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Warum streckt sich das Getreide<br />
im Frühjahr und nicht im Winter<br />
Die Tageslänge steuert die Entwicklung der Pflanzen<br />
Dr. H. Schönberger, N.U. Agrar GmbH, Flensburg<br />
Dr. H. Schönberger, N. U. Agrar GmbH, Flensburg<br />
Als Ergebnis der Evolution haben in den<br />
gemäßigten Breiten nur solche Pflanzen<br />
überlebt, die Winter und Spätfrost überstehen<br />
und im Sommer abreifen. Sobald die<br />
Keimruhe gebrochen ist, laufen die Samen<br />
noch im Herbst auf und bilden die nächste<br />
Generation. Jedoch erst wenn ein Mindestmaß<br />
an Kältesumme auf die Pflanzen einwirkt,<br />
können sie Blütenstände ausdifferenzieren<br />
und mit dem zunehmenden Tag<br />
im Frühjahr schossen. Gesteuert wird dieser<br />
Vorgang durch Kältereize (=Vernalisation)<br />
und die Tageslänge.<br />
Sorten, deren Ursprung im mediterranen<br />
Raum liegt, haben einen geringeren<br />
Kälteanspruch und beginnen bereits bei<br />
kurzen Tageslängen zu schossen. Deshalb<br />
können Blüte und Kornbildung früher einsetzen<br />
und sind weitgehend abgeschlossen,<br />
bevor Hitze und Wassermangel das Überleben<br />
gefährden. Sorten aus dem Äquatorgebiet<br />
haben praktisch keinen Vernalisationsanspruch<br />
und beginnen unabhängig<br />
vom zunehmenden Tag zu schossen.<br />
Die unterschiedlichen Ansprüche an<br />
Vernalisation und Tageslängen äußern sich<br />
in der Ertragsbildung und sollten bei der<br />
sortenspezifischen Bestandsführung berücksichtigt<br />
werden.<br />
Wenn im Folgenden von Kurz- und<br />
Langtagsweizen die Rede ist, so dürfen<br />
diese Begriffe nicht verwechselt werden mit<br />
den Kurz- und Langtagspflanzen. Kurztagspflanzen<br />
(wie z. B. Mais, Kartoffeln<br />
und Sojabohnen) kommen in kurzen Tagen<br />
schneller zur Blüte, wenn die Nacht entsprechend<br />
lang ist. Langtagspflanzen (z. B.<br />
Getreide und Raps) benötigen hingegen<br />
den langen Tag mit einer kurzen Dunkelphase.<br />
Für die Entwicklung des Weizens<br />
im Frühjahr sind jedoch außer der Tageslänge<br />
noch weitere Faktoren wie Kältereize,<br />
Wärmesumme und Anbaumaßnahmen von<br />
Bedeutung.<br />
Kurztagsweizen schosst früher<br />
Eine Tageslänge von 12 bis 13 Stunden<br />
reicht aus, um die Streckung von Kurztagsweizen<br />
einzuleiten. Entscheidend ist,<br />
dass die Lichtphase länger als die Dunkel-<br />
1/05 KURIER 3
Ährchenanlage und Getreidepflanze der Kurztagssorte Ludwig.<br />
Links: frühgesät am 15. September, rechts spät gesät am 10. Oktober. Die Fototaufnahmen stammen vom 10. April des Folgejahres.<br />
Ährchenanlage und Getreidepflanze der Langtagssorte Ritmo.<br />
Links: frühgesät am 15. September, rechts spät gesät am 10. Oktober. Auch hier wurden die Fototaufnahmen am 10. April des Folgejahres gemacht.<br />
phase wird, und dass die Pflanzen eine<br />
gewisse vegetative Mindestentwicklung<br />
erreicht haben.<br />
Zu diesen Sorten gehören u.a. Cubus,<br />
Kontrast, Ludwig, Transit oder auch<br />
Dekan, Enorm und Farandole. Sie haben<br />
den Vorteil, dass sie nach ausreichender<br />
Vorwinterentwicklung im Frühjahr kaum<br />
mehr bestocken, und die spät angelegten<br />
Triebe keine Ähre bilden. Damit verringert<br />
