Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy
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<strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> <strong>den</strong> <strong>nicht</strong>-<strong>heterosexuellen</strong> <strong>Film</strong><br />
Ausgabe neunzehn · September bis November 2013 · kostenlos<br />
s Wasserspiele: Eigenwilliger Zauber der Cruising-Welt s Floh im Korsett: Rein pragmatische Lüge s Wärmebecken: Wild um sich schlagendes<br />
Herz s Mann im Mund: Der Tanz des Lebens s Hochtemperiertes Klavier: Talmi, Flitter und Nippes s Explosives Gemisch: Verschmolzen<br />
mit der Naturkulisse s Tourismus: Kein Platz <strong>für</strong> Grit s Transiträume: Die Schönheit verstummender Worte s Haus und Garten: Ordnung der<br />
sozialen Dinge s Schlag in die Fresse: Gedankenverloren ein paar Erbsen essen s Pappritzer & Putzi: Ins Archiv eingegraben s Innenaufnahme:<br />
Sanftes Leder s Zu Gast: Liebe auf der Tonspur s In der Mikrowelle: Amazed, happy, tired, sad s <strong>Film</strong>verstehertypologie: Madonna ist schuld!
vorspann<br />
<strong>Sissy</strong> neunzehn<br />
Was können Bilder, was können <strong>Film</strong>e bewirken? In Russland, dem<br />
Land des schwulen Pionierfilmemachers Sergej M. Eisenstein, bei<br />
dem die meisten, wenn sie Panzerkreuzer Potemkin hören, an einen<br />
Kinderwagen auf der Treppe in Odessa <strong>den</strong>ken, ein paar andere aber<br />
an halbnackte Matrosen, wer<strong>den</strong> seit einiger Zeit Bilder, die in <strong>nicht</strong><strong>heterosexuellen</strong><br />
Kontexten entstehen, als Pornografie und Jugendgefährdung<br />
verboten. Das ist <strong>nicht</strong> neu. Ein anderer berühmter <strong>Film</strong>emacher,<br />
Sergej Paradschanow, wurde erstmals 1947 aufgrund seiner<br />
Homosexualität verhaftet, 1974 schließlich zu fünf Jahren schwerer<br />
Lagerhaft verurteilt und mit Berufsverbot belegt. Damals engagierten<br />
sich Antonioni, Fellini und Rosselini <strong>für</strong> ihren Kollegen. Heute<br />
engangiert sich Madonna <strong>für</strong> die ebenfalls<br />
aus dem Medienblick ins Lager verbannten<br />
Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot. Und<br />
Tilda Swinton, die sich schon mit Derek<br />
Jarman zusammen in <strong>den</strong> 1980ern mit der<br />
Thatcher-Regierung anlegte, hält vor dem<br />
Kreml eine Regenbogenflagge hoch, lässt<br />
sich dabei von ihrem Freund fotografieren<br />
und injiziert dieses Bild in die Medienöffentlichkeit.<br />
Dieses Bild wird verbreitet, es<br />
steht gegen Folter- und Diskriminierungsbilder,<br />
die junge Schwule zeigen, <strong>den</strong>en die<br />
Bürgerrechte entzogen sind. Pride-Märsche<br />
sind verboten, eine entsprechende Medienpräsenz<br />
russischer Homosexueller wird es<br />
<strong>nicht</strong> mehr geben.<br />
Dem Side-by-Side-Festival in St. Petersburg,<br />
das seit 2008 gegen großen Widerstand<br />
versucht hat, internationale queere<br />
<strong>Film</strong>e einer russischen Öffentlichkeit<br />
vorzustellen, ist die Unterstützung aus dem Westen zum Verhängnis<br />
gewor<strong>den</strong>. Es wurde als Werkzeug und Projekt „ausländischer<br />
Agenten“ sprach- und bildlos gemacht. Die reiche Auswahl aktueller<br />
queerer <strong>Film</strong>e, die im vorliegen<strong>den</strong> Heft vorgestellt wird, wird höchstens<br />
noch auf klandestinem Weg nach Russland fin<strong>den</strong>. Bildverbot.<br />
Schwarzblende.<br />
Können bei uns Bilder wie das einer regenbogenfahnenschwingen<strong>den</strong><br />
Tilda Swinton das Medieninteresse zumindest so lange wach<br />
halten, dass sich die bildüberflutete weltweite Öffentlichkeit der<br />
Ungerechtigkeiten bewusst bleibt?<br />
Sandro Kopp<br />
Die letzten Preisträger des Side-by-Side-Festivals 2012 waren: Beauty<br />
von Oliver Hermanus, Call Me Kuchu von Malika Zouhali-Worrall<br />
und Katherine Fairfax Wright, La Duche von Maria José San Martín<br />
und Codebreaker von Clare Beavan. Auf www.bok-o-bok.ru kann man<br />
<strong>für</strong> <strong>den</strong> Erhalt des Festivals spen<strong>den</strong>.<br />
Titelbild: „Liberace – Zuviel des Guten ist wundervoll" von Steven Soderbergh (Seite 26)<br />
titelbild: dcm<br />
Wenn Sie SISSY kostenlos abonnieren möchten: E-Mail an abo@sissymag.de<br />
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mein dvd-regal<br />
Christian Horn, <strong>Film</strong>journalist<br />
Ginevra Paolovna<br />
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kino<br />
kino<br />
Könige des Verweilens<br />
von Sascha Westphal<br />
Selten war die internationale <strong>Film</strong>kritik so sehr über <strong>den</strong> Anblick nackter schwuler Männer aus dem<br />
Häuschen wie nach der Uraufführung von Alain Guiraudies Cruising-Choreographie „Der Fremde am<br />
See“ in Cannes. Eine deutsche Kritikerin meinte gar verzückt, sie hätte noch nie so viele männliche<br />
Genitalien auf einmal gesehen. Guiraudie, der seit einiger Zeit skurrile queere Geschichten aus der<br />
französischen Provinz erzählt und damit schon lange ein Festival-Geheimtipp war, ist damit endgültig<br />
der Durchbruch gelungen. Unser Autor folgt seinen Wegen der Sehnsucht und Pfa<strong>den</strong> des Lebens.<br />
alamode film<br />
s Südfrankreich im Hochsommer. Das Sonnenlicht bricht sich auf<br />
der Oberfläche eines Sees. Glitzernde Reflexionen tanzen zauberisch<br />
über das Wasser. Ein Schauspiel der Natur, von erhabener Schönheit,<br />
verführerisch, blen<strong>den</strong>d. Dazu weht meist ein leichter, gelegentlich<br />
auch mal anschwellender Wind über <strong>den</strong> See und durch <strong>den</strong> ihn umgeben<strong>den</strong><br />
Streifen Wald. Ein stetes Rauschen der Blätter und Zweige<br />
erfüllt die Luft, Musik der Sphären, ein kosmisches Konzert. Der See,<br />
die kleine Bucht mit ihrem leicht ansteigen<strong>den</strong> Kieselstrand, der sich<br />
daran anschließende Wald samt Anhöhe, von der aus sich ein herrlicher<br />
Blick bietet. Ein von der Zeit weitgehend unberührtes, ursprüngliches<br />
Idyll und zugleich die perfekte Bühne <strong>für</strong> die Männer, die hier<br />
Sommertag <strong>für</strong> Sommertag hinkommen, zum Sonnen und Schwimmen,<br />
zum Re<strong>den</strong> und Schweigen, aber vor allem zum Cruising.<br />
Diese Bühne der Natur ist die Welt, ein Mikrokosmos der Lei<strong>den</strong>schaften<br />
und Wünsche, der Emotionen und Obsessionen. Nicht ein<br />
einziges Mal verlässt Alain Guiraudie dieses genau umrissene Terrain.<br />
Die Wege führen von dem kleinen Parkplatz am Rand des Waldstücks<br />
zum See, vom Strand in <strong>den</strong> Wald. Alles, was jenseits dieses<br />
kleinen Frei-Raums der Begegnungen und der Begier<strong>den</strong> geschieht,<br />
bleibt ausgeblendet. Es gibt ein Leben in der anderen Welt; und auch<br />
dort treffen sich Guiraudies Protagonisten gelegentlich, zu einem<br />
Abendessen oder auf einen Drink in der Happy Hour. Aber hier am<br />
See haben die gemeinsamen Minuten, die manchmal auch zu Stun<strong>den</strong><br />
wer<strong>den</strong>, eine andere Bedeutung.<br />
In „The Sexual Outlaw“, seiner 1977 erschienenen ‚Dokumentation‘,<br />
beschreibt John Rechy die cruising spots im Los Angeles<br />
der 70er Jahre mit einer überwältigen<strong>den</strong> Detailliebe. Der verlassene<br />
und verfallende Pier am Strand von Santa Monica, der kleine,<br />
in <strong>den</strong> Nachtstun<strong>den</strong> so beliebte Greenstone Park und der Griffith<br />
Park mit seinen verwinkelten Wegen und seinen versteckten Lichtungen.<br />
Orte, an <strong>den</strong>en eine gesteigerte Wahrnehmung alles, das<br />
Licht und die Schatten, <strong>den</strong> Sand und die Sträucher, die Geräusche<br />
und die Gerüche, überhöht. Der Rausch der Freiheit, <strong>den</strong> Rechy so<br />
eindringlich beschreibt, vermischt sich in jenen Jahren immer auch<br />
mit dem Taumel der Bedrohung. Ein Leben „in threat of law“, wie es<br />
Marc Almond in seinem Song „I’ve Never Seen Your Face“ heraufbeschwört.<br />
Die Wirklichkeit wird hyperreal, Alltägliches erscheint<br />
überlebensgroß.<br />
Die enorme Intensität eines Lebens jenseits bürgerlicher Normen,<br />
die in Rechys akribischen Beobachtungen und Beschreibungen ihren<br />
Ausdruck findet, erfüllt auch Guiraudies Der Fremde am See. Die<br />
Konzentration auf die wenigen Schauplätze am See geht einher mit<br />
einer beinahe pantheistischen Aufmerksamkeit <strong>für</strong> ihre Wesen. Das<br />
Raunen des Windes, das durch Schritte verursachte Knirschen der<br />
Kiesel am Strand, die Art, in der sich das Gras im Wald hin und her<br />
wiegt, der Lärm eines Flugzeugs, das unsichtbar bleibt, die Motorengeräusche<br />
auf dem Parkplatz, aber auch die achtlos weggeworfenen<br />
Kondome, die unter <strong>den</strong> Bäumen liegen. Guiraudie fängt jede noch so<br />
