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Palliativbetreuung im Pflegeheim - Frank ... - End-Of-Life-Care

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<strong>Frank</strong> Kittelberger, München<br />

Vortrag am Kongress „es muss alsdann gestorben sein“<br />

am 30. April 2009 in Nürnberg<br />

Von Sterbebegleitung bis SAPV –<br />

<strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong><br />

(I) Meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />

„Im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss“. Mit diesem Satz soll Cato<br />

der Ältere <strong>im</strong> zweiten Jahrhundert den römischen Senat genervt haben. Egal worum es<br />

ging - Kultur, Zustand der öffentlichen Bäder, Finanzen, Sittenverfall oder was auch <strong>im</strong>mer<br />

- Cato endete stets mit diesem Satz: ceterum censeo cartharginem esse delendam.<br />

Das nervte! Dieses Nerven führte schließlich dazu, dass sein Antrag irgendwann die<br />

Mehrheit erhielt. Im III. Punischen Krieg wurde Karthago dann tatsächlich zerstört.<br />

Nun sind wir hier nicht in Rom. Inspirierend an dieser Anekdote ist jedoch, dass man durch<br />

beständiges Wiederholen eines Standpunktes irgendwann vielleicht doch etwas erreicht.<br />

In diesem Sinne haben wir in den vergangenen 10 Jahren <strong>im</strong>mer wieder formuliert: „Im<br />

Übrigen sind wir der Meinung, dass alte und hochbetagte Menschen in ihrer<br />

Lebensendbegleitung von der Medizin, der Politik und auch von der Palliativ-Szene<br />

sträflich vernachlässigt werden, was zu ändern ist!“<br />

So haben MahnerInnen wie Stein Husebö oder Karin Wikening, Marina Kojer, Andreas<br />

Heller oder Roland Kunz u.v.a.m. <strong>im</strong>mer wieder betont, dass wir bei aller Konzentration<br />

auf das Lebensende in der Hospizsarbeit und Palliativmedizin permanent eine<br />

Bevölkerungsgruppe ausblenden : Alte und Hochbetagte - noch dazu wenn sie in einem<br />

Pflegehe<strong>im</strong> leben. Dies ist nicht hinnehmbar.<br />

Jüngstes Beispiel: Der Bremer Palliativkongress <strong>im</strong> März. Im Programm findet sich kaum<br />

ein Bezug auf die Menschen <strong>im</strong> hohen Alter und auf den Versorgungskontext der<br />

Pflegehe<strong>im</strong>e, dafür viel zu viel Medizin! Diese Missachtung des alten Menschen ist durch<br />

gute palliative Geriatrie und durch eine ethisch und hospizlich ausgerichtete<br />

Organisationskultur der Altenhilfe zu überwinden.<br />

Das meine ich als Imperativ und als Indikativ: Sie ist zu überwinden!<br />

Ich ärgere mich darüber, dass Kinderhospizarbeit und pädiatrische Palliativversorgung<br />

eine so große Aufmerksamkeit erfahren, während alte Menschen nach wie vor außen vor<br />

bleiben. So ist z.B. bei der Entstehung des § 37b <strong>im</strong> SGB V ausdrückliche und mit<br />

Nachbesserungen den Belangen von Kindern „besonders Rechnung“ getragen worden.<br />

Das Thema zieht. Warum wird nicht den palliative Belangen alter und greiser Mitbürger<br />

„besonders Rechnung“ getragen Der Kindcheneffekt ist eben niedlicher und erträglicher,<br />

als der Blick ins Gesicht unserer eigenen Zukunft!<br />

Nun, dieser Vortrag soll kein Klagepsalm werden. Es gibt ja auch Fortschritte und gute<br />

Erfahrungen. Manchmal sogar etwas zu feiern. Gelegentlich mag sich die eine oder der<br />

andere von uns fühlen wie der alte S<strong>im</strong>eon aus dem Lukasevangelium, der nach der<br />

Begegnung mit dem Jesuskind meinte: „Nun habe ich die Herrlichkeit gesehen! Nun kann<br />

ich gehen!“ Nach gut 10 Jahren können wir beglückt feststellen, dass manche unserer<br />

Mahnungen gehört wurden und Gewaltiges geschehen ist in der Lebensendbegleitung und<br />

