMRK, sind zu beachten.<br />
Die Behörden haben einen fairen Ausgleich zu schaffen.<br />
Die positiven Verpflichtungen des Staates bezüglich der<br />
Wiedervereinigung eines Elternteils mit dem Kind sind<br />
weiters im Lichte des HKÜ zu interpretieren.<br />
Bei der Beurteilung, ob das Familienleben der Betroffenen<br />
effektiv respektiert wurde, kann der GH auch die<br />
Art und Dauer des Entscheidungsprozesses miteinbeziehen.<br />
Verfahren in Bezug auf die Übertragung des<br />
Sorgerechts, einschließlich der Exekution der darin<br />
ergangenen Entscheidungen, verlangen eine schnelle<br />
Abwicklung, da das Verstreichen von Zeit für das Verhältnis<br />
zwischen einem Kind und dem von ihm getrennt<br />
lebenden Elternteil unwiederbringliche Nachteile mit<br />
sich bringen kann. Art. 11 HKÜ und Art. 11 Abs. 3 VO<br />
(EG) Nr. 2201/2003 regeln, dass die Verfahren zur Rückverbringung<br />
der Kinder mit gebotener Eile durchzuführen<br />
sind. Zentrale Frage ist vorliegend daher, ob die<br />
portugiesischen Behörden alle Maßnahmen ergriffen<br />
haben, die ihnen im Rahmen des Verfahrens betreffend<br />
die Rückverbringung sowie des Verfahrens bezüglich<br />
des Sorgerechts vernünftigerweise zur Verfügung standen.<br />
Es dauerte fast drei Monate, bis das Familiengericht<br />
Braga auf die Anfrage bezüglich der Rückverbringung<br />
des Kindes reagierte. Insgesamt dauerte das Verfahren<br />
etwa drei Jahre und zehn Monate in zwei Instanzen. Die<br />
Verfahrensdauer führte zu einer für die Bf. nachteiligen<br />
Situation, vor allem da das Kind zum Zeitpunkt seiner<br />
Verbringung nach Portugal unter vier Jahre alt war.<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Das Verfahren bezüglich des Sorgerechts ist zur Zeit<br />
noch anhängig und dauerte bisher fünf Jahre und acht<br />
Monate.<br />
Aufgrund dieser Feststellungen findet der GH, dass<br />
die nationalen Behörden keine effektiven Mittel ergriffen<br />
haben, um die beiden Verfahren rasch abzuwickeln.<br />
Die Verzögerungen bewirkten eine Trennung von Mutter<br />
und Kind von mehr als fünf Jahren, die zu einer Entfremdung<br />
der beiden führte, die dem Kindeswohl entgegensteht.<br />
Der GH weist daher die Einrede der Regierung bezüglich<br />
der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs<br />
zurück und stellt eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest<br />
(einstimmig).<br />
II.<br />
Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />
Da die Bf. ihre Entschädigungsforderungen nicht rechtzeitig<br />
gestellt hat, wird ihr keine Entschädigung nach<br />
Art. 41 EMRK zugesprochen (einstimmig).<br />
•<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
35<br />
Diskriminierung unverheirateter Väter beim Sorgerecht<br />
Sporer gg. Österreich, Urteil vom 3.2.2011, Kammer I, Bsw. Nr. 35.637/03<br />
Leitsatz<br />
Angesichts der unterschiedlichen Lebenssituation, in<br />
der sich unehelich geborene Kinder befinden, ist es für<br />
den Fall einer fehlenden Vereinbarung über die gemeinsame<br />
Ausübung des Sorgerechts gerechtfertigt, die elterliche<br />
Obsorge vorerst der Mutter zu übertragen, um zu<br />
gewährleisten, dass das Kind von Geburt an eine Person<br />
hat, die als dessen gesetzlicher Vertreter fungieren kann.<br />
Die Tatsache, dass das österreichische Recht keine<br />
gerichtliche Prüfung der Frage vorsieht, ob ein gemeinsames<br />
Sorgerecht im Interesse des unehelich geborenen<br />
Kindes liegt, und, wenn nein, ob dem Kindeswohl besser<br />
mit der Zuweisung des alleinigen Sorgerechts an die<br />
Mutter oder den Vater gedient wäre, stellt eine diskriminierende<br />
Behandlung außerehelicher Väter dar.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 6 Abs. 1, 8, 14 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Zaunegger/D v. 3.12.2009<br />
= NL 2009, 348 = EuGRZ 2010, 42 = ÖJZ 2010, 138<br />
Schlagworte<br />
Diskriminierung; Familienleben; Kinder, uneheliche;<br />
Kindeswohl; Privatleben; Sorgerecht; Verhandlung,<br />
mündliche<br />
Sachverhalt<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Der Bf. lebt in Schalchen, Oberösterreich. Ende Mai 2000<br />
wurde er Vater des unehelich geborenen Sohnes K. Die<br />
Kindesmutter hielt sich zu diesem Zeitpunkt als Mieterin<br />
im Haus des Bf. auf, der in einer separaten Wohnung<br />
mit seiner langjährigen Partnerin U. und ihrem gemeinsamen<br />
Sohn D. zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr<br />
von K. kümmerten sich die Kindeseltern abwechselnd<br />
um das Kind und nahmen nacheinander Karenzurlaub.<br />
Anfang Jänner 2002 zog die Mutter von K. aus ihrer<br />
Wohnung aus. In der Folge beantragte der Bf. beim BG<br />
Mattighofen gemäß § 176 ABGB die Übertragung des<br />
alleinigen Sorgerechts mit der Begründung, er und U.<br />
hätten sich bisher hauptsächlich um das Kind gekümmert,<br />
die leibliche Mutter sei dazu nicht in der Lage.<br />
Am 12.3.2002 hielt das BG Mattighofen eine mündliche<br />
Verhandlung ab, bei der die Eltern einvernehmlich<br />
der Einholung der Meinung eines Kinderpsychiaters zu<br />
der Frage zustimmten, wem die alleinige Obsorge eingeräumt<br />
werden solle. Sie einigten sich ferner darauf, dass<br />
K. bis zu einer endgültigen Entscheidung mit beiden<br />
Elternteilen jeweils eine halbe Woche verbringen würde.<br />
Am 8.7.2002 kam es zu einer weiteren mündlichen<br />
Verhandlung, bei der die Ergebnisse der kinderpsychiatrischen<br />
Expertise diskutiert wurden, derzufolge die Mutter<br />
unreif und derzeit nicht in der Lage sei, sich um das<br />
Kind zu kümmern. Der Vertreter des Jugendamts widersprach<br />
dieser Einschätzung. Das BG Mattighofen holte<br />
daraufhin die Meinung einer Kinderpsychologin ein.<br />
Diese kam zu dem Schluss, die Mutter würde weder mangelnde<br />
Reife noch emotionale Instabilität aufweisen<br />
und könne für das Kind Sorge tragen. Der Bf. beantragte<br />
sodann erfolgreich die Einholung eines Obergutachtens.<br />
Dr. B. vertrat darin die Ansicht, dass das Kindeswohl<br />
durch den Verbleib des Sorgerechts bei der Mutter<br />
nicht gefährdet sei. Von der ihm eingeräumten Möglichkeit,<br />
zum Obergutachten Stellung zu nehmen, machte<br />
der Bf. keinen Gebrauch, stellte jedoch den Antrag, es in<br />
einer mündlichen Verhandlung zu erörtern.<br />
Mit Beschluss vom 4.12.2002 lehnte das BG Mattighofen<br />
den Antrag des Bf. auf Übertragung des alleinigen<br />
Sorgerechts ab. § 166 ABGB zufolge sei mit der Obsorge<br />
für das uneheliche Kind die Mutter allein betraut.<br />
Ein Entzug des Sorgerechts komme nur dann in Frage,<br />
wenn das Kindeswohl gefährdet sei. Davon könne im<br />
vorliegenden Fall angesichts des eingeholten zweiten<br />
und dritten Gutachtens sowie der positiven Stellungnahme<br />
des Jugendamts jedoch keine Rede sein. Von der<br />
Abhaltung einer weiteren mündlichen Verhandlung sei<br />
abgesehen worden, da das Obergutachten schlüssig und<br />
überzeugend gewesen sei und eine zusätzliche Verhandlung<br />
das Sorgerechtsverfahren nur verzögert hätte.<br />
Der Bf. rief daraufhin das LG Ried an und brachte vor,<br />
die §§ 166 und 176 ABGB seien diskriminierend, könne<br />
der Mutter eines unehelich geborenen Kindes das alleinige<br />
Sorgerecht doch nur unter der Voraussetzung entzogen<br />
werden, dass sie dessen Wohl gefährde. Bei einem<br />
ehelichen Kind würde den Eltern hingegen auch im<br />
Fall der Trennung oder der Scheidung die gemeinsame<br />
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36<br />
Sporer gg. Österreich<br />
Obsorge zukommen, außer das Kindeswohl erfordere<br />
die Übertragung des alleinigen Sorgerechts.<br />
Das LG Ried wies das Rechtsmittel unter anderem mit<br />
der Begründung ab, eine Unterscheidung zwischen ehelichen<br />
und unehelichen Kindern stelle keine diskriminierende<br />
Behandlung dar, solange sie objektiv gerechtfertigt<br />
sei. Der in § 176 ABGB festgelegte Grundsatz<br />
beruhe auf der Erwägung, dass bei der Mehrzahl der<br />
unehelich geborenen Kinder es tatsächlich die Mutter<br />
sei, welche sich um die Pflege kümmere. Eine außerordentliche<br />
Revision an den OGH blieb erfolglos.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht<br />
auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (Recht auf<br />
Achtung des Privat- und Familienlebens) allein und in Verbindung<br />
mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Der Bf. beklagt, das BG Mattighofen habe ihm die Möglichkeit<br />
verwehrt, in einer mündlichen Verhandlung zu<br />
dem Obergutachten persönlich Stellung zu nehmen.<br />
Der GH erachtet die vom BG Mattighofen herangezogenen<br />
Gründe für die Nichtabhaltung einer weiteren<br />
mündlichen Verhandlung als überzeugend, hatten<br />
vor diesem doch bereits zwei Verhandlungen – eine zur<br />
Vorbereitung und eine weitere in der Sache – stattgefunden,<br />
die es ihm gestatteten, einen persönlichen Eindruck<br />
von den Parteien zu gewinnen und die verschiedenen<br />
Aspekte des Falls zu diskutieren. Insoweit der Bf.<br />
darauf beharrt, ihm sei keine angemessene Gelegenheit<br />
zu mündlichem Vorbringen gegeben worden, ist festzuhalten,<br />
dass er diese Behauptung nicht substantiiert<br />
hat und er außerdem bei der mündlichen Verhandlung<br />
am 8.7.2002 anwesend und anwaltlich vertreten war. Es<br />
bestehen keine Anhaltspunkte, dass er im Zuge der Erörterung<br />
der zweiten Expertise nicht zusätzliches Vorbringen<br />
hätte erstatten können, falls er dies gewollt hätte.<br />
Im vorliegenden Fall kam der Bf. in den Genuss eines<br />
kontradiktorischen Verfahrens, bei dem ihm Gelegenheit<br />
gegeben wurde, all seine Argumente vorzubringen.<br />
Auch das Obergutachten war Gegenstand kontradiktorischer<br />
Erörterung, konnten die Streitteile doch umfassende<br />
schriftliche Stellungnahmen zur behaupteten<br />
fehlenden Eignung des jeweiligen Elternteils, das Sorgerecht<br />
auszuüben, erstatten. Abgesehen davon waren<br />
die Eltern von Dr. B befragt und war dem Bf. Gelegenheit<br />
eingeräumt worden, zum Gutachten schriftlich Stellung<br />
zu nehmen. Unter diesen Umständen konnte das BG<br />
Mattighofen in fairer Weise über den Fall absprechen,<br />
ohne eine weitere Verhandlung anordnen zu müssen.<br />
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8<br />
EMRK<br />
Der Bf. behauptet, die einschlägigen Bestimmungen des<br />
ABGB in ihrer Anwendung durch die Gerichte würden<br />
ihn als Vater eines unehelichen Kindes benachteiligen.<br />
Der GH hält es für angemessen, den Fall zuerst unter<br />
Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK zu prüfen.<br />
1. Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK<br />
Der GH erinnert daran, dass der Begriff der Familie<br />
in Art. 8 EMRK nicht auf eheliche Verbindungen<br />
beschränkt ist, sondern auch andere De facto-Familienbande<br />
– etwa wenn ein nicht verheiratetes Paar zusammenlebt<br />
– umfasst. Ein außerehelich geborenes Kind ist<br />
insofern ipso iure Teil der »Familie« bereits vom Augenblick<br />
und aufgrund seiner Geburt an.<br />
Zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt lebten<br />
der Bf. und die Mutter von K. jedoch nicht zusammen.<br />
Allerdings handelt es sich beim Bestehen oder Nichtbestehen<br />
von Familienleben iSv. Art. 8 EMRK um eine<br />
Tatsachenfrage, die von der realen Existenz von engen<br />
persönlichen Bindungen in der Praxis abhängt. Entscheidend<br />
ist ein nachweisliches Interesse bzw. Engagement<br />
des Vaters für sein Kind vor und nach der Geburt.<br />
Im vorliegenden Fall übernahm der Bf. seine Rolle als<br />
Vater von K. von Beginn an. K. wurde der Familienname<br />
des Bf. gegeben und dieser nahm Karenzurlaub, um<br />
sich um ihn kümmern zu können. Während des Sorgerechtsverfahrens<br />
schloss der Bf. mit der Kindesmutter<br />
eine Vereinbarung, der zufolge er die Hälfte der Woche<br />
mit seinem Sohn verbringen würde. Nachdem der Mutter<br />
das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden war,<br />
wurde ihm ein ausgedehntes Besuchsrecht eingeräumt.<br />
Unter diesen Umständen stellte die Beziehung des<br />
Bf. zu seinem Sohn »Familienleben« dar. Der vorliegende<br />
Fall fällt somit in den Anwendungsbereich von Art. 8<br />
EMRK, sodass auch Art. 14 EMRK anwendbar ist.<br />
2. In der Sache<br />
Der Bf. beklagt sich als Vater eines unehelichen Kindes<br />
zum einen über eine unterschiedliche Behandlung<br />
im Vergleich zur Kindesmutter, da er keine Möglichkeit<br />
habe, die gemeinsame Obsorge ohne deren Zustimmung<br />
zu bekommen, zum anderen über eine Benachteiligung<br />
gegenüber verheirateten bzw. geschiedenen<br />
Vätern, welche das gemeinsame Sorgerecht nach Scheidung<br />
oder Trennung von der Mutter behalten können.<br />
Der GH weist darauf hin, dass Eltern eines ehelich<br />
geborenen Kindes einen Rechtsanspruch auf gemeinsame<br />
Obsorge bereits von Beginn an haben. Im Prinzip<br />
behalten sie diese nach der Scheidung oder Trennung,<br />
außer deren Ausübung dient nicht dem Kindeswohl.<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
Demgegenüber wird die Pflege und Erziehung für ein<br />
unehelich geborenes Kind der Mutter übertragen, außer<br />
beide Eltern stellen einen Antrag auf Einräumung der<br />
gemeinsamen Obsorge. Ab Juli 2001 können sie einen<br />
solchen Antrag auch dann stellen, wenn sie nicht im<br />
gemeinsamen Haushalt leben. Stimmt die Kindesmutter<br />
dem nicht zu, so sieht das nationale Recht keine<br />
gerichtliche Prüfung dahingehend vor, ob die Einräumung<br />
der gemeinsamen Obsorge dem Kindeswohl<br />
dient. Dem Vater verbleibt in einem solchen Fall nur<br />
mehr die Möglichkeit, einen Antrag auf Einräumung des<br />
alleinigen Sorgerechts zu stellen – das ihm jedoch nur<br />
unter der Bedingung eingeräumt werden kann, dass die<br />
Mutter das Wohlergehen des Kindes gefährdet.<br />
Im vorliegenden Fall beantragte der Bf. das alleinige<br />
Sorgerecht für K., nachdem die Beziehung zur Kindesmutter<br />
im Jänner 2002 geendet hatte. Aufgrund der einschlägigen<br />
Gesetzeslage konnten die nationalen Gerichte<br />
jedoch keine Prüfung dahingehend vornehmen, ob<br />
ein gemeinsames Sorgerecht dem Kindeswohl diene, da<br />
hierfür die Zustimmung der Mutter notwendig gewesen<br />
wäre. Sie hatten auch nicht darüber zu befinden, welcher<br />
Elternteil besser in der Lage wäre, das Sorgerecht auszuüben.<br />
Die einzige Frage, die sich stellte, war jene nach<br />
§ 176 ABGB, ob die Mutter von K. das Kindeswohl gefährden<br />
könnte. Da das Obergutachten zu einem gegenteiligen<br />
Schluss kam, wurde der Antrag des Bf. auf Übertragung<br />
des alleinigen Sorgerechts abgewiesen. Dem<br />
Vorbringen des Bf., er werde als Vater eines unehelichen<br />
Kindes diskriminiert, hielten die Gerichte im Wesentlichen<br />
entgegen, die relevanten Bestimmungen des ABGB<br />
beruhten auf der Erwägung, dass es in der Mehrzahl der<br />
Fälle von unehelich geborenen Kindern tatsächlich die<br />
Mutter sei, welche sich um sie kümmere.<br />
Im vorliegenden Fall führten die Entscheidungen der<br />
Gerichte und die ihnen zugrunde liegende Gesetzeslage<br />
hinsichtlich der beantragten Zuweisung des Sorgerechts<br />
an den Bf. somit zu einer Ungleichbehandlung in seiner<br />
Eigenschaft als Vater eines unehelichen Kindes im Vergleich<br />
zu der Mutter bzw. zu verheirateten Vätern.<br />
Im Fall Zaunegger/D fand der GH, dass es angesichts<br />
der unterschiedlichen Lebenssituation, in der sich<br />
unehelich geborene Kinder befinden, und in Ermangelung<br />
einer Vereinbarung über die gemeinsame Ausübung<br />
des Sorgerechts gerechtfertigt ist, die elterliche<br />
Obsorge vorerst der Mutter zu übertragen, um zu<br />
gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person<br />
hat, die als gesetzlicher Vertreter fungieren kann.<br />
Der GH sieht keinen Grund, im vorliegenden Fall zu<br />
einem anderen Schluss zu gelangen. Die unterschiedliche<br />
Behandlung des nicht verheirateten Vaters gegenüber<br />
der Kindesmutter ist somit, was die Zuweisung des<br />
