ZIVILRECHTLICHE BERUFUNG Team 7 - Swiss Moot Court
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<strong>Swiss</strong> <strong>Moot</strong> <strong>Court</strong> 2005/2006 12. Dez. 05<br />
An das<br />
Schweizerische Bundesgericht<br />
Av. du Tribunal fédéral 29<br />
1000 Lausanne 14<br />
<strong>ZIVILRECHTLICHE</strong> <strong>BERUFUNG</strong><br />
von<br />
Herrn David L., 1564 Domdidier<br />
vertreten durch A. B.<br />
Kläger<br />
gegen<br />
Jean N. & Söhne AG,<br />
vertreten durch X. Y.<br />
Beklagte<br />
betreffend<br />
das Urteil des Kantonsgerichts Freiburg vom 31. Oktober 2005<br />
<strong>Team</strong> 7
<strong>Swiss</strong> <strong>Moot</strong> <strong>Court</strong> 2005/2006 12. Dez. 05<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Rechtsbegehren ...................................................................................................................... 1<br />
Begründung ............................................................................................................................ 1<br />
I. Formelles......................................................................................................................... 1<br />
A. Anfechtungsobjekt .................................................................................................................1<br />
1. Zivilrechtsstreitigkeit ........................................................................................... 1<br />
2. Streitwert .............................................................................................................. 1<br />
3. Letztinstanzlicher kantonaler Endentscheid......................................................... 1<br />
B. Beschwerdelegitimation .........................................................................................................1<br />
1. Legitimation ......................................................................................................... 1<br />
2. Rechtsschutzinteresse........................................................................................... 1<br />
C. Berufungsgrund......................................................................................................................2<br />
D. Frist ........................................................................................................................................2<br />
II. Tatsächliches................................................................................................................... 2<br />
III. Rechtliches ...................................................................................................................... 3<br />
A. Angefochtene Punkte des kantonalen Entscheids ..................................................................3<br />
B. Begründung der Begehren......................................................................................................3<br />
1. Haftung der Jean N. & Söhne AG für den Schaden des Klägers......................... 3<br />
1.1. Vertrauenshaftung als Anspruchsgrundlage..............................................................3<br />
1.1.1. Entwicklung einer Haftung aus Vertrauen durch das Bundesgericht..............3<br />
1.1.2. Voraussetzungen der Vertrauenshaftung.........................................................4<br />
b) Mit dem Gutachten erweckte die Jean N. & Söhne AG<br />
schutzwürdiges Vertrauen des David L. ...................................................6<br />
c) Das erweckte Vertrauen wurde durch die unsorgfältige Schätzung<br />
der Jean N. & Söhne AG enttäuscht. ........................................................7<br />
d) Gestützt auf das erweckte Vertrauen hat David L. eine Disposition<br />
getätigt. ...................................................................................................10<br />
e) Dem David L. ist ein Schaden in der Höhe von CHF 80'000.-<br />
entstanden. ..............................................................................................10<br />
f) Der Schaden ist David L. adäquat kausal entstanden. ............................10<br />
g) Jean N. trifft ein Verschulden in Form von Fahrlässigkeit. ....................12<br />
1.1.3. Fazit...............................................................................................................13<br />
1.2. Deliktshaftung als Anspruchsgrundlage..................................................................14<br />
1.2.1. Zur Deliktshaftung nach Art. 55 OR und ihren Voraussetzungen im<br />
Allgemeinen ..................................................................................................14<br />
1.2.2. Zur Widerrechtlichkeit ..................................................................................14<br />
a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als Anknüpfungskriterium der<br />
Ersatzpflicht ............................................................................................16<br />
b) Anwendung auf den vorliegenden Fall ...................................................17<br />
1.2.3. Zum Sorgfaltsbeweis/Befreiungsbeweis .......................................................17<br />
1.2.4. Beweis der fehlenden Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung...................18<br />
1.2.5. Fazit...............................................................................................................18<br />
2. Eine Verrechnung mit der Forderung über CHF 3'000.- ist nicht möglich........ 18<br />
2.1. Eine Verrechnung ist mangels Gegenseitigkeit der Forderungen nicht möglich. ...19<br />
2.2. Eventualiter: Die Forderung über CHF 3'000.- ist verjährt. Ob eine<br />
Verrechnung dennoch möglich ist, kann vom Bundesgericht nicht entschieden<br />
werden. ....................................................................................................................19<br />
2.2.1. Die Forderung des Jean N. gegen den David L. ist verjährt..........................20<br />
2.2.2. Ob eine Ausnahme i.S.v. Art. 120 Abs. 3 OR vorliegt, kann nicht<br />
entschieden werden. ......................................................................................21<br />
I
<strong>Team</strong> 7<br />
RECHTSBEGEHREN<br />
1 1. Es ist die Beklagte zur Zahlung von CHF 80'000.- zuzüglich 5 % Zins seit dem 23. August<br />
2002 zu verurteilen.<br />
2 2. a) Es ist festzustellen, dass eine Verrechnung der Schadenersatzforderung mit der Forderung<br />
über CHF 3'000.- nicht möglich ist.<br />
b) Eventualiter ist festzustellen, dass die Forderung über CHF 3'000.- verjährt ist und der Sachverhalt<br />
zur Klärung an die Vorinstanz zurückzuweisen.<br />
3 3. Kosten- und Entschädigungsfolgen gehen zu Lasten der Beklagten.<br />
A. Anfechtungsobjekt<br />
1. Zivilrechtsstreitigkeit<br />
BEGRÜNDUNG<br />
I. Formelles<br />
4 Der Kläger erhebt das ordentliche Rechtsmittel der Berufung in einer zivilrechtlichen Streitigkeit<br />
nach Art. 43 ff. OG.<br />
2. Streitwert<br />
5 Der Streitwert des vermögensrechtlichen Anspruches beträgt gemäss Rechtsbegehren vor Kantonsgericht<br />
CHF 80'000.- zuzüglich Zins von 5 % und erfüllt somit die Voraussetzung von Art. 46 OG.<br />
3. Letztinstanzlicher kantonaler Endentscheid<br />
6 Die Berufung richtet sich gegen das Sachurteil des Freiburger Kantonsgerichts vom 31. Oktober<br />
2005, welches gemäss dem Freiburger Zivilprozessrecht einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid<br />
i.S.v. Art. 48 OG darstellt.<br />
B. Beschwerdelegitimation<br />
1. Legitimation<br />
7 David L. hat bereits am kantonalen Verfahren als Partei teilgenommen und ist deshalb legitimiert,<br />
die Berufung ans Bundesgericht zu ergreifen.<br />
2. Rechtsschutzinteresse<br />
8 Der Kläger wurde durch den angefochtenen Entscheid rechtlich benachteiligt und hat deshalb ein<br />
schutzwürdiges Interesse an dessen Abänderung. Das angefochtene Urteil entspricht nicht dem<br />
1
<strong>Team</strong> 7<br />
vom Kläger zuletzt gestellten Anspruch, da eine Haftung des Beklagten abgelehnt wurde. Der Kläger<br />
wurde durch den Entscheid in seiner Rechtsstellung betroffen und ist somit sowohl formell als<br />
auch materiell beschwert.<br />
C. Berufungsgrund<br />
9 Der Kläger sieht durch das Urteil des Kantonsgerichts Bundesrecht verletzt und stützt seine Berufung<br />
auf den Beschwerdegrund von Art. 43 OG.<br />
D. Frist<br />
10 Die 30-tägige Frist nach Art. 54 Abs. 1 OG wurde durch den Kläger eingehalten, indem er die Berufungsschrift<br />
am 12. Dezember 2005 beim zuständigen Gericht eingelegt hat.<br />
II. Tatsächliches<br />
11 Der ehemals in Domdidier (FR) wohnhafte Leon D. hatte sich im April 2002 dazu entschlossen,<br />
sein Haus zu verkaufen. Die Verkaufsverhandlungen mit David L. als potentiellem Käufer scheiterten<br />
aber vorerst mangels Einigung über den Kaufpreis. David L. beharrte auf einem Preis von CHF<br />
6'000.-, während Leon D. von CHF 800'000.- ausging. Um sich einig zu werden, vereinbarten die<br />
Parteien, ein unabhängiges Schätzungsgutachten einzuholen. In der Folge nahm Leon D. mit dem<br />