sich die Gefahr des Überwachsens. Die<br />
Bestände bilden nicht zu viele Ertragsanlagen,<br />
die sie später nicht mit Assimilaten<br />
füllen können.<br />
Nach später Aussaat beginnen sie<br />
jedoch schon zu schossen, bevor ausreichend<br />
Kornanlagen ausdifferenziert sind.<br />
Die Zeit für die Ährchendifferenzierung<br />
wird vor allem in den Nebentrieben zu<br />
kurz. Damit werden weniger Spindelstufen<br />
gebildet und die Kornzahl/Ähre begrenzt.<br />
Daher eignen sich die ausgesprochenen<br />
Kurztagssorten besonders für die Frühsaat,<br />
die eine ausreichende Vorwinterentwicklung<br />
gewährleistet. Auf Standorten mit<br />
sehr frühem Vegetationsbeginn bis Anfang<br />
März kann Kurztagsweizen jedoch auch<br />
später im Herbst angebaut werden, wenn<br />
die Seitentriebe bis Ende März wenigstens<br />
vier Blätter bilden können.<br />
Langtagsweizen hat mehr Zeit<br />
für die Ertragsanlage<br />
Langtagsweizen beginnt selbst bei üppiger<br />
Vorwinter-Entwicklung erst ab einer Tageslänge<br />
von 14 bis 15 Stunden zu schossen.<br />
Damit steht ihm mehr Zeit für die Ertragsorgane<br />
zur Verfügung. Er kann deshalb<br />
spät im Herbst angebaut werden und legt<br />
dennoch genügend Kornlagen an.<br />
Ein klassischer Langtagstyp war früher<br />
die Sorte Vuka. Heute können als Langtagstypen<br />
u.a. die Sorten Akteur, Atlantis,<br />
Asketis, Certo, Contur, die Hybridsorten<br />
Hybnos 1+2, Elvis, Vergas oder Ritmo eingestuft<br />
werden.<br />
Bei früher Aussaat entwickeln sich<br />
diese Sorten oft vegetativ zu üppig, insbesondere<br />
wenn sie zu gut mit Stickstoff versorgt<br />
sind. Deshalb sollten diese Sorten auf<br />
herbst- und wintermilden Standorten nicht<br />
zu früh bestellt werden. Sie eignen sich<br />
aber hervorragend für die späte Aussaat<br />
und kältere Standorte. Probleme können<br />
auftreten, wenn die Langtagstypen spät im<br />
Herbst auf Standorten bestellt werden, die<br />
unter Hitze und Trockenheit im Sommer<br />
leiden. Dann ist eine sichere Kornfüllung<br />
nicht mehr gewährleistet.<br />
Neben den ausgesprochen als Kurzoder<br />
Langtagstyp eingestuften Sorten gibt<br />
es eine Vielzahl von Sorten, die keine eindeutige<br />
Reaktion auf die Tageslänge zeigen,<br />
sondern stärker auf die Wärmesumme<br />
reagieren. Diese Sorten beginnen nahezu<br />
unabhängig von der Tageslänge zu schossen,<br />
wenn die Pflanzen aufgrund der<br />
Wärmesumme die vegetative Mindestentwicklung<br />
erreicht haben. Beispiele für diesen<br />
Typ sind die Sorten Tommi, Drifter,<br />
Magnus, Winnetou, Terrier, Batis und<br />
Bussard. Bei früher Aussaat und hohen<br />
Temperaturen fangen diese Sorten schon<br />
ab Anfang April an zu schossen. Nach<br />
später Aussaat und eher verhaltenen<br />
Temperaturen lassen sie sich dafür oft Zeit<br />
bis Anfang Mai.<br />
Dauer der Ährchendifferenzierung<br />
in Abhängigkeit<br />
vom Sortentyp,<br />
Rendsburg 2002/2003<br />
Kurztagstyp<br />
Doppelring- Spitzen- Tage<br />
stadium ährchen<br />
02.04. 24.04. 22<br />
03.04. 22.04. 19<br />
Langtagstyp<br />
Doppelring- Spitzen- Tage<br />
stadium ährchen<br />
01.04. 27.04. 26<br />
07.04. 03.05. 26<br />
Die Kurztags-Typen hatten in 2003 nur 19-22 Tage für die<br />