Sorgerechts zuerst an letztere anlangt, gerechtfertigt.<br />
Zu prüfen bleibt, ob die vom Bf. weiters gerügte unterschiedliche<br />
Behandlung gerechtfertigt ist, nämlich dass<br />
Sporer gg. Österreich<br />
er als Vater eines unehelichen Kindes nicht die gemeinsame<br />
Obsorge ohne Zustimmung der Mutter erlangen<br />
kann und ein Entzug des alleinigen Sorgerechts nur<br />
statthaft ist, sofern diese das Kindeswohl gefährdet.<br />
Im Fall Zaunegger/D teilte der GH nicht die Annahme<br />
der Regierung, wonach ein gemeinsames Sorgerecht<br />
gegen den Willen der Mutter von vornherein dem Kindeswohl<br />
zuwiderlaufe. Zwar gebe es unter den Mitgliedstaaten<br />
des Europarats keine Einigkeit darüber, ob Väter<br />
unehelicher Kinder ein Recht haben, das gemeinsame<br />
Sorgerecht auch ohne Zustimmung der Mutter zu beantragen.<br />
In den meisten Staaten müsse sich die Übertragung<br />
des Sorgerechts allerdings am Kindeswohl orientieren<br />
und sei diese Frage im Fall eines Streits zwischen den<br />
Eltern darüber Gegenstand gerichtlicher Überprüfung.<br />
Im gegenständlichen Fall sah das österreichische<br />
Recht keine gerichtliche Prüfung der Frage vor, ob ein<br />
gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohl läge, und,<br />
wenn nein, ob diesem besser mit der Zuweisung des<br />
alleinigen Sorgerechts an die Mutter oder den Vater<br />
gedient wäre. Die einzige Frage, welche die Gerichte prüfen<br />
konnten, war, ob gemäß § 176 ABGB das Kindeswohl<br />
gefährdet sei, wenn die Mutter weiterhin das alleinige<br />
Sorgerecht ausüben würde. Demgegenüber sieht<br />
das nationale Recht eine volle gerichtliche Prüfung der<br />
Zuweisung der elterlichen Obsorge und eine Lösung des<br />
darüber bestehenden Konflikts zwischen getrennten<br />
Eltern in Fällen vor, in denen der Vater bereits elterliche<br />
Rechte ausgeübt hat – entweder, weil die Eltern verheiratet<br />
waren oder, falls nicht, weil sie eine Vereinbarung<br />
über eine gemeinsame Sorgerechtsausübung getroffen<br />
hatten. In solchen Fällen behalten die Eltern die gemeinsame<br />
Obsorge, außer die Gerichte weisen antragsgemäß<br />
einem Elternteil das alleinige Sorgerecht zu, sofern es<br />
das Kindeswohl verlangt (§ 177a Abs. 2 ABGB).<br />
Die Regierung hat keine ausreichenden Gründe dargelegt,<br />
warum die Situation des Bf., der seine Rolle als<br />
Vater von K. sofort angenommen hatte, Gegenstand<br />
einer geringeren gerichtlichen Prüfung sein sollte als<br />
diejenige von Vätern, die zunächst das Sorgerecht innehatten<br />
und sich später von der Kindesmutter trennten<br />
oder scheiden ließen. Im Fall Zaunegger/D hat der GH<br />
in einer vergleichbaren Situation eine Verletzung von<br />
Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK festgestellt. Es besteht kein<br />
Grund, hier zu einem anderen Schluss zu gelangen. Verletzung<br />
von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).<br />
Angesichts dieser Feststellungen hält der GH eine<br />
Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
alleine nicht für notwendig (einstimmig).<br />
III.<br />
Entschädigung nach Art. 41 EMRK<br />
Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt eine<br />
ausreichende Entschädigung für immateriellen Schaden<br />
dar. € 3.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).<br />
37<br />
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38<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
39<br />
Unterschiedliches Pensionsalter von Männern und Frauen<br />
Andrle gg. Tschechien, Urteil vom 17.2.2011, Kammer V, Bsw. Nr. 6.268/08<br />
Leitsatz<br />
Ein Staat kann nicht dafür kritisiert werden, ein aus<br />
historischer Sicht gerechtfertigtes, unterschiedliches<br />
Pensionsalter von Männern und Frauen nur schrittweise<br />
– unter Berücksichtigung von demografischen<br />
Veränderungen und Wandlungen bei der Auffassung<br />
der Geschlechterrollen – anzupassen. Die unterschiedliche<br />
Höhe des Pensionsalters reflektiert und kompensiert<br />
Ungleichheiten aus früheren Zeiten. Die Vorhersehbarkeit<br />
des Pensionssystems muss gewahrt werden.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸ Konstantin Markin/RUS v. 7.10.2010<br />
= NL 2010, 304<br />
Schlagworte<br />
Alter; Alterspension; Diskriminierung; Eigentums,<br />
Recht auf Achtung des; Pensionsrecht<br />
Sarah Baier<br />
Am 1.12.2004 setzte das Landesgericht das Verfahren<br />
des Bf. aus, um eine Entscheidung des Verfassungsgerichts<br />
abzuwarten, das in einem anderen Fall vom Obersten<br />
Verwaltungsgericht angerufen worden war, um<br />
die Verfassungsmäßigkeit von § 32 Pensionsversicherungsgesetz<br />
zu überprüfen. Mit Urteil vom 16.10.2007<br />
entschied das Verfassungsgericht, dass die genannte<br />
Bestimmung nicht diskriminierend und daher mit der<br />
Charta der Grundrechte und -freiheiten vereinbar sei.<br />
Unter Bezugnahme auf dieses Urteil wurde die Klage<br />
des Bf. am 12.12.2007 zunächst durch das Landesgericht,<br />
am 13.6.2008 auch vom Obersten Verwaltungsgericht<br />
abgewiesen.<br />
Der Bf. erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde,<br />
in der er eine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 1<br />
1. Prot. EMRK behauptete. Diese wurde jedoch als offensichtlich<br />
unbegründet zurückgewiesen.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot)<br />
in Verbindung mit Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
(Recht auf Achtung des Eigentums).<br />
Sachverhalt<br />
Der Bf. wurde 1946 geboren und lebt in Vysoké Mýto.<br />
1998 ließ er sich von seiner Frau scheiden und beantragte<br />
erfolgreich das Sorgerecht für zwei seiner vier Kinder,<br />
die 1982 bzw. 1985 geboren wurden.<br />
Am 14.11.2003 wies die tschechische Sozialversicherungsbehörde<br />
einen Antrag des Bf. auf Alterspension<br />
ab, da er das nach § 32 Pensionsversicherungsgesetz 1<br />
geforderte Pensionsalter noch nicht erreicht habe, welches<br />
in seinem Fall 61 Jahre und zehn Monate betrage.<br />
Der Bf. focht diese Entscheidung vor dem Landesgericht<br />
Hradec Králové mit der Begründung an, er habe für zwei<br />
Kinder gesorgt, weshalb er bereits mit 57 Jahren in Pension<br />
gehen könne und das Pensionsalter folglich schon<br />
erreicht habe.<br />
1 Diese Bestimmung macht das Pensionsalter von Frauen, nicht<br />
jedoch jenes von Männern, von der Anzahl der von ihnen großgezogenen<br />
Kinder abhängig.<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm.<br />
Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Der Bf. ist der Ansicht, aufgrund seines Geschlechts<br />
beim Genuss seines Eigentums diskriminiert worden zu<br />
sein. Die nationale Regelung, welche für Frauen, die Kinder<br />
versorgt haben, ein unterschiedliches Pensionsalter<br />
vorsieht als für Männer in derselben Position, verfolge<br />
kein legitimes Ziel.<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK geht über<br />
den Genuss der von der Konvention und ihren Protokollen<br />
garantierten Rechte und Freiheiten hinaus. Es<br />
ist auch auf jene Rechte anwendbar, die in den generellen<br />
Anwendungsbereich einer Konventionsbestimmung<br />
fallen und für deren Gewährung sich ein Staat entschieden<br />
hat.<br />
Sehen die geltenden Gesetze eines Staates aus einem<br />
Sozialleistungsanspruch resultierende Zahlungen – ob<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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40<br />
Andrle gg. Tschechien<br />
sie von vorausgegangen Beitragszahlungen abhängen<br />
oder nicht – vor, muss dies für jene Personen, die die<br />
Voraussetzungen dafür erfüllen, als Einräumung eines<br />
Eigentumsinteresses angesehen werden, das in den<br />
Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK fällt. Auch<br />
wenn diese Bestimmung kein Recht auf Erhalt von Sozialversicherungsleistungen<br />
jeglicher Art enthält, muss<br />
ein Staat, wenn er sich für die Errichtung eines Sozialleistungssystems<br />
entscheidet, dieses in Einklang mit<br />
Art. 14 EMRK errichten.<br />
Die Interessen des Bf. fallen in den Anwendungsbereich<br />
von Art. 1 1. Prot. EMRK und des darin garantierten<br />
Rechts auf Eigentum. Dies reicht auch für die Anwendbarkeit<br />
von Art. 14 EMRK aus.<br />
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet<br />
noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss<br />
daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).<br />
2. In der Sache<br />
Art. 14 EMRK verbietet den Konventionsstaaten nicht,<br />
Gruppen unterschiedlich zu behandeln, um »tatsächliche<br />
Ungleichheiten« zu korrigieren. Eine unterschiedliche<br />
Behandlung ist jedoch diskriminierend, wenn es für<br />
sie keine objektive und vernünftige Rechtfertigung gibt.<br />
Es müssen schwerwiegende Gründe vorliegen, um<br />
eine allein auf dem Geschlecht basierende Ungleichbehandlung<br />
als konventionskonform zu betrachten. Dieses<br />
Prinzip wird durch die Anstrengungen zur Verbesserung<br />
der Gleichheit der Geschlechter – heute ein bedeutendes<br />
Ziel in den Mitgliedstaaten des Europarats – noch verstärkt.<br />
Ein weiter Ermessensspielraum steht den Staaten<br />
normalerweise aber bei generellen Maßnahmen im Rahmen<br />
einer wirtschaftlichen oder sozialen Strategie zu.<br />
Pensionssysteme sind Eckpfeiler moderner europäischer<br />
Wohlfahrtssysteme. Sie gründen auf dem Prinzip<br />
von Langzeitbeiträgen und dem daraus folgenden,<br />
zumindest teilweise vom Staat garantierten Pensionsanspruch.<br />
Die Besonderheiten dieses Systems – Stabilität<br />
und Zuverlässigkeit – erlauben eine lebenslange Familien-<br />
und Karriereplanung. Jede Anpassung des Pensionssystems<br />
muss daher sukzessive, behutsam und maßvoll<br />
vorgenommen werden. Ein anderer Ansatz würde den<br />
sozialen Frieden, die Vorhersehbarkeit des Pensionssystems<br />
und die Rechtssicherheit gefährden.<br />
Die Beschwerde des Bf. betrifft die Herabsetzung<br />
des Pensionsalters von Frauen, die Kinder aufgezogen<br />
haben, welche bei Männern in derselben Situation<br />
jedoch nicht möglich ist. Der Bf. gibt an, für seine 1982<br />
bzw. 1985 geborenen Kinder jedenfalls von 1997 bis zu<br />
deren Volljährigkeit gesorgt zu haben. Sein Antrag auf<br />
Alterspension wurde abgewiesen, da er das Pensionsalter<br />
für Männer, das nicht entsprechend der Anzahl der<br />
großgezogenen Kinder gesenkt werden konnte, noch<br />
nicht erreicht hatte.<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
In der früheren Tschechoslowakei war die günstigere<br />
Behandlung von Frauen, die Kinder aufzogen, darauf<br />
gerichtet, einen Ausgleich für die tatsächlichen<br />
Ungleichheiten und Härten zu schaffen, die aus der<br />
Kombination von traditioneller Mutterrolle und der<br />
sozialen Erwartung einer Vollzeitberufstätigkeit von<br />
Frauen resultierten. Dies stellte nach Ansicht des GH ein<br />
legitimes Ziel dar. Es kann nicht ignoriert werden, dass<br />
die vorliegende Maßnahme in spezifischen historischen<br />
Umständen wurzelt. Sie wurde 1964 eingeführt und spiegelt<br />
die Realität der damals sozialistischen Tschechoslowakei<br />
wider, in der Frauen für das Großziehen der Kinder<br />
verantwortlich waren, während sie unter dem Druck<br />
standen, Vollzeit zu arbeiten. Die Höhe der Lohnzahlungen<br />
und Pensionen von Frauen war allgemein geringer<br />
als jene von Männern.<br />
Auch wenn dieses Modell jüngere Familien unzweifelhaft<br />
geprägt hat, mögen sich die Rollen des Gebärens<br />
und der Kindererziehung in der heutigen Gesellschaft<br />
in weniger großem Umfang decken. Die Anstrengungen<br />
des Staates, das Pensionssystem zu modifizieren, sind<br />
darauf gerichtet, auf diese und weitreichendere soziale<br />
und demografische Entwicklungen zu reagieren. Es<br />
ist schwierig, einen konkreten Moment zu erkennen,<br />
in dem die Ungleichbehandlung von Männern die Notwendigkeit<br />
von Maßnahmen zum Ausgleich der nachteiligen<br />
Position von Frauen zu überwiegen beginnt. Die<br />
nationalen Behörden sind besser dazu geeignet, über<br />
ein solch komplexes, mit sozialen und wirtschaftlichen<br />
Strategien verbundenes Thema zu entscheiden. Ihnen<br />
steht hier ein weiter Ermessensspielraum zu.<br />
Die tschechische Regierung hat bereits Schritte zur<br />
Angleichung des Pensionssystems unternommen.<br />
Durch ein mit 1.1.2010 in Kraft getretenes Gesetz ist das<br />
Pensionsalter für nach 1968 geborene Frauen, die kein<br />
oder nur ein Kind großgezogen haben, nun gleich wie<br />
jenes von nach 1968 geborenen Männern. Für Frauen,<br />
die zwei oder mehr Kinder großgezogen haben, bleibt<br />
die Senkung des Pensionsalters zwar aufrecht, doch<br />
scheint dennoch ein allgemeiner Anstieg des Pensionsalters<br />
angestrebt zu sein.<br />
Wegen der schwierigen politischen Verhandlungen<br />
ist der Wandel im tschechischen Pensionssystem<br />
begrenzt. Demografische Veränderungen und Wandlungen<br />
hinsichtlich der Auffassung der Geschlechterrollen<br />
verlaufen jedoch von Natur aus schrittweise und<br />
es ist, nach einem 45-jährigen Bestehen der vorliegenden<br />
Maßnahme, erforderlich, Novellierungen zeitlich<br />
entsprechend abzustimmen. Deshalb kann der Staat für<br />
eine progressive, die graduellen Änderungen reflektierende<br />
Modifizierung des Pensionssystems bzw. dafür,<br />
dass nicht schneller eine komplette Angleichung des<br />
Pensionsalters vorangetrieben wurde, nicht kritisiert<br />
werden. Die verantwortliche Regierung muss zwischen<br />
verschiedenen Methoden zur Angleichung des Pensi-<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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NLMR 1/2011-EGMR Andrle gg. Tschechien 41<br />
onsalters wählen. Dies ist umso anspruchsvoller und<br />
erfordert gut durchdachte Lösungen, da die Reform<br />
auch in einem weiteren Kontext anderer demografischer<br />
Entwicklungen, etwa der Alterung der Bevölkerung<br />
oder der Migration, vorgenommen werden muss,<br />
während gleichzeitig die Vorhersehbarkeit des Systems<br />
für die Betroffenen, die zur Beitragsleistung verpflichtet<br />
sind, zu wahren ist.<br />
Der Fall ist daher auch von der Diskriminierungsfrage<br />
im Rahmen der Elternkarenz zu unterscheiden.<br />
Im Fall Konstantin Markin/RUS stellte der GH fest, dass<br />
die traditionelle Rolle von Frauen als primäre Kindererzieher<br />
kein ausreichender Grund für den Ausschluss<br />
von Vätern von der Elternkarenz sein kann. Anders als<br />
das Pensionssystem ist die Elternkarenz eine Kurzzeitmaßnahme,<br />
die nicht das ganze Leben der Mitglieder<br />
der Gesellschaft betrifft. Sie bezieht sich auf das heutige<br />
Leben einer Person, wohingegen das Pensionsalter<br />
Ungleichheiten aus früheren Zeiten reflektiert und kompensiert.<br />
Nach Ansicht des GH bewirkt die Änderung des<br />
Elternkarenzsystems, auf das im Fall Konstantin Markin/<br />
RUS Bezug genommen wurde, keine Änderungen der feinen<br />
Balance des Pensionssystems, hat keine ernsthaften<br />
finanziellen Auswirkungen und ändert die Langzeitplanung<br />
nicht, was jedoch hinsichtlich des Pensionssystems,<br />
das einen Teil der nationalen wirtschaftlichen<br />
und sozialen Strategien bildet, der Fall sein könnte.<br />
Im Ergebnis hält der GH fest, dass es ursprüngliches<br />
Ziel des unterschiedlichen, auf der Anzahl der von Frauen<br />
großgezogenen Kinder basierenden Pensionsalters<br />
war, die tatsächlichen Ungleichheiten zwischen Männern<br />
und Frauen auszugleichen. Unter den besonderen<br />
Umständen des vorliegenden Falls bleibt dieser Ansatz<br />
weiterhin vernünftig und objektiv gerechtfertigt, bis<br />
soziale und wirtschaftliche Veränderungen die Notwendigkeit<br />
einer Sonderbehandlung von Frauen beseitigen.<br />
Der GH ist nicht überzeugt, dass die zeitliche Abstimmung<br />
und die fraglichen Ungleichheiten so offensichtlich<br />
unangebracht waren, dass sie den weiten staatlichen<br />
Ermessensspielraum überstiegen.<br />
Der Staat kann nicht dafür kritisiert werden, kein<br />
angemessenes Gleichgewicht zwischen der behaupteten<br />