von David L. empfohlenen Architekturbüro Kontakt auf und beauftragte die Jean N. & Söhne AG,<br />
seine Liegenschaft zu schätzen.<br />
12 Am 1. Juli 2002 wurde der Augenschein für die Erstellung des Gutachtens durch Pedro A. – ein<br />
Mitarbeiter der Jean N. & Söhne AG – durchgeführt. Leon D. war am besagten Datum verhindert<br />
und liess sich durch seine Tochter Marie D. vertreten. Weil diese sich weigerte, den Dachstuhl zu<br />
betreten, unterliess Pedro A. – ein alter Schulfreund der Marie D. – die Inspektion dieser Hauspartie.<br />
Er begnügte sich mit der Zusicherung der Marie D., das Gebälk im Estrich befände sich in gutem<br />
Zustand.<br />
13 Aufgrund dieser Inspektion erstellte die Jean N. & Söhne AG am 14. Juli 2002 das Gutachten. Sie<br />
stellte fest, dass keine namhaften Reparaturen notwendig seien und schätzte den Wert der Liegenschaft<br />
auf CHF 750'000.-. In der Folge einigten sich Leon D. und David L. über den Kaufpreis des<br />
Hauses und setzten diesen entsprechend dem Gutachten auf CHF 750'000.- fest.<br />
14 Während Renovationsarbeiten, welche David L. anfangs Frühling 2003 durchführen wollte, stellte<br />
er fest, dass das Gebälk im Dachstuhl bereits seit mehreren Jahren schwerwiegende Schäden erlitten<br />
hatte. Die Reparaturkosten für diese Schäden beliefen sich auch CHF 80'000.-.<br />
15 Sowohl das Gericht erster Instanz als auch das Kantonsgericht verneinten eine Haftung der Jean N.<br />
& Söhne AG für den dem David L. entstandenen Schaden.<br />
2
<strong>Team</strong> 7<br />
III. Rechtliches<br />
A. Angefochtene Punkte des kantonalen Entscheids<br />
16 Mit Urteil vom 31. Oktober 2005 hat das Kantonsgericht Freiburg eine Haftung der Jean N. &<br />
Söhne AG verneint. Es hat zwar anerkannt, dass das Immobiliengutachten nicht mit der nötigen<br />
Sorgfalt durchgeführt worden ist, lehnte eine Haftung des Gutachters aber gleichwohl ab. Als Begründung<br />
führte das Kantonsgericht an, dass weder die Voraussetzungen einer Vertrags- noch einer<br />
Deliktshaftung gegeben seien.<br />
17 Der Kläger bestreitet die materiellen Punkte dieses Entscheides. Eine Haftung des Beklagten für<br />
den dem Kläger entstandenen Schaden ist zu bejahen.<br />
18 Mit dem beanstandeten Urteil wird Bundesrecht in zweifacher Hinsicht verletzt. Einerseits hat das<br />
Kantonsgericht fälschlicherweise die im Bundesrecht anerkannte Rechtsfigur der Vertrauenshaftung<br />
bei seiner Beurteilung ausser Acht gelassen. Es hat lediglich die Voraussetzungen der Deliktsund<br />
der Vertragshaftung geprüft, weitere Haftungsgrundlagen hingegen nicht in Betracht gezogen.<br />
19 Subsidiär macht der Kläger geltend, dass das letztinstanzliche kantonale Gericht die Haftungsvoraussetzungen<br />
von Art. 55 OR falsch ausgelegt und in der Folge fälschlicherweise eine Deliktshaftung<br />
abgelehnt hat.<br />
B. Begründung der Begehren<br />
20 Nachstehend wird im Einzelnen dargelegt, inwiefern das Urteil des Kantonsgerichts gegen Bundesrecht<br />
verstösst und weshalb folglich die Begehren des Klägers zu schützen sind.<br />
21 Zur Begründung des ersten Begehrens wird primär eine Haftung des Beklagten aus Vertrauen geltend<br />
gemacht. Im Sinne eines Eventualstandpunktes wird ausserdem dargelegt, dass auch eine Deliktshaftung<br />
zu bejahen ist.<br />
22 Sodann zeigen Ausführungen zum zweiten Begehren, dass eine Verrechnung der Schadenersatzforderung<br />
mit der Forderung über CHF 3'000.- nicht möglich ist.<br />
1. Haftung der Jean N. & Söhne AG für den Schaden des Klägers<br />
1.1. Vertrauenshaftung als Anspruchsgrundlage<br />
1.1.1. Entwicklung einer Haftung aus Vertrauen durch das Bundesgericht<br />
23<br />
Im sogenannten „<strong>Swiss</strong>air-Entscheid“ 1 hat das Bundesgericht aus einer Verallgemeinerung der<br />
Grundsätze über die Haftung aus culpa in contrahendo erstmals eine Haftung aus erwecktem Vertrauen<br />
anerkannt. In einer Reihe von Urteilen hat es diese Rechtsprechung bestätigt. 2 Es kann heute<br />
folglich von einer gefestigten Rechtsprechung zur Vertrauenshaftung als eigenständige Haftungs-<br />
1 BGE 120 II 331.<br />
2 Vgl. z.B. den „Ringer-Fall“ BGE 121 III 350; BGE 123 III 220; BGE 124 III 297; BGE 130 III 345.<br />
3
<strong>Team</strong> 7<br />
24<br />
grundlage ausgegangen werden. Dies zeigt sich deutlich in BGE 130 III 345, wo das Bundesgericht<br />
von der „anerkannten Rechtsfigur der Vertrauenshaftung“ 3 spricht.<br />
Die Vertrauenshaftung wird zwischen Vertrag und Delikt angesiedelt. 4 Sie soll dort als Haftungsgrundlage<br />
dienen, wo ein vertragsfremder Dritter durch sein Verhalten konkrete und bestimmte<br />
Erwartungen beim Geschädigten weckt und dieses Vertrauen anschliessend enttäuscht wird. 5<br />
25 In BGE 130 III 345 hat das Bundesgericht die Haftung aus erwecktem Vertrauen auf den Fall eines<br />
Liegenschaftenschätzers angewendet, welcher für die Schäden aus seinem unzutreffenden Schätzungsgutachten<br />
haftbar gemacht wurde. Das Bundesgericht hat eine Haftung des Schätzers in casu<br />
zwar verneint, grundsätzlich aber festgestellt, dass Liegenschaftenschätzer damit rechnen müssen,<br />
für die Richtigkeit ihrer Gutachten von vertragsfremden Dritten zur Verantwortung gezogen zu<br />
werden.<br />
26 Dieselbe Konstellation wie im zitierten Entscheid – der Käufer eines Hauses klagt gegen den fehlerhaft<br />
vorgegangenen Liegenschaftenschätzer – findet sich auch im vorliegenden Fall. David L.,<br />
der Käufer der Liegenschaft, macht die mit der Schätzung beauftragte Jean N. & Söhne AG für den<br />
ihm entstandenen Schaden haftbar.<br />
27 Aufgrund der Vergleichbarkeit der beiden Sachverhalte rechtfertigt es sich, die in BGE 130 III 345<br />
entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden Fall zu übertragen und zur Begründung einer Vertrauenshaftung<br />
heranzuziehen.<br />
1.1.2. Voraussetzungen der Vertrauenshaftung<br />
28 Mit der Anerkennung der Vertrauenshaftung als eigenständige Haftungsgrundlage haben sich in<br />
der Rechtsprechung 6 und Lehre 7 mehrere Voraussetzungen herausgebildet, welche kumulativ erfüllt<br />
sein müssen, damit eine Haftung aus erwecktem Vertrauen greifen kann.<br />
29 Eine Vertrauenshaftung kommt nur in Frage, wenn zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten<br />
eine sogenannte Sonderverbindung besteht. Im Rahmen dieser Sonderverbindung erweckt der<br />
Schädiger durch sein Verhalten beim Geschädigten schutzwürdiges Vertrauen, gestützt worauf der<br />
Geschädigte eine Disposition tätigt. Durch Enttäuschen der erweckten Erwartungen entsteht dem<br />
Geschädigten ein adäquat kausaler Schaden, der durch den Schädiger verschuldet ist.<br />
30 Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Der Beklagte schuldet dem Kläger deshalb<br />
CHF 80'000.- plus Zins aus Vertrauenshaftung.<br />
3 BGE 130 III 345 E. 1.<br />
4 BGE 130 III 345 E. 2.1; vgl. auch HANS PETER WALTER, Vertrauenshaftung im Umfeld des Vertrages, ZBJV 1996,<br />
S. 273 ff., 277.<br />
5 BGE 130 III 345 E. 2.1; vgl. JON S. PLOTKE, Vertrauenshaftung. Keine Haftung des Liegenschaftenschätzers für erwecktes<br />
Vertrauen, AJP 2005, S. 350 ff., 351; MARKUS WICK, Die Vertrauenshaftung im schweizerischen Recht, AJP<br />
1995, S. 270 ff., 270.<br />
6 Vgl. z.B. den „<strong>Swiss</strong>air-Fall“ BGE 120 II 331 und den „Ringer-Fall“ BGE 121 III 350.<br />
7<br />
Vgl. z.B. BERNHARD BERGER, Verhaltenspflichten und Vertrauenshaftung, Bern 2000, S. 75 ff.; REGULA FEHLMANN,<br />
Vertrauenshaftung – Vertrauen als alleinige Haftungsgrundlage, Diss. St. Gallen 2002, S. 169 ff.; ALFRED KOLLER,<br />
Dritthaftung eines Schätzers gegenüber einem Käufer der geschätzten Liegenschaft Bemerkungen zu BGE 130 III 345<br />
ff., in: ALFRED KOLLER (Hrsg.), Neue und alte Fragen zum privaten Baurecht, S. 22 ff., N 77 ff.; MARTIN MOSER, Die<br />
Haftung gegenüber vertragsfremden Dritten, Diss. Bern 1998, S. 154 ff.; HANS PETER WALTER, Die Vertrauenshaftung:<br />
Unkraut oder Blume im Garten des Rechts, ZSR 120/2001 I, S. 79 ff., S. 97 ff.<br />
4
<strong>Team</strong> 7<br />
a) Eine Sonderverbindung zwischen der Jean N. & Söhne AG und David L. liegt vor.<br />
31 Das Erfordernis der Sonderverbindung soll einer Ausuferung der Vertrauenshaftung Grenzen setzen,<br />
indem erst dort Schutz- und Aufklärungspflichten greifen, wo die Beteiligten in einer besonderen<br />
Beziehung zueinander stehen. 8<br />
32 Wie das Bundesgericht im oben erwähnten Entscheid festgehalten hat, ist hierzu ein unmittelbarer<br />
Kontakt zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten nicht erforderlich. 9 Auch ist es unbedeutend,<br />
ob der Gutachter den Dritten kennt oder zumindest weiss, um wen es sich handelt oder<br />
nicht. 10 Hingegen muss es für den Experten objektiv erkennbar sein, dass er nach den Grundsätzen<br />
der Vertrauenshaftung einem Dritten gegenüber haftbar werden könnte. Massgebend ist, ob der<br />
Gutachter mit der Weitergabe seines Schätzungsberichtes an den Dritten rechnen musste. 11 Ob dies<br />
der Fall ist, entscheidet sich nach der Verkehrsauffassung, laut Bundesgericht „nach den konkreten<br />
Umständen, dem gesellschaftlichen und beruflichen Kontext und der sozialen Rolle der Betroffenen“.<br />