Versorgung von Hochbetagten. Von Schmerztherapie über Palliativmedizin bis zur<br />

Integration der Hospizidee in die Pflegehe<strong>im</strong>e – Vieles hat sich bewegt. In diesen Tagen<br />

hier in Nürnberg haben wir davon reichlich gesprochen und gehört<br />

Ich möchte aus drei Blickwinkeln heraus aufzeigen, was Ziel und Aufgabe guter<br />

<strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong> ausmacht, wo gute Praxis sich durchgesetzt hat, aber<br />

auch wo es noch Schieflagen gibt, und welche Herausforderungen ich sehe.<br />

<strong>Frank</strong> Kittelberger „Von Sterbebgleitung bis SAPV - <strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong>“ Vortrag Nürnberg 30.4.09 Seite 1 von 6


(II) Erster Blickwinkel: Was meine ich mit „palliativer Sorge“ <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong><br />

Es gibt eine lange Tradition der Sterbebegleitung, die über viele Jahrzehnte hinweg in der<br />

Altenpflege <strong>im</strong>mer schon geleistet wurde. Diese Sterbebegleitung gibt es <strong>im</strong>mer noch. Im<br />

Rahmen der Palliativversorgung zum Beispiel verstehen wir unter „Sterbebegleitung <strong>im</strong><br />

engeren Sinn“ die direkte Begleitung der Bewohner in ihrer Terminalphase - z.B. durch<br />

Sitzwachen am Bett. Doch Palliativversorgung meint mehr, wie ich aufzeigen werde.<br />

Sicher ist, dass die über Jahrzehnte hinweg geleistete Sterbebegleitung zwar <strong>im</strong>mer schon<br />

relativ gut war (in der Regel vor allen bei konfessionellen Trägern), aber eben doch den<br />

Charakter des Besonderen und der Ausnahme hatte. Gute Sterbebegleitung wurde<br />

geleistet, hatte aber nicht viel mit dem Alltag der Pflege, Betreuung, Rehabilitation und<br />

Mobilisierung von Bewohnern <strong>im</strong> Altenhe<strong>im</strong> zu tun. Daher gab es auch in der Ausbildung<br />

nur selten Themenschwerpunkte zur „end-of-life-care“. Sterbebegleitung wurde geleistet<br />

(oft von älteren und erfahrenen Pflegekräften) und verlangte auch ein erhöhtes<br />

Engagement. Sie war gut zu leisten, weil sie eben nicht die Hauptbeschäftigung darstellte,<br />

sondern die Ausnahme. Sterbebegleitung in diesem Sinne gehört nur noch partiell zur<br />

Realität von Pflegehe<strong>im</strong>en, deren Schwerpunkt heute eher generell auf dem Aspekt der<br />

Lebensendbegleitung liegt. Sterbebegleitung und Palliativversorgung dürfen also nicht<br />

gegeneinander ausgespielt werden, müssen aber in der Debatte sauber von einander<br />

getrennt werden.<br />

Dies gilt nun am anderen <strong>End</strong>e der Skala auch für die neue „spezialisierte ambulante<br />

Palliativversorgung (SAPV)“, die seit April 2007 als Rechtanspruch allen Versicherten<br />

zugänglich sein soll. Für sie wurden enge und sehr spezielle Krankheitsbilder bzw.<br />

Versorgungssituationen beschrieben. Liegen diese vor, kann ein Arzt oder eine Ärztin<br />

SAPV verschreiben, die dann von speziellen Leistungserbringern – meist Palliative <strong>Care</strong><br />

Teams genannt - erbracht wird. Dies übrigens – hier konnte der Gesetzgeben gerade noch<br />

beeinflusst werden – auch, wenn die Versicherten in einer SGB XI-Einrichtung stationär<br />

leben – also <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong>.<br />

Wir glauben, dass der Bedarf an SAPV <strong>im</strong> He<strong>im</strong> wohl höher als veranschlagt ist. Doch das<br />

ist nebensächlich. Ob jetzt 10% aller Sterbenden SAPV brauchen, oder ob es <strong>im</strong> He<strong>im</strong><br />

vielleicht 20 % sind, macht kaum einen Unterschied. Überhaupt scheint mir die SAPV<br />