unterschiedlichen Behandlung und dem verfolgten,<br />
legitimen Ziel gewahrt zu haben. Es liegt keine Verletzung<br />
von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK vor<br />
(einstimmig).<br />
Grenzen und Gefahren des<br />
Schutzes der Grundrechte<br />
Fünf Studien<br />
XVIII, 325 Seiten<br />
150 × 230 mm<br />
broschiert<br />
€ 68,–<br />
ISBN 978-3-902638-06-9<br />
Unter Berücksichtigung des theoretischen juristischen,<br />
aber auch politologischen bzw historischen Hintergrundes<br />
vereinigt der vorliegende Band fünf jeweils in<br />
sich abgeschlossene Studien zu aktuellen rechtspolitischen<br />
Fragestellungen des Grundrechtsschutzes, insbesondere:<br />
Wie kann und soll sich die der nunmehr in Wien<br />
errichteten Agentur der EU für Grundrechte<br />
aufgetragene »Zusammenarbeit« gestalten<br />
Ist die Errichtung einer »Nationalen Menschen-rechtsinstitution«<br />
in Österreich, als eines nationalen Pendants<br />
zur EU-Grundrechte-Agentur, sinnvoll<br />
und machbar<br />
Wie kann und soll der Diskriminierungsschutz<br />
vor dem Hintergrund der EU-Grundrechte-Charta<br />
ausgestaltet werden<br />
Auf welche Weise ist das Spannungsverhältnis im<br />
Datenschutz aufzulösen, das zwischen Art 8 Abs 3<br />
und Art 47 EU-Grundrechte-Charta besteht,<br />
und was bedeutet dies für Österreich<br />
Auf welcher Grundlage gelten die Grundrechte in<br />
bello (dies vor dem Hintergrund der rezenten Erfahrung<br />
mit dem US-Gefangenenlager »Guantánamo«)<br />
Die enge Verbindung von (mehrdimensionaler) Theorie<br />
und Praxis, die dieses Werk auszeichnet, bietet damit<br />
dem Leser in seiner Gesamtheit einen repräsentativen<br />
Überblick über wesentliche Fragestellungen des Grundrechteschutzes.<br />
•<br />
<br />
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Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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42<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Weitere Urteile und Entscheidungen<br />
des Europäischen Gerichtshofs für <strong>Menschenrechte</strong><br />
Art. 2 EMRK<br />
Lebensgefahr<br />
Schwere Verletzung eines der Bf., einem Roma, nach<br />
einem unter unklaren Umständen erfolgten Kopfschuss<br />
in Polizeigewahrsam: Verletzung von Art. 2, Art. 3 und<br />
Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK; keine Verletzung von Art. 14 iVm.<br />
Art. 2 und Art. 3 EMRK<br />
Soare u.a. gg. Rumänien<br />
24.329/02, Urteil vom 22.2.2011<br />
Ermittlungspflicht<br />
Angemessene Untersuchung des Verschwindens eines<br />
militärischen Befehlshabers 1995 während des Kriegs<br />
in Bosnien und Herzegowina: keine Verletzung von Art. 2,<br />
Art. 3 und Art. 5 EMRK<br />
Palić gg. Bosnien und Herzegowina<br />
4.704/04, Urteil vom 15.2.2011<br />
Recht auf Leben<br />
Ausreichende medizinische Versorgung des während<br />
seiner Haft verstorbenen Sohnes der Bf.: keine Verletzung<br />
von Art. 2 und Art. 3 EMRK<br />
Geppa gg. Russland<br />
8.532/06, Urteil vom 3.2.2011<br />
Recht auf Leben<br />
Tod eines Häftlings aufgrund seiner Diabeteserkrankung,<br />
die nicht behandelt wurde, obwohl der Anwalt des<br />
Betroffenen darauf hingewiesen hatte: Verletzung von<br />
Art. 2 EMRK<br />
Iordanovi gg. Bulgarien<br />
10.907/04, Urteil vom 27.1.2011<br />
Recht auf Leben<br />
Tod eines Häftlings infolge von schwerer Gewaltanwendung<br />
seitens anderer Insassen und unzureichende diesbezügliche<br />
Ermittlungen: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />
Iorga u.a. gg. Rumänien<br />
26.246/05, Urteil vom 25.1.2011<br />
▷<br />
Ermittlungspflicht<br />
Unzureichende Untersuchungen zur Aufklärung des im<br />
Kroatienkrieg 1991 erfolgten Todes bzw. Verschwindens<br />
der Ehemänner der Bf.: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />
Jularić gg. Kroatien<br />
Skendžić und Krznarić gg. Kroatien<br />
20.106/06 und 16.212/08, Urteile vom 20.1.2011<br />
Recht auf Leben<br />
Selbstmord des psychisch labilen Verwandten der Bf.<br />
während seines verpflichtenden Militärdienstes an der<br />
Südostgrenze der Türkei: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />
Servet Gündüz u.a. gg. die Türkei<br />
4.611/05, Urteil vom 11.1.2011<br />
Recht auf Leben<br />
Tötung eines Mädchens durch streunende Hunde, deren<br />
Gefährlichkeit bereits bekannt war, nahe einer Polizeistation:<br />
keine Verletzung von Art. 2 EMRK; Verletzung von<br />
Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Berü gg. die Türkei<br />
47.304/07, Urteil vom 11.1.2011<br />
Recht auf Leben<br />
Tötung von zwei Kindern bei der Explosion eines Wurfgeschoßes<br />
in Tschetschenien : keine Verletzung von Art. 2<br />
EMRK (materieller Aspekt); Verletzung von Art. 2 EMRK<br />
(verfahrensrechtlicher Aspekt)<br />
Udayeva und Yusupova gg. Russland<br />
36.542/05, Urteil vom 21.12.2010<br />
Recht auf Leben<br />
Tod eines Taubstummen, dem nach einem Sturz in<br />
einer Ausnüchterungszelle keine geeignete Möglichkeit<br />
gegeben wurde, seinen Gesundheitszustand mitzuteilen,<br />
obwohl man über seine Behinderung informiert<br />
war: Verletzung von Art. 2 EMRK<br />
Jasinskis gg. Lettland<br />
45.744/08, Urteil vom 21.12.2010<br />
▷<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
EGMR kurz gefasst<br />
43<br />
Art. 3 EMRK<br />
Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />
Systematische Misshandlung des Bf. durch Mithäftlinge<br />
ohne Einschreiten der Aufseher: Verletzung von Art. 3 und<br />
Art. 5 Abs. 4 EMRK<br />
Premininy gg. Russland<br />
44.973/04, Urteil vom 10.2.2011<br />
Auslieferung<br />
Drohende Auslieferung des Bf. nach Kasachstan, wo er<br />
Misshandlungen befürchtet, ohne jedoch ausreichende<br />
individuelle Umstände für seine Befürchtungen geltend<br />
zu machen: keine Verletzung von Art. 3 und Art. 6 EMRK im<br />
Falle der Auslieferung; Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK<br />
Dzhaksybergenov gg. die Ukraine<br />
12.343/10, Urteil vom 10.2.2011<br />
Haftbedingungen<br />
Haft unter widrigen Bedingungen, wofür der Bf. nur eine<br />
geringe Entschädigung erhielt: Verletzung von Art. 3 und<br />
Art. 13 EMRK<br />
Radkov gg. Bulgarien (Nr. 2)<br />
18.382/05, Urteil vom 10.2.2011<br />
Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />
Entführung eines Soldaten durch PKK-Mitglieder, worüber<br />
die Bf. – dessen Verwandte – in Unklarheit gelassen<br />
wurden: Verletzung von Art. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK; keine<br />
Verletzung von Art. 14 EMRK<br />
Açiş gg. die Türkei<br />
7.050/05, Urteil vom 1.2.2011<br />
Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />
Gynäkologische Untersuchung einer Minderjährigen in<br />
Polizeigewahrsam, ohne ihre Zustimmung einzuholen<br />
oder weitere Schutzvorkehrungen zu treffen: Verletzung<br />
von Art. 3 EMRK<br />
Yazgül Yilmaz gg. die Türkei<br />
36.369/06, Urteil vom 1.2.2011<br />
Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />
Verletzung des Bf. während eines Polizeieinsatzes, den<br />
er selbst auslöste, indem er seinen Vater mit Waffen<br />
bedrohte: keine Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
Sambor gg. Polen<br />
15.579/05, Urteil vom 1.2.2011<br />
▷<br />
Haftbedingungen<br />
Haft, während der der Bf. dem Zigarettenrauch seiner<br />
Mithäftlinge ausgesetzt war: Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
Elefteriadis gg. Rumänien<br />
38.427/05, Urteil vom 25.1.2011<br />
Refoulement<br />
Drohende Abschiebung der Bf. nach Usbekistan, wo sie<br />
befürchten, wegen ihres Asylantrags und des Ablaufs<br />
ihres Ausreisevisums misshandelt zu werden : unzulässig<br />
N. M. und M. M. gg. das Vereinigte Königreich<br />
38.851/09 und 39.128/09, Entscheidung vom 25.1.2011<br />
Refoulement<br />
Drohende Abschiebung von Tamilen nach Sri Lanka, wo<br />
sie aufgrund ihrer Verbindungen zu den LTTE befürchten,<br />
verfolgt und misshandelt zu werden: keine Verletzung<br />
von Art. 3 EMRK im Falle der Abschiebung<br />
T. N. gg. Dänemark<br />
T. N. und S. N. gg. Dänemark<br />
S. S. u.a. gg. Dänemark<br />
P. K. gg. Dänemark<br />
N. S. gg. Dänemark<br />
20.594/08, 36.517/08, 54.703/08, 54.705/08 und<br />
58.359/08, Urteile vom 20.1.2011<br />
Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />
Wiederholte, mit Video festgehaltene und von mit<br />
Sturmhauben bekleideten Beamten durchgeführte Leibesvisitation<br />
des inhaftierten Bf.: Verletzung von Art. 3<br />
und Art. 13 EMRK<br />
El Shennawy gg. Frankreich<br />
51.246/08, Urteil vom 20.1.2011<br />
Haftbedingungen<br />
26-fache Überstellung eines Hochrisiko-Häftlings in<br />
unterschiedliche Gefängnisse, um die Ausbruchsgefahr<br />
zu reduzieren: Verletzung von Art. 3 EMRK (Haftbedingungen)<br />
und Art. 13 EMRK; keine Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
(Überstellungen)<br />
Payet gg. Frankreich<br />
19.606/08, Urteil vom 20.1.2011<br />
Haftbedingungen<br />
Haft des Bf. unter widrigen Bedingungen und unzureichende<br />
medizinische Versorgung: Verletzung von Art. 3<br />
EMRK; keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Gladkiy gg. Russland<br />
3.242/03, Urteil vom 21.12.2010<br />
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44<br />
EGMR kurz gefasst<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Haftbedingungen<br />
Unangemessene Unterbringung bzw. unzureichende<br />
medizinische Behandlung der an Anorexie leidenden,<br />
inhaftierten Bf.: Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
Raffray Taddei gg. Frankreich<br />
36.435/07, Urteil vom 21.12.2010<br />
Rechtmäßigkeit der Haft<br />
30 Tage dauernde Anhaltung von zwei strafunmündigen<br />
Jugendlichen in einer Jugendeinrichtung, weil sie Essen<br />
gestohlen hatten: Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK<br />
Ichin u.a. gg. die Ukraine<br />
28.189/04 und 28.192/04, Urteil vom 21.12.2010<br />
Art. 5 EMRK<br />
Rechtmäßigkeit der Haft<br />
Mehr als zwei Jahre dauernde, unrechtmäßige Untersuchungshaft<br />
des Bf. und Anweisung an die Regierung,<br />
eine Strategie zur Beseitigung der diesbezüglichen Probleme<br />
struktureller Natur vorzulegen: Verletzung von Art. 3<br />
und Art. 5 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 4 EMRK<br />
Kharchenko gg. die Ukraine<br />
40.107/02, Urteil vom 10.2.2011<br />
Schubhaft<br />
Verhängung der Schubhaft über die Bf. kurz nach der<br />
Geburt ihres Kindes, obwohl das italienische Recht eine<br />
Ausweisung bis sechs Monate nach der Geburt untersagt:<br />
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. f und Abs. 5 EMRK<br />
Seferovic gg. Italien<br />
12.921/04, Urteil vom 8.2.2011<br />
Rechtmäßigkeit der Haft<br />
Anhaltung des Bf. in einem Ausnüchterungszentrum:<br />
keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK<br />
Kharin gg. Russland<br />
37.345/03, Urteil vom 3.2.2011<br />
Dauer der Untersuchungshaft<br />
Exzessive Dauer der Untersuchungshaft des Bf., die<br />
erneut verhängt wurde, nachdem der EGMR schon zuvor<br />
eine exzessive Haftdauer festgestellt hatte: Verletzung<br />
von Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Choumakov gg. Polen (Nr. 2)<br />
55.777/08, Urteil vom 1.2.2011<br />
Rechtmäßigkeit der Haft<br />
Über die zur Tatzeit zulässige Höchstdauer hinaus verlängerte<br />
Unterbringung der Bf. in Sicherungsverwahrung:<br />
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK<br />
Kallweit gg. Deutschland<br />
Mautes gg. Deutschland<br />
Schummer gg. Deutschland<br />
17.792/07, 20.008/07, 27.360/04 und 42.225/07,<br />
Urteile vom 13.1.2011<br />
Art. 6 EMRK – zivilrechtliche Verfahren<br />
Faires Verfahren<br />
Auferlegung der Kosten eines Exekutionsverfahrens aufgrund<br />
richterlicher Auslegung einer Rechtsnorm: Verletzung<br />
von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
3A. CZ s. r. o. gg. Tschechien<br />
21.835/06, Urteil vom 10.2.2011<br />
Faires Verfahren<br />
Keine Möglichkeit für die Bf., in Verfahren betreffend<br />
ihre Militärpension auf die schriftliche Stellungnahme<br />
des Verteidigungsministeriums zu antworten: Verletzung<br />
von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Hubka gg. Tschechien<br />
PalŠovič gg. Tschechien<br />
500/06 und 39.278/04, Urteile vom 3.2.2011<br />
Faires Verfahren<br />
Fehlerhaftes Verfahren, in dem die Bf. geltend machten,<br />
ihre Felder infolge der Erbauung eines Flughafens nicht<br />
mehr bewässern zu können: Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />
EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Gereksar u.a. gg. die Türkei<br />
34.764/05 u.a., Urteil vom 1.2.2011<br />
Zugang zu einem Gericht<br />
Unzuständigerklärung der italienischen Gerichte hinsichtlich<br />
eines Rechtsstreits betreffend die Anstellung<br />
der Bf. an der französischen Schule in Rom: Verletzung<br />
von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Guadagnino gg. Italien und Frankreich<br />
2.555/03, Urteil vom 18.1.2011<br />
Faires Verfahren<br />
Nichteinhaltung einer vom BVerfG erlassenen einstweiligen<br />
Anordnung an das Justizministerium, bis zum<br />
Ergebnis der Verfassungsbeschwerde des Bf. einen Notariatsposten<br />
nicht zu besetzen: Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />
EMRK<br />
Kübler gg. Deutschland<br />
32.715/06, Urteil vom 13.1.2011<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
EGMR kurz gefasst<br />
45<br />
Unparteilichkeit<br />
Parteilichkeit einer Richterin in einem Insolvenzverfahren,<br />
da sie gleichzeitig auch Gläubigerin war: Verletzung<br />
von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Gajewski gg. Polen<br />
27.225/05, Urteil vom 21.12.2010<br />
Art. 6 EMRK – Strafverfahren<br />
Faires Verfahren<br />
Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils, mit dem der<br />
Bf. freigesprochen worden war: Verletzung von Art. 6<br />
Abs. 1 EMRK<br />
Butuşină gg. Rumänien<br />
30.818/04, Urteil vom 8.2.2011<br />
Recht auf Achtung des Privatlebens<br />
Ausweisung des Bf., dem 1998 politisches Asyl gewährt<br />
worden war, aus Gründen der nationalen Sicherheit<br />
ohne ausreichende Vorkehrungen gegen eine willkürliche<br />
Entscheidung: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
Geleri gg. Rumänien<br />
33.118/05, Urteil vom 15.2.2011<br />
Recht auf Achtung der Wohnung<br />
Durchsuchung der Wohnung bzw. des Büros der Bf. ohne<br />
richterliche Anordnung oder nachträgliche gerichtliche<br />
Überprüfung: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
Harju gg. Finnland<br />
Heino gg. Finnland<br />
56.716/09 und 56.720/09, Urteile vom 15.2.2011<br />
Unschuldsvermutung<br />
Zurückweisung einer zivilrechtlichen Schadenersatzklage<br />
wegen Führung eines – im Freispruch des Bf. endenden<br />
– Strafverfahrens, da dieser nicht beweisen konnte,<br />
der Verdacht gegen ihn sei unbegründet gewesen: keine<br />
Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK<br />
Bok gg. die Niederlande<br />
45.482/06, Urteil vom 18.1.2011<br />
Verteidigungsrechte<br />
Ausreichende Schutzvorkehrungen hinsichtlich der<br />
Zurückbehaltung von Beweismaterial gegen den unter<br />
Terrorismusverdacht stehenden Bf.: keine Verletzung von<br />
Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
McKeown gg. das Vereinigte Königreich<br />
6.684/05, Urteil vom 11.1.2011<br />
Verfahrensdauer<br />
Überlange Dauer eines Verfahrens wegen Steuerhinterziehung,<br />
das zunächst in Erwartung einer anderen Entscheidung<br />
ausgesetzt und letztlich eingestellt wurde:<br />
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Wienholtz gg. Deutschland<br />
974/07, Urteil vom 21.12.2010<br />
Art. 8 EMRK<br />
Recht auf Achtung des Privatlebens<br />
Abweisung eines Antrags auf Änderung des Vornamens<br />
der Bf., die angab, unter einem anderen Vornamen<br />
bekannt zu sein: keine Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
Golemanova gg. Bulgarien<br />
11.369/04, Urteil vom 17.2.2011<br />
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens<br />
Seit Inkrafttreten der Konvention andauernde Beeinträchtigung<br />