12 Hierbei ist u.a. der Verwendungszweck des Gutachtens von Bedeutung. 13<br />
33 Die Jean N. & Söhne AG wurde von Leon D. beauftragt, den Wert dessen Grundstücks zu schätzen.<br />
Zwar erwähnt er dabei weder den Zweck des Gutachtens – die Liegenschaftsschätzung als<br />
Verhandlungsbasis für den Verkaufspreis zu verwenden – noch den Namen des potentiellen Käufers<br />
David L. Dennoch musste die Jean N. & Söhne AG damit rechnen, dass Leon D. das Gutachten<br />
zu Verkaufszwecken erstellen lässt und es dementsprechend einem potentiellen Käufer als Dritten<br />
weiterreichen wird.<br />
34 Als Architekturbüro mit langjähriger Erfahrung im Erstellen von Immobiliengutachten musste die<br />
Jean N. & Söhne AG sich nämlich bewusst sein, dass solche Liegenschaftsschätzungen grösstenteils<br />
zum Zwecke des Grundstücksverkaufs in Auftrag gegeben werden. Der vorgesehene Verwendungszweck<br />
ist folglich durchaus üblich und musste vom Gutachter in Betracht gezogen werden.<br />
35 Zudem hatte Leon D. in seinem Garten ein Verkaufschild aufgestellt. Wenn auch nicht Jean N.<br />
persönlich, so hätte doch zumindest sein Angestellter Pedro A., der das Haus inspizierte, daraus auf<br />
die Verkaufsabsichten des Leon D. schliessen und dies seinem Vorgesetzten, der das Gutachten<br />
verfasste, mitteilen müssen.<br />
36 Musste die Jean N. & Söhne AG sich über die Verkaufsabsichten des David L. bewusst sein oder<br />
zumindest damit rechnen, ist auch klar, dass sie mit der Weitergabe des Gutachtens an Dritte rechnen<br />
musste. Ein Immobiliengutachten, das zum Zwecke des Liegenschaftenverkaufs in Auftrag<br />
8 BGE 130 III 345 E. 2.2; statt vieler FEHLMANN (Fn. 7), S. 171 ff.<br />
9 BGE 130 III 345 E. 2.2.<br />
10 BGE 130 III 345 E. 2.2.<br />
11 BGE 130 III 345 E. 2.2; so auch PLOTKE (Fn. 5), S. 354 f.; ROLAND HÜRLIMANN/THOMAS SIEGENTHALER, Die Haftung<br />
des Liegenschaftenschätzers gegenüber einem vertragsfremden Dritten, BR/DC 3/2004, S. 105 ff., 107.<br />
12 BGE 130 III 345 E. 2.2<br />
13 Vgl. KOLLER (Fn. 7), N 79; HÜRLIMANN/SIEGENTHALER (Fn. 11), S. 107.<br />
5
<strong>Team</strong> 7<br />
gegeben wird, ist dem Auftraggeber nämlich nur dann von Nützen, wenn er es einem Dritten – dem<br />
potentiellen Käufer – weitergeben kann. Auch dies musste die Jean N. & Söhne AG als auf Liegenschaftsgutachten<br />
spezialisiertes Architekturbüro wissen.<br />
37 Die Jean N. & Söhne AG musste folglich damit rechnen, dass Leon D. das Gutachten an den potentiellen<br />
Käufer – David L. – weiterreicht. Es liegt also keineswegs eine bloss zufällige Kenntnisnahme<br />
des Gutachtens durch David L. vor. 14 Eine Sonderverbindung zwischen der Jean N. & Söhne<br />
AG und David L. ist somit gegeben.<br />
b) Mit dem Gutachten erweckte die Jean N. & Söhne AG schutzwürdiges Vertrauen des David L.<br />
38 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts setzt schutzwürdiges Vertrauen ein Verhalten des<br />
Schädigers voraus, das geeignet ist, hinreichend konkrete und bestimmte Erwartungen des Geschädigten<br />
zu wecken. 15<br />
39 Gutachten ist diese Eignung grundsätzlich zuzusprechen, betrachtet man ihren Sinn und Zweck. Sie<br />
greifen dort Platz, wo der Entscheidungsträger selbst nicht über das nötige Fachwissen verfügt,<br />
aber trotzdem schnell und zuverlässig entschieden werden muss. Als solche sind sie in unserer<br />
schnelllebigen Gesellschaft ein gefragtes Produkt. Sie wären aber wohl in den meisten Fällen nutzlos,<br />
würde von ihnen nicht eine gewisse Objektivität und fachliche Autorität ausgehen. Schliesslich<br />
wird ein Gutachten gerade deshalb in Auftrag gegeben, um bestimmte Tatsachen oder Eigenschaften<br />
belegen zu können. Nicht umsonst wird für Gutachten häufig ein stolzer Preis bezahlt. 16<br />
40 Vom Immobilienschätzer – einer eidgenössisch anerkannten Berufsausbildung – wird gemeinhin<br />
erwartet, dass er seine Tätigkeit mit aller nötigen Sorgfalt verrichtet. Auf ein Gutachten will man<br />
sich verlassen können.<br />
41 So auch im vorliegenden Fall. Das von Leon D. und David L. vereinbarte und in der Folge von<br />
Leon D. in Auftrag gegebene Gutachten sollte als Basis für deren Verkaufsverhandlungen dienen,<br />
indem der Wert des Grundstücks objektiv von einem Experten geschätzt wird. Offensichtlich mass<br />
David L. diesem Gutachten eine gewisse Beweiskraft zu, hätte er sich sonst sicher nicht auf den<br />
über seinen Vorstellungen liegenden Verkaufspreis eingelassen.<br />
42 Die Jean N. & Söhne AG erweckte durch ihr Verhalten bei David L. die konkrete Erwartung, dass<br />
das Gutachten im Ergebnis jene Zuverlässigkeit aufweist, die bei einer sorgfältigen und professionellen<br />
Vorgehensweise erwartet werden kann. 17 Schliesslich ist die Jean N. & Söhne AG ein auf<br />
Immobiliengutachten spezialisiertes Architekturbüro. Von einem solchen kann (und wird) wohl<br />
allgemein erwartet werden, dass seine Mitarbeiter ihre Tätigkeit gewissenhaft und sorgfältig aus-<br />
14 Vgl. BGE 130 III 345 E. 2.2.<br />
15 BGE 130 III 345 E. 2.1; vgl. auch BGE 124 III 297 E. 6a.<br />
16 Vgl. dazu KARL HOFSTETTER, Gutachterhaftung gegenüber Dritten im schweizerischen Recht, AJP 1998, S. 261 ff.,<br />
261; PLOTKE (Fn. 5), S. 355.<br />
17 Vgl. HÜRLIMANN/SIEGENTHALER (Fn. 11), S. 109.<br />
6
<strong>Team</strong> 7<br />
üben - umso mehr dies ausdrücklich im Briefkopf angepriesen wird. Die Erwartung des David L.,<br />
dass das Schätzungsergebnis sorgfältig und professionell zustande gekommen ist, ist deshalb<br />
durchaus berechtigt.<br />
43 Ausserdem ist zu beachten, dass der Gutachter es in der Hand hat, die vertrauenserweckende Wirkung<br />
seiner Schätzung zu begrenzen. Er kann festhalten, was er ungeprüft vom Auftraggeber oder<br />
anderen übernommen und was er selbst überprüft hat. Auch kann er die Expertise ausdrücklich als<br />
nur für den Auftraggeber bestimmt deklarieren. Mit letzterer Erklärung würde eine Sonderverbindung<br />
entfallen und der Gutachter könnte nicht haftbar gemacht werden. 18<br />
44 Die Jean N. & Söhne AG hat aber jegliche Beschränkung der Vertrauenswirkung unterlassen. Insbesondere<br />
hat sie in ihrem Gutachten nicht vermerkt, dass der Dachstock von Pedro A. nicht eigenhändig<br />
inspiziert worden ist, sondern dieser sich auf die Zusicherung der Marie D. verlassen hat.<br />
Dies zeigt umso deutlicher, dass das bei David L. erweckte Vertrauen berechtigt und zu schützen<br />
ist.<br />
c) Das erweckte Vertrauen wurde durch die unsorgfältige Schätzung der Jean N. & Söhne AG<br />
enttäuscht.<br />
45 Das Vertrauen des David L. in ein einer sorgfältigen Vorgehensweise entsprechendes Gutachtensresultat<br />
wurde dadurch enttäuscht, dass die Schätzung der Jean N. & Söhne AG eben gerade nicht<br />
den vorausgesetzten und erwarteten Anforderungen an Objektivität und Fachkunde entsprach.<br />
46 Als Massstab für die übliche Sorgfalt, die David L. erwarten konnte, kann die SIA-Richtlinie 115<br />
herangezogen werden. Sie enthält überwiegend allgemeine Rechtsprinzipien, an die sich auch<br />
Nicht-SIA-Mitglieder halten sollten. 19 In Art. 2 der SIA-Richtlinie 115 werden die Expertenpflichten<br />
und Anforderungen an Sachverständige umschrieben. Unter anderem werden die Pflicht zur<br />
Sorgfalt („Der Experte erfüllt seinen Auftrag sorgfältig und gründlich. Er formuliert sein Gutachten<br />
verständlich und liefert dieses fristgerecht ab.“) und zur Objektivität („Der Experte erstattet<br />
sein Gutachten objektiv und unparteiisch. Er berücksichtigt den ganzen Tatbestand. Sein Vorgehen<br />
soll nachvollziehbar, seine Aussagen müssen belegt und seine Schlussfolgerungen sollen überprüfbar<br />
sein.“) aufgeführt.<br />
47 Pedro A. hat als Mitarbeiter der Jean N. & Söhne AG die Inspektion des Hauses vorgenommen.<br />
Den Dachstock hingegen hat er nicht eigenhändig inspiziert, sondern sich auf die von Marie D.<br />
abgegebene Zusicherung, der Dachstock befinde sich in gutem Zustand, verlassen. Ein solches<br />
Vorgehen kann nicht als sorgfältig, gründlich und objektiv betrachtet werden.<br />
18 Vgl. zur Problematik der Haftungsbeschränkung MOSER (Fn. 7), S. 207 ff.; auch PLOTKE (Fn. 5), S. 356.<br />
19 Vgl. ROLAND HÜRLIMANN, Der Architekt als Experte, in: PETER GAUCH/PIERRE TERCIER (Hrsg.), Das Architektenrecht,<br />
3. Aufl., Freiburg 1995, N 1477.<br />
7
<strong>Team</strong> 7<br />
48 Gutachten – insbesondere wenn sie zwecks Verkaufs einer Liegenschaft angefertigt werden – sind<br />
in der Regel gerade dazu da, die Angaben des Liegenschaftseigentümers auf deren Richtigkeit zu<br />
überprüfen. Würden dessen Angaben ohne jegliche Kontrolle übernommen, würde das Gutachten<br />
seines Sinnes beraubt und verlöre jegliche Objektivität. Hieraus folgt, dass ein sorgfältiger Gutachter<br />
die Angaben seines Auftraggebers nachzuprüfen hat, sofern ihm dies möglich ist. Ist es ihm<br />
unmöglich, ist dies im Gutachtensbericht zu vermerken. 20<br />
49 Im vorliegenden Fall stammen die gemachten – falschen – Angaben nicht vom Liegenschaftseigentümer<br />
selbst. Es war Marie D., die Tochter des Leon D., welche dem Pedro A. versicherte, der<br />