überschätzt. Doch das ist ein anderes Thema.<br />

Mit geht es um das große Feld zwischen der guten alten Sterbebgleitung, die so kaum<br />

noch ausreicht und der SAPV. Mit geht es um die Mehrzahl der sterbend Menschen in<br />

Pflegehe<strong>im</strong>en, die eine gute allgemein Palliativversorgung, eine gute palliative Sorge<br />

brauchen. Hier spielen nicht zuerst Fragen einer hoch spezialisierten Medizin eine Rolle.<br />

Auch nicht Fragen einer Sitzwache in den letzten Stunden. Hier geht es um ein Umsorgen<br />

der Bewohner und ihrer Angehörigen vom Einzug bis zur Bahre in der Gewissheit des<br />

nahenden Todes. Die Leitkategorie, das haben wir schon vor Jahren formuliert, muss<br />

dabei die Würde sein. Selbst die oft angemahnte Lebensqualität scheint mir zu sehr auf<br />

Rehabilitation ausgerichtet, wenngleich man den Begriff auch weiter fassen könnte. Mit<br />

allgemeiner Palliativkompetenz eines Pflegehe<strong>im</strong>s meine ich eine an dieser Kategorie<br />

Würde ausgerichtete Haltung eins Hauses, die sich natürlich auch in guter medizinischer<br />

Symptombehandlung ausdrückt, aber eben weit mehr umfasst. Orientiert an einer palliativhospizlichen<br />

Grundhaltung durchdringt sie die gesamte Betreuung, Begleitung und Pflege<br />

der Bewohner, die zunehmend nur noch für ihre allerletzten Lebenswochen ins He<strong>im</strong><br />

ziehen.<br />

Und hier ist in den letzten Jahren viel geschehen. Träger von Einrichtungen habe sich<br />

darauf eingelassen und auf den Weg gemacht. Kolleginnen und Kollegen aus der<br />

Hospizbewegung und den palliativen Versorgungssettings haben dies Begegnung nicht<br />

gescheut und Hand in Hand mit He<strong>im</strong>en neue Wege beschritten. Die vielzitierte<br />

Implementierung von Palliative <strong>Care</strong> in der Altenpflege kann auf Erfolge und Erfahrungen<br />

zurückblicken. Dazu ist inzwischen auch genügend publiziert. Ich erspare Ihnen daher<br />

weiter Aufzählungen, denn viele von Ihnen waren oder sind beteiligt.<br />

<strong>Frank</strong> Kittelberger „Von Sterbebgleitung bis SAPV - <strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong>“ Vortrag Nürnberg 30.4.09 Seite 2 von 6


Eine Schieflage und damit eine Herausforderung sehe ich an zwei Stellen:<br />

• Es sind noch zu wenige Träger und Einrichtungen beteiligt. Gerade, weil dafür auch<br />

investiert werden muss, haben nicht alle Verantwortlichen das Gebot der Stunde und den<br />

Kairos gesehen oder sehen wollen. Hier muss und wird sich die Szene noch verbreitern.<br />

• Damit einher geht die zweite Schieflage. Eigentlich habe ich sie schon beschrieben: Es<br />

mangelt an differenzierten und ausdiskutierten Beschreibungen, was allgemeine<br />

Palliativversorgung ist. Sie nur zu behaupten – so als wäre sie Realität – war ein Trick des<br />

Gesetzgebers bei der Einführung der SAPV. Nein, es gibt sie nicht – zumindest nicht<br />

flächendeckend. Es gibt nur Spuren und Fragmente einer solchen Beschreibung. Speziell<br />

für die stationäre Altenhilfe sehe ich in dieser Herausforderung damit auch eine Chance:<br />

Vielleicht können wir durch die zunehmende Beschreibung unsere palliativen Arbeit in den<br />

He<strong>im</strong>en an der generellen Beschreibung von allgemeiner Palliativversorgung mitwirken.<br />

Wir können dabei auf Haltungen zurückgreifen, die für mich als Pastoralpsychologen<br />

<strong>im</strong>mer schon den Charme der per se überzeugenden Tat hatten: „Kommunikation und<br />

Präsenz“ statt „Machen und Anwenden". Aus den vorliegenden Erfahrungen mit guter<br />

palliativer Geriatrie in der Altenpflege, aus der Dokumentation typischer Sterbeverläufe <strong>im</strong><br />