der Bf. durch von einer Kohlemine bzw. -fabrik<br />
ausgehende Umweltverschmutzung: Verletzung von<br />
Art. 8 EMRK<br />
Dubetska u.a. gg. die Ukraine<br />
30.499/03, Urteil vom 10.2.2011<br />
Recht auf Achtung des Familienlebens<br />
Über sechs Jahre dauerndes Verfahren betreffend die<br />
Besuchsrechte des Bf. und unzureichende Maßnahmen<br />
zum Schutz des Familienlebens: Verletzung von Art. 6<br />
Abs. 1 und Art. 8 EMRK<br />
Tsikakis gg. Deutschland<br />
1.521/06, Urteil vom 10.2.2011<br />
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens<br />
Verfügung, mit der die Bf., die wie ein fahrendes Volk<br />
umherzieht, ohne jedoch einer ethnischen oder traditionellen<br />
Gruppe anzugehören, am Betreten bzw. Belagern<br />
von Waldgebieten gehindert wurde: unzulässig<br />
Sharon Horie gg. das Vereinigte Königreich<br />
31.845/10, Entscheidung vom 1.2.2011<br />
Recht auf Achtung des Familienlebens<br />
Säumnisse der Behörden in Hinblick auf das Ersuchen<br />
des Bf., dessen von der Mutter nach Portugal verbrachtes<br />
Kind aufzufinden und nach Großbritannien zurückzuholen:<br />
Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
Dore gg. Portugal<br />
775/08, Urteil vom 1.2.2011<br />
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46<br />
EGMR kurz gefasst<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Recht auf Achtung des Privatlebens<br />
Lange Verzögerungen in Strafverfahren, bei dem auch<br />
ein Säureangriff auf die Bf. untersucht wurde: Verletzung<br />
von Art. 3 und Art. 8 EMRK<br />
Ebcin gg. die Türkei<br />
19.506/05, Urteil vom 1.2.2011<br />
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit<br />
Unterbrechung eines religiösen Treffens durch die Polizei,<br />
wofür es keine ausreichende gesetzliche Grundlage<br />
gab: Verletzung von Art. 9 und Art. 13 EMRK<br />
Boychev u.a. gg. Bulgarien<br />
77.185/01, Urteil vom 27.1.2011<br />
Recht auf Achtung des Familienlebens<br />
Fehlende Vollstreckung eines Urteils zugunsten der Bf.,<br />
mit der ihr das Sorgerecht für ihre Tochter zugesprochen<br />
wurde: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
Bordeianu gg. Moldawien<br />
49.868/08, Urteil vom 11.1.2011<br />
Recht auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz<br />
Keine gesetzliche Grundlage für Weigerung der Gefängnisbehörden,<br />
Briefe in einer anderen Sprache als der<br />
türkischen zu versenden: Verletzung von Art. 8 EMRK<br />
Nuri Özen u.a. gg. die Türkei<br />
15.672/08 u.a., Urteil vom 11.1.2011<br />
Recht auf Achtung des Familienlebens<br />
Keine Möglichkeit für den Bf., die rechtliche Vaterschaft<br />
für die drei Kinder feststellen zu lassen, die während der<br />
Ehe mit seiner Exfrau zur Welt kamen: keine Verletzung<br />
von Art. 8 EMRK<br />
Chavdarov gg. Bulgarien<br />
3.465/03, Urteil vom 21.12.2010<br />
Art. 9 EMRK<br />
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit<br />
Verpflichtung, auf der Lohnsteuerkarte zwecks Erhebung<br />
der Kirchensteuer die Mitglied- oder Nichtmitgliedschaft<br />
in einer Religionsgemeinschaft anzugeben:<br />
keine Verletzung von Art. 8 und Art. 9 EMRK<br />
Wasmuth gg. Deutschland<br />
12.884/03, Urteil vom 17.2.2011<br />
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit<br />
Auf Loyalitätsgründen beruhende Kündigung der Bf.,<br />
die in einem evangelischen Kindergarten angestellt war,<br />
jedoch einer anderen Religionsgemeinschaft angehörte<br />
und für diese tätig war: keine Verletzung von Art. 9 EMRK<br />
Siebenhaar gg. Deutschland<br />
18.136/02, Urteil vom 3.2.2011<br />
Art. 10 EMRK<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung wegen Veröffentlichung eines Buchs über<br />
das türkische Gefängnissystem, in dem die Bf. Propaganda<br />
für illegale bewaffnete Gruppen betrieben haben<br />
sollen: Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 EMRK<br />
Çamyar und Berktaş gg. die Türkei<br />
41.959/02, Urteil vom 15.2.2011<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Ausschluss des Bf. aus der Anwaltskammer wegen offensiver<br />
Bemerkungen gegenüber einem Richter, der ihn<br />
von einem Verfahren ausgeschlossen hatte: Verletzung<br />
von Art. 10 und Art. 6 Abs. 1 EMRK<br />
Igor Kabanov gg. Russland<br />
8.921/05, Urteil vom 3.2.2011<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung des Bf., der in der Presse gegen die US-<br />
Intervention im Irak und die Einzelhaft Öcalans protestiert<br />
hatte: Verletzung von Art. 10 und Art. 6 Abs. 1 und<br />
Abs. 3 lit. c EMRK<br />
Faruk Temel gg. die Türkei<br />
16.853/05, Urteil vom 1.2.2011<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung wegen Unterzeichnung einer Erklärung zur<br />
Aufhebung des im deutschen Vereinsgesetz vorgesehnen<br />
Verbots der PKK: keine Verletzung von Art. 10 EMRK<br />
Aydin gg. Deutschland<br />
16.637/07, Urteil vom 27.1.2011<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Für Insassen nordirischer Gefängnisse geltendes Verbot,<br />
außerhalb der Zellen Symbole mit politischem Hintergrund<br />
zu tragen: unzulässig<br />
Christopher Donaldson gg. das Vereinigte Königreich<br />
56.975/09, Entscheidung vom 25.1.2011<br />
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NLMR 1/2011-EGMR<br />
EGMR kurz gefasst<br />
47<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung wegen Berichterstattung über das Privatleben<br />
der Kommunikationsmanagerin eines Präsidentschaftskandidaten:<br />
Verletzung von Art. 10 EMRK; keine<br />
Verletzung von Art. 7 EMRK<br />
Reinboth u.a. gg. Finnland<br />
30.865/08, Urteil vom 25.1.2011<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung wegen Berichterstattung über Drogenentzugsmaßnahmen<br />
Naomi Campbells und Auferlegung<br />
der Verfahrenskosten, die auch ein zwischen Klägerin<br />
und Anwalt vereinbartes Erfolgshonorar umfassten:<br />
keine Verletzung von Art. 10 EMRK (Privatsphäre); Verletzung<br />
von Art. 10 EMRK (Erfolgshonorarkosten)<br />
MGN Limited gg. das Vereinigte Königreich<br />
39.401/04, Urteil vom 18.1.2011<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung zweier Politiker wegen Diffamierung, da<br />
sie ihrem politischen Gegner in einer Pressekonferenz<br />
schwere, auch strafrechtlich relevante Vorwürfe<br />
gemacht hatten: keine Verletzung von Art. 10 EMRK<br />
Barata Monteiro da Costa Nogueira und Patrício Pereira<br />
gg. Portugal<br />
4.035/08, Urteil vom 11.1.2011<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung zu Schadenersatzzahlung wegen Veröffentlichung<br />
eines Artikels über angebliche Veruntreuung<br />
von Staatsvermögen, ohne dass die Gerichte das Vorliegen<br />
einer Tatsachenbasis ausreichend geprüft haben:<br />
Verletzung von Art. 10 EMRK<br />
Novaya Gazeta V Voronezhe gg. Russland<br />
27.570/03, Urteil vom 21.12.2010<br />
Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Verurteilung des Bf. zu Schadenersatzzahlung wegen<br />
Diffamierung, weil er einen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl<br />
in einem Brief an Behörden kritisiert hatte:<br />
Verletzung von Art. 10 EMRK<br />
Sofranschi gg. Moldawien<br />
34.690/05, Urteil vom 21.12.2010<br />
Art. 11 EMRK<br />
Versammlungsfreiheit<br />
Gewaltvoller Zusammenstoß zwischen Polizei und<br />
Demonstranten bei der Niederschlagung eines Protestmarsches<br />
gegen Hochsicherheitsgefängnisse: Verletzung<br />
von Art. 3 und Art. 11 EMRK<br />
Gülizar Tuncer gg. die Türkei (Nr. 2)<br />
12.903/02, Urteil vom 8.2.2011<br />
Art. 14 EMRK<br />
Diskriminierungsverbot<br />
Keine Gewährung einer Witwenrente, da die Bf. nicht<br />
mit ihrem verstorbenen Partner verheiratet war: keine<br />
Verletzung von Art. 14 EMRK; Verletzung von Art. 6 Abs. 1<br />
und Art. 13 EMRK<br />
Korosidou gg. Griechenland<br />
9.957/08, Urteil vom 10.2.2011<br />
Art. 46 EMRK<br />
Strukturelles Problem<br />
Chronisches Problem exzessiver Verfahrensdauer vor<br />
allem vor den Verwaltungsbehörden: Verletzung von<br />
Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK<br />
Vassilios Athanasiou u.a. gg. Griechenland<br />
50.973/08, Urteil vom 21.12.2010<br />
Strukturelles Problem<br />
Strukturelle Verzögerungen bei der Vollstreckung von<br />
sogenannten »Pinto«-Entscheidungen, mit denen Entschädigungen<br />
für überlange Gerichtsverfahren zugesprochen<br />
wurden: Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und<br />
Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Gaglione u.a. gg. Italien<br />
45.867/07, Urteil vom 21.12.2010<br />
Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Recht auf Achtung des Eigentums<br />
Wertverlust von Unternehmensanteilen, deren Verkauf<br />
zur Sicherung der Steuerschulden der Bf. von der<br />
Finanzbehörde untersagt worden war: Verletzung von<br />
Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Metalco BT gg. Ungarn<br />
34.976/05, Urteil vom 1.2.2011<br />
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48<br />
EGMR kurz gefasst<br />
NLMR 1/2011-EGMR<br />
Recht auf Achtung des Eigentums<br />
Keine Erteilung einer Baugenehmigung auf dem Land<br />
des Bf., auf dem laut Bebauungsplan eine Schule errichtet<br />
werden sollte: Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Hakan Ari gg. die Türkei<br />
13.331/07, Urteil vom 11.1.2011<br />
Recht auf Achtung des Eigentums<br />
Gerechtfertigte Beschränkung der Eigentumsrechte der<br />
Bf. durch ein Gesetz, das die Beendigung von bereits 20<br />
Jahre bestehenden Mietverhältnissen untersagt: keine<br />
Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK<br />
Almeida Ferreira und Melo Ferreira gg. Portugal<br />
41.696/07, Urteil vom 21.12.2010<br />
Art. 2 1. Prot. EMRK<br />
Recht auf Bildung<br />
Schulausschluss für 45 Tage nach Brandlegung in Schulgebäude,<br />
wobei dem Bf. alternativer Unterricht angeboten<br />
wurde: keine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK<br />
Ali gg. das Vereinigte Königreich<br />
40.385/06, Urteil vom 11.1.2011<br />
Freizügigkeit<br />
Verweigerung der Ausstellung eines Reisepasses für den<br />
in Staatsgeheimnisse eingeweihten Bf., um ihn an Auslandsreisen<br />
zu hindern: Verletzung von Art. 2 4. Prot.<br />
EMRK<br />
Soltysyak gg. Russland<br />
4.663/05, Urteil vom 10.2.2011<br />
Freizügigkeit<br />
Entzug des Reisepasses des in einem überlangen Strafverfahren<br />
wegen Diebstahls verurteilten Bf., um ihn<br />
an der Ausreise zu hindern: Verletzung von Art. 6 Abs. 1,<br />
Art. 13 EMRK und Art. 2 4. Prot. EMRK<br />
Nalbantski gg. Bulgarien<br />
30.943/04, Urteil vom 10.2.2011<br />
Sarah Baier<br />
•<br />
Art. 3 1. Prot. EMRK<br />
Recht auf freie Wahlen<br />
Automatischer Entzug des Wahlrechts von zu lebenslanger<br />
Freiheitsstrafe verurteilten Häftlingen: Verletzung<br />
von Art. 3 1. Prot. EMRK<br />
Scoppola gg. Italien (Nr. 3)<br />
126/05, Urteil vom 18.1.2011<br />
Art. 2 4. Prot. EMRK<br />
Freizügigkeit<br />
Mehr als sechs Jahre dauerndes, im Zuge eines Strafverfahrens<br />
über den Bf. verhängtes Ausreiseverbot, dessen<br />
Frau und Kind in Deutschland leben: Verletzung von<br />
Art. 2 4. Prot. EMRK und Art. 13 EMRK<br />
Pfeifer gg. Bulgarien<br />
24.733/04, Urteil vom 17.2.2011<br />
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NLMR 1/2011-EuGH<br />
49<br />
Judikatur des EuGH<br />
Kündigung, sobald Anspruch auf Alterspension besteht<br />
Pensionsversicherungsanstalt gg. Christine Kleist, Urteil vom 18.11.2010, Rs. C-356/09<br />
Leitsatz<br />
Eine nationale Regelung, die die Kündigung von Arbeitnehmern<br />
vorsieht, die einen Anspruch auf Alterspension<br />
erworben haben, stellt eine unmittelbare Diskriminierung<br />
aufgrund des Geschlechts dar, wenn Frauen diesen<br />
Anspruch fünf Jahre früher erwerben als Männer.<br />
Rechtsquellen<br />
RL 76/207/EWG<br />
Schlagworte<br />
Alter; Alterspension; Arbeitsrecht; Diskriminierung;<br />
Kündigungsschutz; Pension; Sicherheit, soziale<br />
Sachverhalt<br />
Petra Pann<br />
Die Klägerin war leitende Ärztin bei der Pensionsversicherungsanstalt<br />
(im Folgenden: PVA). Kurz vor ihrem<br />
59. Geburtstag teilte sie ihrem Arbeitgeber mit Schreiben<br />
vom 9.1.2007 mit, dass sie beabsichtige, bis zur Vollendung<br />
ihres 65. Lebensjahres weiterzuarbeiten und<br />
nicht im Alter von 60 Jahren den Ruhestand anzutreten. 1<br />
Die PVA hatte zuvor beschlossen, Arbeitnehmer, die die<br />
1 Gemäß § 253 Abs. 1 ASVG erwerben Frauen den Anspruch auf<br />
Alterspension nach Vollendung des 60., Männer nach Vollendung<br />
des 65. Lebensjahres.<br />
Voraussetzungen 2 für eine Versetzung in den Ruhestand<br />
nach der Dienstordnung B für die Ärzte und Dentisten<br />
bei den Sozialversicherungsträgern Österreichs (im Folgenden:<br />
DO.B) erfüllen, zu kündigen. Mit Schreiben vom<br />
6.12.2007 wurde die Klägerin informiert, dass sie mit<br />
1.7.2008 in den Ruhestand versetzt werde.<br />
Die Klägerin focht ihre Kündigung vor dem LG Innsbruck<br />
erfolglos an. Das OLG Innsbruck in Arbeits- und<br />
Sozialrechtssachen gab ihrer Berufung jedoch statt. Die<br />
PVA legte daraufhin Revision beim OGH ein.<br />
Der OGH verwies auf den Umstand, dass die DO.B insofern<br />
einen stärkeren Kündigungsschutz als der österreichische<br />
allgemeine Kündigungsschutz darstellt, da<br />
sie eine Kündigung von Beschäftigten, deren Betriebszugehörigkeit<br />
zehn Jahre oder mehr beträgt, nur aus<br />
bestimmten Gründen zulässt. Der allgemeine Kündigungsschutz<br />
sieht dagegen vor, dass eine Kündigung<br />
im Allgemeinen keines Grundes bedarf. Dadurch werde<br />
jedoch die Anwendung des allgemeinen Kündigungsschutzes<br />
hinsichtlich missbräuchlicher Kündigungen<br />
nicht berührt, der unter bestimmten Voraussetzungen<br />
gelte, wenn die Kündigung wesentliche Interessen des<br />
Arbeitnehmers beeinträchtige und nicht durch betriebliche<br />
Gründe oder Gründe in der Person des Arbeitnehmers<br />
gerechtfertigt werden könne. Eine soziale Absicherung,<br />
insbesondere durch Bezug einer Alterspension,<br />
werde bei der Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher<br />
Interessen mitberücksichtigt.<br />
Der OGH stellte sich die Frage, ob das Kriterium der<br />
sozialen Situation des Arbeitnehmers, auf das das öster-<br />
2 Voraussetzung ist u.a. ein Anspruch auf Alterspension.<br />
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50<br />
Pensionsversicherungsanstalt gg. Christine Kleist<br />
reichische Kündigungsrecht verweise, bei der Beurteilung<br />
der Vergleichbarkeit der Situation der Arbeitnehmer<br />
nicht ebenso zu berücksichtigen sei wie das<br />
Alterskriterium. Männer und Frauen seien insofern<br />
gleichgestellt, als sie, wenn sie über eine soziale Absicherung<br />
verfügten, den verstärkten Kündigungsschutz<br />
der DO.B verlören.<br />
Im Rahmen dieses Verfahrens legte der OGH die folgenden<br />
Fragen zur Vorabentscheidung vor:<br />
1. Ist im Falle einer Ausgestaltung des allgemeinen<br />
Kündigungsschutzes wie in Österreich Art. 3 Abs. 1 lit. c<br />
der RL 76/207/EWG 3 dahin auszulegen, dass er einer<br />
kollektivvertraglichen Bestimmung entgegensteht, die<br />
einen weitergehenden Kündigungsschutz nur bis zu<br />
dem Zeitpunkt vorsieht, in dem typischerweise eine<br />
soziale Absicherung in Form eines Anspruchs auf Alterspension<br />
gegeben ist, wenn letzterer für Männer und<br />
Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten entsteht<br />
2. Steht diese Bestimmung im Rahmen dieses<br />
Arbeitsrechtssystems der Entscheidung eines öffentlichen<br />
Arbeitgebers entgegen, der eine Arbeitnehmerin<br />
wenige Monate nach dem Zeitpunkt kündigt, in dem<br />
sie eine Absicherung durch eine Alterspension hat, um<br />
neue am Arbeitsmarkt bereits andrängende Arbeitnehmer<br />
einzustellen<br />
Rechtsausführungen<br />
Der GH prüft die vorgelegten Fragen zusammen und<br />
klärt somit, ob – im Falle einer Rechtslage, die Frauen<br />
einen Anspruch auf Alterspension fünf Jahre früher<br />
zuspricht als Männern – eine nationale Regelung, die<br />
es einem öffentlichen Arbeitgeber erlaubt, Arbeitnehmer<br />
zu kündigen, die einen Anspruch auf Alterspension<br />