Dachstock sei in gutem Zustand.<br />
50 Umso mehr durfte sich Pedro A. nicht stillschweigend auf die Richtigkeit der gemachten Angaben<br />
verlassen, stammten diese doch nicht einmal vom Eigentümer des Hauses selbst, sondern von dessen<br />
Tochter. Dass eine Zwanzigjährige den Zustand des Dachgebälks ihres Elternhauses nicht im<br />
Einzelnen kennt, erscheint nicht weiter wunderlich. Pedro A. musste deshalb damit rechnen, dass<br />
Marie D. nicht lückenlos über den Zustand des Hauses Bescheid wusste. Er hätte deshalb die Angaben<br />
der Marie D. auf ihre Richtigkeit überprüfen müssen.<br />
51 Dass Pedro A. und Marie D. einen Teil ihrer Schulzeit zusammen verbracht haben, ist hierbei irrelevant.<br />
Gerade die Pflicht zu Objektivität gebietet es, unabhängig vom Bekanntschaftsgrad zu entscheiden.<br />
Ebenso ist unbedeutend, dass die Zusicherung von Marie D. nach deren bestem Gewissen<br />
geschah. Dies konnte Pedro A. nicht erkennen. Genauso gut hätte Marie D. dem Pedro A. arglistig<br />
falsche Angaben machen können. Gerade deshalb ist es auch unbedingt geboten, dass der Gutachter<br />
bzw. derjenige, der das Objekt inspiziert, sich selbst von dem Zustand des Hauses überzeugt.<br />
52 Um einen umfassenden Eindruck des Hauses zu erlangen – welcher für eine Wertschätzung zweifellos<br />
notwendig ist – hätte Pedro A. folglich auch den Dachstock eigenhändig unter die Lupe<br />
nehmen müssen. 21 Indem er dies unterliess, hat er unsorgfältig gehandelt.<br />
53 Pedro A. stellt als Angestellter der Jean N. & Söhne AG eine Hilfsperson derselben i.S.v. Art. 101<br />
OR dar. 22 Die Jean N. & Söhne AG haftet deshalb für das Verhalten ihres Angestellten, wenn die<br />
Handlung des Pedro A. der Jean N. & Söhne AG vorzuwerfen wäre, hätte diese sie selber (durch<br />
ihre Organe) vorgenommen. 23<br />
54 Hätte die Jean N. & Söhne AG bzw. deren Organe die Inspektion des Hauses persönlich vorgenommen<br />
und dabei ebenfalls den Dachstock nicht inspiziert, sondern sich auf die Angaben der<br />
Marie D. verlassen, hätte sie unsorgfältig gehandelt. Das Architekturbüro und seine Organe selbst<br />
kann nämlich keine geringere Pflicht zu Sorgfalt, Gründlichkeit und Objektivität treffen, als dies<br />
für ihren Angestellten der Fall ist. Die Jean N. & Söhne AG muss sich folglich das unsorgfältige<br />
20 Vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 10.11.1994 E. 4b, in: BGHZ 127, 378.<br />
21 So auch WOLFGANG NAEGELI/HEINZ WENGER, Der Liegenschaftenschätzer, 4. Aufl., Zürich 1997, S. 8.<br />
22 Vgl. BGE 70 II 215 E. 4; BGE 125 III 70 E. 3a.<br />
23 BGE 92 II 234 E. 1; BGE 94 I 248 E. 2 b.<br />
8
<strong>Team</strong> 7<br />
Verhalten des Pedro A. als ihr eigenes anrechnen lassen. Die Schätzung der Liegenschaft ist deshalb<br />
nicht mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt worden.<br />
55 Da zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten aber keine unmittelbaren Sorgfaltspflichten<br />
bestehen, ist nicht die Vorgehensweise an sich, sondern die abgegebene Information, d.h. das Resultat<br />
der Schätzung, massgebend. Das schutzwürdige Vertrauen des David L. beschränkt sich auf<br />
ein einer sorgfältigen Vorgehensweise entsprechendes Gutachtensergebnis. Entscheidend ist also,<br />
ob das Resultat einer solchen Vorgehensweise entspricht. Trifft dies zu, ist die Unsorgfalt bei der<br />
Schätzung unbedeutend. 24<br />
56 Geht es um die Bestimmung des Schätzungsergebnisses ist dem Liegenschaftenschätzer ein gewisser<br />
Ermessensspielraum zuzugestehen, ist die Schätzung einer Sache doch immer eine Ermessensfrage.<br />
25<br />
57 Im vorliegenden Fall hat die Jean N. & Söhne AG die Liegenschaft aufgrund des Nichtberücksichtigens<br />
des feuchten Dachgebälks zu hoch eingeschätzt. Wären die Mängel am Dachstock in die<br />
Schätzung eingeflossen, hätte der Gutachter feststellen müssen, dass Renovationen im Umfang von<br />
CHF 80'000.- anstehen. Solche wurden hingegen nicht festgestellt, weshalb die Schätzung um den<br />
Betrag von CHF 80'000.- zu hoch ausfiel. Dies beträgt mehr als<br />
10 % (exakt 10,67 %) des Verkaufspreises.<br />
58 Ein solcher Prozentsatz liegt oberhalb des üblichen Bereichs von wenigen Prozenten. Eine Abweichung<br />
von gut einem Zehntel ist nicht vergleichbar mit den 3,3 % im Falle des BGE 130 III 345,<br />
welche von der Literatur mehrheitlich als innerhalb des Ermessensspielraums des Gutachters liegend<br />
bezeichnet werden. 26<br />
59 Ebenso wenig kann auf BGE 127 III 328 zurückgegriffen werden, um den Ermessenspielraum des<br />
Liegenschaftenschätzers beliebig auszuweiten. 27 Das Bundesgericht hat im erwähnten Urteil eine<br />
Sorgfaltspflichtverletzung des Schätzers nämlich verneint. War die Vorgehensweise des Gutachters<br />
folglich sorgfältig genug, kann ihm so oder so kein Vorwurf gemacht werden - egal wie hoch die<br />
Abweichung seines Schätzungsergebnisses vom schliesslich erzielten Verkaufspreis ist. Vom Gutachter<br />
kann schliesslich nicht mehr erwartet werden, als dass er sorgfältig arbeitet. Im vorliegenden<br />
Fall kann jedoch nicht von einer hinreichenden Sorgfalt seitens der Beklagten ausgegangen werden.<br />
28 Der erwähnte Entscheid kann deshalb nicht als Beleg für einen mehrere Zehntel umfassenden<br />
Ermessensspielraum des Liegenschaftenschätzers herangezogen werden, betreffen die Ausgangslagen<br />
doch gänzlich verschiedene Situationen.<br />
24 Vgl. HÜRLIMANN/SIEGENTHALER (Fn. 11), S. 109.<br />
25 BGE 127 III 328 E. 2d; NAEGELI/WENGER (Fn. 21), S. 10.<br />
26 Vgl. PLOTKE (Fn. 5), S. 356; HÜRLIMANN/SIEGENTHALER (Fn. 11), S. 108 f.<br />
27 Es ging in diesem Fall um eine auf CHF 573'000.- geschätzte Liegenschaft, die schliesslich lediglich für CHF<br />
440'000.- verkauft werden konnte, also um eine Abweichung von rund 23 %.<br />
28 Vgl. hierzu vorstehende Ausführungen in Rn 45 ff.<br />
9
<strong>Team</strong> 7<br />
60 Ein um gut 10 % vom wirklichen Wert abweichendes Schätzungsresultat liegt deshalb nicht mehr<br />
innerhalb des Ermessensspielraums eines Gutachters. Das Schätzungsergebnis entspricht nicht der<br />
erwarteten Sorgfalt und enttäuscht deshalb das erweckte schutzwürdige Vertrauen des David L.<br />
d) Gestützt auf das erweckte Vertrauen hat David L. eine Disposition getätigt.<br />
61 David L. hat das Schätzungsgutachten des Jean N. als Entscheidungshilfe für seinen Kaufentschluss<br />
herangezogen. Gestützt auf das Gutachten und in seinem berechtigten Vertrauen auf dessen<br />
Richtigkeit hat er eine vermögensrelevante Disposition getätigt – er hat ein Haus zum Preis von<br />
CHF 750'000.- gekauft.<br />
e) Dem David L. ist ein Schaden in der Höhe von CHF 80'000.- entstanden.<br />
62 Der Schaden bemisst sich in Fällen falscher Auskunft oder Gutachten nach dem hypothetischen<br />
Vermögensstand des Geschädigten bei richtiger Auskunft. Im Sinne einer Hypothese muss also<br />
geprüft werden, wie sich der Geschädigte wohl verhalten hätte, wäre er richtig informiert worden. 29<br />
63 Es muss zunächst gefragt werden, zu welchem Schätzungsergebnis der Gutachter bei sorgfältiger<br />
Vorgehensweise, d.h. bei Entdeckung und Berücksichtigung der Mängel im Dachstock gelangt<br />
wäre. Hierzu ist auf die vorangegangenen Ausführungen unter c) zu verweisen. 30 Es ist folglich<br />
anzunehmen, die Jean N. & Söhne AG hätte die Liegenschaft bei pflichtgemässem Handeln auf<br />
einen Betrag von CHF 670'000.- geschätzt.<br />
64 In einem zweiten Schritt ist zu beurteilen, wie der Käufer der Liegenschaft wohl gehandelt hätte,<br />
wenn die Mängel am Dachgebälk im Schätzungsgutachten vermerkt und miteinbezogen worden<br />
wären, die Jean N. & Söhne AG in ihrem Bericht folglich einen Wert des Hauses von CHF<br />
670'000.- ausgewiesen hätte.<br />
65 Es liegt auf der Hand, dass David L. unter diesen Umständen nicht bereit gewesen wäre, einen<br />
Kaufpreis von CHF 750'000.- zu bezahlen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass David L. lediglich<br />
eine Summe von CHF 670'000.- bezahlt hätte. Die Differenz des hypothetischen Vermögensstandes<br />
bei richtigem Gutachten und dem aktuellen Vermögensstand beläuft sich folglich auf CHF<br />
80'000.-. David L. hat somit einen Schaden von CHF 80'000.- erlitten.<br />
f) Der Schaden ist David L. adäquat kausal entstanden.<br />
66 Die Beklagte hat den Schaden des David L. nur dann zu ersetzen, wenn dieser eine Folge der unsorgfältigen<br />
Arbeit der Jean N. & Söhne AG ist. Hierbei ist einerseits die natürliche, andererseits<br />
die adäquate Kausalität zu beachten. 31<br />
29 Urteil des Bundesgerichts 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 3b cc; vgl. auch FEHLMANN (Fn. 7), S. 189; NIKLAUS<br />
LÜCHINGER, Schadenersatz im Vertragsrecht, Freiburg 1999, N 778, 974; MOSER (Fn. 7), S. 189 f.; HÜRLI<br />
MANN/SIEGENTHALER (Fn. 11), S. 109.<br />
30 Rn 57.<br />
31 Vgl. zum Erfordernis der Kausalität BGE 120 II 331 E. 5a; BGE 121 III 350 E. 7a; FEHLMANN (Fn. 7), S. 183; KOLLER<br />
(Fn. 7), N 87 ff.<br />
10
<strong>Team</strong> 7<br />
67 Unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Kausalität ist zu fragen, ob das pflichtwidrige Nichtberücksichtigen<br />