Pflegehe<strong>im</strong>, durch den Nachweis der Beteiligung aller Betroffenen in solchen Situationen,<br />

und mit der nötigen Hermeneutik unsere guten Routine, wäre auf diesem Weg ein Beitrag<br />

zur Diskussion möglich. Das wäre sogar ein politischer Nutzen unserer Arbeit.<br />

(III) Wie kommen Haltung und System zusammen Lässt sich Palliativkultur<br />

<strong>im</strong>plementieren Ziel und Aufgabe unter diesem zweiten Blickwinkel ist die Organisation<br />

und ihre Entwicklung. Ich habe in meinem eigenen Projekt nach 8 Jahren eine<br />

Veränderung entdeckt: Von der anfänglichen Fixierung auf Maßnahmen bin ich<br />

zunehmend zur Wahrnehmung der Kultur unsere Häuser gelangt. Unser derzeitiges<br />

Anschlussprojekt „Ethischen Entscheidungskultur am Lebensende“ konnte – auch zu<br />

meiner Überraschung - sehr schnell an die Kommunikationskultur rund um unser<br />

Palliativprojekt anknüpfen. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung kann ich heute sagen:<br />

Palliative <strong>Care</strong> lässt sich <strong>im</strong>plementieren. Über das Ausbalancieren von Fertigkeiten,<br />

Haltungen und Organisationsfragen wächst Kultur. Das beweisen auch andere Träger, die<br />

in unserem losen Netzwerk seit Jahren bundesweit ihre Erfahrungen austauschen. Dabei<br />

entdecken wir auch bei neuen Projekten diese Veränderung: Die Implementierung gewinnt<br />

an Tiefe. Es geht nicht mehr nur um Abschiedsecken oder einen neune Aufbahrungsraum.<br />

Es geht oft sofort um Kommunikation. Man redet darüber <strong>im</strong> Haus. Das bewegt die<br />

Projekte. Das Sächliche wird nebensächlich. Und manches ist selbstverständlich, was<br />

früher undenkbar schien: Totenwache in Z<strong>im</strong>mer statt putzen – das geht klar. Oder ein<br />

kleines Beispiel aus einer Projektwerkstatt vom März dieses Jahres, das eine Pflegekraft<br />

erzählte:<br />

Ein Mann verstirbt <strong>im</strong> He<strong>im</strong>. Der Arzt wollte den Leichnam gleich in den Abschiedsraum<br />

bringen lassen. Die PDL widersprach. Sie gestattet der dementen Ehefrau, die auch <strong>im</strong> He<strong>im</strong><br />

lebte, sich für zwei Stunden ins Bett zum gerade verstorbenen Mann zu legen. Dann steht<br />

die Bewohnerin auf und sagt ganz klar „jetzt kann er weg“.<br />

Das meine ich mit Palliativkompetenz! <strong>Of</strong>fensichtlich geht manches heute eher – auch bei<br />

Projekten in der Frühphase - weil sich insgesamt die Umwelt auf diese Themen einstellt.<br />

Die Partner He<strong>im</strong> und Hospiz beziehen sich <strong>im</strong>mer stärker aufeinander – auch öffentlich.<br />

Dies trägt Früchte.<br />

Eine Schieflage sehe ich dort, wo nur noch „nach Schema F“ <strong>im</strong>plementiert oder das<br />

Thema schnell und routiniert angehakt wird – quasi „von der Stange“. Gerade weil sich<br />

das Thema ausbreitet, hängt sich mancher dran, dem die Tiefe und der Esprit der Pionier<br />

fehlt. Manchmal geht das in Ordnung – manchmal nicht. Gelegentlich höre ich schon den<br />

Satz „Palliative <strong>Care</strong> – das machen wir auch. Schicken Sie uns Ihre Unterlagen, dann<br />

<strong>im</strong>plementieren wir das. Am besten zuerst eine Checkliste, dann sehen wir, was wir noch<br />

<strong>Frank</strong> Kittelberger „Von Sterbebgleitung bis SAPV - <strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong>“ Vortrag Nürnberg 30.4.09 Seite 3 von 6


auchen“. Geht das gut Eine Checkliste und dann ganz schnell ins QM damit und<br />

standardisiert ist das Sterben Dies wäre in der Tat das Schreckensszenario, vor dem<br />