erworben haben, um den Zugang jüngerer Menschen<br />
zur Beschäftigung zu fördern, eine verbotene Diskriminierung<br />
aufgrund des Geschlechts darstellt.<br />
Art. 3 Abs. 1 lit. c der RL 76/207/EWG sieht vor, dass<br />
die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes<br />
hinsichtlich der Entlassungsbedingungen bedeutet,<br />
dass es im öffentlichen und privaten Bereich einschließlich<br />
öffentlicher Stellen keinerlei unmittelbare oder<br />
mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts<br />
geben darf. Eine Altersgrenze für das obligatorische Ausscheiden<br />
der Arbeitnehmer im Rahmen einer allgemeinen<br />
Pensionierungspolitik eines Arbeitgebers fällt unter<br />
den Begriff der Entlassungsbedingungen im Sinne dieser<br />
Bestimmung, auch wenn dieses Ausscheiden die<br />
Gewährung einer Altersrente mit sich bringt.<br />
NLMR 1/2011-EuGH<br />
Der GH hat bereits entschieden, dass eine allgemeine<br />
Entlassungspolitik, die auf das Alter einer Arbeitnehmerin<br />
abstellt, in dem sie einen Anspruch auf Altersrente<br />
erwirbt und das nach dem nationalen Recht für<br />
Männer und Frauen unterschiedlich ist, eine durch die<br />
RL 76/207/EWG verbotene Diskriminierung aufgrund<br />
des Geschlechts darstellt.<br />
Eine unmittelbare Diskriminierung gemäß Art. 2<br />
Abs. 2 erster Gedankenstrich der RL 76/207/EWG liegt<br />
dann vor, wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts<br />
in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige<br />
Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt,<br />
erfahren hat oder erfahren würde.<br />
Gemäß den Regelungen der DO.B können unkündbare<br />
Ärzte doch gekündigt werden, wenn sie einen Anspruch<br />
auf Alterspension erworben haben. Dies führt dazu, dass<br />
Frauen bereits im Alter von 60 Jahren gekündigt werden<br />
können, während bei Männern dies erst im Alter von 65<br />
Jahren möglich ist. Es liegt somit eine Ungleichbehandlung<br />
vor, die unmittelbar auf das Geschlecht gestützt ist.<br />
Es ist sodann zu prüfen, ob sich Arbeitnehmer weiblichen<br />
Geschlechts im Alter von 60 bis 65 Jahren in diesem<br />
Zusammenhang in einer vergleichbaren Situation iSd.<br />
RL 76/207/EWG befinden, wie Männer derselben Altersgruppe.<br />
Beachtlich ist vor allem der Umstand, dass Frauen<br />
in diesem Alter über eine soziale Absicherung in Form<br />
von Alterspension verfügen, während männliche Arbeitnehmer<br />
diesen Anspruch noch nicht erworben haben.<br />
Die Vergleichbarkeit einer Situation ist auch hinsichtlich<br />
des Zieles der Regelung, die die Ungleichbehandlung<br />
festsetzt, zu prüfen. Im Ausgangsverfahren soll die<br />
Regelung die Bedingungen festlegen, unter denen die<br />
Arbeitnehmer ihre Beschäftigung verlieren können. Das<br />
Ziel der Regelung steht dabei in keinem unmittelbaren<br />
Zusammenhang mit dem Vorteil der weiblichen Arbeitnehmer,<br />
der darin besteht, dass sie den Anspruch auf<br />
Alterspension fünf Jahre früher erwerben als männliche<br />
Arbeitnehmer.<br />
Der GH stellt fest, dass eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz<br />
gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. a RL 79/7/<br />
EWG 4 , nach der die Festsetzung des Rentenalters vom<br />
Anwendungsbereich der RL ausgenommen werden<br />
kann, eng auszulegen ist und nicht für den Bereich der<br />
Entlassung iSv. Art. 3 Abs. 1 lit. c der RL 79/207/EWG gilt.<br />
Des Weiteren besteht für eine unmittelbare Diskriminierung<br />
iSv. Art. 2 Abs. 2 erster Gedankenstrich der<br />
RL 79/207/EWG keine Möglichkeit, der Einstufung als<br />
Diskriminierung durch eine sachliche Rechtfertigung<br />
und der Einsetzung verhältnismäßiger Mittel zu entgehen,<br />
wie dies für eine mittelbare Diskriminierung<br />
3 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung<br />
des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern<br />
und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung,<br />
zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug<br />
auf die Arbeitsbedingungen.<br />
4 Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur<br />
schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung<br />
von Männern und Frauen im Bereich der sozialen<br />
Sicherheit.<br />
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NLMR 1/2011-EuGH<br />
gemäß dem zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung<br />
vorgesehen ist. Die vorliegende Ungleichbehandlung<br />
ist als unmittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />
Geschlechts anzusehen und kann daher nicht durch das<br />
Ziel gerechtfertigt werden, die Beschäftigung jüngerer<br />
Menschen zu fördern.<br />
Die Prüfung einer Diskriminierung aufgrund des<br />
Alters gemäß der RL 2000/78/EG ist vorliegend nicht<br />
sachdienlich, da das Vorlagegericht nicht nach der Auslegung<br />
dieser RL gefragt hat.<br />
DEB gg. Deutschland<br />
Der EuGH hat für Recht erkannt:<br />
Die RL 76/207/EWG ist dahin auszulegen, dass eine<br />
nationale Regelung, die einem Arbeitgeber erlaubt, zur<br />
Förderung des Zugangs von jüngeren Menschen zur<br />
Beschäftigung Arbeitnehmer zu kündigen, die einen<br />
Anspruch auf Alterspension erworben haben, eine verbotene<br />
unmittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />
Geschlechts darstellt, wenn Frauen diesen Anspruch<br />
in einem Alter erwerben, das fünf Jahre niedriger ist als<br />
jenes, in dem der Anspruch für Männer entsteht.<br />
51<br />
•<br />
Prozesskostenhilfe für juristische Person<br />
Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH gg. Deutschland, Urteil vom 22.12.2010, Rs. C-279/09<br />
Leitsatz<br />
Der in Art. 47 GRC verankterte Effektivitätsgrundsatz<br />
kann auch durch juristische Personen geltend gemacht<br />
werden.<br />
Rechtsquellen<br />
RL 98/30/EG, RL 2003/55/EG, Art. 47 GRC<br />
Schlagworte<br />
Diskriminierung; Person, juristische;<br />
Prozesskostenhilfe; Zugang zu einem Gericht, Recht auf<br />
Sachverhalt<br />
Sofia Iliaki<br />
Das vorliegende, vom Kammergericht eingereichte Vorabentscheidungsersuchen<br />
ergeht aus einem Rechtsstreit<br />
über die Voraussetzungen der Bewilligung von<br />
Prozesskostenhilfe für juristische Personen.<br />
Bei der Klägerin handelt es sich um die Deutsche Energiehandels-<br />
und Beratungsgesellschaft mbH (im Folgenden:<br />
DEB), die als juristische Person Prozesskostenhilfe<br />
für eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland<br />
beantragte, mit der ein unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch<br />
verfolgt werden sollte. DEB begehrt<br />
Schadenersatz für einen entgangenen Gewinn in Höhe<br />
von € 3,7 Milliarden aufgrund der verspäteten Umsetzung<br />
der RL 98/30/EG 1 und RL 2003/55/EG 2 durch diesen<br />
Mitgliedstaat, die den diskriminierungsfreien Zugang<br />
zu den nationalen Gasnetzen hätten ermöglichen sollen.<br />
Aufgrund der fehlenden Umsetzung habe DEB<br />
gegenüber den deutschen Netzbetreibern ihren Zugang<br />
zu deren Gasnetzen nicht durchsetzen können, wodurch<br />
der erwähnte Gewinnentgang bewirkt worden sei.<br />
DEB wies darauf hin, dass sie derzeit weder Arbeitnehmer<br />
noch Gläubiger beschäftige und den gemäß § 12<br />
Abs. 1 Gerichtskostengesetz erforderlichen Gerichtskostenvorschuss<br />
in Höhe von € 274.368,– mangels Einnahmen<br />
und Vermögen nicht erbringen könne. Ihr stünden<br />
ebenso keine finanziellen Mittel zur Verfügung, einen<br />
Rechtsanwalt, dessen Mitwirkung zwingend vorgeschrieben<br />
sei, als Prozessbevollmächtigten zu beauftragen.<br />
Das Landgericht Berlin wies die Bewilligung von Prozesskostenhilfe<br />
zurück, weil die Voraussetzungen des<br />
§ 116 Nr. 2 ZPO 3 nicht vorlägen.<br />
1 Richtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates<br />
vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für<br />
den Erdgasbinnenmarkt.<br />
2 Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des<br />
Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für<br />
den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie<br />
98/30/EG.<br />
3 Dieser Bestimmung zufolge erhält eine (näher umschriebene)<br />
juristische Person auf Antrag Prozesskostenhilfe, »enn<br />
die Kosten weder von ihr noch von den am Gegenstand des<br />
Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden<br />
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52<br />
DEB gg. Deutschland<br />
Das Kammergericht bestätigte diese Entscheidung. Es<br />
ist unter Bezugnahme auf die zu dieser Vorschrift ergangene<br />
Rechtsprechung des BGH der Auffassung, dass die<br />
Unterlassung der Rechtsverfolgung im vorliegenden Fall<br />
allgemeinen Interessen nicht zuwiderlaufe. Dies wäre<br />
nur dann der Fall, wenn die Entscheidung größere Kreise<br />
der Bevölkerung oder des Wirtschaftslebens anspreche<br />
oder soziale Auswirkung nach sich ziehen könne.<br />
Das Kammergericht hat das Verfahren ausgesetzt und<br />
dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung<br />
vorgelegt: Bestehen Bedenken gegen eine nationale<br />
Regelung, nach der eine gerichtliche Geltendmachung<br />
von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig<br />
gemacht wird und einer juristischen Person, die diesen<br />
Vorschuss nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe<br />
nicht zu bewilligen ist – Bedenken insofern, als<br />
die Erlangung einer Entschädigung nach den Grundsätzen<br />
des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs<br />
nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig<br />
erschwert werden darf.<br />
Rechtsausführungen<br />
Die Frage des vorlegenden Gerichts bezieht sich auf den<br />
Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.<br />
Gemäß diesem darf die Art und Weise einer Verfahrensdurchführung<br />
die Ausübung der Rechte des Einzelnen<br />
nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig<br />
erschweren. Demnach ist zu prüfen, ob die Tatsache,<br />
dass einer juristischen Person Prozesskostenhilfe nicht<br />
gewährt wird, ihr die Ausübung ihrer Rechte praktisch<br />
unmöglich macht oder übermäßig erschwert, sodass<br />
diese deshalb keinen Zugang zu einem Gericht hat, weil<br />
es ihr unmöglich ist, die Vorleistung für die Gerichtskosten<br />
aufzubringen und sich des Beistands eines Rechtsanwalts<br />
zu versichern.<br />
Bezüglich der Grundrechte ist Art. 47 Abs. 1 GRC zu<br />
berücksichtigen, der besagt, dass jede Person, deren<br />
unionsrechtlich garantierten Rechte oder Freiheiten<br />
verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der<br />
in dieser Bestimmung vorgesehenen Bedingungen bei<br />
einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.<br />
Nach Abs. 2 desselben Artikels hat jede Person ein<br />
Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen,<br />
unparteiischen und zuvor durch das Gesetz errichteten<br />
Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb<br />
angemessener Frist verhandelt wird. Abs. 3 sieht<br />
sogar speziell vor, dass Personen, die nicht über ausreichende<br />
Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe bewilligt<br />
können und wenn die Unterlassung der Rechtsverfolgung<br />
oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen<br />
würde.«<br />
NLMR 1/2011-EuGH<br />
wird, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang<br />
zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.<br />
Die Vorlagefrage ist daher folgendermaßen umzuformulieren:<br />
Steht Art. 47 GRC im Zusammenhang mit<br />
einem Verfahren zur Geltendmachung des unionsrechtlichen<br />
Staatshaftungsanspruchs einer nationalen Regelung<br />
entgegen, die die gerichtliche Geltendmachung<br />
von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig<br />
macht und nach der einer juristischen Person, wenn sie<br />
diesen nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe nicht<br />
zu bewilligen ist<br />
Bezüglich der Prozesskostenhilfe ist sowohl der Aspekt<br />
der Gerichtskosten als auch der Aspekt der Ansprüche<br />
des Rechtsanwalts gegen die Partei zu prüfen.<br />
Da Art. 47 Abs. 3 GRC Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht,<br />
ist bezüglich der Bedeutung und Tragweite der garantierten<br />
Rechte die diesbezügliche Rechtsprechung des<br />
EGMR zu berücksichtigen.<br />
In den Erläuterungen zu Art. 47 GRC wird das Urteil<br />
Airey/IRL 4 des EGMR erwähnt, wonach Prozesskostenhilfe<br />
zu gewähren ist, wenn mangels einer solchen Hilfe<br />
die Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs nicht<br />
gewährleistet wäre. In dieser Bestimmung wird weder<br />
angeben, ob einer juristischen Person Prozesskostenhilfe<br />
zu gewähren ist, noch, was sie abdeckt.<br />
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften<br />
erwähnte in ihren schriftlichen Erklärungen, dass der in<br />
Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC verwendete Begriff »Person« auf<br />
natürliche Personen hinweise, aber auch juristische Personen<br />
rein sprachlich nicht ausschließe. Auch die Verwendung<br />
des Begriffs »Person«, im Gegensatz zum teilweise<br />
verwendeten Begriff »Mensch«, spricht dafür, dass<br />
Art. 47 GRC auch durch juristische Personen geltend<br />
gemacht werden kann. Dies gilt ebenso für die Einordnung<br />
des Rechts, bei einem Gericht einen wirksamen<br />
Rechtsbehelf einzulegen, in den Titel IV der Charta (»Justizielle<br />
Rechte«), in dem weitere, auch für juristische Personen<br />
geltende Verfahrensgrundsätze verankert sind.<br />
Der EGMR hat außerdem wiederholt darauf hingewiesen,<br />
dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht<br />
Bestandteil des Rechts auf einen fairen Prozess iSv.<br />
Art. 6 Abs. 1 EMRK sei. Was die Prozesskostenhilfe in<br />
Form des Beistands eines Rechtsanwalts betrifft, hat der<br />
EGMR entschieden, dass die besonderen Umstände des<br />
Einzelfalls zu prüfen seien und die Erforderlichkeit der<br />
Gewährung von Prozesskostenhilfe u.a. vom Umfang der<br />
Auswirkungen auf den Kläger, der Komplexität des geltenden<br />
Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie<br />
von der Fähigkeit des Klägers abhänge, seine Sache<br />
wirksam zu verteidigen. Den finanziellen Verhältnissen<br />
des Betroffenen oder seinen Erfolgsaussichten im Verfahren<br />
darf dabei Rechnung getragen werden. 5<br />
4 EGMR 9.10.1979, Airey/IRL v. 9.10.1979, EuGRZ 1979, 626.<br />
5 EGMR 15.2.2005, Steel und Morris/GB, NL 2005, 27.<br />
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NLMR 1/2011-EuGH<br />
Bezüglich der Prozesskostenhilfe in der Form der<br />
Befreiung von den Gerichtskosten ist der EGMR der Meinung,<br />
dass zu prüfen sei, ob die Beschränkungen des<br />
Rechts auf Zugang zu den Gerichten das Recht in seinem<br />
Wesensgehalt beeinträchtigen, ob sie einen legitimen<br />
Zweck verfolgten und ob die eingesetzten Mittel in angemessenem<br />
Verhältnis zum verfolgten Ziel standen. Daraus<br />
ergibt sich, dass die Prozesskostenhilfe sowohl den<br />
Beistand eines Rechtsanwalts als auch die Befreiung von<br />
den Gerichtskosten decken kann. Aus der Prüfung der<br />
Rechtsprechung ist ferner abzuleiten, dass die Gewährleistung<br />
von Prozesskostenhilfe für juristische Personen<br />
nicht grundsätzlich ausgeschlossen, jedoch nach Maßgabe<br />
der geltenden Vorschriften und der Verhältnisse<br />
der jeweiligen Gesellschaft zu beurteilen ist. Der Gegenstand<br />
des Rechtsstreits, insbesondere seine wirtschaftliche<br />
Bedeutung, kann dabei berücksichtigt werden. Bei<br />
der Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit<br />
von juristischen Personen kann insbesondere die<br />
Gesellschaftsform, die Finanzkraft der Anteilseigner,<br />
der Gesellschaftszweck, die Modalitäten ihrer Gründung<br />
und speziell das Verhältnis zwischen den ihr zur<br />
Verfügung gestellten Mitteln und der geplanten Tätigkeit<br />
beachtet werden.<br />
Der EFTA-Überwachungsbehörde zufolge könne nach<br />
deutschem Recht einem Unternehmen niemals Prozesskostenhilfe<br />
bewilligt werden, wenn es noch nicht in der<br />