kleine Einzelheit ein und schenkt ihr Beachtung. Alles ist bedeutsam<br />
in <strong>den</strong> nachmittäglichen Stun<strong>den</strong> am See, schließlich ist hier auch<br />
alles möglich. No threat of law. Doch die Intensität des Lebens und die<br />
Wucht der Gefühle bringen ihre eigene Drohung mit sich, zumindest<br />
<strong>für</strong> <strong>den</strong> von Pierre Deladonchamps gespielten Franck.<br />
Zehn Tage lang begleitet Guiraudie <strong>den</strong> attraktiven jungen Mann,<br />
der einmal erzählt, dass er lange Zeit Gemüse und Obst auf Märkten<br />
verkauft hat, bei seinen Streifzügen am See. Einige Bilder kehren<br />
immer wieder. Fast jeder Tag beginnt mit einem Blick aus erhöhter<br />
Position auf <strong>den</strong> improvisierten Parkplatz. Der Totale, die Francks<br />
Ankunft registriert (er parkt seinen Wagen jedes Mal in der Nähe desselben<br />
Baums) folgt jedes Mal eine subjektive Einstellung: Der Neuankömmling<br />
lässt seinen Blick über <strong>den</strong> Strand schweifen und wird<br />
seinerseits von <strong>den</strong> Anwesen<strong>den</strong> taxiert. Ein Ritual, das sich jedes<br />
Mal von neuem wiederholt. Jeder hier ist auf die eine oder andere<br />
Art auf der Suche. Die mal abschätzen<strong>den</strong>, mal fragen<strong>den</strong>, mal hoff-<br />
6 sissy 19 sissy 19 7
kino<br />
Streichelt euch!<br />
Ein Gespräch mit Alain Guiraudie.<br />
kino<br />
nungsvollen oder auch nur flüchtigen Blicke sind Teil einer komplexen<br />
Dynamik, die sich mit Francks Erscheinen verändert. Gleich am<br />
ersten Nachmittag wird er zwei Bekanntschaften machen und damit<br />
alles Weitere in Gang setzen.<br />
Henri (Patrick d’Assumçao), der etwas abseits sitzt und <strong>nicht</strong><br />
die geringsten Anstalten macht, auf die anderen zuzugehen, fällt<br />
Franck zum ersten Mal vom Wasser aus auf. Er schwimmt zu dem<br />
korpulenten Mittvierziger hinüber, geht an Land und setzt sich zu<br />
ihm. Noch während sie sich unterhalten, bemerkt Franck einen anderen<br />
Schwimmer, <strong>den</strong> athletisch gebauten Michel (Christophe Paou),<br />
der gerade wieder ans Ufer gekommen ist, sich Shorts anzieht und<br />
in Richtung Wald verschwindet. Franck ist in diesem Moment wie<br />
verzaubert. Etwas an Michel zieht ihn unwiderstehlich an. Also verlässt<br />
er Henri überstürzt und folgt dem anderen. Schließlich findet er<br />
ihn im hohen Gras unter einem der Bäume. Nur ist das Objekt seiner<br />
Begierde bereits mit einem anderen zusammen. Während die bei<strong>den</strong><br />
sich küssen und miteinander schlafen, wirft Michel allerdings einen<br />
Blick zu Franck hinüber und lächelt ihm kurz zu. Das Interesse ist<br />
beiderseitig, der erste Schritt gemacht.<br />
Das Versprechen dieses kurzen Augenkontakts, mit dem Michel<br />
sich letztlich schon von seinem Partner gelöst hat, wird sich <strong>für</strong><br />
Franck erst zwei Tage später erfüllen. Am nächsten Nachmittag<br />
spricht er zwar kurz mit dem nackt am Strand liegen<strong>den</strong> Michel.<br />
Doch bevor etwas passieren könnte, kommt Philippe, der Mann aus<br />
dem Wald, dazwischen. Als die Abenddämmerung heraufzieht, wird<br />
Franck von der Anhöhe aus Zeuge einer Gewalttat. Was zunächst<br />
noch wie ein übermütiges Spiel unter Freun<strong>den</strong> wirkt, nimmt plötzlich<br />
bedrohlichere Züge an. Michel schwimmt ans Ufer.<br />
Guiraudie bleibt die ganze Zeit über bei Franck und beobachtet<br />
das Geschehen aus seiner Perspektive. Diese eine lange Einstellung<br />
lässt kaum einen Zweifel zu, und doch hat sie etwas beinahe Irreales.<br />
Von diesem Moment an geht ein Riss durch Franck. Die Augen<br />
sehen das eine, das Herz sagt etwas anderes. Natürlich verändert sich<br />
sein Blick auf Michel. Nicht ohne Grund versteckt er sich im Wald,<br />
bis der andere weggefahren ist. Aber sein Begehren und seine Sehnsucht<br />
bleiben. Sie sind so stark, dass er sich schon einen Tag später auf<br />
eine Affäre mit Michel einlässt. Weder dessen emotionale Distanz (er<br />
ist <strong>nicht</strong> bereit, einen Abend oder gar eine Nacht mit Franck zu verbringen),<br />
noch die Warnungen und Mahnungen, mit <strong>den</strong>en Henri ihn<br />
davon überzeugen will, dass Sex alleine auf Dauer nieman<strong>den</strong> glücklich<br />
macht, zeigen Wirkung. Franck steht so sehr im Bann seiner eigenen<br />
Lust, dass er ihr immer wieder nachgibt. Selbst als die Polizei in<br />
Gestalt von Inspecteur Damroder (Jérôme Chappatte) Ermittlungen<br />
am See aufnimmt, spricht Franck <strong>nicht</strong> über das, was er gesehen hat.<br />
Zwischen Francks Wissen und seinem Verlangen klafft ein riesiger,<br />
immer größer wer<strong>den</strong>der Abgrund, in dem schließlich alles,<br />
sogar die Welt, verschwin<strong>den</strong> wird. Aber <strong>nicht</strong> nur er, der sieht und<br />
doch blind begehrt, will das eine <strong>nicht</strong> mit dem anderen vereinen.<br />
Der Fremde am See ist selbst ein Ausdruck dieses Widerspruchs.<br />
Wie Franck sieht auch Guiraudie alles. Sein Blick auf diesen Cruising-Ort<br />
und seine Rituale nähert sich in seiner radikalen räumlichen<br />
Beschränkung und seinem konsequenten Verzicht auf Musik dem<br />
Dokumentarischen so weit wie nur eben möglich an. Zugleich fügen<br />
sich der See und der angrenzende Wald aber auch perfekt in die Topographie<br />
des Verwunschenen ein, die sein Kino schon seit längerem<br />
prägt. So trägt die südfranzösische Provinz in Der König der Fluchten,<br />
Guiraudies vorherigem <strong>Film</strong>, ganz deutlich märchenhafte Züge. Es<br />
ist, als ob das strahlende Sonnenlicht die Menschen von der Last der<br />
Konventionen befreit. So haben in dieser bizarren Komödie um <strong>den</strong><br />
Traktorenverkäufer Armand, einen ziemlich korpulenten 43-jährigen<br />
Schwulen, in <strong>den</strong> sich eine 16-Jährige unsterblich verliebt, nahezu<br />
alle homoerotische Neigungen. Selbst der Kommissar, der lange Zeit<br />
als Repräsentant einer mehr oder weniger bürgerlichen Normalität<br />
fungiert und das seltsame Treiben der anderen mit distanziertem<br />
Interesse zu verfolgen scheint, landet schließlich mit Guiraudies Hel<strong>den</strong><br />
und zwei anderen Männern im Bett. Homosexualität ist in der<br />
Welt dieses <strong>Film</strong>s genauso selbstverständlich wie das Begehren, das<br />
ein junges Mädchen <strong>für</strong> einen deutlich älteren und alles andere als<br />
attraktiven Mann empfindet. Die Liebe, oder zumindest die Lust ist<br />
in Guiraudies Werk tatsächlich meist blind.<br />
Francks wie auch Michels Begierde bewegen sich in deutlich<br />
konventionelleren Bahnen. Ihr sich am Körper des jeweils anderen<br />
entzün<strong>den</strong>des Begehren spiegelt durchaus Realitäten wieder. In <strong>den</strong><br />
kurzen, eher angedeuteten Cruising-Szenen in Der König der Fluchten<br />
herrschte noch ein anderer Geist. Armand bekannte sich in ihnen<br />
freimütig zu seiner Vorliebe <strong>für</strong> ältere Männer, und Guiraudie träumte<br />
von einer von allen Äußerlichkeiten befreiten Lust. Doch unterschwellig<br />
erfüllt dieser utopische Gedanke auch <strong>den</strong> neuen <strong>Film</strong>. Nur trennt<br />
Guiraudie das Körperliche schärfer von allen anderen Sehnsüchten<br />
und Begier<strong>den</strong>. Mit der größten Selbstverständlichkeit überhaupt<br />
wer<strong>den</strong> Franck und Henri innerhalb kürzester Zeit zu Freun<strong>den</strong>, die<br />
sich letztlich näher stehen als Liebende. Dabei erweist sich die zwischen<br />
ihnen bestehende platonische Zuneigung auf ihre Art als ebenso<br />
mächtig wie die erotische Anziehung zwischen Franck und Michel.<br />
Ein eigenwilliger Zauber liegt über dieser in sich abgeschlossenen<br />
Cruising-Welt. Ein Zauber, <strong>den</strong> schließlich Henri mit seinen letzten<br />
Worten benennen wird: „Lass es gut sein. Ich habe bekommen, was<br />
ich wollte.“ Hier am See findet tatsächlich jeder, was er sucht und<br />
begehrt. Eric, der die Paare im Wald am liebsten beobachtet und sich<br />
dabei selbst einen herunterholt, wird von <strong>den</strong> anderen zwar immer<br />
wieder weggeschickt. Aber schließlich gewährt Guiraudie auch ihm,<br />
der von Franck geradewegs besessen zu sein scheint und immer wie-<br />
der in dessen Nähe auftaucht, einen Moment der Erfüllung. Nur <strong>für</strong><br />
<strong>den</strong> einen wahren Außenseiter, <strong>den</strong> Polizisten Damroder, der wie<br />
schon der Kommissar in Der König der Fluchten ein Mittler zwischen<br />
<strong>den</strong> in ihrem ganz eigenen Kosmos kreisen<strong>den</strong> Figuren und<br />
dem Zuschauer ist, gibt es keinen solchen Moment. Er, der in seiner<br />
Steifheit und seiner scheinbaren Naivität etwas ebenso Groteskes wie<br />