Mahner wie Re<strong>im</strong>er Gronemeyer oder Andreas Heller in ihren Zwischenrufen <strong>im</strong>mer<br />

wieder warnen. Leider gibt es solche Tendenzen auf beiden Seiten: Bei den Einrichtungen<br />

und bei den Implementierern. Es sind gute und weniger gute Standardpakete auf dem<br />

Markt. Marktchancen und Marktzwänge verführen zu Pauschalangeboten. Das ist <strong>im</strong><br />

Ergebnis gelegentlich ansehnlich. Aber der Prozess entspricht nicht dem palliativen<br />

Paradigma. Nachhaltigkeit ist dabei fast unmöglich. Ich sehe aber, dass wir vor der<br />

Herausforderung von Nachweisen und wohl auch Zertifikaten oder Beschreibungen von<br />

Palliativkompetenz <strong>im</strong> He<strong>im</strong> stehen. Dazu haben wir selbst beigetragen. Das begann mit<br />

dem wegweisenden Papier der ehemaligen Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz (BAG), die<br />

2006 ihre „Indikatoren für Palliativkompetenz“ veröffentlich hat. Ich selbst habe diese<br />

Arbeitsgruppe geleitet. So sehr wir in dieser Schrift die Prozesse der Implementierung und<br />

ihre prinzipielle Nicht-Standardisierbarkeit betont haben, so sehr wird heute oft nur noch<br />

die Liste der Indikatoren nachgefragt. Fast möchte ich sagen: „die Geister die ich rief...“<br />

Noch drängender wird diese Herausforderung, wenn ich über die vorhin beschrieben<br />

Aufgabe nachdenke, der Öffentlichkeit – und natürlich auch den Kostenträgern – eine gute<br />

und nachvollziehbare Beschreibung von allgemeiner Palliativkompetenz zu liefern. Diese<br />

Herausforderung und ihr Dilemma scheinen mir gegenwärtig zentral. Ich plage mich damit<br />

sehr!<br />

(IV) Nicht Themen hängen zusammen – sondern der Mensch ist vielschichtig! Damit<br />

überschreibe ich die Lage aus einem dritten Blickwinkel.<br />

Zu würdigen gilt, dass Vieles begriffen und verwirklicht worden ist. Man bemüht sich in der<br />

Begleitung von Menschen am Lebensende zuallererst um gute Kommunikation. Man sucht<br />

nach einem breiteren Schmerzbegriff, der jenseits rein medizinischer Kategorien greift.<br />

Man übt, interdisziplinär zu denken und Berufsgruppen in der praktischen Arbeit ernsthaft<br />

aufeinander zu beziehen. Man hat die Angehörigen ganz gut <strong>im</strong> Blick und setzt in der<br />

Begleitung auf einen Mix aus zentralen und peripheren Professionen einschließlich der<br />

Hinzuziehung von Ehrenamtlichen in der Sterbebegleitung. Organisationen lernen,<br />

Themen aufeinander zu beziehen: Demenz, Tod, Ethik – alles auf Basis der<br />

Grundkompetenz beteiligender Kommunikation. Da ist viel Gutes gewachsen!<br />

• Gerade in der geriatrischen Arbeit aber wird deutlich, dass die Palliative <strong>Care</strong>-Definition<br />

der WHO jeglicher Hermeneutik entbehrt, wie es Andreas Heller einmal formuliert hat. Die<br />

Einteilung des Menschen in vier Bereiche (physisch, psychisch, sozial, spirituell) hat zwar<br />

zunächst relativ erfolgreich Ganzheitlichkeit angemahnt. Diese Einteilung hat aber auch<br />

dazu geführt, dass sich die vier Sektoren relativ unabhängig von einander und oft eher<br />

hölzern-schematisch entwickelt haben. So kann sich auch jeder „seinen“ Lieblingssektor<br />

suchen und fokussieren. Das „Bedürfniskreuz“, wie es manchmal genannt wird, verschiebt<br />

sich dann beliebig und oft eher nach Bedarf der Betreuenden, als nach den Bedürfnissen<br />

der Betroffenen. Weil es in der Pflege zu viele Themen gibt, die dauernd abgearbeitet, neu<br />

integriert und beachten werden müssen, ist eine einseitige Auswahl fast verständlich. Nur<br />

richtet sie sich eben oft mehr nach dem Angebot und den Möglichkeiten, als nach der<br />