Lage gewesen sei, sich richtig mit Arbeitnehmern und<br />
anderen Betriebsfaktoren zu etablieren. Die nationalen<br />
Gerichte müssen zwar einen solchen Umstand berücksichtigen,<br />
sie haben allerdings auch einen gerechten<br />
Ausgleich anzustreben, um den Zugang von Antragstellern<br />
zu den Gerichten zu gewährleisten, ohne aber diese<br />
gegenüber anderen Antragstellern zu bevorzugen. Das<br />
vorlegende Gericht und die deutsche Regierung haben<br />
hierzu ausgeführt, dass der Begriff »allgemeine Interessen«<br />
es erlaubt, alle nur denkbaren allgemeinen Interessen<br />
zugunsten einer juristischen Person einzubeziehen.<br />
DEB gg. Deutschland<br />
die Bedeutung des Rechtsstreits für diesen, die Komplexität<br />
des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens<br />
sowie die Fähigkeit des Klägers berücksichtigen,<br />
sein Anliegen wirksam zu verteidigen. Bezüglich der Verhältnismäßigkeit<br />
kann der nationale Richter die Höhe<br />
der vorzuleistenden Gerichtskosten und dem Umstand<br />
Rechnung tragen, ob sie überhaupt für den Zugang zum<br />
Recht ein unüberwindliches Hindernis darstellen oder<br />
nicht. Insbesondere bei juristischen Personen kann der<br />
nationale Richter deren Verhältnisse erwägen.<br />
•<br />
53<br />
Der EuGH hat für Recht erkannt:<br />
Auf die Vorlagefrage ist zu antworten, dass der in Art. 47<br />
GRC verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen<br />
Rechtsschutzes in Art. 47 GRC so auszulegen ist, dass<br />
seine Geltendmachung durch juristische Personen nicht<br />
ausgeschlossen ist. Die Befreiung kann die Zahlung des<br />
Gerichtskostenvorschusses und/oder der Gebühren für<br />
den Beistand eines Rechtsanwalts umfassen.<br />
Der nationale Richter muss insoweit untersuchen, ob<br />
die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe<br />
das Recht auf Zugang zu den Gerichten in seinem<br />
Wesensgehalt beinträchtigen, ob die Beschränkung<br />
einem legitimen Zweck dient und ob die eingesetzten<br />
Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten<br />
Ziel stehen. Er kann sowohl den Streitgegenstand,<br />
die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers als auch<br />
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54<br />
NLMR 1/2011-VfGH<br />
Österreichische Judikatur<br />
Anerkennung einer islamischen Religionsgemeinschaft<br />
VfGH B 1214/09, Erkenntnis vom 1.12.2010<br />
Leitsatz der Redaktion<br />
Es würde gegen die Garantien der Religionsfreiheit verstoßen,<br />
wollte der Gesetzgeber einer Personengruppe,<br />
für deren religiöse Überzeugung es essentiell ist, sich zu<br />
einem bestimmten Glauben zu bekennen, die Möglichkeit<br />
verwehren, neben der auf einem bestimmten Gebiet<br />
einzig bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft<br />
eine andere dieses Glaubens zu gründen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 9 EMRK, Art. 15 StGG, § 2 AnerkennungsG, §§ 2,<br />
4 Abs. 1 Z. 2, 11 BekGG, Art. I und § 1 Islamgesetz, § 1<br />
Islam-Verordnung<br />
Schlagworte<br />
Glaubensfreiheit; Religionsfreiheit<br />
Sachverhalt<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Mit Bescheid der Bundesministerin für Unterricht,<br />
Kunst und Kultur vom 25.8.2009 wurden die Anträge<br />
des »Kulturvereins von Aleviten in Wien« auf Anerkennung<br />
als Islamische-Alevitische Glaubensgemeinschaft<br />
bzw. Bekenntnisgemeinschaft abgewiesen. Die belangte<br />
Behörde nahm dabei Bezug auf eine Stellungnahme der<br />
Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (im<br />
Folgenden: IGGiÖ) als mitbeteiligte Partei. Demnach<br />
handle es sich beim Alevitentum um eine synkretistische<br />
Glaubensrichtung, die mit den religiösen Praktiken<br />
der muslimischen Gemeinschaft der Sunniten und<br />
Schiiten in keiner Weise etwas zu tun habe, sondern vielmehr<br />
eine Glaubenslehre vertrete, die der islamischen<br />
Glaubenstheologie diametral entgegenstehe.<br />
Die Abweisung des Antrags auf Anerkennung als<br />
gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft gemäß § 2<br />
AnerkennungsG wurde damit begründet, dass weder im<br />
Islamgesetz noch in der Islam-Verordnung die Möglichkeit<br />
der Gründung einer weiteren islamischen Glaubensgemeinschaft<br />
vorgesehen sei. Angesichts des Erkenntnisses<br />
VfSlg. 11.574/1987, 1 mit welchem die Wortfolge<br />
»nach hanefitischem Ritus« aufgehoben wurde, seien<br />
nunmehr alle Anhänger des Islam dem Wirkungsbereich<br />
des Islamgesetzes zugeordnet. Eine Anerkennung<br />
würde daher einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten<br />
der IGGiÖ darstellen. Die Abweisung des Antrags auf<br />
Erwerb der Rechtspersönlichkeit als religiöse Bekenntnisgemeinschaft<br />
nach § 2 BekGG gründe sich hingegen<br />
auf das Fehlen einer dem § 4 Abs. 1 Z. 2 BekGG entsprechenden<br />
Religionslehre. Die Lehre der antragstellenden<br />
Gemeinschaft enthalte sowohl Elemente, wie sie im sunnitischen<br />
und schiitischen Islam vorhanden seien, als<br />
auch Inhalte, die in keiner anderen Religion vorkämen;<br />
daher sei letztendlich die Selbstzuordnung der Antragsteller<br />
zum Islam ausschlaggebend. Da für die Anhänger<br />
des Islam jedoch bereits eine gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft,<br />
die IGGiÖ, bestehe und spätestens<br />
nach Erfüllung der Voraussetzungen des § 11 BekGG<br />
1 VfGH 10.12.1987, G 146/87 u.a.<br />
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NLMR 1/2011-VfGH VfGH B 1214/09<br />
55<br />
eine Anerkennung zu erfolgen hätte, würde es schließlich<br />
zwei sich als islamisch verstehende Religionsgesellschaften<br />
geben, was das Islamgesetz jedoch ausschließe.<br />
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende<br />
Beschwerde an den VfGH wegen behaupteter Verletzung<br />
im Recht auf Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK).<br />
Rechtsausführungen<br />
Soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des<br />
Antrags auf Anerkennung als gesetzlich anerkannte<br />
Religionsgesellschaft richtet, ist sie nicht begründet,<br />
setzt doch § 11 Abs. 1 Z. 1 BekGG für eine Anerkennung<br />
den Bestand als religiöse Bekenntnisgemeinschaft voraus,<br />
der im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben ist.<br />
Dieser Beschwerdepunkt ist daher abzuweisen.<br />
Die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf<br />
Feststellung des Erwerbs der Rechtspersönlichkeit als<br />
religiöse Bekenntnisgemeinschaft ist begründet: Weder<br />
dem Wortlaut des Art. I Islamgesetz, wonach den Anhängern<br />
des Islam die Anerkennung als Religionsgesellschaft<br />
gewährt wird, noch jenem des § 1 leg. cit., der die<br />
Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse an den Zeitpunkt<br />
der Errichtung wenigstens einer Kultusgemeinde<br />
knüpft, kann entnommen werden, dass es nur eine<br />
einzige islamische Religionsgesellschaft bzw. Bekenntnisgemeinschaft<br />
geben darf. Ebenso wenig ergibt sich<br />
eine solche Beschränkung aus § 1 Islam-Verordnung,<br />
wonach die Anhänger des Islam die Bezeichnung »Islamische<br />
Glaubensgemeinschaft in Österreich« führen.<br />
Im Übrigen ist aus dem Erkenntnis VfSlg. 11.574/1987,<br />
demzufolge die (damals) bestehende Gesetzeslage es in<br />
verfassungswidriger Weise nicht erlaube, alle Anhänger<br />
der religiösen Gemeinschaft des Islam in einer anerkannten<br />
Religionsgemeinschaft zusammenzufassen,<br />
keineswegs der Umkehrschluss zu ziehen, dass nun alle<br />
Anhänger des Islam zwingend in einer einzigen Religionsgemeinschaft<br />
zusammenzufassen wären.<br />
Aus Art. 15 StGG kann nicht abgeleitet werden, dass<br />
nur eine einzige rechtlich verfasste islamische Religionsgemeinschaft<br />
bestehen darf. Ein solches Ergebnis<br />
stünde auch im Konflikt mit Art. 9 EMRK, ist doch der<br />
Staat laut der Rechtsprechung des EGMR zur Neutralität<br />
und Unparteilichkeit verpflichtet. 2 Eine Verletzung<br />
des Art. 9 EMRK ist dann anzunehmen, wenn die Anerkennung<br />
einer – keine neue Bewegung darstellenden –<br />
Religionsgemeinschaft vom Willen einer bereits anerkannten<br />
kirchlichen Autorität abhängig gemacht wird. 3<br />
Ferner verstieße es gegen die Garantien der Religions-<br />
2 Siehe EGMR 31.7.2008, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas<br />
u.a./A, NL 2008, 232; ÖJZ 2008, 865.<br />
3 Vgl. EGMR 13.12.2001, Metropolitanische Kirche von Bessarabien<br />
u.a./MD, NL 2001, 250.<br />
freiheit, wollte der Gesetzgeber einer Personengruppe,<br />
für deren religiöse Überzeugung es essentiell ist, sich zu<br />
einem bestimmten Glauben zu bekennen, die Möglichkeit<br />
verwehren, neben der auf einem bestimmten Gebiet<br />
einzig bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft<br />
eine andere dieses Glaubens zu gründen.<br />
Die relevanten Bestimmungen des Islamgesetzes<br />
bzw. der Islam-Verordnung überschreiten weder die<br />
vom EGMR markierte Grenze des konventionsrechtlich<br />
Zulässigen noch gebieten sie, dass es nur eine rechtlich<br />
verfasste islamische Religionsgemeinschaft geben darf.<br />
Sie sind vielmehr dahingehend auszulegen, dass eine<br />
Vertretung aller Anhänger des Islam durch eine (islamische)<br />
»Einheitsgemeinde« nicht vorgegeben ist und stehen<br />
somit dem – von den Voraussetzungen des BekGG<br />
und des AnerkennungsG abhängigen – Bestand einer<br />
weiteren islamischen Religionsgemeinschaft nicht entgegen.<br />
Bei Erfüllung der im AnerkennungsG bzw. im BekGG<br />
festgelegten Voraussetzungen kann – entsprechend der<br />
das Erkenntnis VfSlg. 11.574/1987 tragenden Grundposition<br />
– auch eine weitere sich als islamisch verstehende<br />
Religionsgemeinschaft gesetzlich anerkannt bzw. als<br />
religiöse Bekenntnisgemeinschaft eingetragen werden.<br />
Die von der belangten Behörde vorgenommene Auslegung<br />
führt somit zu einem unverhältnismäßigen Eingriff<br />
in das Grundrecht der Religionsfreiheit, wurde von<br />
ihr doch die Voraussetzung des Bestehens einer Religionslehre,<br />
die sich von der Lehre anderer Bekenntnisgemeinschaften<br />
bzw. gesetzlich anerkannter Kirchen und<br />
Religionsgesellschaften unterscheidet, im Wesentlichen<br />
mit der Begründung verneint, dass es bereits eine<br />
sich ebenfalls als islamisch verstehende – gesetzlich<br />
anerkannte – Religionsgesellschaft gebe und die Zuerkennung<br />
des Status einer Bekenntnisgemeinschaft eine<br />
Einmischung in die Angelegenheiten einer gesetzlich<br />
anerkannten Religionsgesellschaft bilden würde.<br />
Damit hat die belangte Behörde § 4 Abs. 1 Z. 2 BekGG<br />
einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt, der mit<br />
Art. 9 EMRK – in der Bedeutung, die ihm die Rechtsprechung<br />
des EGMR und des VfGH gegeben haben –<br />
nicht im Einklang steht. Bei der Beurteilung, ob die<br />
beschwerdeführende Partei dem Erfordernis der Darstellung<br />
einer sich von der Lehre religiöser Bekenntnisgemeinschaften<br />
sowie gesetzlich anerkannter Kirchen<br />
und Religionsgesellschaften unterscheidenden<br />
Religionslehre entsprochen hat, hätte sich die belangte<br />
Behörde mit deren Vorbringen näher auseinandersetzen<br />
müssen. Die Formulierung des § 4 Abs. 1 Z. 2 BekGG<br />
legt nahe, dass sie dabei auf die Beurteilung der Frage<br />
der ausreichenden Darstellung der Unterschiedlichkeit<br />
beschränkt, nicht aber dazu berufen ist, über die Legitimität<br />
der Religionslehre inhaltlich abzusprechen. Der<br />
angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung des<br />
Rechts auf Religionsfreiheit aufzuheben.<br />
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56<br />
NLMR 1/2011-VfGH<br />
Differenzierung bei Fahrpreisermäßigung für Senioren<br />
VfGH V 39/10 u.a., Erkenntnis vom 15.12.2010<br />
Leitsatz der Redaktion<br />
Bei der Fahrpreisermäßigung für Senioren kann eine<br />
Anknüpfung am unterschiedlichen gesetzlichen Pensionsalter,<br />
welches jedoch auf die Benützung öffentlicher<br />
Verkehrsmittel nicht unmittelbar Auswirkung hat, nicht<br />
als »spezifische Maßnahme« iSv. Art. 6 der RL 2004/113/<br />
EG angesehen werden, um geschlechtsspezifische<br />
Benachteiligungen zu verhindern oder auszugleichen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 89 Abs. 2, Art. 139 Abs. 1 und 2 B-VG, § 40a ff. GlBG,<br />
Art. 7 RL 79/7/EWG, Art. 6 RL 2004/113/EG<br />
Schlagworte<br />
Alter; Diskriminierung; Geschlecht; Pension;<br />
Unionsrecht<br />
Sachverhalt<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Mit auf Art. 89 Abs. 2 iVm. Art. 139 Abs. 1 und Abs. 3<br />
B-VG gestützten Anträgen vom 26.2.2010 und 2.3.2010<br />
begehrten das BG für Handelssachen Wien bzw. das BG<br />
Innere Stadt Wien, der VfGH möge die Wortfolge »Senioren<br />
– das sind Männer ab dem 65. und Frauen ab dem 60.<br />
Lebensjahr« in Punkt 9 der Anlage 1 der VO des Bundesministers<br />
für Verkehr, Innovation und Technologie über<br />
die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den<br />
Kraftfahrlinienverkehr (im Folgenden: Kfl-Bef-Bed-VO)<br />
vom 18.1.2001, BGBl. II 47/2001, 1 aufheben. Bei ihnen<br />
wären Rechtssachen anhängig, in denen im Ruhestand<br />
befindliche Kläger, die noch nicht das 65. Lebensjahr<br />
erreicht hätten, behaupten würden, die Ermäßigung für<br />
die Benutzung von Verkehrsmitteln auf der Grundlage<br />
unterschiedlicher Altersgrenzen für Frauen und Männer<br />
stelle eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />
Geschlechts dar. Es bestünden Bedenken hinsichtlich<br />
der Gesetzmäßigkeit der Wortfolge in Punkt 9 der Anlage<br />
1 der Kfl-Bef-Bed-VO im Hinblick auf § 40a ff. GlBG.<br />
1 Demnach kann Senioren – das sind Männer ab dem 65. und<br />
Frauen ab dem 60. Lebensjahr – bei Vorweis eines gültigen<br />
amtlichen Lichtbildausweises eine Fahrpreisermäßigung in<br />
der Höhe von 50 Prozent gewährt werden.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der VfGH hält es für denkmöglich, dass die beiden<br />
Gerichte die angefochtene Wortfolge in den bei ihnen<br />
anhängigen Verfahren – in denen Schadenersatzansprüche<br />
wegen der Anwendung diskriminierender Seniorenfahrpreisermäßigungen<br />
geltend gemacht werden –<br />
anzuwenden haben. Die Anträge sind somit, da auch die<br />
übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, zulässig.<br />
Ziel des Kraftfahrlinienrechts ist die optimale Versorgung<br />
der Bevölkerung mit Kraftfahrlinien. Der Verordnungsgeber<br />
hat bei der Festlegung von Ermäßigungskriterien<br />
iSv. § 46 Kraftfahrliniengesetz aber auch darauf<br />
Bedacht zu nehmen, nicht gegen andere Bundesgesetze,<br />
wie etwa das Gleichbehandlungsgesetz, zu verstoßen.<br />
§ 40b GlBG verbietet grundsätzlich jede unmittelbare<br />
oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des<br />
Geschlechts bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen,<br />
die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.<br />
Gemäß § 40c GlBG liegt eine unmittelbare Diskriminierung<br />
vor, wenn eine Person auf Grund ihres Geschlechts<br />
in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige<br />
Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren<br />
hat oder erfahren würde. Im vorliegenden Fall wird bei<br />
der Gewährung von Preisermäßigungen für Senioren<br />
unmittelbar zwischen Männern und Frauen unterschieden<br />
und an unterschiedliche Lebensalter angeknüpft.<br />
Selbst wenn man die vorliegende Differenzierung bloß<br />
als mittelbare Diskriminierung qualifizieren würde,<br />
indem man unterstellt, sie knüpfe an das unterschiedliche<br />
gesetzliche Pensionsalter an (was naheliegend ist),<br />
würde dies nichts am Ergebnis ändern: Auch mittelbare<br />
Diskriminierungen – wenn dem Anschein nach neutrale<br />
Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen eines<br />
Geschlechts in besonderer Weise gegenüber dem anderen<br />
Geschlecht benachteiligen – sind nur zulässig, wenn<br />
die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren<br />
durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und<br />