Anrührendes hat, wird einfach ausgelöscht.<br />
Für einen Moment scheint der <strong>Film</strong>, der nach dem gewalttätigen<br />
Vorfall beharrlich mit Thriller-Konventionen kokettiert, sie aber<br />
immer wieder unterläuft, endgültig umzukippen und sich in einen<br />
Slasher zu verwandeln. In diesem Augenblick ist er William Friedkins<br />
Cruising, der auch vorher schon über ihm schwebte, mit einmal<br />
ganz nah, nur um sich dann endgültig aus seinem Schatten zu<br />
lösen. Es wird dunkel, die Nacht senkt sich über <strong>den</strong> Wald. Guiraudie<br />
bleibt bei Franck, der Michel wie schon einmal am Abend des<br />
zweiten Tages ausweicht. Er reagiert <strong>nicht</strong> auf dessen Rufe, aber er<br />
flieht auch <strong>nicht</strong>. Er, der seine Lust von Anfang an ohne Be<strong>den</strong>ken<br />
und auch ohne Angst ausleben will, der auf ungeschützten Sex steht<br />
und sich in die Hand eines Mörders begibt, verschwindet einfach im<br />
Schwarz des Abspanns. Am Ende von Der König der Fluchten liegen<br />
vier Männer gemeinsam im Bett. Jeder wird mit jedem schlafen, ein<br />
Traum von Freiheit, der in Erfüllung geht. Am Ende von Der Fremde<br />
am See verlieren oder – und das ist bei Guiraudie nur eine Frage<br />
der Perspektive – fin<strong>den</strong> sich vier Männer in einem Wald. In dem<br />
Moment, in dem das Bild schwarz wird, scheint noch einmal alles<br />
möglich. Mit Moral oder Psychologie ist diesem Ende genauso wenig<br />
beizukommen wie dem von Der König der Fluchten. Das eine wie<br />
das andere löst sich auf in diesen Utopien der Lust, die alle Grenzen<br />
überschreiten.<br />
s<br />
Der Fremde am See<br />
von Alain Guiraudie<br />
FR 2013, 97 Minuten, deutsche SF<br />
und französische OmU<br />
Alamode <strong>Film</strong>,<br />
www.alamodefilm.de<br />
Im Kino in der Gay-<strong>Film</strong>nacht im<br />
September, www.Gay-<strong>Film</strong>nacht.de<br />
Kinostart: 19. September 2013<br />
Der König der Fluchten<br />
von Alain Guiraudie<br />
FR 2009, 90 Minuten,<br />
französische OF mit deutschen UT<br />
Auf DVD bei der Edition<br />
Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
alamode film (3)<br />
sissy: Lieber Herr Guiraudie, ist das <strong>nicht</strong> eigentlich das komplette<br />
Spektrum schwuler Männlichkeiten, was Sie da an diesem See versammeln?<br />
Alain Guiraudie: Nun, es gibt drei Hauptfiguren: Franck, der Frivole,<br />
Michel, der Libertinäre und Henri, der auf der Suche nach<br />
rein platonischer Freundschaft ist. Aber Sie haben Recht, um sie<br />
herum gibt es <strong>den</strong> Voyeur, das Paar, das immer zusammen kommt<br />
und geht, <strong>den</strong> Ehemann, der sich mal eine Auszeit vom Hetero-<br />
Alltag gönnt … und natürlich <strong>den</strong> Typen, der ohne Gummi noch<br />
<strong>nicht</strong> mal blasen will.<br />
Wie kommt man eigentlich auf eine solche Idee, schwules Cruising<br />
zu einem <strong>Film</strong>thema zu machen?<br />
Eigentlich sollte das ein <strong>Film</strong> über die Liebe und die Lieben<strong>den</strong><br />
wer<strong>den</strong>, ganz davon abgesehen, dass ich mich mit meiner eigenen<br />
Sexualität auseinandergesetzt habe. Mir ging es vor allem darum,<br />
einen Mikrokosmos zu zeigen, in dem sich schwule Männer frei<br />
bewegen und lieben. Für mich ist es ein <strong>Film</strong> im Licht der sexuellen<br />
Befreiung. Ende der 1960er Jahre gab es in Frankreich eine<br />
Gruppe schwuler und lesbischer AktivistInnen namens Front<br />
homosexuel d’action révolutionnaire, die einen Slogan hatte: „Proletarier<br />
aller Länder, streichelt euch!“ Es ging um eine sexuelle<br />
Befreiung <strong>für</strong> alle. Heute kämpfen sie dagegen <strong>für</strong> die Homo-Ehe …<br />
Es war schon immer eine Mär, dass die Schwulen automatisch<br />
progressiver sind. Und das Ideal der sexuellen Befreiung hat sich<br />
zu einer Diktatur gewandelt, man muss dauernd Befriedigung fin<strong>den</strong><br />
und das Ganze ist zu einer großen Industrie verkommen. Das<br />
Cruising hat sich von frei zugänglichen Orten zu kommerziellen<br />
verlagert, wo man Eintritt zahlen und sich auf eine festgelegte Art<br />
verhalten muss. Ja, Schwule und Lesben sind akzeptierter, aber sie<br />
haben auch einen Preis da<strong>für</strong> bezahlt.<br />
Deshalb wirkt ja auch der See in Zeiten von schwulen Sexportalen<br />
wie Gaydar, Grindr oder Scruff fast wie eine untergegangene Welt.<br />
Bei Ihnen laufen die Männer durch die Büsche, während die meisten<br />
heute auf ihr Handydisplay starren.<br />
Mir gefällt diese Situation, die Begegnungen, die Verführung.<br />
Aber es ist keine Nostalgie, weil diese Orte immer noch existieren,<br />
auch wenn es immer weniger wer<strong>den</strong>.<br />
Expliziten Sex zeigen Sie, weil …<br />
… weil zur Liebe und Lei<strong>den</strong>schaft auch der Sex gehört, und <strong>den</strong><br />
gibt es eben <strong>nicht</strong> ohne Geschlechtsorgane. Die großen romantischen<br />
Gefühle und der triviale Sexakt, beides ist gleichberechtigt.<br />
Und Sex ist auch <strong>nicht</strong>s Schmutziges, eine Ejakulation ist doch<br />
sehr schön. Diese Szenen sind <strong>nicht</strong> simuliert, aber ich habe sie<br />
von Doubles ausführen lassen.<br />
Es gibt ja mittlerweile mehrere <strong>Film</strong>emacher wie Travis Matthews,<br />
die Erektionen und echten Sex in Spielfilmen zeigen …<br />
Das wurde aber auch höchste Zeit!<br />
Folgen Franck und die Männer, die auf Verhütung verzichten, in<br />
diesem Paradies, auf das ein Schatten fällt, einem Todestrieb?<br />
Mit einem Todestrieb hat das <strong>nicht</strong>s zu tun. Ein Kondom ist<br />
schlicht kein Instrument der Lei<strong>den</strong>schaft. Es geht um <strong>den</strong><br />
Wunsch, Lei<strong>den</strong>schaft bis zum Letzten auszukosten, alle Grenzen<br />
einzureißen. Das gilt auch <strong>für</strong> Franck. Ich glaube <strong>nicht</strong>, dass er<br />
nach der Gefahr sucht, sondern seine Lust ist stärker als die Angst<br />
vor dem Tod.<br />
s<br />
Interview: Thomas Abeltshauser<br />
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kino<br />
kino<br />
s Wir schreiben das späte 19. Jahrhundert. Im Dubliner Nobelhotel<br />
Morrisson’s arbeitet ein introvertierter Butler namens Albert Nobbs.<br />
Er kennt die geheimen Ausschweifungen aller Gäste, doch sein eigenes<br />
Geheimnis kennt niemand: Nicht einmal die engsten Kollegen ahnen,<br />
dass sich unter der schicken Uniform eine Frau verbirgt. Um der Armut<br />
zu entgehen, die einer unverheirateten Dame der damaligen Gesellschaft<br />
blühen würde, verwandelt sie sich Tag <strong>für</strong> Tag in Kellner Nobbs<br />
(kaum wiederzuerkennen mit kurzen roten Haaren und ungeschminkten<br />
Sommersprossen: Hollywood-Star Glenn Close).<br />
Nirgendwo sonst offenbart sich der Klassenunterschied so eklatant<br />
wie in Morrisson’s Interieur, wo der britische Adel seine Langeweile<br />
regelmäßig im Champagner ertränkt. Nichts hier ist wie es<br />
aussieht, weder die Großherzigkeit der Hotelbesitzerin Mrs. Baker<br />
(Pauline Collins), noch die mit einer Horde gackernder Verehrerinnen<br />
aufkreuzen<strong>den</strong> jungen Aristokraten, die am nächsten Morgen nackt<br />
aus <strong>den</strong> gleichen Federn steigen. Nur der unscheinbare Albert Nobbs<br />
scheint über je<strong>den</strong> Zweifel erhaben. Ein wenig an Charlie Chaplin<br />
erinnernd, wankt dieser Pinguin durch seinen<br />
Gastronomie-Alltag, der stets mit dem<br />
gleichen Ritual endet: Unter einer losen Diele<br />
in ihrer Dachkammer versteckt Nobbs ihr<br />
Trinkgeld, über das sie akribisch Buch führt.<br />
Eines schönen Tages, so träumt sie, will sie<br />
im leer stehen<strong>den</strong> La<strong>den</strong>lokal nebenan ein<br />
Tabakgeschäft eröffnen.<br />
Jahrelang hat sie eisern gespart, doch alle<br />
Pläne geraten aus dem Takt, als ihre knauserige<br />
Chefin <strong>den</strong> Maler Hubert Page bei ihr<br />
einquartiert. Prompt fliegt die Maskerade<br />
auf – ausgerechnet wegen eines Flohs, der<br />
sich in Nobbs’ Korsett verirrt hat. Page komplettiert<br />
das Gefühlschaos noch, indem der<br />
Handwerker sich selbst als Frau zu erkennen<br />
gibt. Sie eröffnet der überrumpelten Nobbs<br />
eine gänzlich neue Perspektive auf ihr Rollenspiel.<br />
Denn während Nobbs die Männlichkeit<br />
nur als schützende Tarnjacke nutzt, die<br />
ihr Sicherheit und Anonymität gewährt, ist<br />
Page (JanetMcTeer) ein wahrer Lebemann:<br />
Als ketterauchende Butch genießt sie offen<br />
die Privilegien ihrer Täuschung, wozu auch<br />
die Existenz einer devoten Ehefrau zählt.<br />
Fremde<br />
Haut<br />
von Maike Schultz<br />
„Wie heißt du?“, fragt Page Nobbs, kurz nachdem sie einander<br />
offenbart haben. „Albert“, lautet die Antwort. „Nein, wie lautet<br />