Ausdifferenzierung der Ährenanlage Zeit.<br />
Den Langtagstypen standen 4-7 Tage mehr zur Verfügung.<br />
Quelle: N.U. Agrar GmbH 2003, Versuchsbericht<br />
Zusätzliche Einflüsse auf das<br />
Schossverhalten<br />
Die Auswirkungen der Tageslänge auf das<br />
Schossverhalten von Weizenpflanzen ist<br />
nur ein Aspekt, den es zu berücksichtigen<br />
gilt. Die Übergänge im Schossverhalten<br />
werden auch durch die Vernalisation, die<br />
Ablagetiefe des Saatkorns oder auch durch<br />
den verfügbaren Standraum der Einzelpflanzen<br />
beeinflusst:<br />
• Je stärker die Vernalisation auf den Weizen<br />
einwirkt, d. h. je länger der Kältereiz anhält,<br />
desto früher beginnt er zu schossen.<br />
• Tiefer abgelegte Pflanzen vergeilen<br />
schneller und beginnen früher zu schossen.<br />
Pflanzen aus zu flach abgelegten Pflanzen<br />
bleiben lange sitzen und bestocken extrem,<br />
was oft mit den Symptomen verwechselt<br />
wird, die der Verzwergungsvirus verursacht.<br />
• Je dichter die Pflanzen z. B. im überdrillten<br />
Bereich des Vorgewendes stehen, je weniger<br />
Standraum die Einzelpflanzen zur<br />
Verfügung haben, desto früher beginnen<br />
sie zu schossen.<br />
• Auch Wachstumsregulatoren, wachstumsregulatorisch<br />
wirksame Fungizide<br />
(Azole) oder Herbizide (Sufonylharnstoffe)<br />
können den Übergang in das<br />
Schossen verzögern. Damit lässt sich die<br />
Anlagephase spät bestellter Kurztagstypen<br />
verlängern. In der Folge kann die Weizenpflanze<br />
mehr Ertragsanlagen bilden.<br />
Umgekehrt bewirkt die Verzögerung des<br />
Übergangs in die Schossphase, dass die<br />
Entwicklung der Langtagstypen ungewollt<br />
zu lange hinausgezögert wird, und somit<br />
das Risiko für die Kornausbildung steigt.<br />
Zusammenfassung<br />
Die Streckung des Getreides im Frühjahr<br />
ist ein komplexer Wachstumsvorgang, der<br />
von vielen Faktoren beeinflusst wird:<br />
• Die unterschiedliche Schossneigung der<br />
Weizensorten wird durch deren Abstammung<br />
geprägt.<br />
• Kurztagsweizen können bereits unmittelbar<br />
nachdem die Lichtphase des Tages länger<br />
als die Dunkelphase der Nacht geworden<br />
ist, zu schossen beginnen. Damit wird<br />
nach später Aussaat die Zeit für die<br />
Ausdifferenzierung der Ertragsanlagen<br />
begrenzt. In der Folge bilden sich weniger<br />
Spindelstufen/Ähre und die Nebentriebe<br />
können keine Ährenanlage entwickeln.<br />
• Langtagsweizen beginnt mit dem<br />
Schossen erst im 14- bis 15-Stundentag.<br />
Damit steht ihnen im Frühjahr auch nach<br />
später Aussaat mehr Zeit für die Anlage<br />
von Ertragsorganen zur Verfügung. Allerdings<br />
besteht die Gefahr, dass die Kornbildung<br />
zu spät einsetzt.<br />
• Dementsprechend eignen sich die Kurztagstypen<br />
für frühe Aussaattermine, Langtagstypen<br />
für normale bis späte Saatzeiten.<br />
• Die Schossneigung wird durch äußere<br />
Einflüsse (Vernalisation) und Anbaumaßnahmen<br />
(Saatgutablage, Standraum), aber<br />
auch durch wachstumsregulatorisch wirksame<br />
Pflanzenschutzmittel stark beeinflusst.<br />
• Die Kenntnis der Sortentypen und deren<br />
Interaktion mit Anbaumaßnahmen bilden<br />
die Grundlage einer sortentypischen<br />
Bestandsführung. ■<br />
4 KURIER 1/05<br />
1/05 KURIER 5