die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und<br />
erforderlich sind (§ 40c Abs. 2 GlBG).<br />
Die Zulässigkeit unterschiedlicher Altersgrenzen<br />
von männlichen und weiblichen Sozialversicherten<br />
für den Anspruch auf Pension wurde mit BVG BGBl.<br />
832/1992 verfassungsrechtlich abgesichert. Es wurde<br />
darin jedoch keine ausdrückliche Regelung getroffen,<br />
dass darüber hinausgehend etwa bei Dienstleistungen<br />
an das unterschiedliche gesetzliche Pensionsalter ange-<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
NLMR 1/2011-VfGH<br />
knüpft werden dürfe. Gemäß Art. 7 der RL 79/7/EWG<br />
zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der<br />
Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich<br />
der sozialen Sicherheit sind die Mitgliedstaaten berechtigt,<br />
die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung<br />
der Alters- oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen<br />
daraus auf andere Leistungen von der Richtlinie<br />
auszunehmen.<br />
Nach der einschlägigen Judikatur des EuGH rechtfertigt<br />
dies aber nicht Ungleichbehandlungen, die nicht<br />
objektiv und notwendig mit dem unterschiedlichen<br />
Rentenalter für Männer und Frauen zusammenhängen.<br />
Ein solcher objektiver und notwendiger Zusammenhang<br />
wird im Hinblick auf das finanzielle Gleichgewicht<br />
von beitragsabhängigen Rentensystemen oder etwa bei<br />
der Frage der Kohärenz zwischen Altersrenten und sonstigen<br />
Vorruhestandsregelungen gesehen. 2 Keine Rechtfertigung<br />
für eine Anknüpfung an das unterschiedliche<br />
Rentenalter sieht der EuGH hingegen etwa bei der<br />
Gewährung von Rezeptgebührenbefreiungen oder Heizkostenzuschüssen,<br />
da diese Leistungen nicht notwendig<br />
und objektiv mit dem unterschiedlichen Rentenalter<br />
verbunden sind. 3 Die Anknüpfung an das gesetzliche<br />
Pensionsalter kann auch nicht damit gerechtfertigt werden,<br />
dass bei Erreichen dieser – unterschiedlichen –<br />
Altersgrenzen regelmäßig eine entsprechend größere<br />
soziale Bedürftigkeit eintreten würde, liegt doch das<br />
tatsächliche Pensionsantrittsalter nicht bei den in der<br />
Kfl-Bef-Bed-VO festgelegten Altersgrenzen. Das bloße<br />
Anknüpfen am gesetzlichen Pensionsalter ist daher<br />
auch nicht geeignet, tatsächlich bestehende Nachteile<br />
von Frauen im Hinblick auf geringere Pensionsleistungen<br />
angemessen auszugleichen. Schließlich ist auch die<br />
Ausnahmebestimmung des § 40d GlBG nicht anwendbar,<br />
da öffentliche Beförderungsleistungen nicht überwiegend<br />
für ein Geschlecht angeboten werden.<br />
Die durch § 40e GlBG 4 eingeräumte Erlaubnis für<br />
positive Maßnahmen kommt für die in Prüfung gezogene<br />
Verordnungsbestimmung ebenso wenig in Betracht,<br />
da es für eine solche positive Maßnahme im Sinne einer<br />
Förderung von Frauen eines Konnexes zwischen einer<br />
Benachteiligung und der Fördermaßnahme bedarf. Es<br />
ist nicht ersichtlich, inwiefern im Rahmen der Beförderung<br />
nach dem Kraftfahrliniengesetz eine spezifische<br />
Benachteiligung von Frauen bestünde, die durch eine<br />
im Vergleich zu Männern fünf Jahre früher gewährte<br />
Fahrpreisermäßigung zweckmäßig und verhältnismä-<br />
VfGH V 39/10 u.a.<br />
ßig ausgeglichen werden könnte. Art. 6 der RL 2004/113/<br />
EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung<br />
von Männern und Frauen beim Zugang zu<br />
und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen,<br />
der durch § 40e GlBG in das österreichische Recht<br />
umgesetzt wurde, erlaubt positive Maßnahmen im Sinne<br />
»spezifischer Maßnahmen, mit denen geschlechtsspezifische<br />
Benachteiligungen verhindert oder ausgeglichen<br />
werden«. Eine generelle Anknüpfung am unterschiedlichen<br />
gesetzlichen Pensionsalter, welches jedoch auf die<br />
Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht unmittelbar<br />
Auswirkung hat, kann nicht als eine derartige »spezifische<br />
Maßnahme« angesehen werden.<br />
Die in der angefochtenen Verordnungsbestimmung<br />
getroffene Differenzierung zwischen Männern und<br />
Frauen bei der Gewährung von Fahrpreisermäßigungen<br />
für Senioren verstößt somit gegen § 40b GlBG und war<br />
daher aufzuheben. Die Gesetzwidrigkeit kann bereits<br />
durch die Aufhebung der Wortfolge »– das sind Männer<br />
ab dem 65. und Frauen ab dem 60. Lebensjahr –« in<br />
Punkt 9 der Anlage 1 der Kfl-Bef Bed beseitigt werden.<br />
•<br />
57<br />
2 Vgl. etwa EuGH 30.1.1997, Rs. C-139/95, Slg. 1997 I-00549.<br />
3 Vgl. EuGH 19.10.1995, Rs. C-137/94, Slg. 1995 I-03407; EuGH<br />
16.12.1999, Rs. C-382/98, Slg. 1999 I-08955.<br />
4 Danach gelten die in Gesetzen, Verordnungen oder auf andere<br />
Weise getroffenen Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung,<br />
mit denen Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts<br />
verhindert oder ausgeglichen werden, nicht als Diskriminierung<br />
im Sinne dieses Gesetzes.<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
58<br />
NLMR 1/2011-Literatur<br />
Buchanzeigen<br />
Nadja Capus<br />
Strafrecht und Souveränität: Das Erfordernis der<br />
beidseitigen Strafbarkeit in der internationalen<br />
Rechtshilfe in Strafsachen<br />
Stämpfli <strong>Verlag</strong> / Nomos, Bern / Baden-Baden 2010<br />
ISBN 978-3-7272-8764-0 / ISBN 978-3-8329-6211-1, geb.,<br />
570 S., € 100,80<br />
Bereits im 19. Jahrhundert kooperierten die souveränen<br />
Staaten im Bereich der Justiz und boten einander<br />
Rechtshilfe in Strafsachen. Zentrale Voraussetzung<br />
war traditionell die Strafbarkeit des verfolgten Verhaltens<br />
sowohl im um Rechtshilfe ersuchenden als auch<br />
im ersuchten Staat. Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung<br />
und der somit auch verstärkten Internationalisierung<br />
der Kriminalität wird diese Voraussetzung<br />
jedoch zunehmend als veraltet und effizienzmindernd<br />
bezeichnet.<br />
Nadja Capus geht in ihrer vorliegenden Habilitationsschrift<br />
der Frage nach, ob das Prinzip der beidseitigen<br />
Strafbarkeit notwendig ist, um das Tätigwerden<br />
von Staatsorganen im Bereich des Strafrechts zu rechtfertigen,<br />
obwohl gemäß der für sie geltenden Rechtsordnung<br />
kein Strafanspruch besteht. Neben internationalen<br />
Rechtsquellen wird zur Konkretisierung der<br />
Ausführungen Schweizer Recht herangezogen.<br />
In den ersten beiden Teilen der dreigeteilten Arbeit<br />
widmet sich die schweizerisch-italienische Autorin<br />
zunächst den für die Beantwortung der Forschungsfrage<br />
notwendigen Grundlagen. Erläutert werden die Begriffe<br />
der Souveränität und der Strafgewalt der Staaten, wobei<br />
der Wandel des Souveräntitätsverständnisses, wie etwa<br />
Reaktionen auf Globalisierungsprozesse durch Einrichtung<br />
von internationalen Gerichten, analysiert wird.<br />
Sodann wird das Wesen der Strafrechtshilfe ergründet.<br />
Capus geht davon aus, dass diese als kooperative Strafrechtspflege<br />
konzipiert ist. Sie unterscheidet zwischen<br />
primärer und sekundärer Rechtshilfe, abhängig davon,<br />
ob der um Hilfe ersuchte Staat das Strafverfahren übernimmt<br />
(primär) oder nur stellvertretenderweise tätig<br />
wird (sekundär). Genauer wird die Rechtsnatur der letztgenannten<br />
Form der Rechtshilfe betrachtet. Am Ende<br />
des zweiten Teils wird der Frage nachgegangen, inwieweit<br />
das materielle Strafrecht eine Legitimation für<br />
rechtshilfeweise erfolgende Zwangsmaßnahmen bieten<br />
kann.<br />
Im dritten Teil des Werks geht Capus auf die aktuelle<br />
Konzeption der Regel der beidseitigen Strafbarkeit<br />
und die Tendenzen zu deren Abschaffung und richterlichen<br />
Durchbrechung ein. In einem weiteren Schritt<br />
wird gezeigt, aus welchen Prinzipien heraus sich die<br />
Regel rechtfertigen lässt. Schließlich erarbeitet sie, wie<br />
die Regel ausgestaltet bzw. angewendet werden muss,<br />
um ihr eine materiellrechtliche Legitimationsfunktion<br />
zu verleihen.<br />
In ihrer besonders schlüssig aufgebauten Arbeit zeigt<br />
Nadja Capus anschaulich, dass die Auflösung des Prinzips<br />
der beidseitigen Strafbarkeit in Bezug auf die internationale<br />
Strafrechtshilfe auch unter den aktuellen Einflüssen<br />
der Globalisierung nicht ohne substantielle<br />
rechtsstaatliche Bedenken erfolgen kann.<br />
Petra Pann<br />
Christine Hohmann-Dennhardt / Peter Masuch /<br />
Mark Villiger (Hrsg.)<br />
Festschrift für Renate Jaeger – Grundrechte und<br />
Solidarität.<br />
Durchsetzung und Verfahren<br />
N. P. Engel <strong>Verlag</strong>, Kehl am Rhein 2011<br />
ISBN 978-3-88357-155-3, geb., 880 S., € 198,–<br />
»Grundrechte und Solidarität« ist eine Festschrift, die<br />
der ehemaligen Richterin am EGMR, seit 2011 Leiterin<br />
der Schlichtungsstelle der (deutschen) Bundesrechtsan-<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
NLMR 1/2011-Literatur<br />
59<br />
waltskammer, Dr. h.c. Renate Jaeger, anlässlich ihres 70.<br />
Geburtstags gewidmet ist. Das vorliegende Werk beschäftigt<br />
sich grundsätzlich mit der Entwicklung der Grundbzw.<br />
<strong>Menschenrechte</strong> in Deutschland und Europa.<br />
In den ersten drei Kapiteln wird sowohl die gesamte<br />
Tätigkeit von Renate Jaeger vom Anfang ihrer Karriere<br />
bis heute als auch ihr Beitrag als Richterin am EGMR in<br />
Straßburg präsentiert.<br />
Die weiteren Kapitel bilden zahlreiche Aufsätze von<br />
Juristen, die die Ehre hatten, Renate Jaeger kennen zu<br />
lernen oder mit ihr zu arbeiten. Die Aufsätze werden in<br />
speziellen Bereichen je nach Thema gegliedert. Transnationale<br />
Rechtsstaatlichkeit, der EuGH als neoliberale<br />
Institution, der Beitritt der EU zur EMRK u.ä. werden im<br />
Abschnitt »Institutionelle Aspekte« analysiert, während<br />
über Grundrechte in verschiedenen Lebensbereichen<br />
unter dem Schlagwort »Demokratie und Solidarität«<br />
diskutiert wird. Schließlich werden materiellrechtliche<br />
Gewährleistungen des Grundgesetzes, der innerstaatlichen<br />
(deutschen) Rechtsordnung sowie der EMRK und<br />
in einem letzten Abschnitt verfahrensrechtliche Garantien<br />
dargestellt.<br />
Eine sehr interessante Präsentation der Demokratie<br />
als weibliches Wesen findet man im Beitrag von Gertrude<br />
Lübbe-Wolff mit der Überschrift »Demokratie als Weiberkram«.<br />
Die Begründung, warum wichtige Begriffe<br />
wie »Staat«, »Demokratie«, »Heroismus« weiblicher oder<br />
männlicher Natur sind, wird ausführlich in Bezug auf<br />
Werke bekannter Sprachwissenschaftler, Philosophen<br />
und Autoren sowohl der Antike als auch der modernen<br />
Zeit dargestellt und analysiert.<br />
Das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen<br />
in allen Lebensbereichen und die Umsetzung<br />
der UN-Behindertenrechtskonvention im alltäglichen<br />
Leben ist ein weiteres interessantes Thema dieses<br />
Werkes und im Aufsatz von Peter Masuch zu finden, während<br />
die Rechtsstellung von Patienten, insbesondere<br />
nach ärztlichen Fehlern, im Aufsatz von Hansjörg Geiger<br />
behandelt wird.<br />
Die Grundidee des vorliegenden Werkes liegt in der<br />
Frage, inwiefern <strong>Menschenrechte</strong> im wirtschaftlichen,<br />
kulturellen und sozialen Bereich verwirklicht werden<br />
und welche Unterstützung der Einzelne bei der Sicherung<br />
und Durchsetzung seiner Grundrechte bekommt,<br />
sei es die Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen, der<br />
Schutz des Familienlebens, die Informationsfreiheit,<br />
Schutz für Transsexuelle in Deutschland und Europa<br />
oder der Schutzraum der privaten Lebensführung (Beispielsfall:<br />
die prominente Person).<br />
Die vorliegende Festschrift bietet einen ausführlichen<br />
Einblick über die Polemik zwischen Staat und Mensch,<br />
einschließlich seiner Grundrechte der zweiten und der<br />
ersten Generation.<br />
Sofia Iliaki<br />
Andreas Stricker<br />
Die Bedeutung der Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention und der gemeinsamen<br />
Verfassungsüberlieferungen für den Grundrechtsschutz<br />
der Europäischen Union<br />
Peter Lang, Frankfurt am Main 2010<br />
ISBN 978-3-631-58719-5, geb., 243 S., € 51,20<br />
Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union ist<br />
nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, mit dem<br />
die EU-Grundrechtecharta Verbindlichkeit erlangte und<br />
eine Rechtsgrundlage für den Beitritt zur EMRK geschaffen<br />
wurde, zunehmend in das Blickfeld wissenschaftlicher<br />
Erörterungen geraten. Die vorliegende Dissertation<br />
bezieht sich allerdings noch auf die alte Rechtslage nach<br />
dem Vertrag von Nizza und trägt daher Art. 6 Abs. 2 EU-<br />
Vertrag in der Lissaboner Fassung, der mittlerweile den<br />
Beitritt der EU zur EMRK vorsieht, noch keine Rechnung.<br />
Nach einer kurzen Einführung in den Gegenstand<br />
der Arbeit stellt der Autor die – historisch gewachsenen<br />
– Grundlagen der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzkonzeption<br />
vor, wobei er auch auf Besonderheiten<br />
aus dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht<br />
und EMRK sowie auf die Rechtsprechungsdivergenzen<br />
zwischen EuGH und EKMR bzw. EGMR eingeht. Stricker<br />
stellt sodann drei Modelle eines verbesserten – teilweise<br />
bereits verwirklichten – Grundrechtsschutzes im Wege<br />
der »richterrechtlichen« Gewährleistung durch den<br />
EuGH (sog. prätorische Lösung), der Katalogisierung<br />
bzw. Kodifizierung von Grundrechten (vgl. die Charta<br />
der Grundrechte der EU) und des bereits erwähnten,<br />
noch ausstehenden, Beitritts der EU zur EMRK vor.<br />
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Art. 6 Abs. 2<br />
EU-Vertrag in der Fassung von Nizza, wonach die Union<br />
die Grundrechte achtet, wie sie in der am 4.11.1950 in<br />
Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum<br />
Schutze der <strong>Menschenrechte</strong> und Grundfreiheiten<br />
gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen<br />
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten<br />
als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts<br />
ergeben. Dabei wird vor allem der Frage nachgegangen,<br />
ob aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme auf die<br />
EMRK in Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag die in ihr verankerten<br />
Grundrechte als für das Gemeinschaftsrecht unmittelbar<br />
verbindlich erachtet werden können, wobei auch auf<br />
die Rolle der EU-Grundrechtecharta eingegangen wird.<br />
Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 2<br />
EU-Vertrag die EMRK für das Gemeinschaftsrecht verbindlich<br />
mache, gleichzeitig aber eine dynamische Weiterentwicklung<br />
des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes<br />
über die parallele Beachtlichkeit der in<br />
ständiger Entwicklung begriffenen Verfassungsüberlieferungen<br />
der Mitgliedstaaten zugelassen werde.<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
60<br />
NLMR 1/2011-Literatur<br />
Jörn Eschment<br />
Musterprozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für<br />
<strong>Menschenrechte</strong>.<br />
Probleme und Perspektiven des Piloturteilsverfahrens<br />
Peter Lang, Frankfurt a. M. 2011<br />
ISBN 978-3-631-61469-3, geb., 349 S., € 60,–<br />
Der massenhafte Anstieg an Beschwerden beansprucht<br />
die Arbeitskapazitäten des EGMR erheblich. Ein großer<br />
Teil davon besteht aus Parallelverfahren, welche oft aus<br />
strukturellen Konventionsverletzungen (z.B. überlange<br />
Verfahrensdauer) resultieren. In so genannten Piloturteilsverfahren<br />
versucht der EGMR dieser Problematik<br />
Herr zu werden, indem in einem Fall eine prioritäre Entscheidung<br />
für weitere, rechtlich gleich gelagerte Verfahren<br />
getroffen wird. In diesen Folgeverfahren kann dann<br />
unter vereinfachten Bedingungen entschieden werden.<br />
Jörn Eschment beschreibt in seiner Monografie in vier<br />
Kapiteln Theorie und Praxis des Piloturteilsverfahrens<br />
und analysiert dessen Potential und Probleme kritisch.<br />