dein wahrer Name?“ – „Albert“. Es gibt nur diese eine I<strong>den</strong>tität <strong>für</strong><br />
Nobbs, alle Erinnerungen an ein anderes Leben sind verdrängt und<br />
vom Schmerz verschüttet. Nur einmal kurz lüftet sie <strong>den</strong> Schleier, als<br />
sie Page in deren Wohnhaus aufsucht – wohl auch, um sich von der<br />
tatsächlichen Anwesenheit einer Gattin zu überzeugen. Nach einem<br />
warmen Abendessen und selbstgedrehten Zigaretten erzählt sie dem<br />
Frauenpaar, das doch <strong>nicht</strong> als solches lebt, von ihrem Trauma als<br />
Waisenkind: Mit dem Tod der Eltern und einer anschließen<strong>den</strong> Vergewaltigung<br />
wurde auch Albert Nobbs geboren. Viel mehr erfährt der<br />
Zuschauer <strong>nicht</strong> über die Vergangenheit.<br />
Albert bleibt Albert, eine geheimnisumwitterte, leicht verschrobene<br />
Person in einem irischen Hotel. Eine Person, <strong>für</strong> die Förmlichkeit<br />
und taktvolles Handeln kein Unterdrücken von Gefühlen, sondern<br />
deren vollkommensten Ausdruck darstellen. Sie ist kein Dandy<br />
aus Lei<strong>den</strong>schaft, wie etwa Lou Dillon im <strong>Film</strong> Gigola, dessen Pariser<br />
Halbwelt aus Transen, Prostituierten und Garçonnes freilich erst<br />
Jahrzehnte später spielt. Dass Nobbs eine rein pragmatische Lüge<br />
lebt, wird deutlich, als sie sich einmal in Frauenkleidern an die Luft<br />
wagt: Frei und gelöst rennt sie mit Luftsprüngen <strong>den</strong> Strand entlang,<br />
um <strong>nicht</strong> zu sagen: glücklich.<br />
Vom Überleben in einer männlich<br />
dominierten Welt: Glenn Close spielt die<br />
irische Schattenexistenz „Albert Nobbs“,<br />
eine <strong>Film</strong>rolle, um die sie fast 30 Jahre<br />
lang gekämpft hat. Nach diversen Drehbuchversuchen,<br />
dem Wechsel mehrerer<br />
Regiekandidaten und einer komplizierten<br />
Produktionsgeschichte, in der die Hauptdarstellerin<br />
selbst zur Autorin, Produzentin<br />
und zum Locationscout wurde,<br />
erblickt „Albert Nobbs“ nun endlich das<br />
Licht der Leinwand.<br />
Umso mehr stellt sich die Frage, was Nobbs eigentlich umtreibt.<br />
Warum kam es <strong>für</strong> sie <strong>nicht</strong> infrage, als alleinstehendes Zimmermädchen<br />
im Hotel zu arbeiten, wie ihre Kolleginnen es durchaus<br />
unbehelligt und beschei<strong>den</strong> tun? Was, wenn <strong>nicht</strong> auch die Liebe zu<br />
Frauen, zwingt sie dazu, <strong>den</strong> Mann zu spielen? Vorhan<strong>den</strong> ist diese<br />
Liebe, je<strong>den</strong>falls wenn man Nobbs’ steifes Werben um die Hotel-<br />
Angestellte Helen (Mia Wasikowska, Julianne Moores Tochter im<br />
Teddy-Gewinnerfilm The Kids Are Allright) so nennen mag. Tapfer<br />
investiert sie die streng behüteten Ersparnisse in Schokolade, Hüte<br />
und andere Frauengelüste, die sie sich selbst verbietet.<br />
Überzeugend wirkt dieser Annäherungsversuch aber kaum –<br />
<strong>nicht</strong> etwa durch das Spiel von Glenn Close, die <strong>für</strong> ihre Lieblingsrolle<br />
völlig zu Recht <strong>für</strong> einen Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert<br />
war. Eher wegen der Tatsache, dass Nobbs auch dann weiter mit<br />
Helen ausgeht, als sie erfährt, dass diese längst mit dem Tagelöhner<br />
Joe (Aaron Johnson aus Anna Karenina) schläft. So tief sitzt ihr<br />
heteronormatives Weltbild, dass sie mehr in die Vorstellung verliebt<br />
zu sein scheint, im Tabakla<strong>den</strong> eine Frau an<br />
Alberts Seite zu sehen, als in Helen selbst. Im<br />
Gegensatz zur „Lei<strong>den</strong>sgenossin“ Page und<br />
ihrer angeheirateten Geliebten, sucht Nobbs<br />
nur eine platonische Beziehung, die es ihr<br />
erlaubt, weiterhin Albert Nobbs zu sein; eine<br />
Vernunftehe gegen die Einsamkeit. Selbst<br />
das Frauenporträt, das sie in sehnsüchtigen<br />
Momenten aus ihrem Tagebuch zieht, entpuppt<br />
sich als Fotografie ihrer Mutter.<br />
„Hat Page ihrer Frau wohl vor oder nach<br />
der Hochzeit ihr wahres Geschlecht verraten?“,<br />
sinniert Nobbs bar jeglicher verruchter<br />
Gedanken. Wer in ihrer Geschichte (Homo-)<br />
Erotik erwartet, wie man sie aus <strong>den</strong> opulent<br />
ausgestatteten BBC-Verfilmungen von Sarah<br />
Waters’ historischen Romanen kennt, wird<br />
enttäuscht. Abgesehen von ein paar Hotel-<br />
Eskapa<strong>den</strong> findet Sexualität <strong>nicht</strong> statt in der<br />
Inszenierung des Kolumbianers Rodrigo García,<br />
der als erfahrener TV-Regisseur (Six Feet<br />
Under) und sensibler Frauenversteher (Nine<br />
Lives) gilt.<br />
Auch Glenn Close geht es bei der Adaption<br />
von George Moores Kurzgeschichte<br />
„The Singular Life of Albert Nobbs“ um eine höhere Botschaft: „Die<br />
Leute <strong>den</strong>ken, das Thema sei Gender, aber ich glaube, es geht schlicht<br />
darum, wie Menschen damals überlebt haben“, sagt die 64-Jährige.<br />
„Obwohl sie so simpel ist, entfaltet diese Geschichte eine große emotionale<br />
Wucht.“ Tatsächlich berührt einen dieses Schicksal, so vernebelt<br />
es auch bleibt, bis zur letzten Minute: Da stirbt Nobbs genau<br />
so, wie sie die ganze Zeit über gelebt hat. Edelmütig, selbstlos, dezent<br />
und allein.<br />
Glenn Close selbst entwickelte das Drehbuch <strong>für</strong> <strong>den</strong> <strong>Film</strong>, gemeinsam<br />
mit dem irischen Booker-Prize-Gewinner John Banville („The<br />
Sea“). Schon 1982 hatte sie Off-Broadway die preisgekrönte Rolle des<br />
Albert Nobbs gespielt und musste sehr lange darum kämpfen, ihr Herzensprojekt<br />
ins Kino zu bringen. Man sieht diesem Nobbs an, dass er<br />
einer Theaterbühne entsprungen ist. Schauspielkunst steht im Vordergrund<br />
der Tragödie, die sich zu 80 Prozent zwischen <strong>den</strong> Hotelwän<strong>den</strong><br />
und dessen Bewohnern abspielt – dank Harry Potter-Stars wie Brendan<br />
Gleeson und Mark Williams (er war zuletzt als schwuler Intellektueller<br />
in Ginger und Rosa zu sehen) auch mit durchaus komödiantischen<br />
Szenen. Nur eines überstrahlt sie alle mit seiner Traurigkeit. Das<br />
ausdruckslose und doch 1.000 Geschichten erzählende Gesicht von<br />
Close mit diesem fein geschwungenen, sanften Mund. Ach, würde man<br />
diese Lippen nur einmal die Contenance verlieren sehen.<br />
s<br />
Edition Salzgeber / Pandastorm pictures<br />
Albert Nobbs<br />
von Rodrigo García<br />
US 2011, 109 Minuten, deutsche SF und englische OmU<br />
Pandastorm Pictures, www.pandastorm.com<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der L-<strong>Film</strong>nacht im<br />
September, www.L-<strong>Film</strong>nacht.de<br />
Kinostart: 26. September 2013<br />
www.albertnobbs.de<br />
10 sissy 19<br />
sissy 19 11
kino<br />
kino<br />
Manchmal<br />
ist das<br />
Leben …<br />
von Paul Schulz<br />
Magischer Realismus als deutsches Kinoglück: Axel Ranisch hat nach „Dicke<br />
Mädchen“ seinen zweiten Langfilm gedreht. „Ich fühl mich Disco“ ist eine zarte,<br />
unfassbar komische und stellenweise sehr tragische Vater-Sohn-Geschichte, die so<br />
wunderbar ist, dass uns fast die Worte fehlen. Aber nur fast.<br />
Edition Salzgeber<br />
s Muttis letzte Frage: „Wann hast du eigentlich das letzte Mal Frühstück gemacht?“ Danach<br />
müssen die Jungs allein klarkommen. Das ist <strong>nicht</strong> so einfach. Denn der eine Junge ist Hanno,<br />
ein cholerischer Turmsprungtrainer Anfang 40, der auch schon mal Plastikstühle in <strong>den</strong> Pool<br />
schmeißt, wenn ihm was <strong>nicht</strong> passt, und der andere sein fetter, zartbesaiteter Sohn Florian,<br />
der es am schönsten findet, wenn Papa <strong>nicht</strong> da ist. Dann ist er mit Mama Monika allein und<br />
tanzt in einem weißen Anzug mit ihr durch die enge Neubauwohnung irgendwo im Berliner<br />
Osten, während sie beide ihrem Idol, dem Anarchoschlagersänger Christian Steiffen huldigen,<br />
der so schöne Zeilen singt wie: „Ja, ich sehne mich so sehr / nach Sexualverkehr“ und „Manchmal<br />
ist das Leben nur eine Flasche Bier“.<br />
Wenn Papa dann nach Hause kommt und herumschreit („Wie seht ihr eigentlich aus!?“),<br />
und weil Florian die „Scheiß-Simson“, die er <strong>nicht</strong> zum Geburtstag haben wollte, beim ersten<br />
Fahrversuch vor dem Olympiastadion mit Karacho gegen Hannos Auto gesetzt hat, bil<strong>den</strong><br />
Mutter und Kind eine geschlossene Front. „Du hörst halt <strong>nicht</strong>, was sich dein Sohn wünscht.“<br />
„Andere Jungs hätten sich gefreut.“ Sein Junge will aber lieber ein Klavier als einen fahrbaren<br />
Untersatz. Und ein paar andere Dinge, mit <strong>den</strong>en Hanno eher <strong>nicht</strong> so viel anfangen kann.<br />
Mit <strong>den</strong>en muss er sich plötzlich beschäftigen, als Monika <strong>nicht</strong> mehr übersetzen kann<br />
zwischen dem schwulen Tagträumer und der Bollerhete, die sie beide liebt. Hanno versucht,<br />
