Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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kino<br />
haut aus blicken<br />
von gunther geltinger<br />
in der fast schon untergegangenen Welt des Hafenviertels von Genua hat sich die Liebesgeschichte<br />
von Enzo und der Transsexuellen Mary ereignet. Pietro Marcello hat aus dem ort und der Liebe einen<br />
außergewöhnlichen Dokumentarfilm gewebt, der auf der letzten Berlinale sowohl den Teddy als auch den<br />
Caligari-<strong>Film</strong>preis erhielt und ab dem 21. oktober in den deutschen Kinos zu sehen sein wird. unser Autor<br />
wurde von diesem <strong>Film</strong> in einen tagelangen rausch der Bilder und Gedanken versetzt.<br />
s Ein Schiff sticht ins Meer. Langsam bewegt es sich vom rechten<br />
zum linken Bildrand, aus dem Hafen von Genua hin zum Horizont<br />
und dem Ende des Sichtbaren. Der Blick des Wissens geht, entlang der<br />
Schrift, in Europa von links nach rechts, der Blick der Sehnsucht aber<br />
ist auf diesem ersten <strong>Film</strong>bild ein gegenläufiger, der über das Meer nach<br />
Süden schweift, über Inseln hinweg und nach Arabien, wo die Perspektive<br />
auf Europa eine andere, entgegengesetzte ist, und sich Geschichte<br />
– und ihre Geschichten – von rechts nach links festschreiben.<br />
In Genua, an der Mündung, la bocca, der Flüsse Polcevera und<br />
Bisagno, führen seit jeher die Wege vom Norden ins Meer und aus dem<br />
Meer die Flüsse hinauf über die Alpen. Am Fuß der Berge drängt die<br />
uralte Stadt ans Wasser, ein poröser Schwellenkörper aus geschichteter<br />
Zeit. An der Grenze seiner Haut wachen die Fischer in ihren Höh-<br />
len über das Kommen und Gehen der Schiffbrüchigen, machen ein<br />
Feuer und blicken aufs Meer, wo auf dem nächsten Bild, einer Archivaufnahme,<br />
junge Menschen von einem Sprungbrett federn, Körper<br />
aus Licht, die im Wasser verlöschen.<br />
Auch Enzo ist ein Gestrandeter, der als Kind von Sizilien heraufgekommen<br />
ist und mit seinem Vater Zigaretten verkauft hat. Andere<br />
illegale Geschäfte haben ihn bald in den Knast und dort zur Liebe<br />
seines Lebens gebracht, der damals heroinsüchtigen Transsexuellen<br />
Mary, die ihm für ein paar Zigaretten die Hosen säumte. Sie hat<br />
sich sofort verliebt, sagt sie, in diesen Jungen im Körper eines Riesen.<br />
Zwanzig Jahre später knüpfen sie noch immer gemeinsam ihre<br />
Träume, in Briefen und auf Tonbändern, die sie sich hin und her schicken,<br />
sie aus dem Wartesaal des Lebens ins Gefängnis, er aus dem<br />
ArSENAL DiSTriBuTioN<br />
Gefängnis hinaus in die Welt, die auch ein Gefängnis ist, nur größer<br />
und voller Möglichkeiten, die aber nie Wege, immer schon Versäumnisse<br />
gewesen sind. Wenigstens einen Traum, den bescheidenen,<br />
fast bürgerlichen von einem Haus mit Hund und Garten, werden die<br />
beiden im <strong>Film</strong> noch verwirklichen, doch Mary wird es bedauern,<br />
dass Enzo kein Schauspieler geworden ist, mit diesem Gesicht, dem<br />
Gesicht des Camorra-Paten schlechthin, das Al Pacino und Robert de<br />
Niro wie nette Schwiegersöhne aussehen lässt.<br />
Die Chance versinkt in einer Collage aus <strong>Film</strong>plakaten von alten<br />