Nach einer kurzen Einleitung über die gesamteuropäische<br />
Menschenrechtsordnung und die führende<br />
Rolle des EGMR darin wird im ersten Kapitel vor allem<br />
die Funktionsweise des Konventionssystems erläutert,<br />
bevor Eschment auf seine Reformen eingeht. Besonders<br />
hervorzuheben ist dabei das 14. Prot. EMRK, welches die<br />
Aussonderungskompetenzen des EGMR verstärkt und<br />
den Umgang mit Parallelverfahren verbessert.<br />
Im zweiten Kapitel beschreibt Eschment anfangs den<br />
Fall Broniowski gg. Polen, das erste Piloturteilsverfahren.<br />
Darauf aufbauend kritisiert er den Begriff an sich und<br />
formuliert einen eigenständigen Definitionsvorschlag.<br />
Im Folgenden geht der Autor auf die Rechtsgrundlage<br />
ein und zeigt anhand verschiedener Beispiele den<br />
Anwendungsbereich auf. Dies gliedert er nach aktuellen<br />
und potentiellen Einsatzgebieten.<br />
Im dritten Kapitel geht Eschment sehr ausführlich auf<br />
das Piloturteilsverfahren in der Praxis ein, indem er in<br />
einem Dreischritt Verfahrenseröffnung, Hauptsacheverfahren<br />
im Pilotfall und Folgeverfahren in Parallelsachen<br />
beschreibt.<br />
Abschließend stellt Eschment in Kapitel vier die Perspektiven<br />
des Piloturteilsverfahrens dar. Dabei unterscheidet<br />
er zwischen Fortführungsprognosen und der<br />
Umsetzung von Piloturteilen.<br />
In einer abschließenden Schlussbetrachtung resümiert<br />
Eschment nochmals sämtliche Befunde.<br />
Der übersichtlich logische Aufbau und Zwischenresümees<br />
erleichtern den Einstieg in die Thematik. Eschment<br />
kommt immer zu einem ausgewogenen eigenen Ansatz,<br />
nachdem er das herrschende Verständnis dargestellt<br />
hat. Die Dissertation stellt einen hilfreichen Beitrag zur<br />
Diskussion um die zukünftige Arbeit des EGMR dar.<br />
Julius Lagodny<br />
<strong>Jan</strong> Martin Hoffmann<br />
Die Europäische Menschenrechtskonvention und<br />
nationales Recht.<br />
Ein Vergleich der Wirkungsweise in den<br />
Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs und der<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
Carl Heymanns <strong>Verlag</strong>, Köln 2010<br />
ISBN 978-3-452-27461-8, geb., 165 S., € 45,30<br />
Die Art und Weise der Umsetzung der EMRK im Vereinigten<br />
Königreich und in der BRD wurde bis dato noch keiner<br />
umfassenden vergleichenden Untersuchung unterzogen.<br />
Der Autor legt den Schwerpunkt auf die Situation<br />
im Vereinigten Königreich, war doch jene in Deutschland<br />
bereits Gegenstand zahlreicher Abhandlungen.<br />
Der erste, eher kurz gehaltene Teil richtet das Augenmerk<br />
auf die Wirkungen der Entscheidungen des EGMR.<br />
Im zweiten Teil setzt sich <strong>Jan</strong> Martin Hoffmann intensiv<br />
mit der Stellung der EMRK im Rechtssystem des Vereinigten<br />
Königreichs auseinander. Nach einem Überblick<br />
über die historische Entwicklung (das Vereinigte<br />
Königreich hat lange davon abgesehen, die in der EMRK<br />
verankerten Grundrechte und -freiheiten in das innerstaatliche<br />
Recht zu überführen) wird von ihm insbesondere<br />
die rechtliche Situation nach dem 1998 erfolgten<br />
Inkrafttreten des »Human Rights Act« (HRA) beleuchtet.<br />
Mit diesem Gesetz wurden die substantiellen Artikel der<br />
EMRK in britisches Recht inkorporiert. Der Autor geht<br />
ausführlich auf unterschiedliche Vorgaben des HRA<br />
ein, die zum einen die Behörden verpflichten, die nationalen<br />
Gesetze konventionskonform auszulegen, zum<br />
anderen die Gerichte bei Fragen, welche ein Konventionsrecht<br />
betreffen, dazu aufrufen, unter anderem Urteile<br />
des EGMR in ihre Entscheidung miteinzubeziehen.<br />
Er kommt zu dem Schluss, dass der HRA das Problem,<br />
die verfassungsrechtlichen Eigenheiten des britischen<br />
Rechtssystems mit der Einhaltung der Konventionsrechte<br />
in Einklang zu bringen, überzeugend gelöst hat.<br />
Bei der Schilderung der Situation in der BRD, wo die<br />
EMRK bekanntlich einfachgesetzlichen Rang aufweist,<br />
konzentriert sich <strong>Jan</strong> Martin Hoffmann auf Fragen der<br />
Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR durch<br />
das BVerfG, das immerhin festgestellt hat, dass dessen<br />
Judikate in den Willensbildungsprozess des zu einer<br />
Entscheidung berufenen Gerichts einfließen müssen.<br />
Im dritten Teil, »Vergleich und Ergebnis«, hält der<br />
Autor fest, dass die Konventionsrechte in der BRD in<br />
aller Regel als Ergänzung des aktuellen Grundrechtsschutzsystems<br />
verstanden würden, während sie im Vereinigten<br />
Königreich den maßgeblichen Katalog menschenrechtlicher<br />
Gewährleistungen darstellten. Beide<br />
Systeme würden genügend Flexibilität aufweisen, um<br />
den Anforderungen der EMRK gerecht zu werden.<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
NLMR 1/2011-Literatur<br />
61<br />
Cesla Amarelle / Minh Son Nguyen (Hrsg.)<br />
Le principe de non-refoulement.<br />
Fondements et enjeux pratiques<br />
Stämpfli <strong>Verlag</strong>, Bern 2010<br />
ISBN 978-3-7272-8765-7, brosch., 208 S., € 56,70<br />
Das Prinzip, Personen nicht in ihr Heimatland zurückzuschicken,<br />
insofern sie dort eine Gefahr für ihr Leben<br />
oder ihre Freiheit zu befürchten haben bzw. Gefahr laufen,<br />
dort Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender<br />
Behandlung oder Strafe ausgesetzt zu werden, ist<br />
international anerkannt. Dieses sogenannte Non-Refoulement-Prinzip<br />
gehört sogar zu den zwingenden Bestimmungen<br />
des Völkerrechts. Trotzdem wird es, sowohl in<br />
der Schweiz als auch in den meisten übrigen westlichen<br />
Nationen, in der Praxis teils nur eingeschränkt angewendet.<br />
Dies entspricht der aktuellen Tendenz im so demokratischen<br />
und an den <strong>Menschenrechte</strong>n orientierten<br />
Westen, in Bezug auf die Rechte von Immigranten einen<br />
zweiten Maßstab anzulegen. Sei es, dass man ihnen den<br />
Bau von Gebetshäusern verbietet oder man sie gemäß<br />
der Dublin-Verordnung in Staaten abschiebt, in denen<br />
ihre Grundbedürfnisse nicht gedeckt werden können.<br />
Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit<br />
der soeben freilich verkürzt dargestellten Problematik<br />
in Bezug auf die Schweiz. Der erste Beitrag von Pascal<br />
Mahon und Olivier Bigler beschäftigt sich zunächst mit<br />
der Grundlage des Non-Refoulement-Prinzips im internationalen<br />
Recht sowie in Art. 25 der Schweizer Bundesverfassung<br />
im Kontext von Migrationen und behandelt<br />
unter anderem die Zulässigkeit von Volksinitiativen, die<br />
dem Prinzip zuwiderlaufen.<br />
Der Beitrag von Susin Park widmet sich sodann den<br />
Bemühungen des Flüchtlingshochkommissars der UN,<br />
die Beachtung des Non-Refoulement-Prinzips voranzutreiben.<br />
Neben der Klärung des personellen und territorialen<br />
Anwendungsbereichs des Prinzips weist die<br />
Autorin auf die Problematik der in Europa stark variierenden<br />
Auslegung des Flüchtlingsstatus und der unter<br />
dem Aspekt des Non-Refoulement-Prinzips bedenklich<br />
ausgestalteten Asylverfahren in Europa hin.<br />
Das derzeit umstrittene Dublin-Verfahren und die<br />
Fragen eines gemeinsamen europäischen Asylsystems<br />
sind Gegenstand des Beitrags von Francesco Maiani.<br />
Schließlich beschäftigen sich die Herausgeber in<br />
einem gemeinsamen Aufsatz mit den Einzelheiten des<br />
Verfahrens bezüglich des Non-Refoulement im Kontext<br />
der Abschiebung von Fremden. Unter dem Aspekt des<br />
Non-Refoulement iSv. Art. 3 EMRK wird die einschlägige<br />
Rechtsprechung des EGMR unter dem Aspekt des Non-<br />
Refoulement gemäß Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention<br />
und Art. 5 Schweizer Asylgesetz jene des Schweizer<br />
Bundesverwaltungsgerichts analysiert.<br />
In einem abschließenden Kapitel bietet das Werk eine<br />
Zusammenfassung der gesamten, für das Non-Refoulement-Prinzip<br />
relevanten Judikatur, vor allem des EGMR,<br />
aber auch des EuGH sowie des Schweizer Bundesgerichts<br />
und Bundesverwaltungsgerichts, erstellt von den<br />
Herausgebern gemeinsam mit Stefanie Tamara Kurt und<br />
Dieyla Sow.<br />
Der in französischer Sprache verfasste Sammelband<br />
ist nicht nur anlässlich der kürzlich erfolgten Schweizer<br />
Volksinitiative zur »Ausschaffung krimineller Ausländer«,<br />
sondern auch hinsichtlich der derzeit lodernden<br />
Diskussion über das Dublin-Verfahren an sich und der<br />
Zulässigkeit von Abschiebungen nach Griechenland –<br />
und somit auch für Nichtschweizer – hoch aktuell und<br />
interessant.<br />
Petra Pann<br />
Franz Matscher / Peter Pernthaler / Andreas<br />
Raffeiner (Hrsg.)<br />
Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit.<br />
Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag<br />
Neuer Wissenschaftlicher <strong>Verlag</strong>, Wien – Graz 2010<br />
ISBN 978-3-7083-0705-3, geb., 921 S., € 98,–<br />
Die vorliegende Festschrift ist dem renommierten Verfassungsjuristen<br />
und ehemaligem Bundesminister für<br />
Justiz Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag gewidmet.<br />
In ihr spiegeln sich das wissenschaftliche Werk und das<br />
Gedankengut des Geehrten wider, das von einer durch<br />
und durch humanistischen Gesinnung geprägt ist. So<br />
führte Klecatsky in seiner Eigenschaft als amtierender<br />
Justizminister der Jahre 1966 bis 1970 die erste große<br />
Strafrechtsreform in der Nachkriegszeit durch und geht<br />
die Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft<br />
nicht zuletzt auf sein Wirken – so Justizministerin<br />
Claudia Bandion-Ortner in ihrem Grußwort – zurück.<br />
Die in der Festschrift aufgeführten Beiträge befassen<br />
sich vorwiegend mit grund- und menschenrechtlichen<br />
sowie rechtsphilosophischen Fragen – wie zum Beispiel<br />
der Moscheen- und Minarettdebatte, der Todesstrafe,<br />
den Problemen des »digital bewegten Menschen«, der<br />
Verhältnismäßigkeit der Haft, aber auch Umweltthemen<br />
wie dem als Schutz für den Alpenraum gedachten<br />
Verkehrsprotokoll der Alpenkonvention. Daneben finden<br />
sich Beiträge, die sich ausschließlich auf die Situation<br />
Österreich – Südtirol – Italien konzentrieren,<br />
brachte doch Hans R. Klecatsky dem Schicksal Südtirols<br />
stets große Anteilnahme bzw. reges Interesse entgegen.<br />
Behandelt werden unter anderem die Frage, wie<br />
die Südtirol-Autonomie weiter ausgebaut werden könnte,<br />
die Rolle des Gruber-Degasperi-Abkommens bei der<br />
Wiederversöhnung der Länder und Völker sowie seine<br />
politisch-institutionelle Aktualität, die Entwicklung und<br />
Zukunft der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>
62<br />
NLMR 1/2011-Literatur<br />
zwischen Tirol und Südtirol-Trentino und zwei Wendepunkte<br />
der Südtirolpolitik Anfang und Ende der 1960-<br />
er Jahre. Brennende religionsrechtliche Fragen, wie die<br />
Anerkennung neuer Religionsgemeinschaften bzw. der<br />
Rechtsstatus von Muslimen in Österreich sowie die Frage<br />
des Anbringens von Kreuzen im öffentlichen Raum,<br />
kommen ebenso nicht zu kurz wie rein menschenrechtliche<br />
Themen – genannt seien hier die »Rechte des Menschen«,<br />
die Ideengeschichte der <strong>Menschenrechte</strong> und<br />
die Grenzen des Rechts bzw. der Rechtsstaatlichkeit,<br />
die durch rücksichtslos verfolgte wirtschaftliche und<br />
finanzpolitische Macht dramatisch offengelegt werden.<br />
Die vorliegende Festschrift, zu deren Herausgabe der<br />
Südtiroler Student Andreas Raffeiner die Initiative ergriffen<br />
hat, ist eine sehr gelungene Würdigung des reichhaltigen<br />
Schaffens und Wirkens von Hans R. Klecatsky.<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
Julia Kozma / Manfred Nowak / Martin Scheinin<br />
(Hrsg.)<br />
A World Court of Human Rights – Consolidated Statute<br />
and Commentary<br />
Neuer Wissenschaftlicher <strong>Verlag</strong>, Wien – Graz 2010<br />
ISBN 978-3-7083-0734-3, brosch., 113 S., € 28,80<br />
Trotz einer Vielzahl an völkerrechtlichen Instrumenten<br />
zum Schutze der <strong>Menschenrechte</strong> existieren auf<br />
der Welt noch weit verbreitete und zum Teil gravierende<br />
Menschenrechtsverletzungen, vor allem in Afrika<br />
und Asien. Dazu kommt, dass die zur Ahndung von<br />
Menschenrechtsverletzungen eingerichteten regionalen<br />
Menschenrechtsgerichtshöfe bei weitem nicht<br />
den hohen Entwicklungsstand aufweisen wie der Europäische<br />
Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong>. Der Interamerikanische<br />
Gerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong> verfügt<br />
weder über Berufsrichter noch haben alle Staaten<br />
Latein- und Nordamerikas bzw. der Karibik seine<br />
Zuständigkeit anerkannt. Der Afrikanische Gerichtshof<br />
für <strong>Menschenrechte</strong> wiederum wurde erst kürzlich<br />
ins Leben gerufen, während man in Asien noch immer<br />
auf die Errichtung eines regionalen Menschenrechtsgerichtshofs<br />
wartet.<br />
Der vorliegende Entwurf eines konsolidierten Statuts<br />
für einen »Weltgerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong>«<br />
einschließlich Kommentars, ausgearbeitet von den<br />
Herausgebern, geht auf eine Initiative der Schweizer<br />
Regierung mit dem Ziel der Präsentation eines Menschenrechtsprogramms<br />
in Erinnerung an den 60.<br />
Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der <strong>Menschenrechte</strong><br />
(2008) zurück. Er beruht auf Einzelentwürfen von<br />
Julia Kozma und Manfred Nowak vom Wiener Ludwig<br />
Boltzmann Institut für <strong>Menschenrechte</strong> und von Martin<br />
Scheinin von der Abo Akademi in Turku bzw. dem Europainstitut<br />
in Florenz.<br />
Das konsolidierte Statut trägt dem Umstand Rechnung,<br />
dass vielen Menschen auf der ganzen Welt ein<br />
Zugang zu effektiven nationalen, regionalen und universellen<br />
Mechanismen zum Schutze ihrer <strong>Menschenrechte</strong><br />
verwehrt wird und sie auch keine Möglichkeit<br />
haben, angemessene Wiedergutmachung für erlittenes<br />
Unrecht zu erhalten. Laut der Präambel soll der ständige<br />
und unabhängige »Weltgerichtshof für <strong>Menschenrechte</strong>«<br />
mit (vorgeschlagenem) Sitz in Genf, Schweiz,<br />
nicht als Rechtsmittelinstanz für regionale Menschenrechtsgerichtshöfe<br />
verstanden werden, sondern helfen,<br />
die enorme Lücke im Zusammenhang mit der Um- und<br />
Durchsetzung von internationalen Menschenrechsverpflichtungen<br />
zu schließen. Insofern bezieht sich seine<br />
Zuständigkeit ausschließlich auf Menschenrechtsverträge,<br />
die im Rahmen der Vereinten Nationen abgeschlossen<br />
wurden, wie etwa die UN-Menschenrechtspakte<br />
I und II. Zentrale Bestimmung ist das in Art. 7<br />
des Entwurfs verankerte Individualbeschwerderecht,<br />
das dem in Art. 34 EMRK festgelegten nachgebildet ist.<br />
Gemäß Art. 18 des Entwurfs sollen die Urteile des »Weltgerichtshofs<br />
für <strong>Menschenrechte</strong>« endgültig und bindend<br />
sein, womit eine entscheidende Schwäche des<br />
derzeitigen Überwachungssystems der Vereinten Nationen<br />
– die Entscheidungen ihrer Organe sind für die<br />
Vertragsstaaten nicht bindend – beseitigt wäre. Begrüßenswert<br />
ist auch die in Art. 39 des Entwurfs vorgesehene<br />
Einrichtung eines Treuhänderfonds, um Opfer von<br />
Menschenrechtsverletzungen und ihre Familien finanziell<br />
zu unterstützen bzw. Staaten zu helfen, ihr nationales<br />
Rechtssystem menschenrechtskonform umzugestalten.<br />
Mit Recht weisen die Herausgeber darauf hin, dass<br />
Staaten angesichts der Vorlage eines Expertenentwurfs<br />
keine »Ausrede« mehr haben, der Diskussion über die<br />
Einrichtung eines »Weltgerichtshofs für <strong>Menschenrechte</strong>«<br />
aus dem Weg zu gehen. Es ist den Autoren zu wünschen,<br />
dass ihr Entwurf auf fruchtbaren Boden stößt.<br />
Eduard Christian Schöpfer<br />
•<br />
Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />
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Ausgabe 2011/1 | Redaktionsschluss 28.2.2011