Florian in sein Leben mitzunehmen. Das findet hauptsächlich in der Schwimmhalle statt,<br />
in der er seinen Meisterschüler Radu zusammenscheißt, weil der besser sein könnte als er<br />
ist, „wenn er sich <strong>nicht</strong> immer so leicht ablenken ließe.“ Florian sieht in seiner Badehose aus<br />
wie ein gestrandeter Wal und wird vom Vater ins Wärmebecken verbannt, „da störst du am<br />
wenigsten“. Was ihm <strong>nicht</strong> unrecht ist, <strong>den</strong>n er will wirklich <strong>nicht</strong> stören, sondern lieber Radu<br />
zusehen. Beim Springen, beim Duschen, beim Den-Turm-wieder-hoch-Klettern. Und auch der<br />
Springer interessiert sich <strong>für</strong> <strong>den</strong> Sohn des Trainers. Wie sehr genau und warum eigentlich, ist<br />
<strong>nicht</strong> klar, auch wenn die bei<strong>den</strong> an Florian Geburtstag zusammen Schnaps klauen und trinken,<br />
Radu mit zu Mama darf und sie am Ende zusammen in einem Bett lan<strong>den</strong>. Wo Papa, der<br />
sich aus Frust mal so richtig hat zulaufen lassen, sie „erwischt“, so glaubt er je<strong>den</strong>falls.<br />
Jetzt wird es zart. Denn Hanno liebt sein Kind wirklich und glaubt nun endlich zu verstehen,<br />
was mit ihm los ist, obwohl ihn ein Video über schwulen Nachwuchs, in dem Rosa<br />
von Praunheim einen unfassbar komischen Auftritt als Sexualtherapeut hat, eher verwirrt als<br />
erleuchtet. Was dazu führt, dass er versucht, ein gemeinsames Essen mit <strong>den</strong> Jungs zu arrangieren,<br />
das <strong>nicht</strong> schiefer laufen könnte und alle Beteiligten frustriert und mit teilweise blutigen<br />
Nasen zurücklässt. Liebe ist halt <strong>nicht</strong> so einfach.<br />
<strong>Film</strong>e zu drehen, die ihr Publikum glücklich machen, auch <strong>nicht</strong>. Aber Axel Ranisch ist<br />
einer, der das kann. Das hat der 30-Jährige schon letztes Jahr mit Dicke Mädchen bewiesen,<br />
einer wirklich schönen schwulen Liebesgeschichte. Jetzt legt er noch mal eine Schippe drauf.<br />
Und das Ergebnis ist so wunderbar, dass einem fast die Worte fehlen. Weil es so persönlich ist.<br />
Ich fühl mich Disco ist offensichtlich vollgesogen mit autobiografischen Details, die Ranisch<br />
12 sissy 19<br />
sissy 19 13
kino<br />
kino<br />
Edition Salzgeber (3)<br />
auch gar <strong>nicht</strong> leugnet. „Es ist kaum zu verstecken, dass vieles an<br />
diesem Flori dem Axel ähnelt und einiges an Hanno meinem eigenen<br />
Papa. Und doch haben sich im Laufe der vier Jahre, die ich an dieser<br />
Geschichte gearbeitet habe, die Charaktere emanzipiert. Schließlich<br />
haben meine bei<strong>den</strong> Hauptdarsteller Heiko Pinkowski und Frithjof<br />
Gawenda dieses Vater-Sohn-Gespann mit ganz eigenem Leben, mit<br />
Humor, Fantasie und Charme gefüllt. Der <strong>Film</strong> ist eine große Liebeserklärung:<br />
an meine Jugend, an meine Heimat Lichtenberg und an<br />
meinen Papa“, sagt der Regisseur und Drehbuchautor. Die ist so schön,<br />
dass sich die Macher bei ersten Festivalbesuchen mit ihrem <strong>Film</strong> feiern<br />
lassen durften.<br />
Ranisch ist der, auf <strong>den</strong> das deutsche Kino, aber wohl besonders<br />
das deutsche Publikum, gewartet hat. Das dürfte auch seinem<br />
Ziehvater geschuldet sein. Der heißt Rosa von Praunheim. Ranisch<br />
ist einer von <strong>den</strong>en, <strong>den</strong>en der Meister während seiner Lehrtätigkeit<br />
an der Hochschule <strong>für</strong> <strong>Film</strong> und Fernsehen in Potsdam gesagt hat:<br />
„Mach einen <strong>Film</strong> darüber, womit du dich auskennst!“ Sein Schüler<br />
hält sich seitdem daran. In einem knappen Jahrzehnt hat er mehr als<br />
80 Kurzfilme realisiert, bevor er 2012 mit Dicke Mädchen, der angeblich<br />
<strong>für</strong> ungefähr 500 Euro entstan<strong>den</strong> ist, abgeräumt hat. Er ist ein<br />
Queerling reinster Güte, der einfach seine Geschichten erzählt, an<br />
Orten, die er kennt, über Menschen, die er versteht, undogmatisch,<br />
aber eigen. Diese Geschichten zeichnet etwas aus, das westdeutsche<br />
Autorenfilmer, seit Fassbinder tot ist, nie konnten: Ranisch erzählt<br />
von einem Alltag, der <strong>nicht</strong> in <strong>den</strong> Büros von Werbeagenturen spielt<br />
oder mit geistigen Ellipsen über <strong>den</strong> Köpfen der Zuschauer entschuldigt<br />
wer<strong>den</strong> muss, sondern der so blutwarm und gegenwärtig ist, dass<br />
man glaubt, nur in die S-Bahn nach Lichtenberg steigen zu müssen,<br />
um seinen Protagonisten zu begegnen.<br />
Das heißt <strong>nicht</strong>, Ranisch-<strong>Film</strong>e blieben immer auf dem Bo<strong>den</strong> der<br />
Tatsachen, im Gegenteil. Ich fühl mich Disco ist magischer Realismus<br />
pur, stellenweise ein Musical, gespickt mit so vielen fantastischen<br />
Einfällen, dass man als Rezensent gar <strong>nicht</strong> weiß, was man zuerst<br />
<strong>nicht</strong> verraten soll, um dem Publikum die große Freude <strong>nicht</strong> zu verderben.<br />
Soviel sei verraten: Am Schluss sitzen Papa und Sohn beim<br />
Angeln und wissen, dass sie sich lieb haben.<br />
Ich fühl mich Disco ist kein Zufallstreffer. 1962 veröffentlichte eine<br />
Gruppe junger, deutscher <strong>Film</strong>emacher das „Oberhausener Manifest“,<br />
in dem eine Reihe formaler und stilistischer Eckpunkte an die<br />
deutschen <strong>Film</strong>kunst herangetragen wur<strong>den</strong>, die seinerzeit als revolutionär<br />
galten. Vielen gilt das Schriftstück als die Geburtsurkunde<br />
des neuen deutschen <strong>Film</strong>s. Als der 2012 50 wird, verliest Ranisch<br />
am 8. Februar in Köln sein „Sehr gutes Manifest“. Das hat er mit dem<br />
Schauspieler Heiko Pinkowski, dem Kameramann Dennis Pauls und<br />
der Produzentin Anne Baeker geschrieben. Es ist die Firmenphilosophie<br />
ihrer gemeinsam gegründeten Produktionsfirma „Sehr Gute<br />
<strong>Film</strong>e“ und ein Schuss vor <strong>den</strong> Bug der etablierten deutschen <strong>Film</strong>wirtschaft.<br />
Weil es Sätze enthält wie: „Ein sehr guter <strong>Film</strong> hängt <strong>nicht</strong><br />
vom Budget ab“, „Redakteure, Produzenten und Förderer dürfen und<br />
sollten ihr eigenes sehr gutes Geld investieren“, „Sehr gute <strong>Film</strong>e sind<br />
nie länger als 90 Minuten“, und: „Sehr gute <strong>Film</strong>e entstehen von der<br />
Idee über <strong>den</strong> Dreh bis zum Schnitt in einem Schwung – wie in einem<br />
einzigen rauschhaften Arbeitsvorgang. Die Intuition ist ihr wichtigstes<br />
Werkzeug, sie zu achten ihr oberstes Gebot.“ Das Manifest ist<br />
kurz, keine ganze Seite lang, und ist doch die Anti-Eichinger-Bibel,<br />
ein fröhlicher Kampfschrei, auszustoßen auf <strong>den</strong> unbefahrenen, kurzen<br />
Wegen zum individuellen deutschen Kinoglück.<br />
Dem folgen in kaum einem Jahr zwei <strong>Film</strong>e, einer davon ist Ich<br />
fühl mich Disco, aber: „Unzählige weitere wer<strong>den</strong> ihm folgen. Traut<br />
euch mit uns! Folgt eurer Intuition! Lasst uns <strong>nicht</strong> allein!“<br />
Die Erstunterzeichner sollten sich keine Sorgen machen. Ihr kleines<br />
Pamphlet stieß auf breite Gegenliebe und hängt derweil sicher<br />
über vielen Schnittplätzen der Republik. Denn es ist mehr als ein Forderungskatalog,<br />
es ist eine Wunschliste.<br />
Der folgt als erstes Ranisch selbst und mit ihm seine kleine <strong>Film</strong>familie.<br />
Ich fühl mich Disco ist zwar <strong>nicht</strong> selbst produziert und hat (deswegen?)<br />
auch etwas länger gedauert, aber Dennis Pauls ist wieder der<br />
Kameramann und Heiko Pinkowski spielt die väterliche Hauptrolle so<br />
hinreißend, dass man ihm je<strong>den</strong> Darstellerpreis der Welt in die Hand<br />
drücken möchte. Womit wir beim Ensemble wären. Das besteht neben<br />
Pinkowski aus der wunderbaren Christina Große als Monika, Robert<br />
Alexander Baer als Radu und Frithjof Gawenda als Florian. Gawenda<br />
ist die große Entdeckung des <strong>Film</strong>s. Der junge Schauspieler und <strong>Film</strong>emacher gibt Ich fühl mich<br />
Disco sein wild um sich schlagendes Herz und ist immer dann am besten, wenn er <strong>nicht</strong> spricht,<br />
sondern einfach ist und seinen Körper erzählen lässt, wie es Florian gerade geht.<br />
Dazu hat er viel Gelegenheit, <strong>den</strong>n wie schon in Dicke Mädchen hat Ranisch es auch in<br />
seinem neuen <strong>Film</strong> wieder geschafft, Sexualität einfach mitzuerzählen, sie <strong>nicht</strong> auszustellen,<br />
sondern so zu zeigen, dass sie einfach naturbelassen Teil seiner Charaktere ist. Wenn der 150<br />
Kilo schwere Hanno seiner sportlichen Frau Monika mit <strong>den</strong> Zähnen <strong>den</strong> Schlüpfer auszieht<br />
und dann fröhlich auf das kichernde Objekt seiner Begierde kriecht, Radu vor Florian wichst<br />