Gangsterfilmen, verraucht in einer von Enzos zahllosen Schießereien.<br />
Es bleiben die patrouillierenden Ordnungshüter und Huren,<br />
das Sirenengeheul im Hafenviertel, Menschen irren von links nach<br />
rechts und rechts nach links. Hindurch gräbt sich die Liebe von Mary<br />
und Enzo, von der beide stets in der Vergangenheit sprechen, als wäre<br />
sie bereits eine der Legenden, die das Meer unentwegt an Land spült.<br />
Denn schon auf dem nächsten Bild stößt die Abrisszange eines Baggers<br />
wie die allmächtige Hand der Geschichtsschreibung in die Ablagerungen<br />
von Gewusstem und Geträumtem, reißt willkürlich etwas<br />
heraus, wälzt es um und trägt es schließlich davon wie eine Trophäe:<br />
ein altes Eisen, eine Bahnschiene, über die, auf einer anderen<br />
Archiv aufnahme, mit Geröll beladene Loren rattern, ein junger Mann<br />
springt auf den Zug, einer, der die Weiche gestellt hat und weiter will.<br />
Wohin, weiß nur das Meer.<br />
Steine rutschen ins Wasser, Mauern stürzen ein, in der gleichen<br />
Bewegung, mit der eine Welle an den Kai rollt und Wolken – oder ist<br />
es Asche? – über Ruinen ziehen. Trotz der rhythmischen, fast tänzerischen<br />
Montage tobt die Zeit wie eine Sturmflut durch die inszenierten,<br />
dokumentarischen und historischen Räume des <strong>Film</strong>s, verwüstet das<br />
Leben von Mary und Enzo, kaum, dass die Erzählung es herausgeschält<br />
hat aus den tiefen Schichtungen von Material, Mensch und Meer.<br />
Pietro Marcello, der an der Accademia di Belle Arti in Neapel,<br />
Genuas Spiegelstadt im Süden, studiert hat, erhielt bei der diesjährigen<br />
Berlinale den Teddy Award für den besten Dokumentarfilm. Doch<br />
La bocca del lupo, „Der Wolfsmund“, wie auch ein Roman des Genueser<br />
Schriftstellers Gaspare Invrea von 1892 heißt, ist weit mehr als ein<br />
Dokumentarfilm. Er ist, was Kino in seinen besten und magischsten<br />
Momenten sein kann, im kinetischsten, also bewegtesten und bewegendsten<br />
Sinne, und darüber hinaus eine verstörend schöne Elegie<br />
auf das Vergessen und eine Liebeserklärung an eine beinahe untergegangene<br />
Stadt.<br />
Zum Schluss, in ihrem Haus mit Hund und Garten, hoch über<br />
dem Hafen von Genua und der Wolkendecke nahe wie einer weiteren<br />
Ebene ihres Traumes, sitzen Mary und Enzo am Feuer wie zu Beginn<br />
des <strong>Film</strong>s die Fischer. Doch sie wissen, dass sie auch hier im aufgerissenen<br />
Wolfsrachen leben, am Rande der Existenz und mitten im<br />
Kollaps der Zivilisationen, der am Ende alle Bilder verschlingt. Ob<br />
man sich gegenseitig beherrscht oder sich nur sehr gut kennt, ist die<br />
letzte Frage, die das Paar an seine Liebe stellt. Sie schallt aufs Meer<br />
hinaus, durch beider Vergangenheiten in die Gegenwart dieses <strong>Film</strong>s,<br />
in unsere eigene Zukunft, und weiter. Was bleibt, sind Spuren der<br />
Erinnerung und Schatten, die sich auflösen, wie der Fischer in seiner<br />
Höhle sagt. Was bleibt, sind die Wellen auf dem Meer wie eine Haut<br />
aus Blicken. s<br />
La bocca del lupo<br />
von Pietro Marcello<br />
IT 2009, 75 Minuten, OmU<br />
Arsenal Distribution, www.arsenal-berlin.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 21. Oktober<br />
30 31<br />
kino