58 GOOSENS SPIELZEIT Von Frank Goosen Gemischte Gefühle Selten bin ich mit derartig gemischten Gefühlen zu einem Fußballspiel gefahren. Der Nürnberger Zweig unserer Familie steckt mitten im Abstiegskampf, und jetzt kommen wir daher und wollen ihnen noch mal drei Punkte abknöpfen. Meine pubertierende Nichte hat die Fesseln ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation noch nicht abgestreift, will heißen: Sie interessiert sich für Fußballer nicht zuletzt unter romantischerotischen Gesichtspunkten. Schon seit längerem ist sie in den Nürnberger Abwehrspieler Javier Pinola verknallt. Ein Blick ins Panini-Sammelalbum beweist uns, dass Äußer- lichkeiten für sie keine große Rolle spielen. An ihrer Zimmertür hängt außerdem ein Hochzeitsbild des von ihr Verehrten. Das aber ist kein Masochismus, sondern eher Voodoo: Das Gesicht von Pinolas Angetrauter ist durchgestrichen, und daneben steht das Wort „Böse“! Na gut, das Mädchen hat es nicht leicht: Zwei ältere und ein jüngerer Brüder nähren in ihr den Verdacht, als einzige in ihrer Familie über mehr als drei Gramm Hirngewicht zu verfügen. Einer der Älteren gibt auch gleich unaufgefordert zu Protokoll, in ihrem „Federmäppchen“ habe sie ein weiteres Exemplar dieses Hochzeitsbildes, nur sei da der Kopf der Spielerfrau durch ihren eigenen ersetzt. Petze! Selbstverständlich werde ich das nicht in meiner Kolumne verwenden! Am Spieltag schneit es morgens Flocken so groß wie Eisbären-Babys. Ich bin auf Deeskalation bedacht und vermeide Schmähreden auf den heutigen Gegner. Diese Zurückhaltung wird mir nicht gedankt. Im Gegenteil, man sieht mich als leichtes Opfer. „Fünf Stügg krrriegd ihr heude!“, heißt der vorläufige Höhepunkt, und irgendwann ist eben Schluss. Ich instruiere meine eigenen Kinder, wir bauen uns im Esszimmer auf und singen mehrstimmig, auf die Titelmelodie von „Flipper“: „Wir singen Nürnberg, Nürnberg, zwa-heite Liga / Oh ist das schön, euch nie mehr zu seh'n.“ Ich gebe zu, Deeskalation sieht anders aus. Im Stadion wird eigens etwas härtere Musik gespielt, damit die Mannschaft aggressiver zu Werke geht. Härter als „Thunderstruck“ wird es dann aber nicht. Einen frühen Höhepunkt erleben wir eine halbe Stunde vor dem Spiel. Zwei etwa zehnjährige Bengel werden auf der Trainerbank interviewt. Beide spielen natürlich auch Fußball. Der Stadionsprecher fragt den einen, ob er mit seinem Verein auch schon mal schwere Zeiten erlebt habe, was der Junge bejaht. Die nächste Frage lautet: „Und was machst du, wenn es mal nicht so läuft?“ Darauf der Bengel ganz selbstverständlich: „Den Verein wechseln!“ Das ist eindeutig nicht die Antwort, die der Stadionsprecher hören möchte. Über das Spiel muss man nicht viel sagen. Das mit der härteren Musik hat nichts gebracht. Vor Anstrengung gekotzt hat hier keiner. Beim Post-Spiel-Bierchen, das für sie aus einer schaumigen Apfelschorle besteht, konstatiert meine liebeskranke Nichte mit finsterem Blick: „Wir haben zu wenig Drecksäcke in der Mannschaft.“ Mir liegt auf der Zunge: „Na immerhin habt ihr den siebzehnten Platz verteidigt“, aber das verkneife ich mir aus Familiensolidarität. Nachts höre ich vier Kinder leise weinen. Ach nein, das ist nur Wind, der durch die Metall-Rolläden pfeift. Selten bin ich mit derartig gemischten Gefühlen von einem Spiel zurückgekommen. www.frankgoosen.de
Der Ruhrpott hält zusammen. FIEGE. AUS BOCHUM UND AUS LIEBE.