oder Rosa von Praunheim dem Papa auf dem heimischen Sofa rät, sich doch mal einen kleinen<br />
Dildo einzuführen, um herauszufin<strong>den</strong>, wie sich <strong>den</strong>n der Analverkehr, <strong>den</strong> sein Kind bald<br />
haben wird, wohl anfühlen könnte, ist das nie aus sich heraus komisch, weil fette auf schmale<br />
Leiber treffen oder Homos auf Heteros – die Komik, Tragik und Erotik der Situation entstehen<br />
vielmehr, weil es echte Menschen sind, die da Dinge miteinander tun, die vom voyeuristischen<br />
Standpunkt des Zuschauers aus gesehen anders wirken als <strong>für</strong> die Figuren.<br />
Dieser völlig unpornografische Blick kann nur entstehen, weil Ranisch ihn zulässt, ja<br />
herausfordert, weil er <strong>nicht</strong> bügelt oder über die Maßen schön ausleuchtet, damit der Sex<br />
dann besser aussieht, sondern er ihn so zeigen will, wie er ist: alltäglich. Auch hier dürfte von<br />
Praunheim gedanklich seine lustvoll schmutzigen Finger im Spiel haben, <strong>den</strong>n auch in seinen<br />
<strong>Film</strong>en aus <strong>den</strong> 1980ern war Sex nie etwas, das erst schön oder gefährlich aussehen musste,<br />
um das zu sein.<br />
Die emotionale Achterbahn, die Ich fühl mich Disco auch ist, wird beschleunigt, weil<br />
Ranisch es hinbekommt, tragische auf komische Momente folgen zu lassen, Fantastisches auf<br />
Realistisches, ohne dass man als Zuschauer befremdet oder verstört wäre. Das Leben ist eben<br />
so, es kippelt ständig hin und her, und wenn man <strong>nicht</strong> aus der Kurve fliegen will, hält man<br />
sich besser fest, und zwar aneinander. Und wenn man dabei noch Bier trinken kann, super.<br />
Den Soundtrack dazu liefert Christian Steiffen, der sich in Ich fühl mich Disco selber spielt,<br />
und im Herbst, parallel zum Kinostart, sein Debütalbum veröffentlicht. Manche nennen ihn<br />
einen „Indie-Schlagersänger“, wir erkennen aber das in Steiffen, was ihn eigentlich ausmacht<br />
und zu einem queeren Idol wer<strong>den</strong> lassen wird: Der Mann ist der reine Punk. Deswegen kann<br />
er auch an <strong>den</strong> wichtigen Stellen im <strong>Film</strong> die Welt retten oder geraderücken und lässt sich<br />
gerne mal eine reinhauen, wenn sich der Schläger danach besser fühlt. Steiffen ist ein verdienter<br />
Künstler des Volkes, schon jetzt.<br />
Ich fühl mich Disco ist eine Geschichte darüber, wie zwei Männer auf Umwegen entdecken,<br />
was sie aneinander bindet, und dass diese Bindung, bei allen Unterschie<strong>den</strong>, etwas<br />
Gutes, Wahres und Wunderbares ist, das man pflegen sollte, weil es dann <strong>den</strong> Tod überdauert.<br />
Ein wirklich schöner <strong>Film</strong>.<br />
s<br />
Ich fühl mich Disco<br />
von Axel Ranisch<br />
DE 2013, 95 Minuten, deutsche OF<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der Gay-<strong>Film</strong>nacht im<br />
Oktober, www.Gay-<strong>Film</strong>nacht.de<br />
Kinostart: 31. Oktober 2013<br />
www.disco-film.de<br />
14 sissy 19 sissy 19 15
kino<br />
kino<br />
Liebe versetzt Berge<br />
von Ingeborg Boxhammer<br />
In <strong>den</strong> 50er Jahren reist die New Yorker Dichterin Elizabeth Bishop nach Brasilien und lernt dort die<br />
Architektin Lota kennen, von der sie im Sturm erobert wird und die ihr ein Haus zum Schreiben baut,<br />
mit Blick auf <strong>den</strong> Dschungel. Die stürmische Affäre zweier eigensinniger und erfolgreicher Frauen hat<br />
Bruno Barreto auf der Grundlage historischer Figuren und Fakten zu einer Fantasie über die Verbindung<br />
von brasilianischer Moderne und US-amerikanischer Poesie verschmolzen.<br />
pandastorm pictures<br />
Reaching For The Moon<br />
von Bruno Barreto<br />
BR 2013, 118 Minuten,<br />
englisch-portugiesische OF<br />
mit deutschen UT<br />
Pandastrom Pictures,<br />
www.pandastorm.com<br />
Im Kino in der L-<strong>Film</strong>nacht im<br />
Oktober, www.L-<strong>Film</strong>nacht.de<br />
Die geheimen Tagebücher<br />
der Anne Lister<br />
von Avshalom Caspi<br />
UK 2010, 90 Minuten,<br />
deutsche SF, englische OmU<br />
Auf DVD bei Polyband Medien,<br />
www.polyband.de<br />
Daphne<br />
von Clare Beavan<br />
UK 2008, 88 Minuten,<br />
deutsche SF, englische OmU<br />
Auf DVD bei KSM,<br />
www.ksmfilm.de<br />
s Biografische Spielfilme umgibt ein abenteuerliches<br />
Flair, <strong>den</strong>n sie bedienen gleich<br />
mehrere Erwartungen: Sie öffnen <strong>den</strong><br />
Zuschauer_innenblick <strong>für</strong> eine bestimmte<br />
Zeitspanne in der Vergangenheit, beschreiben<br />
das Leben und Lieben einer meist öffentlichen<br />
Person und interpretieren (oder erfin<strong>den</strong>)<br />
die vorliegen<strong>den</strong> historischen Eckdaten<br />
und private Details. Explizite <strong>Film</strong>biografien<br />
von Frauen, die lesbisch gelebt haben, gibt es<br />
nach wie vor zu wenige. In der Wahrnehmung<br />
des Publikums bleiben diejenigen, die neben<br />
<strong>den</strong> als relevanter behaupteten Beziehungen<br />
zu Männern auch Frauenbeziehungen hatten,<br />
oft eindimensional und heterosexuell.<br />
Der Schwerpunkt dieser Inszenierungen liegt<br />
beinah grundsätzlich auf tatsächlich gelebten<br />
oder ausgedachten <strong>heterosexuellen</strong> Beziehungen,<br />
die – mit Hilfe der scheinbar zu Fakten<br />
gewor<strong>den</strong>en Behauptungen – diese Lesart<br />
nachdrücklich zementiert. Schon weil sie dieser<br />
Ten<strong>den</strong>z entgegenwirkt, ist Reaching for<br />
the Moon eine wichtige Produktion.<br />
Biografische Spielfilme mit lesbischen<br />
Frauen im Mittelpunkt können gleichzeitig<br />
auch so etwas wie eine unterhaltsame und<br />
aufschlussreiche Geschichtsstunde sein.<br />
Vielen dieser Verfilmungen gehen Buchveröffentlichungen<br />
voraus, die eine andere<br />
Perspektive wählen als frühere biografische<br />
Publikationen. Nicht selten richtet sich dieser<br />
neue Blick zum ersten Mal auf die homosexuellen<br />
Lebensweisen der Porträtierten.<br />
So beispielsweise in <strong>den</strong> BBC-Produktionen<br />
Daphne (UK 2007, Regie: Clare Beavan), die<br />
auf dem Buch von Margaret Foster (1994)<br />
über die Schriftstellerin Daphne du Maurier<br />
(1907–1989) basiert, oder auch Die geheimen<br />
Tagebücher der Anne Lister (UK 2010, R:<br />
James Kent), über eine englische Gutsbesitzerin<br />
(1791–1840), deren erotische Texte<br />
Helena Whitbread bereits 1988 in einer entschlüsselten<br />
Version herausgab. Ähnlich verhält<br />
es sich mit biografischen Versatzstücken<br />
der US-amerikanischen Lyri kerin Elizabeth<br />
Bishop (1911–1979), die Bruno Barreto zu<br />
einer zentralen Figur seines <strong>Film</strong>s Reaching<br />
for the Moon erkoren hat. Als Pulitzer-Preisträgerin<br />
(1956) und mit zahlreichen anderen<br />
Auszeichnungen geehrt, ist die Schriftstellerin<br />
vor allem der internationalen Literaturwissenschaft<br />
ein Begriff, in deren Lesart ihre<br />
Homosexualität – wie üblich – kaum Thema<br />
war, obwohl sie bereits seit <strong>den</strong> dreißiger<br />
Jahren lesbisch lebte.<br />
In aller Munde war Bishop offenbar erst<br />
im Jahr 2011: Anlässlich des 100. Geburtstages<br />
der 1979 verstorbenen Dichterin<br />
erschienen einige Publikationen über sie,<br />
auch in Deutschland. Hierzulande fast völlig<br />
unbekannt ist bis dato die wohl große Liebe<br />
ihres Lebens geblieben: die brasilianische<br />
Architektin Maria Carlota de Macedo Soares,<br />
genannt Lota (1910–1967). Zielsicher<br />
und furchtlos erlernte sie die Baukunst im<br />
Selbststudium und schreckte bald auch vor<br />
Großprojekten <strong>nicht</strong> zurück, die sie mit Hilfe<br />
ihrer Beziehungen zur brasilianischen Elite<br />
realisieren konnte. Ihr Anfang der sechziger<br />
Jahre entworfener und umstrittener Flamengo<br />
Park, der heute als Rio de Janeiros<br />
größtes Naherholungsgebiet gilt, soll 2016<br />
Olympia-Park wer<strong>den</strong>. Ob dann vor Ort ihrer<br />
gedacht wird?<br />
Auch wenn Brett Millier als enthüllende<br />
Biografin Bishops gilt, war es Carmen<br />
L. Oliveira, die in ihrer 2002 erschienenen<br />
romanhaften Lebensgeschichte „Rare<br />
and Commonplace Flowers. The Story of<br />
Elizabeth Bishop and Lota de Macedo Soares“<br />
der Beziehung gerade dieser bei<strong>den</strong> so<br />
gegensätzlichen Frauen ein Denkmal setzte,<br />
welches die Grundlage <strong>für</strong> Barretos <strong>Film</strong><br />
darstellt. Seine Erzählung beginnt 1951, also<br />
zu einer Zeit, in der alle Beteiligten <strong>nicht</strong><br />
mehr ganz jung sind: Die Nordamerikanerin<br />
Elizabeth Bishop, längst weltweit eine<br />
bekannte und gefeierte Dichterin, besucht<br />
Mary Morse, eine alte Freundin, in der Nähe<br />
von Rio de Janeiro und verliebt sich in deren<br />
eindrucksvolle Geliebte, die temperamentvolle,<br />