Nachfrage und der Situation. „Jetzt ist eben Spiritualität dran und dann machen wir das.<br />

Gehört ja auch zum Palliative <strong>Care</strong>.“<br />

Manchmal geht verloren, dass mit der Erkenntnis der Vielfältigkeit der Bedürfnisse am<br />

Lebensende eigentlich der Hinweis auf ihre Gleichwertigkeit gemeint war. Es galt, die<br />

einseitige Fokussierung auf Medizin abzuschwächen. Es gibt nach Cicely Saunders eben<br />

keine „Leitdisziplin“ <strong>im</strong> hopice care. Das war der Gewinn, eine Erweiterung des Horizonts,<br />

die sie aus jenem denkwürdigen Gespräch mit Mrs. Hinson destilliert hat.<br />

<strong>Frank</strong> Kittelberger „Von Sterbebgleitung bis SAPV - <strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong>“ Vortrag Nürnberg 30.4.09 Seite 4 von 6


Die daraus abgeleitet Herausforderung besteht bis heute. Von wahrer Transdisziplinarität<br />

<strong>im</strong> Sinne von Clark sind wir weit entfernt. Schon Interdisziplinarität fällt uns schwer. Am<br />

ehesten erlebe ich Multidisziplinarität – also die Beteiligten reden wenigstens miteinander.<br />

Die Kommunikation zwischen den an der end-of-life-care beteiligten Professionen und<br />

Disziplinen gleicht gerade in der Praxis der Altenpflege, also <strong>im</strong> He<strong>im</strong>alltag, nach wie vor<br />

einem Glückspiel: mal klappte es – mal nicht.<br />

• Sorgen macht mir auch, dass unser Schmerzbegriff <strong>im</strong>mer noch zu einseitig medizinisch<br />

ausgerichtet ist. Nehmen wir wirklich ernst, dass die Sorge um die Familie oder die Angst<br />

vor der Hölle einen Schmerz darstellt Gelernt haben wir schon, dass man dann lieber<br />

eine Sozialarbeiterin oder einen Pfarrer einschaltet, statt ein Schmerz-Pflaster zu kleben.<br />

Aber ist dies wirklich allen Beteiligten in Fleisch und Blut übergegangen Ich höre oft, dass<br />

trotz ganz guter Schmerzerfassungsbögen und ausreichender Kommunikation dann eben<br />

doch auf die Frage „hat die Bewohnerin Schmerzen“ ganz automatisch und instinktiv<br />

zunächst rein somatisch-medizinisch geantwortet wird. Meist mit dem Zusatz, man habe<br />

den Hausarzt schon verständigt. Das konsequente Denken und Sprechen über den<br />

Schmerz <strong>im</strong> Sinne des Konzeptes vom total pain scheint mir nach wie vor eine riesige<br />

Herausforderung.<br />

• Genauso unklar - und gegenwärtig richtig verwirrend - ist der Umgang mit jener vierten<br />

D<strong>im</strong>ension, die spiritual needs genannt wird. Was ist damit gemeint Wie kann diesen<br />

Bedürfnissen begegnet werden Was ist hier noch „zu machen“, wenn „nichts mehr zu tun<br />

ist“ Palliativversorgung will ja gern was tun - sogar messbar erfolgreich sein. Palliative<br />

<strong>Care</strong> wirkt aber per definitionem an den Grenzen und Brüchen des Lebens! Sterben<br />

gelingt nicht nach Muster und QM. Hospizbegleiter wissen um furchtbares und quälendes<br />

Sterben. Palliativmedizin kennt hartnäckige Symptome. Pflegekräfte wissen von leidenden<br />

Sterbenden, die nicht loslassen wollen. Seelsorger können Ängste nicht <strong>im</strong>mer bannen.<br />

Angehörige wollen sich nicht <strong>im</strong>mer am Totenbett versöhnen. Pflegehe<strong>im</strong>e müssen<br />

manchmal erdulden, wie der Wille Sterbender durch sinnlose Maßnahmen boykottiert wird.<br />

All dies kommt vor. Es geht nicht <strong>im</strong>mer gut aus und sieht nicht <strong>im</strong>mer gut aus.<br />