der Mängel eine notwendige Voraussetzung für das Entstehen des Schadens des Klägers<br />
darstellt. 32 Konkret ist zu prüfen, ob der Geschädigte gestützt auf das Gutachten Dispositionen<br />
getätigt hat, welche er nicht vorgenommen hätte, hätte er um die Fehlerhaftigkeit des Gutachtens<br />
gewusst. 33<br />
68 David L. beharrte während den Verkaufsverhandlungen auf dem von ihm vorgeschlagenen Kaufpreis<br />
von CHF 600'000.-. Er war nicht bereit, den vom Verkäufer geforderten Preis von CHF<br />
800'000.- zu bezahlen. Erst das in Auftrag gegebene Gutachten konnte zwischen den Verkaufsparteien<br />
Einigung schaffen. Sie kamen überein, den Kaufpreis gestützt auf das Schätzungsergebnis auf<br />
CHF 750'000.- festzulegen.<br />
69 Dies zeigt, dass das Gutachten bzw. dessen Ergebnis den Kaufentscheid des David L. entscheidend<br />
beeinflusst hat. David L. hätte sich nicht auf den Verkaufspreis von CHF 750'000.- eingelassen,<br />
hätte er von den Feuchtigkeitsschäden im Dachstock und somit von der Fehlerhaftigkeit des Gutachtens<br />
Kenntnis gehabt. Ohne das unsorgfältige Gutachten der Jean N. & Söhne AG wäre ein<br />
Kaufvertrag zum Preis von CHF 750'000.- folglich nicht zustande gekommen.<br />
70 Wäre das Gutachten sorgfältig erstellt und die Schäden im Dachstock mitberücksichtigt worden,<br />
hätte das Schätzungsergebnis einen um mindestens CHF 80'000.- tieferen Wert ausweisen müssen.<br />
34 Die Parteien hätten dementsprechend einen um diesen Betrag geringeren Verkaufspreis ausgehandelt<br />
und David L. hätte keinen Schaden erlitten. Die fehlerhafte Immobilienexpertise war<br />
demzufolge eine condition sine qua non für den Abschluss eines um CHF 80'000.- zu hohen Kaufvertrages<br />
und somit für den Schaden des David L. Ein natürlicher Kausalzusammenhang zwischen<br />
dem Schaden und der Pflichtverletzung des Beklagten ist folglich gegeben.<br />
71 Auch war die Fehlerhaftigkeit des Schätzungsresultates nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge<br />
und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet, einen Schaden wie denjenigen des David L. zu<br />
bewirken. 35 Wie bereits an früherer Stelle ausgeführt 36 , erweckt ein Gutachten die berechtigte Erwartung<br />
in dessen Objektivität und Richtigkeit. Es ist nur zu üblich, dass Gutachten gerade deshalb<br />
erstellt werden lassen, um dann gestützt darauf Dispositionen zu tätigen. Ein adäquater Kausalzusammenhang<br />
zwischen der Expertise und dem Schaden ist folglich ebenfalls gegeben.<br />
72 Der adäquate Kausalzusammenhang kann unter Umständen durchbrochen werden durch grobes<br />
Selbst- oder Drittverschulden. 37<br />
32 Vgl. statt vieler PETER GAUCH/WALTER R. SCHLUEP/JÖRG SCHMID/HEINZ REY, Schweizerisches Obligationenrecht<br />
Allgemeiner Teil, Band II, 8. Aufl., Zürich 2003, N 2751.<br />
33 KOLLER (Fn. 7), N 88.<br />
34 Vgl. hierzu Rn 57.<br />
35 Zur adäquaten Kausalität vgl. statt vieler GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY (Fn. 32), N 2753.<br />
36 Siehe Rn 39 ff.<br />
37 Vgl. FEHLMANN (Fn. 7), S. 183; ANTON K. SCHNYDER, Kommentar zu Art. 41-59 OR, in: HEINRICH HONSELL/NEDIM<br />
PETER VOGT/WOLFGANG WIEGAND (Hrsg.), Basler Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht I,<br />
Art. 1-529 OR, 3. Aufl., Basel/Genf/München 2003, N 20 f. zu Art. 41 OR.<br />
11
<strong>Team</strong> 7<br />
73 Ein grobes Selbstverschulden kann dem David L. aber keineswegs vorgeworfen werden. Zwar<br />
hätten die Mängel dem Gutachter bzw. dessen Mitarbeiter bei einer sorgfältigen Inspektion auffallen<br />
müssen. Dies lässt aber nicht automatisch darauf schliessen, dass auch David L. bei einer allfälligen<br />
Besichtigung des Hauses die Feuchtigkeit im Dachstock hätte feststellen müssen. An den<br />
privaten Hauskäufer als Laien können keinesfalls die gleichen Anforderungen gestellt werden wie<br />
an den Gutachter als geschulte und erfahrene Fachperson. Ein Gutachter wird schliesslich gerade<br />
deshalb beauftragt, weil der Laie selbst nicht das nötige Fachwissen besitzt. Es kann dem David L.<br />
deshalb nicht als Selbstverschulden angerechnet werden, dass er die Fehlerhaftigkeit des Gutachtens<br />
nicht ohne weiteres entdeckt hat. 38<br />
74 Auch eine Reduktion der Haftung wegen geringem Selbstverschulden kann nicht greifen. David L.<br />
hatte zusammen mit Leon D. beschlossen, ein Gutachten in Auftrag zu geben und hat hierzu sogar<br />
das Unternehmen seines (einstigen) Freundes Jean N. empfohlen. Dass David L. anschliessend ein<br />
eigenes, neues Gutachten anfertigen lassen müsste, um das erstere überprüfen zu können, scheint<br />
unter diesen Umständen als reine Zeit- und Geldverschwendung und konnte von David L. keinesfalls<br />
erwartet werden. David L. durfte sich auf den Bericht der Jean N. & Söhne AG verlassen –<br />
und zwar ohne zusätzliche Abklärungen zu treffen. 39<br />
75 Als Drittverschulden könnte unter Umständen die falsche Angabe der Marie D., der Dachstock sei<br />
in gutem Zustand, gewertet werden. Wie bereits ausgeführt kann dieses Verschulden der Marie D.<br />
aber nicht als grob bezeichnet werden, lag es doch in der Pflicht des Pedro A. zu einer sorgfältigen<br />
Vorgehensweise, ihre Zusicherung nachzuprüfen. 40 Wenn überhaupt, traf Marie D. somit lediglich<br />
ein geringes Verschulden, welches nicht geeignet ist, den Kausalzusammenhang zu unterbrechen.<br />
76 Der Schaden des David L. (CHF 80'000.- zuzüglich Zins) ist diesem folglich adäquat kausal (als<br />
Folge des fehlerhaften Immobiliengutachtens) entstanden.<br />
77<br />
g) Jean N. trifft ein Verschulden in Form von Fahrlässigkeit.<br />
Auch im Rahmen der Vertrauenshaftung haftet nur, wer schuldhaft handelt. 41 Hierbei genügt jegliches<br />
Verschulden, auch leichte Fahrlässigkeit. 42 Es ist auf einen objektivierten Verschuldensmassstab<br />
abzustellen, nach welchem diejenige Sorgfalt erforderlich ist, „welche ein gewissenhafter Beauftragter<br />
in der gleichen Lage bei der Besorgung der ihm übertragenen Geschäfte anzuwenden<br />
pflegt (…)“. 43<br />
38 Vgl. auch KOLLER (Fn. 7), N 89.<br />
39 Vgl. KOLLER (Fn. 7), N 89.<br />
40 Vgl. Rn 46 ff.<br />
41 In den einschlägigen Bundesgerichtsentscheiden zur Vertrauenshaftung und ihren Voraussetzungen wird das Verschulden<br />
des Schädigers zwar nicht explizit erwähnt (<strong>Swiss</strong>air-Fall [Fn. 1], Ringer-Fall [Fn. 2], BGE 130 III 345), in<br />
der Literatur wird ein solches aber grösstenteils vorausgesetzt.<br />
42 FEHLMANN (Fn. 7), S. 182; URS KAISER, Die zivilrechtliche Haftung für Rat, Auskunft, Empfehlung und Gutachten,<br />
Diss. Bern 1987, S. 201; MOSER (Fn. 7), S. 192.<br />
43 BGE 115 II 62 E. 3a; vgl. auch FEHLMANN (Fn. 7), S. 182; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY (Fn. 32), N 2786 ff.; MOSER<br />
(Fn. 7), S. 192.<br />
12
<strong>Team</strong> 7<br />
78 Wie bereits vorgehend dargelegt, gebietet die Pflicht eines Liegenschaftenschätzers zu Sorgfalt und<br />
Objektivität, dass er die Angaben des Hauseigentümers (oder dessen Vertreters) eigenhändig nachprüft<br />
oder zumindest in seinem Bericht vermerkt, welche Angaben ungeprüft übernommen wurden.<br />
44<br />
79 Pedro A. hat diese Sorgfaltspflicht eindeutig verletzt, indem er den Dachstock nicht eigenhändig<br />
inspiziert hat. Diese Sorgfaltspflichtverletzung ist der Beklagten zuzurechnen, stellt Pedro A. doch<br />
eine Hilfsperson der Jean N. & Söhne AG dar. 45 Das Verhalten des Jean N. kann deshalb als fahrlässig<br />
bezeichnet werden, ist Fahrlässigkeit doch nichts anderes als das Nichtbeachten der geforderten<br />
Sorgfalt. Ein Verschulden der Beklagten ist somit gegeben.<br />
1.1.3. Fazit<br />
80<br />
In seinem Urteil vom 23. Dezember 2003 46 hat das Bundesgericht eine Haftung von Liegenschaftenschätzern<br />
gegenüber vertragsfremden Dritten für die Richtigkeit ihrer Gutachten anerkannt. Eine<br />
solche Haftung, die sich auf die Rechtsgrundlage der Vertrauenshaftung stützt, ist im vorliegenden<br />
Fall zu bejahen.<br />
81 Die Jean N. & Söhne AG ist als Gutachtenserstellerin in einer besonderen Stellung. Sie übt eine<br />
Tätigkeit aus, in die üblicherweise grosses Vertrauen gesetzt wird. Ein Schätzungsbericht wird mit<br />
Objektivität und Fachkunde verbunden und ist deshalb geeignet, bei einem Dritten Vertrauen zu<br />
erwecken. Zwar schützt die Vertrauenshaftung nicht jeden x-beliebigen Dritten, der Kläger als<br />
potentieller Käufer der Liegenschaft fällt jedoch zweifellos in den geschützten Personenkreis.<br />
82 Durch ihr Verhalten – insbesondere durch die in ihrer Werbung angepriesene Erfahrung und Sorgfalt<br />
sowie die Tatsache, dass der Immobilienschätzer eine eidgenössisch anerkannte Berufsausbildung<br />
darstellt – hat die Beklagte beim Kläger das berechtigte Vertrauen in ein einer sorgfältigen<br />
Vorgehensweise entsprechendes Schätzungsergebnis geweckt. Dieses Vertrauen wurde dadurch<br />
enttäuscht, dass Pedro A. – ein Mitarbeiter, für dessen Verhalten die Jean N. & Söhne AG einstehen<br />
muss – den Dachstock des zu schätzenden Hauses nicht eigenhändig inspiziert, sondern sich<br />