aber auch dominante Lota. Aus Liebe<br />
bleibt Elizabeth in Brasilien; Lota baut ihr<br />
flugs ein Studio zum Arbeiten. Mary bleibt –<br />
nach der ersten Verzweiflung – ebenfalls auf<br />
dem märchenhaften Anwesen. Ihr gebrochenes<br />
Herz versucht Lota zu beschwichtigen,<br />
indem sie ihr – mal eben so – ein lang ersehntes<br />
Baby aus <strong>den</strong> Favelas kauft, das ab sofort<br />
zur Familie gehört. Die drei Frauen raufen<br />
sich mehr schlecht als recht zusammen und<br />
formen eine ungewöhnliche Gemeinschaft,<br />
bis Lotas enger Freund, der Journalist und<br />
Politiker Carlos Lacerda (1914–1977), 1964<br />
einen Putsch gegen <strong>den</strong> linken Präsi<strong>den</strong>ten<br />
João Goulart (1919–1976) unterstützt. Während<br />
Lota in Goulart das Gespenst des Kommunismus<br />
<strong>für</strong>chtet, verteidigt Elizabeth<br />
demokratische Prinzipien – und reist zurück<br />
in ihre Heimat, um dort Literatur-Vorlesungen<br />
zu halten. Leider wird – wie <strong>nicht</strong> selten<br />
– <strong>den</strong> politischen Überzeugungen der<br />
Frauen <strong>nicht</strong> sonderlich viel Aufmerksamkeit<br />
geschenkt. Die staats- und gesellschaftspolitische<br />
Situation Brasiliens in <strong>den</strong> fünfziger<br />
und sechziger Jahren bildet lediglich <strong>den</strong><br />
künstlerischen Rahmen, vor dem sich eine<br />
mitreißende Liebesgeschichte abspielt.<br />
Mit der malerischen Naturkulisse<br />
erscheint die enthusiastische Lota verschmolzen,<br />
während sie dort gleichzeitig wie ein<br />
explosives Gemisch agiert und wegsprengt,<br />
was ihr im Weg ist. Sie gehört als gebildete<br />
und vermögende Journalistentochter zur<br />
brasilianischen Oberschicht und nimmt sich,<br />
was sie haben will. Glória Pires spielt diese<br />
Lota mit Verve und flirrender Energie, der<br />
die reservierte und scheue Elizabeth schon<br />
bald erliegt. Die Australie rin Miranda Otto,<br />
spätestens bekannt seit ihrer Rolle als kämpferische<br />
Eowyn auf <strong>den</strong> Schlachtfeldern in<br />
Herr der Ringe – Die zwei Türme (2002), interpretiert<br />
die Dichterin als dünnhäutig und<br />
zerbrechlich, deren gallige Ausbrüche nur im<br />
angetrunkenem Zustand statffin<strong>den</strong>.<br />
Vielleicht ist es <strong>nicht</strong> nur Lotas Zügellosigkeit,<br />
sondern gerade das ungetrübte<br />
Selbstvertrauen, mit dem Lota ihre architektonischen<br />
Pläne und Werke präsentiert, das<br />
bei der einsam wirken<strong>den</strong> Elizabeth heiße<br />
Lei<strong>den</strong>schaft entflammt. Elizabeth scheint<br />
<strong>den</strong> Wert ihrer eigenen Arbeiten <strong>nicht</strong><br />
ermessen zu können, quält sich lange mit<br />
Formulierung und Versmaß, bis ein Gedicht<br />
endlich steht. Viel zu oft lässt sie sich von<br />
ihrem chauvinistischen Freund Robert<br />
Lowell (fehlbesetzt mit einem zu „anständig“<br />
wirken<strong>den</strong> Treat Williams) kritisieren<br />
und maßregeln. Elizabeth, labil in ihrem<br />
Selbstwertgefühl und voller Zweifel, die sie<br />
regelmäßig in Alkohol ertränkt, äußert hier<br />
ebenfalls zaghafte Skrupel: Sie ist sich <strong>nicht</strong><br />
sicher, ob sie es ihrer Freundin Mary antun<br />
kann, ihr die Geliebte auszuspannen. „Aber<br />
zu was <strong>für</strong> einem Leben soll das führen“,<br />
gibt Lota zu be<strong>den</strong>ken, „wenn du Freundschaft<br />
über Liebe stellst?“ Zumindest <strong>für</strong> die<br />
<strong>Film</strong>-Elizabeth funktioniert die implizite<br />
Drohung lebenslangen Alleinseins. Ist diese<br />
Überzeugung, dass Liebe mehr wert sei als<br />
Freundschaft, der Figur der Lota inhärent<br />
oder ist sie <strong>nicht</strong> viel mehr als grundlegende<br />
Message des <strong>Film</strong>s angelegt? Einerseits<br />
dient dieses Motto in der Konsequenz dazu,<br />
eine lesbische Liebesgeschichte und damit<br />
auch lesbisches Verlangen mit <strong>heterosexuellen</strong><br />
Liebesdramen auf eine Stufe zu stellen,<br />
sie genauso zu behandeln und austauschbar<br />
in Szene zu setzen. Das kann als Verdienst<br />
angesehen wer<strong>den</strong>. Andererseits manifestiert<br />
Barreto gleichzeitig eine oft als Weisheit<br />
kolportierte Annahme, dass Freundschaft<br />
im Zweifel zurückstehen müsse<br />
und zwischen ehemals Verliebten ohnehin<br />
unmöglich sei. Die zweifach verschmähte<br />
Mary rächt sich auf ihre Weise und wird<br />
zur einsamen Verliererin. Wenn sich die von<br />
ihren Liebsten Verlassene gemein verhält, ist<br />
ihr Verlassen-Sein <strong>für</strong> das Publikum in Ordnung.<br />
Wie gemein die Liebe ist, scheint egal,<br />
<strong>den</strong>n mit ihr ist alles erlaubt.<br />
Das, was Bruno Barreto <strong>nicht</strong> differenziert,<br />
ist der maßgebliche Unterschied zwischen<br />
Liebe und Verlangen, die er hier aneinander<br />
gekoppelt begreift. Denn Lota verliert<br />
<strong>nicht</strong> ihre Zuneigung zu Mary, sondern folgt<br />
ihrem Begehren, nun ausschließlich auf<br />
Elizabeth gerichtet. Verlangen und Besitzansprüche<br />
sind es schlussendlich, an <strong>den</strong>en das<br />
Glück zerbricht.<br />
s<br />
16 sissy 19 sissy 19 17
kino<br />
kino<br />
Luftsprünge<br />
von Gunther Geltinger<br />
Ein junger Tänzer kommt in die große, kalte Stadt und alles, was er hat, ist sein<br />
Körper. Alan Browns („Private Romeo“) neuer Spielfilm „Five Dances“ ist ein<br />
Probenraum-Kammerspiel, in dem Bewegungen Geschichten erzählen, Positionen<br />
Beziehungen und ein Tanz das ganze Leben.<br />
s Warm up Erst der Makel macht wahre Schönheit sichtbar, und der Weg zur Perfektion<br />
führt durch <strong>den</strong> Schmerz. Chip stellt sich ihm mit geradezu selbstverleugnender Härte und<br />
Disziplin, <strong>für</strong> die sein zweijähriger Aufenthalt auf der Militärakademie eine gute Schule gewesen<br />
sein mag. Jetzt ist der junge Tänzer durch ein Stipendium nach New York gekommen, und<br />
obwohl er ohne Bleibe und klare Zukunftsperspektive ist, ausgestattet nur mit einem Schlafsack<br />
und seinem lebenshungrigen, bewegungsgierigen Körper, stürzt er sich in sein neues<br />
Tanzprojekt, als ginge es um Leben und Tod. Und tatsächlich – schon die ersten Bilder von<br />
Alan Browns kleinem Ensemblefilm um die Proben, Positionen und seelischen wie körperlichen<br />
Prüfungen zu „Five Dances“ verraten: Chip tanzt um sein Leben.<br />
Wie er beim Aufwärmen im Studio <strong>den</strong> Fuß überdehnt, auf <strong>den</strong> die Worte for you tätowiert<br />
sind, zunächst einziges sichtbares Zeichen seiner Sehnsucht nach Liebe; wie er das Bein nach<br />
oben in die Senkrechte zwingt, bis sein Körper eine gerade, in <strong>den</strong> tänzerischen Zenit weisende<br />
Linie bildet, sein Blick dabei fragend, fast entsetzt, wie im Angesicht von etwas Unfassbarem,<br />
des eigenen Abbilds im großen Wandspiegel über dem von unzähligen Tänzerfüßen<br />
blank polierten Parkett.<br />
Mit dem äußersten Willen zur Grazie versucht der Achtzehnjährige, seine geradezu krankhafte<br />
Gehemmtheit zu besiegen: Die Fragen von Katie und Cynthia, seinen Mittänzerinnen,<br />
beantwortet er knapp, stenographisch, fast bellt er seinen Namen mit zu Bo<strong>den</strong> gesenktem<br />
Blick; auf Militärschulen herrscht das Gesetz von Befehl und Replik. Nur Theo, der zweite<br />
männliche Tänzer der Truppe, scheint <strong>den</strong> verletzten, unter Verschluss gehaltenen jungen<br />
Mann hinter der verkniffenen Mimik zu ahnen, die Narbe im schmerzhaft schönen Gesicht.<br />
Anthony, der Choreograph, erklärt das Projekt: ein Stück in fünf Teilen zur Eröffnung<br />
eines wichtigen Tanzfestivals, zehn Minuten, auf die es ankommen wird. Besonders <strong>für</strong> Chip.<br />
Eins. Lose Körper, vereinzelt und isoliert. Sich bloß <strong>nicht</strong> nähern, noch <strong>nicht</strong>. Einer nach dem anderen<br />
reiht sich ein, eine Gruppe Menschen in einem unbestimmten Raum. Sie streben aufeinander<br />
zu, schrecken voreinander zurück, Hände strecken sich aus und greifen doch ins Leere. Plötzlich eine<br />
zaghafte, wie zufällige Berührung, die sich sofort wieder auflöst, je<strong>den</strong> zurückwirft in seine Einsamkeit,<br />
auf seine Sehnsucht.<br />
In seinen Schlafsack eingerollt wie ein Embryo, verbringt Chip die Nächte im Studio. Seine<br />
Mutter nervt mit Anrufen. Angeblich muss sie aus ihrem Haus ausziehen und weiß <strong>nicht</strong>,<br />
wohin. Der Ehemann ist schon geflüchtet, vertrieben oder einfach weg. Als Chip sich ihr verweigert,<br />
droht die Mutter mit dem elementaren Verstoß. Die Kindheit ist vorbei, die Überreste<br />
sollen nun entsorgt wer<strong>den</strong>, Chips Sachen auf <strong>den</strong> Müll.<br />
Bei Katie, die sich <strong>nicht</strong> nur <strong>für</strong> seine Herkunft interessiert, findet Chip ein neues Zuhause<br />
