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aktueller Gemeindebrief (pdf) - evangelische Gustav-Adolf-Gemeinde

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THEMA: ... DASS DER MENSCH<br />

WAS LERNEN MUSS<br />

Sie haben uns geprägt: Dr. Müller<br />

Kennen Sie Theo Lingen? Den<br />

Schauspieler der alten UFA-Filme,<br />

ein schneidiger, dennoch irgendwie<br />

schrullig-versonnener Mann im<br />

grauen Dreiteiler und korrekt gescheiteltem<br />

Haar?<br />

Mir war, als beträte dieser das<br />

Klassenzimmer als sich zum Beginn<br />

der 9. Klasse bei uns ein neuer Lateinlehrer<br />

vorstellte: Herr Dr. Müller.<br />

Unwillkürlich saßen wir etwas gerader<br />

als zuvor und merkten gleich,<br />

dass ein neuer Wind durch unsere<br />

altsprachlichen Stunden wehte: Fünf<br />

Mal pro Woche zeigte er uns, was<br />

ein Lateiner ist: Tägliche benotete<br />

Vokabel abfragen, Übersetzungen<br />

aus dem Deutschen ins Lateinische<br />

usw. Bevor uns schwarz vor den<br />

Augen wurde, hatte Dr. Müller aber<br />

ein Einsehen und ließ uns an seiner<br />

anderen Leidenschaft neben den alten<br />

Sprachen teilhaben: den klassischen<br />

Balladen der großen Dichter.<br />

Kurze Einführung in die Handlung<br />

und schon deklamierte er – selbstverständlich<br />

auswendig – die Kraniche<br />

des Ibikus, den Panther, die<br />

Füße im Feuer, dass man hinterher<br />

meinte, die Handlung im Kino gesehen<br />

zu haben. 100 Balladen konnte<br />

er aufsagen, dafür lernte er täglich<br />

auf den Autofahrten zur Schule.<br />

Klar: viele Schüler verdrehten die<br />

Augen, wenn er wieder loslegte,<br />

dennoch spielten alle mit, denn alles<br />

war besser als Lateinunterricht.<br />

Dr. Müller tat streng, aber das<br />

war nur Fassade. Beim Aufschließen<br />

der Klassentür �üsterte er mir<br />

zu: „Amina, haste gelernt?“ – Einzelne<br />

Schüler wurden täglich her-<br />

30<br />

ausgepickt, um Vokabeln abgefragt<br />

zu werden. Heute sollte ich dran<br />

sein. Erschrocken schüttelte ich den<br />

Kopf. „Na gut, dann morgen!“ antwortete<br />

er, hat mich dann aber erst<br />

drei Tage später drangenommen,<br />

ich hatte dann jedenfalls gelernt. Ein<br />

andermal: „Was heißt oblivisci?“ Ich<br />

zögerte, na das wusste ich nicht und<br />

schwieg. Er darauf: „Das hast du<br />

wohl…?“ – „…Vergessen!“, ergänzte<br />

ich bedauernd. „Richtig! Oblivisci<br />

heißt „Vergessen“, erwiderte er und<br />

hatte seinen Spaß.<br />

Die Abschlussfahrt führte uns<br />

nach Rom und Florenz, selbstverständlich<br />

mit Dr. Müller, der zu jeder<br />

Kirche einen Vortrag aus seinem<br />

schier unendlichen Wissensschatz<br />

halten konnte. Urlaub ging anders,<br />

aber es war ja auch eine Studienfahrt,<br />

die den Namen wahrhaft verdiente.<br />

Mit dem Latinum verlor ich ihn<br />

aus dem Blick, dann kam das Abitur,<br />

erstes Semester Theologie, Altgriechisch<br />

stand auf dem Programm,<br />

es öffnete sich die Tür und eintrat<br />

– Dr. Müller! Er hatte doch gleichzeitig<br />

das Gymnasium verlassen, um<br />

an der Universität alte Sprachen zu<br />

lehren. Auch Hebräisch hat er uns<br />

beigebracht, natürlich wie sich jeder<br />

denken kann, unterbrochen von Balladen<br />

und Gedichten.<br />

Er war ein komischer Kauz (er<br />

schwor auf den politischen Kommentar<br />

in der Bildzeitung!), ein<br />

wandelnder Anachronismus und ein<br />

Lehrer, den ich wirklich gerne hatte.<br />

Von einem Schulkameraden hörte<br />

ich, dass er inzwischen verstorben<br />

sei. A. B-C.

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