auf die falschen Angaben der Marie D., der Tochter des Hauseigentümers, verlassen hat. Das<br />
Schätzungsergebnis ist deshalb nicht mit der gebührenden Sorgfalt erstellt worden.<br />
83 Als Folge dieser Pflichtverletzung ist dem Kläger ein Schaden von CHF 80'000.- dadurch entstanden,<br />
dass er einen über dem wirklichen Wert der Liegenschaft stehenden Kaufpreis bezahlt hat.<br />
Dieser Schaden ist adäquat kausal zum fehlerhaften Gutachten, hätte sich der Kläger bei richtiger<br />
Schätzung niemals auf einen Verkaufspreis von CHF 750'000.- eingelassen. Die Jean N. & Söhne<br />
AG wird für den dem David L. entstandenen Schaden haftbar, da sie diesen fahrlässig und damit<br />
schuldhaft herbeigeführt hat.<br />
44 Vgl. Rn 46 ff.<br />
45 Vgl. Rn 53 f.; der Grossteil der Lehre plädiert dafür, aufgrund des Erfordernisses der Sonderverbindung vertragsähnliche<br />
Grundsätze auf die Vertrauenshaftung anzuwenden. Mit dieser Mehrheit sprechend, muss auf die Haftung für<br />
Hilfspersonen Art. 101 OR Anwendung finden, vgl. hierzu z.B. FEHLMANN (Fn. 7), S. 187, 190.<br />
46 BGE 130 III 345.<br />
13
<strong>Team</strong> 7<br />
84 Aufgrund obiger Ausführungen ist die Beklagte dazu zu verurteilen, für den Schaden des Klägers<br />
aufzukommen. Sie schuldet diesem CHF 80'000.- zuzüglich 5 % Zins seit dem 23. August 2002<br />
(Art. 73 Abs. 1 OR). 47<br />
1.2. Deliktshaftung als Anspruchsgrundlage<br />
85 Obwohl das Bundesgericht Auskunftsfälle und andere Sachverhalte, welche ähnlich gelagert sind,<br />
wie der vorliegende als Anwendungsfälle der Vertrauenshaftung behandelt, 48 soll nachstehend<br />
aufgezeigt werden, dass eine Haftung durchaus auch deliktsrechtlich begründet werden kann. Der<br />
Vorteil des deliktsrechtlichen Ansatzes liegt in erster Linie darin, dass hinsichtlich Haftungsmodalitäten<br />
(Hilfsperson, Verjährung) und der internationalprivatrechtlichen Anknüpfung Unklarheiten<br />
vermieden werden. Ausserdem erscheint die Generalklausel von OR 41 gegenüber haftpflichtrechtlicher<br />
Weiterentwicklung 49 sehr geeignet.<br />
1.2.1. Zur Deliktshaftung nach Art. 55 OR und ihren Voraussetzungen im Allgemeinen<br />
86 Für eine Haftung aus unerlaubter Handlung ist vorliegend zweifellos Art. 55 OR einschlägig, geht<br />
es doch um eine Haftung der Jean N. & Söhne AG für das widerrechtliche Verhalten ihres Angestellten<br />
Pedro A. Für die Anwendbarkeit des genannten Artikels wird ein Subordinationsverhältnis<br />
zwischen dem Geschäftsherrn und der Hilfsperson vorausgesetzt. Weiter muss dem Geschädigten<br />
durch widerrechtliches Handeln der Hilfsperson in Ausübung ihrer dienstlichen Pflichten ein adäquat<br />
kausaler Schaden entstanden sein, wobei sich der Geschäftsherr durch Erbringen des Sorgfaltsbeweisbeweises<br />
von seiner Haftung befreien kann.<br />
87 Sowohl das Subordinationsverhältnis und die Ausübung in Rahmen der dienstlichen Pflichten als<br />
auch der Schaden und die Kausalität dürften von der Beklagten wohl kaum bestritten werden, steht<br />
Pedro A. zur Jean N. & Söhne AG doch in einem Arbeitsverhältnis, welchem üblicherweise ein<br />
Unterordnungsverhältnis innewohnt und hat dieser die Inspektion als Grundlage für ein Schätzungsgutachten<br />
vorgenommen. Bezüglich der Voraussetzungen des Schadens und der Kausalität<br />
kann auf vorhergehende Ausführungen zur Vertrauenshaftung verwiesen werden. 50<br />
1.2.2. Zur Widerrechtlichkeit<br />
88 Obwohl der Gesetzestext von OR 55 nicht explizit festhält, dass die Handlung der Hilfsperson widerrechtlich<br />
(vgl. Art. 41 Abs. 1 OR) zu sein braucht, ist dieses Tatbestandsmerkmal ein wesentliches<br />
Element der Geschäftsherrenhaftung. 51<br />
47 Der Schadenszins ist ab Eintritt des schädigenden Ereignisses an geschuldet. Vgl. statt vieler<br />
GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY (Fn. 32), N 2738.<br />
48 BGE 121 III 350 E. 6c; 124 III 363 E. 5; Urteil des Bundesgerichts 4C.193/2000 E. 5 vom 26.9.2001.<br />
49 Dass sich das Haftpflichtrecht ständig weiterentwickelt, rührt nicht zuletzt daher, dass Haftpflichtrecht in ausgeprägtem<br />
Masse Fallrecht ist. Vgl. VITO ROBERTO, Deliktsrechtlicher Schutz des Vermögens, AJP 1999, S. 511 ff., 512.<br />
50 Vgl. Rn 62 ff. und 66 ff.<br />
51 INGEBORG SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht, Bern 2000, Rn. 23.14.<br />
14
<strong>Team</strong> 7<br />
89 Im Bezug auf die Widerrechtlichkeit operiert das Bundesgericht seit geraumer Zeit überwiegend<br />
mit Hilfe der sog. objektiven Widerrechtlichkeitstheorie. Dem entsprechend anerkennt das Bundesgericht<br />
zum einen die Verletzung eines absolut geschützten Rechtsgutes und zum andern die Verletzung<br />
einer Schutznorm als widerrechtlich. 52<br />
90 Dadurch dass das Vermögen in der Schweizer Rechtsordnung nicht als ein absolut geschütztes<br />
Rechtsgut anerkennt wird, muss die Widerrechtlichkeit im Falle eines reinen Vermögensschaden<br />
über einen Schutznormverstoss konstruiert werden, was bislang nicht zu befriedigenden Ergebnissen<br />
geführt hat. In der Lehre wird diesbezüglich von der „Diskriminierung reiner Vermögensschäden“<br />
53 gesprochen. Auch dem Bundesgericht ist die Unzulänglichkeit der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie<br />
nicht neu. So musste es denn auch in der näheren Vergangenheit vermehrt von der<br />
objektiven Widerrechtlichkeitstheorie abweichende Lösungen anwenden. Im Hinblick auf die angesprochene<br />
Diskriminierung schlägt die Lehre praktikable Ansätze vor, welche sich im Grossen<br />
und Ganzen mit den vom Bundesgericht angewendeten Kriterien decken. 54<br />
91 Die oben kurz angesprochene bisher enge Auslegung der Widerrechtlichkeit im Rahmen der objektiven<br />
Widerrechtlichkeitstheorie stösst immer häufiger an ihre Grenzen. Zunächst deshalb weil die<br />
Abgrenzung zwischen absolutem Recht und reinem Vermögensschaden nicht immer einfach ist. Im<br />
Weiteren aber auch deshalb weil sich Probleme hinsichtlich der Qualifikation einer Norm als<br />
Schutznorm ergeben. Und letztlich deshalb, weil die objektive Widerrechtlichkeitstheorie zu Ergebnissen<br />
führen kann, welche dem Gerechtigkeitsgefühl widersprechen, z.B. bei einer Ungleichbehandlung<br />
von zwei ähnlichen Situationen 55 auf Grund der mehr oder weniger zufälligen Existenz<br />
einer Schutznorm. 56<br />
92 Dem wirkte das Bundesgericht zunächst entgegen in dem es den Schutznormbegriff sehr weit auslegte<br />
und sogar ungeschriebene Schutznormen anerkannte. 57 Diese Auslegung wurde auch in neueren<br />
Entscheiden wiederholt bestätigt. 58 Später leitete das Bundesgericht die Widerrechtlichkeit aus<br />
dem Verstoss gegen ausservertragliche Sorgfaltspflichten ab, welche z.B. durch die Garantenstellung<br />
der auskunftserteilenden Person oder aus dem durch die Auskunft erweckten Vertrauen<br />
59 60<br />
begründet wurden.<br />
52 BGE 115 II 15 E. 3a; Urteil des Bundesgerichts 4C.280/1999 E. 1a vom 28.1.2000.<br />
53 ERNST A. KRAMER, Reine Vermögensschäden als Folge von Stromkabelbeschädigung, in: recht 1984, S.128 ff.,<br />
S. 132; HUBERT STÖCKLI, Schaden und Schadenersatz beim Bauen, in: BRT 2003 S. 7 ff., S. 16; FRANZ WERRO, Die<br />
Sorgfaltspflichtverletzung als Haftungsgrund nach Art. 41 OR, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht, Basel 1997,<br />
S. 343 ff., S. 366.<br />
54 FRANZ WERRO, Haftung für fehlerhafte Auskunft und Beratung, in: recht 2003, S. 12 ff., S.15.<br />
55 Als Beispiel können zwei Kabelbruchfälle genannt werden, in welchen das Bundesgericht einmal eine Haftung bejaht<br />
(BGE 102 II 85; vgl. auch 101 Ib 252) in andern aber ablehnt (BGE 106 II 75).<br />
56 WERRO (Fn. 54), S. 13.<br />
57 BGE 57 II 81; BGE 80 III 41 E. 4.<br />
58 BGE 111 II 471 E. 3; BGE 116 II 695 E. 4; ebenfalls Urteil des Bundesgerichts 4C.193/2000 E. 4a vom 26.9.2001.<br />
59 BGE 116 II 695 E. 4.<br />
60 BGE 121 III 350 E. 6c; m.w.H. Urteil des Bundesgerichts 4C.211/1989 vom 13.12.1990.<br />
15
<strong>Team</strong> 7<br />
93 Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Haltung des Bundesgerichts in Bezug auf die Haftung für<br />
reine Vermögensschäden nicht mehr gänzlich verweigernd ist, sondern sich durchaus ein Stück<br />
weit geöffnet hat.<br />
94 Im Folgenden soll anhand einer heute weit diskutierten Lehrmeinung dargelegt werden, wie die<br />
weitreichenden Probleme der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie gelöst werden könnten und<br />
welchen Einfluss dies auf den vorliegenden Fall zeitigt. Denn die vorgehend aufgezeigten Punkte<br />
zeigen es deutlich – die Zeit ist reif für eine Änderung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung.<br />
a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als Anknüpfungskriterium der Ersatzpflicht<br />
95 Diese im Wesentlichen von WERRO entwickelte Theorie begründet die Haftung des Schädigers bei<br />
reinen Vermögensschäden durch die Verletzung einer objektiven Sorgfaltspflicht. So genügt es<br />
demnach nicht, dass ein absolutes Recht verletzt worden ist, um den Schädiger zur Verantwortung<br />
zu ziehen. Vielmehr muss die Schädigung auf ein unsorgfältiges Verhalten zurück zu führen sein.<br />