Hier sehe ich eine große Herausforderung in der Förderung einer Spiritualität, ja in der<br />

Verkündigung eines Glaubens, der mit solchen Grenzen und Misserfolgen, mit den<br />

Fragmenten unseres Lebens, heilsam anerkennend umgehen kann. In der Institution<br />

Altenhe<strong>im</strong>, in der so viel gelingen und gut gehen muss, weil uns die Gesellschaft ständig<br />

misstrauisch auf die Finger schaut, ist dies besonders schwierig. Es darf schwer und<br />

unglücklich gestorben werden – ohne das wir in unseren Bemühungen, auch diese<br />

Fragmente zu umsorgen, nachlassen. Das zu leben, ist eine echte Herausforderung für<br />

alle Beteiligten.<br />

Unter diesen Herausforderungen scheinen mir zwei Themen für die Implementierung<br />

wichtig:<br />

• Statt Machbarkeit noch stärker auf Kommunikation und Anerkennung bzw. Integration<br />

auch des Nicht-Machbaren und Un-Verfügbaren setzen;<br />

• statt Bestandswahrung zu fördern, bei der Implementierung nur den Bestand einer<br />

Einrichtung vergrößert, auf die Permanenz von Unabgeschlossenheit und Veränderung<br />

pochen – auch wenn sich dies dann schlechter verkauft. Der Prozess bleibt offen – er ist<br />

Kulturmerkmal.<br />

<strong>Frank</strong> Kittelberger „Von Sterbebgleitung bis SAPV - <strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong>“ Vortrag Nürnberg 30.4.09 Seite 5 von 6


(V) Ich komme zum Schluss: Was wollen wir erreichen Ich habe damit begonnne, dass<br />

es sich lohnt, zu nerven und unsere Ziele <strong>im</strong>mer wieder einzufordern. Sie erinnern sich:<br />

ceterum censeo...<br />

Aber das ist ja kein Selbstzweck. Henning Mankell hat einmal formuliert:<br />

„Das Alter ist die Radikalisierung des Lebens“. In seinem Roman „Tiefe“ lässt er einen<br />

Protagonisten sagen: „Das höchste Alter ist eine Feldschlacht, die sich in totaler<br />

Dunkelheit abspielt. Eine Feldschlacht, die unerbittlich zu einer Niederlage führt.<br />

Angesichts dieser Dunkelheit und Erniedrigung des Alters haben uns die Religionen weder<br />

Trost noch eine erträgliche Erklärung geboten.“<br />

Wir sollten dem Schriftsteller in dieser Frage widersprechen. Wir sollten ihn Lügen strafen.<br />

Wir tun dies, indem wir den Blick auf diese Menschen richten und uns ihnen zuwenden.<br />

Indem wir sie würdigen und – unter Wahrung ihrer Autonomie – auch für sie sorgen.<br />

<strong>End</strong>-of-life-care ist schließlich auch life-care!<br />

Was kann dabei erreicht werden Vielleicht nicht <strong>im</strong>mer viel. Wir wissen nicht, wie es<br />

ausgehen wird. Vertrauen ist nicht machbar. Aber für eine Atmosphäre des Vertrauens<br />

auch in die letzten Tage und Stunden können und müssen wir eintreten. Ich will ganz ernst<br />

nehmen, dass wir in unseren Pflegehe<strong>im</strong>en keine Garantie für ein trostreiches <strong>End</strong>e geben<br />

können. Es mag stets ambivalent bleiben. Das hat Rainer Maria Rilke schön in Verse<br />

gefasst:<br />

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,<br />

die sich über die Dinge ziehn.<br />

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,<br />

aber versuchen will ich ihn.<br />

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,<br />

und ich kreise jahrtausende lang;<br />

und ich weiß noch nicht: bin ich Falke, ein Sturm<br />

oder ein großer Gesang.<br />

Eine Atmosphäre, ein Umsorgen, eine Kultur, in der es möglich ist, diese Ambivalenz<br />

getröstet zu ertragen, das ist unser Ziel und eine lohnende Aufgabe.<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!<br />

<strong>Frank</strong> Kittelberger „Von Sterbebgleitung bis SAPV - <strong>Palliativbetreuung</strong> <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong>“ Vortrag Nürnberg 30.4.09 Seite 6 von 6

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