96 Von diesem Ansatz scheint auch das Bundesgericht auszugehen. So entschied es, dass eine schwere<br />
Körperverletzung für sich allein noch keine Widerrechtlichkeit begründe. Der Beklagte hafte also<br />
nicht, weil er ein absolutes Recht verletzt habe, sondern weil er den Gefahrensatz missachtet und<br />
sich damit unvernünftig verhalten habe. 61 Ähnliches gilt ebenfall im Bereich der Arzthaftung, wo<br />
nicht die Verletzung der körperlichen Integrität als solches haftungsauslösend ist, sondern das unsorgfältige<br />
Verhalten des Arztes, die Verletzung der Aufklärungspflichten oder das Missachten der<br />
Regeln der medizinischen Kunst. 62 Die Tatsache, dass ein absolutes Recht verletzt wurde ist nur<br />
zweitrangig. Prioritär ist zu eruieren, ob sich die schädigende Person anders Verhalten hat, als es<br />
aufgrund der Umstände des Einzelfalls vernünftigerweise von ihr erwartet werden konnte.<br />
97 Da, wie gerade dargestellt, die Verletzung des absoluten Rechts nicht ausschlaggebend ist um eine<br />
Haftung zu bejahen, kann die Haftung auch nicht dadurch verneint werden, dass kein absolutes<br />
Recht, sondern „nur“ das Vermögen verletzt wurde. Korrekter weise müsste auch hier geprüft werden,<br />
ob sich die schädigende Person objektiv unsorgfältig verhalten hat. Also ob das Verhalten der<br />
schädigenden Person abweicht von jenem, welches von einer vernünftigen Person (reasonable<br />
person) in der gleichen Situation hätte erwartet werden dürfen.<br />
98 Es gibt mehrere Beispiele wo auch das Bundesgericht und zwar im Rahmen der Widerrechtlichkeit<br />
nach den oben erwähnten Kriterien der Sorgfaltspflichtverletzung eine Haftung prüfte. 63<br />
99 Weiter sieht auch das Gesetz das Kriterium der Verletzung einer Sorgfaltspflicht ausdrücklich vor.<br />
So nennt Art. 426 ZGB anstelle der Widerrechtlichkeit als Haftungsvoraussetzung eine Sorgfalts-<br />
61 WERRO (Fn. 53), S. 349; vgl. hierzu auch BGE 82 II 28.<br />
62 BGE 116 II 519.<br />
63 In BGE 120 III 350 bejahte das Bundesgericht die Haftung eines Sportvereins, weil sich dieser nicht so verhalten hat,<br />
wie es vernünftigerweise von ihm hätte erwartet werden dürfen; auch im Rahmen der Staatshaftung prüft das Bundesgericht,<br />
ob der schädigende Beamte eine Sorgfaltspflicht verletzt hat. Dazu BGE 118 Ib 473, 482 ff.<br />
16
<strong>Team</strong> 7<br />
pflichtverletzung. Die Vormundschaftsbehörde haftet somit gegenüber der bevormundeten Person,<br />
wie auch gegenüber Dritten 64 , weil ihr Verhalten, vom Verhalten eines vernünftigen Vormundes in<br />
der gleichen Situation abweicht. 65<br />
b) Anwendung auf den vorliegenden Fall<br />
100 Die Haftung der Jean N. & Söhne AG ist zu bejahen, weil sich Pedro A. im Rahmen der Inspektion<br />
anders verhalten hat, als sich ein vernünftiger Gutachter 66 in derselben Situation verhalten hätte.<br />
Jeder durchschnittlich gebildete und erfahrene Gutachter würde bei einem beinahe zwanzig jährigen<br />
Haus dem Gebälk im Dachstock zumindest einen Blick widmen, wenn nicht sogar es einer<br />
eingehenderen Prüfung unterziehen. Pedro A. unterliess eine Prüfung und hat das Gebälk nicht<br />
eines einzigen Blickes gewürdigt, weshalb er eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt und somit die<br />
Widerrechtlichkeit seines Verhaltens begründet hat.<br />
1.2.3. Zum Sorgfaltsbeweis/Befreiungsbeweis<br />
101 Der Sorgfaltsbeweis besteht darin, dass der Geschäftsherr vorzeigt alle ihm obliegenden Sorgfaltspflichten<br />
bezüglich Auswahl, Instruktion und Überwachung der Hilfsperson erfüllt zu haben.<br />
102 Cura in eligendo: Der Geschäftsherr muss die geeignete Hilfsperson für den zu erfüllenden Auftrag<br />
auswählen. Dabei muss diese entsprechend ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten, ihrer Zuverlässigkeit<br />
und Erfahrung in der Lage die vorhergesehene Arbeit auszuführen.<br />
103 Allen guten Arbeitsleistungen während seiner kürzlich beendeten Lehre zu trotz, ist Pedro A. die<br />
falsche Hilfsperson, da ihr die im Briefkopf der Jean N. & Söhne AG umworbenen Erfahrungen<br />
fehlen. Darüber Hinaus fehlt ihm das nötige „Know-how“, so wurde er doch als Architekt und<br />
nicht als Schätzungsexperte ausgebildet. Dies widerspiegelt sich dann auch im leichtfertigen Übergehen<br />
des Dachstocks, welcher bei einem knapp 20 jährigen Haus zwingend eingehender untersucht<br />
hätte werden müssen.<br />
104<br />
Cura in instruendo: Auch die Instruktion im Hinblick auf die auszuführende Arbeit lässt zu wünschen<br />
übrig. Da der zu instruierende Mitarbeiter keine Erfahren mit sich bringt, ist die vorgenommene<br />
Instruktion (Zitat: „Genau unter die Lupe nehmen“) viel zu allgemein formuliert. Die Sorgfaltspflicht<br />
des Geschäftsherrn ist auch hier nicht erfüllt, da präzise Hinweise hinsichtlich kritischen<br />
Stellen (Dachstuhl, Keller und Mauerwerk) unterlassen wurden.<br />
105<br />
Cura in custodiendo: Ebenso das Mass der anzuwendenden Sorgfalt in der Überwachung hängt,<br />
von den bereits erörterten Kriterien ab. Es dürfen hier nicht allzu hohe, praxisfremde Anforderungen<br />
gestellt werden, jedoch scheint im vorliegenden Fall, aufgrund der Unerfahrenheit der Hilfs-<br />
64 Obwohl sich hier die Haftung nach OR 41 richtet, entfällt die Voraussetzung der Widerrechtlichkeit und wird durch<br />
die in Art. 426 ZGB vorgesehene Sorgfaltspflichtverletzung ersetzt.<br />
65 BGE 115 II 15 E. 4a.<br />
66 Vernünftig ist in Anlehnung an die vernünftige Person (reasonable person) zu verstehen.<br />
17
<strong>Team</strong> 7<br />
67<br />
person ein Minimum an Überwachung gerechtfertigt. Da eine Kontrolle völlig unterlassen wurde,<br />
ist auch die gebotene Sorgfaltspflicht verletzt worden.<br />
106<br />
Das Mass der Sorgfalt in der Organisation der Arbeit und des Unternehmens, sowie die Sorgfalt<br />
in der Ausrüstung mit tauglichem Werkzeug und Material werden vom Kläger nicht gerügt,<br />
mangels kumulativer Erfüllung aller dem Beklagten obliegender curae gelingt diesem jedoch<br />
der Sorgfaltsbeweis nicht.<br />
1.2.4. Beweis der fehlenden Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung<br />
107 Gelingt es dem Geschäftsherrn aufzuzeigen, dass der Schaden auch bei Anwendung der nach den<br />
Umständen gebotenen Sorgfalt eingetreten wäre, fehlt es an der Kausalität zwischen dem Schaden<br />
und der Sorgfaltspflichtverletzung und der Geschäftsherr entgeht einer Haftung aus Art. 55 OR.<br />
108 Hätte der Geschäftsherr aber einen geeigneten Mitarbeiter ausgewählt, hätte sich dieser auch wie<br />
ein professioneller Gutachter verhalten und sich nicht blind auf Informationen des Auftraggebers<br />
verlassen.<br />
109 Wäre auch die Instruktion präziser auf heikle Stellen fokussiert gewesen, wäre das Vorgehen des<br />
Mitarbeiters hinsichtlich solchen Stellen ebenfalls viel aufmerksamer Ausgefallen und somit wäre<br />
der Dachstuhl nicht so leichtfertig übergangen worden.<br />
110 Ebenso hätte anhand einer Überwachung, wie sie vorgehend vorgeschlagen wurde (vgl. Fn. 68), die<br />
Unrichtigkeit des Gutachtens in Erfahrung gebracht werden können, wodurch bei David L. auch<br />
kein Schaden entstanden wäre.<br />
1.2.5. Fazit<br />
111 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Kläger eine Schädigung erlitten hat, welche in<br />
einem reinen Vermögensschaden besteht. Diese Schädigung ist zurückzuführen auf den falschen<br />
Anschein, welcher das Gutachten vom 14. Juli 2002 erweckt hat. Die Unrichtigkeit des Gutachtens<br />
wiederum ist Produkt eines widerrechtlichen Verhaltens von Pedro A., welcher ohne weiteres als<br />
Hilfsperson von der Firma Jean N. & Söhne qualifiziert werden kann. Da dem Geschäftsherrn weder<br />
der Sorgfaltsbeweis, noch der Beweis der fehlenden Kausalität gelingt, sind alle Tatbestandsmerkmale<br />
erfüllt und der Beklagte ist nach Art. 55 OR zum Schadenersatz verpflichtet.<br />
2. Eine Verrechnung mit der Forderung über CHF 3'000.- ist nicht möglich.<br />
112 Für den Fall, dass die Beklagte die Verrechnung der Schadenersatzforderung im Umfang von CHF<br />
3'000.- geltend macht, wird nachfolgend dargelegt, dass eine Verrechung mangels Gegenseitigkeit<br />
der beiden Forderungen nicht möglich ist. Eventualiter wird zu zeigen sein, dass die Forderung<br />
67 Verlangt wird nicht eine Nachprüfung der im Augenschein festgestellten Tatsachen, jedoch hätte durch ein mündliches<br />
Gespräch mit Pedro A. über den Verlauf der Inspektion in Erfahrung gebracht werden können, dass dieser einen gravierenden<br />
Fehler gemacht hatte.<br />
18
<strong>Team</strong> 7<br />
über CHF 3'000.- bereits verjährt ist und eine Verrechnung deshalb lediglich als Ausnahme i.S.v.<br />
Art. 120 Abs. 3 OR möglich ist. Ob eine solche vorliegend gegeben ist, kann das Bundesgericht<br />
aufgrund unklaren Sachverhalts jedoch nicht feststellen. Der Fall ist dies falls zur Klärung des<br />
Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen.<br />
2.1. Eine Verrechnung ist mangels Gegenseitigkeit der Forderungen nicht möglich.<br />
113 Eine Verrechnung zweier Forderungen ist nur dann möglich, wenn sich die Verrechnungsforderung<br />
gegen den Verrechnungsgegner und die Hauptforderung gegen den Verrechnenden richtet. 68 Im<br />
vorliegenden Fall will Jean N. als Verrechnender seine Forderung gegen David L. als Verrechnungsgegner<br />
zur Verrechnung bringen.<br />
114 Die Schadenersatzforderung des David L. über CHF 80'000.- zuzüglich Zins richtet sich gegen die<br />
Jean N. & Söhne AG als juristische Person mit eigener Rechtspersönlichkeit. Die Forderung über<br />
CHF 3'000.- beruht auf Renovationsarbeiten, welche Jean N. gemeinsam mit seinem (einstigen)<br />
Freund David L. vorgenommen und diesem als Freundschaftsdienste erbracht hatte. Diese Umstände<br />
lassen darauf schliessen, dass Jean N. die Arbeiten als Privatperson – nämlich als Freund des<br />
David L. – und nicht als Angestellter der Jean N. & Söhne AG vornahm.<br />
115 Bei Aktiengesellschaften besteht keine Identität der Gesellschaft mit ihren Aktionären. Selbst bei<br />
Einmann-Aktiengesellschaften ist die Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft von derjenigen des<br />
Aktionärs zu trennen. 69 Jean N. als natürliche Person darf deshalb nicht mit der Jean N. & Söhne<br />
AG gleichgesetzt werden. Das Schuldverhältnis ist folglich nicht zwischen David L. und der Jean<br />
N. & Söhne AG, sondern mit Jean N. als natürlicher Person entstanden.<br />
116 Schuldner der Schadenersatzforderung ist die Jean N. & Söhne AG, Gläubiger der Forderung über<br />
CHF 3'000.- jedoch Jean N. als Privatperson, weshalb die Gegenseitigkeit dieser Forderungen und<br />
somit eine Verrechnung abzulehnen ist.<br />
2.2. Eventualiter: Die Forderung über CHF 3'000.- ist verjährt. Ob eine Verrechnung<br />
dennoch möglich ist, kann vom Bundesgericht nicht entschieden werden.<br />
117 Sollte das Gericht die Gegenseitigkeit der Forderungen gleichwohl bejahen, wird im Folgenden<br />
aufgezeigt, dass aufgrund unvollständiger Sachverhaltsangaben nicht entschieden werden kann, ob<br />
eine Verrechnung möglich ist oder nicht, sondern der Fall zur Klärung dieser Frage an die Vorinstanz<br />
zurückzuweisen ist. Es kann aber bereits festgestellt werden, dass die Forderung des Jean N.<br />
über CHF 3'000.- verjährt ist.<br />
68 Vgl. statt vieler GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY (Fn. 32), N 3397.<br />
69 BGE 85 II 111 E. 2; vgl. auch WOLFGANG PETER, Kommentar zu Art. 120-126 OR, in: HEINRICH HONSELL/NEDIM<br />
PETER VOGT/WOLFGANG WIEGAND (Hrsg.), Basler Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht I,<br />
Art. 1-529 OR, 3. Aufl., Basel/Genf/München 2003, N 6 zu Art. 120 OR.<br />
19
<strong>Team</strong> 7<br />
2.2.1. Die Forderung des Jean N. gegen den David L. ist verjährt.<br />
118 Damit zwei Forderungen miteinander verrechnet werden können, muss die Verrechnungsforderung<br />
grundsätzlich klagbar sein. Verjährte Eigenforderungen können deshalb – abgesehen von der Ausnahme<br />
des Art. 120 Abs. 3 OR – nicht verrechnet werden. 70<br />
119 Die Forderung des Jean N. gegen den David L. aus Renovationsarbeiten in der Höhe von CHF<br />
3'000.- ist verjährt. Wie im Folgenden zu zeigen ist, handelt es sich bei der betreffenden Forderung<br />
um eine Forderung aus Handwerksarbeit, welche gemäss Art. 128 Ziff. 3 OR nach Ablauf einer 5-<br />
Jahresfrist verjährt.<br />
120 Handwerksarbeit ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dann anzunehmen, wenn das<br />
Gewicht der Handarbeit und des dazu erforderlichen handwerklichen Könnens die Serienproduktion<br />
oder das intellektuelle, wissenschaftliche, organisatorische und administrative Moment überwiegt<br />
oder zumindest aufwiegt. 71<br />
121 Die Arbeit des Jean N., auf welcher die Forderung über CHF 3'000.- beruht, setzt sich zusammen<br />
aus dem Erstellen von Plänen für die Renovation des Hauses von David L. sowie deren Umsetzung.<br />
Der Kläger bestreitet keineswegs, dass das Entwerfen von Plänen durch einen Architekten<br />
keine Handwerksarbeit darstellt, sondern intellektueller Natur ist. Dennoch muss die Leistung des<br />
Jean N. insgesamt als Handwerksarbeit qualifiziert werden. Die Arbeit des Jean N. kann nämlich<br />
nicht derjenigen eines konventionellen Architekten gleichgestellt werden, hat Jean N. zusätzlich<br />
zum Entwerfen der Pläne doch eigenhändig Hand angelegt und die Renovationsarbeiten vorgenommen.<br />
Der Schwerpunkt der geleisteten Arbeit liegt folglich nicht auf dem Erstellen der Pläne,<br />
sondern auf der Renovationsarbeit an sich, welche zweifellos als Handwerksarbeit zu gelten hat.<br />
Dies zeigt sich umso mehr, als es sich lediglich um Renovationsarbeiten handelte, bei welchen<br />
Pläne weit weniger Bedeutung erlangen als bei Neubauten. Schliesslich wird hierbei bloss Altes<br />
aufgearbeitet, nicht oder nur in geringem Umfang jedoch Neues erstellt.<br />
122 David L. als unabhängiger Vermögensverwalter wäre alleine wohl kaum in der Lage gewesen, sein<br />
Haus zu renovieren. Er brauchte notwendigerweise die Hilfe des Jean N. - und zwar nicht nur Hilfe<br />
im Entwerfen von Plänen, sondern auch und vor allem im Renovieren selbst. In diesem Lichte gewinnt<br />
die handwerkliche Arbeit des Jean N. enorm an Bedeutung. Es kann deshalb nicht angehen,<br />
für die Qualifikation der Arbeitsleistung des Jean N. lediglich auf das Erstellen der Pläne und somit<br />
auf den intellektuellen Part abzustellen. Es ist nämlich nicht die übliche Arbeit eines Architekten –<br />
das Entwerfen und Erstellen von Plänen –, sondern vielmehr die handwerkliche, mit den Händen<br />
vorgenommene Arbeit am Haus, welche hier im Vordergrund steht, so dass ein Übergewicht an<br />
Handarbeit und erforderlichem handwerklichem Können zu bejahen ist.<br />
70 Vgl. statt vieler GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY (Fn. 32), N 3419.<br />
71 BGE 109 II 116 E. 2c.; BGE 116 II 428 E 1a; BGE 123 III 120 E. 3b.<br />
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<strong>Team</strong> 7<br />
123 Die Forderung des Jean N. gegen den David L. beruht folglich vorwiegend auf Handwerksarbeit<br />
und verjährt deshalb nach der Frist von Art. 128 Ziff. 3 OR, d.h. nach 5 Jahren. Die 1998 entstandene<br />
Forderung ist somit verjährt und kann deshalb grundsätzlich nicht mit der Schadenersatzforderung<br />
des David L. verrechnet werden.<br />
2.2.2. Ob eine Ausnahme i.S.v. Art. 120 Abs. 3 OR vorliegt, kann nicht entschieden werden.<br />
124 Eine Verrechnung wäre trotz Verjährung der Verrechnungsforderung möglich, wenn ein Fall des<br />
Art. 120 Abs. 3 OR vorliegen würde. Art. 120 Abs. 3 OR begründet eine Ausnahme vom Grundsatz,<br />
dass verjährte Forderungen nicht verrechenbar sind. Bestand die Möglichkeit zur Verrechnung<br />
zu einem Zeitpunkt, an dem die Verrechnungsforderung noch nicht verjährt war, bleibt diese Möglichkeit<br />
bestehen, auch wenn die betreffende Forderung später verjährt. 72<br />
125 Um zu entscheiden, ob Art. 120 Abs. 3 OR vorliegend einschlägig ist, muss nach dem Entstehungsdatum<br />
der Schadenersatzforderung gefragt werden.<br />
126 Eine Schadenersatzforderung kann nicht entstehen, bevor der Geschädigte den Schaden entdeckt.<br />
Dies tat David L. im Frühling 2003. Das Ausmass des ihm entstandenen Schadens und somit den<br />
Umfang der Forderung wurde ihm erst bekannt, als er die Kostenvoranschläge für die Reparation<br />
des Dachgebälks einholte, was im Mai 2003 geschah. Die Schadenersatzforderung des David L. ist<br />
deshalb frühestens im Frühling 2003, wenn nicht sogar erst im Mai 2003 entstanden. 73<br />
74<br />
127 Wie vorgehend ausgeführt, ist die Verrechnungsforderung im Jahre 2003 verjährt. Aus den Akten<br />
geht hingegen nicht hervor, wann genau die Forderung 1998 entstanden ist und somit wann im<br />
Jahre 2003 die Verjährung eintrat. Es ist somit durchaus möglich, dass die Verrechnungsforderung<br />
verjährt ist bevor die Schadenersatzforderung überhaupt entstanden ist. Diesfalls wäre eine Verrechnung<br />
zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen und die Voraussetzung von Art 120 Abs. 3 OR<br />
somit nicht erfüllt.<br />
128 Es ist folglich festzuhalten, dass aufgrund der Akten weder zu Gunsten noch zu Lasten des Klägers<br />
entschieden werden kann, ob ein Fall von Art. 120 Abs. 3 OR vorliegt und somit eine Verrechnung<br />
möglich ist oder nicht. Bezüglich der Frage, ob die Schadenersatzforderung des David L. mit der<br />
Forderung über CHF 3'000.- des Jean N. verrechnet werden kann, ist durch das Bundesgericht festzustellen,<br />
dass die Forderung des Jean N. verjährt ist. Ob hingegen eine Ausnahme nach Art. 120<br />
Abs. 3 OR vorliegt, kann nicht geklärt werden, weshalb der Fall diesbezüglich zur Klärung des<br />
Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen ist (Art. 64 OG).<br />
72 Vgl. statt vieler PETER (Fn. 69), N 24 zu Art. 120 OR.<br />
73 Der Entstehungszeitpunkt der Forderung ist nicht zu verwechseln mit dem Zeitpunkt, ab dem ein Schadenszins geschuldet<br />
ist. Ein solcher wird nämlich bereits ab Eintritt des schädigenden Ereignisses geschuldet, nicht erst bei Entstehung<br />
der Schadenersatzforderung.<br />
74 Vgl. Rn 119 ff.<br />
21