– und eine erste zaghafte Sprache der Nähe. Hinter Chips schmalen Lippen wohnt der Mann<br />
in der Mundhöhle, the man in the mouth, wie Chip selbst, plötzlich bauchre<strong>den</strong>d, <strong>den</strong> humorvollen<br />
und zugewandten Teil seiner Persönlichkeit nennt. Katie soll ihn befreien. Sie greift<br />
nach seinem Mund – zu spät, Chip hat Chip schon verschluckt. Doch er schenkt Katie ein<br />
Lächeln, das erste überhaupt.<br />
Edition Salzgeber<br />
Zwei. Die Körper schwingen sich aufeinander ein, nehmen <strong>den</strong> Rhythmus des anderen auf, übertragen<br />
ihn. Infektion, Inkubation. Ein Virus ergreift die Gruppe, die Krankheit bricht aus. Getroffenheit.<br />
Betroffen sein. Aus der Entzündung heraus, der virulent befallenen Stelle im Innern, wird die Pose<br />
zur wahrhaften Bewegung, wird aus Kunstwillen im Abgleich mit dem eigenen Schmerz Poesie. Das<br />
Fieber steigt.<br />
Es ist der Punkt, an dem Anthony zu arbeiten beginnt. Er fordert die Gruppe heraus, konfrontiert<br />
je<strong>den</strong> mit seinen Schwächen und sucht Wege, sie gemeinsam zu überwin<strong>den</strong>. Stets<br />
bleibt er dabei im Hintergrund, das Gesicht abgewandt, nie in Großaufnahme, und doch ist er<br />
18 sissy 19<br />
sissy 19 19
kino<br />
Festivalgänger<br />
oder Couch-Potato?<br />
Edition Salzgeber (2)<br />
rhythmisches Zentrum des Raums, Katalysator,<br />
der neue Energien freisetzt. Mühsam,<br />
nach Fehltritten und Frustrationen, wird die<br />
neue Dynamik erarbeitet: Wohin mit dem<br />
Arm in der Drehung zum Partner hin, um<br />
sich <strong>nicht</strong> selbst im Weg zu stehen? Oft bleibt<br />
die Gruppe nun abends zusammen. Cynthia,<br />
die Verheiratete, hat aus dem bürgerlichen<br />
Teil ihres Lebens die Lichterkette des abgebauten<br />
Weihnachtsbaums mitgebracht. Theo<br />
wickelt sich in die Lämpchen, lässt seinen<br />
Körper erglühen, von dem wir schon längst<br />
wissen, dass Chip ihn begehrt. Nur Chip<br />
selbst wehrt sich noch dagegen – bei <strong>den</strong> Proben<br />
zu ihrem Duo berühren sich die bei<strong>den</strong><br />
technisch, <strong>nicht</strong> als Menschen, die einander<br />
wollen, sondern als Tänzer, die das Begehren<br />
ästhetisch darstellen sollen. Theo, der Erfahrenere,<br />
weiß, dass nur die Verquickung des<br />
einen mit dem anderen zur Perfektion führt.<br />
Abends bleiben sie im Studio, um weiterzuarbeiten.<br />
Die Berührungen wer<strong>den</strong> intimer,<br />
gehen fehl – oder erreichen ihr wahres Ziel;<br />
auf Theos Anmache reagiert Chip mit einem<br />
kurzen Ausbruch von Gewalt, <strong>den</strong> Theo, nun<br />
plötzlich in der Rolle des Choreographen<br />
dieses erotischen Balletts, noch in derselben<br />
Bewegung mit einem Kuss kontert, der Chips<br />
Widerstand bricht. Erst aus der Bruchstelle<br />
heraus, die nun die Verletzbarkeit sichtbar<br />
macht, kann sich die Schönheit entfalten, auf<br />
die es beim Tanz ankommt – drei.<br />
Wachsame Menschenblicke haben die leeren<br />
Fensteraugen im Raum ersetzt. Chip tanzt<br />
allein, aber <strong>nicht</strong> isoliert, eingebun<strong>den</strong> in die<br />
Anteilnahme der anderen, verstrickt in ihre<br />
Leben. Noch wahren sie Distanz, versuchen<br />
<strong>nicht</strong>, <strong>den</strong> in der eigenen Haut eingeschlossenen<br />
Chip aus seinem Körper herauszubrechen.<br />
Mit gewohnt zusammengepressten Lippen, die<br />
einen Schrei zu unterdrücken scheinen, bewegt<br />
er sich durch <strong>den</strong> Raum, doch der, <strong>den</strong> wir jetzt<br />
tanzen sehen, ist der Mann im Mund.<br />
Die Proben folgen der strengen, oft brutalen<br />
Hierarchie, die das Streben nach vollkommener<br />
Anmut vorgibt. Sie legt Erschöpfung<br />
auf die Gesichter, belastet die Beziehungen.<br />
Rangordnungen bil<strong>den</strong> sich heraus; die<br />
Guten, die aber nie besser als talentiert sein<br />
wer<strong>den</strong>, und die nahezu Perfekten mit der<br />
explosiven Kraft ihrer pochen<strong>den</strong> Wun<strong>den</strong>.<br />
Nachts im dunklen Saal schläft Cynthia mit<br />
Anthony, dann, im plötzlich aufflammen<strong>den</strong><br />
Licht, unter <strong>den</strong> Augen des imaginären<br />
Zuschauers, der <strong>für</strong> einen Tänzer auch<br />
noch in der intimsten Bewegung anwesend<br />
scheint, fallen sie voneinander ab, zurück in<br />
ihre Rollen. Zieh dich an, befiehlt Anthony<br />
kalt, als gehöre zur vollkommenen Vision seines<br />
Tanzstücks auch die Erniedrigung.<br />
Vier. Schleppend tauchen die Körper aus der<br />
Tiefe auf, noch gebeugt vom Schmerz ziehen<br />
sie sich langsam an ihrer neuen Anmut empor,<br />
suchen nach Halt. Die Härte und Strenge,<br />
das Kämpferische und Widerspenstige ist aus<br />
ihren Bewegungen gewichen, die nun zaghafter<br />
erscheinen, zerbrochen, und in der Gebrochenheit,<br />
in der Zurückhaltung des Tastens und<br />
Suchens, so schön, leicht und geschmeidig wie<br />
nie zuvor.<br />
Selbst die markante Stimme des Sängers<br />
Scott Matthew, dessen Songs alle fünf Tänze<br />
des <strong>Film</strong>s in melancholischer Schwebe halten,<br />
droht an diesem Punkt zu kippen, ringt<br />
mit <strong>den</strong> Tänzern um Fassung. Chip findet<br />
sie wieder, indem er nun Theo selbstbewusst<br />
auffordert, mit ihm nach Probenschluss<br />
weiterzuarbeiten. Die folgende, hart an der<br />
Grenze zum Kitsch inszenierte Sexszene ist<br />
ein Bruch in der Ästhetik des <strong>Film</strong>s und eines<br />
der wenigen Zugeständnisse, die Alan Brown<br />
in seiner größtenteils getanzten Geschichte<br />
an konventionelle Sehgewohnheiten macht.<br />
Die Tanzbilder stehen <strong>für</strong> sich, haben mit<br />
ihren poetischen choreographischen Figuren<br />
<strong>nicht</strong> nur längst erzählt, dass die bei<strong>den</strong><br />
miteinander schlafen wer<strong>den</strong>, sondern auch<br />
gezeigt, wie sie es tun:<br />
Fünf. Lange hält Chip Theo fest umschlungen,<br />
der auf ihn gesprungen, regelrecht in ihn hineingestürzt<br />
ist, und nun schutzlos in seinen Armen<br />
hängt, bis Chip ihn langsam und vorsichtig<br />
ablegt; nur <strong>nicht</strong>s zerbrechen, bloß bewahren<br />
und hegen, was er liebt. Er richtet Theo auf,<br />
führend, dominant, doch mit größter Zärtlichkeit.<br />
Ihre Blicke, die <strong>den</strong> anderen erkennen und<br />
bejahen, lenken die Körper, die nun einer Kraft<br />
folgen, die stärker ist als die Regeln jeder Choreographie.<br />
Es ist der unbeholfene erste Sex, und<br />
der vollkommene Tanz.<br />
Chip gesteht Katie seine Gefühle <strong>für</strong><br />
Theo, als wollte er sich die Erlaubnis der<br />
Freundin zu seinem neuen Leben einholen.<br />
In Anthonys Abwesenheit witzelt die<br />
Gruppe über <strong>den</strong> „Boss“, ist über ihren Choreographen<br />
längst hinausgewachsen. Immer<br />
öfter lächelt Chip jetzt, reißt schließlich<br />
im Gelächter <strong>den</strong> Mund auf und würgt <strong>den</strong><br />
darin eingeschlossenen Mann in die Welt.<br />
Der maximale Punkt der Leichtigkeit ist<br />
erreicht. In diesem Zustand verbringen Chip<br />
und Theo noch eine Nacht im Studio, vielleicht<br />
die letzte vor ihrem großen Auftritt.<br />
Chip will jetzt alles wissen – über die Liebe<br />
und ihre Stolpersteine. Spielerisch treten<br />
sie in einen Wettbewerb um die beste Pirouette,<br />
werfen sich euphorisch in die Proben<br />
zu ihrem gemeinsamen Glück. Fast erwartet<br />
man nun <strong>den</strong> dramatischen Wendepunkt,<br />
<strong>den</strong> Sturz, der das hochfliegende Projekt jäh<br />
zu Fall bringt: einen verstauchten Fuß, <strong>den</strong><br />
Sehnenriss, das gebrochene Herz.<br />
Der sechste Tanz – er gehört dem Leben.<br />
Five Dances<br />
von Alan Brown<br />
US 2013, 83 Minuten, englische OF<br />
mit deutschen UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
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20 sissy 19
kino<br />
kino<br />
Concussion<br />
von Stacie Passon<br />
US 2013, 96 Minuten, englische OF<br />
mit deutschen UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Die Erschütterten<br />
Im Kino in der L-<strong>Film</strong>nacht im<br />
November, www-L-<strong>Film</strong>nacht.de<br />
von André Wendler<br />
Durch eine heile, aber <strong>nicht</strong> wirklich eingespielte Vorstadt-Regenbogen-Familie geht<br />
ein kleiner Riss. Ausgelöst durch eine Gehirnerschütterung („Concussion“), begreift<br />
eine der bei<strong>den</strong> Mütter in Stacey Passons abgründigen Debüt, dass ihre Welt zu klein<br />
gewor<strong>den</strong> ist, dass eine größere aber vielleicht auch <strong>nicht</strong> so anders aussehen würde.<br />
„Concussion“ war ein Hit beim Sundance Festival und erhielt einen Special-Jury-Teddy<br />
bei der diesjährigen Berlinale. Der <strong>Film</strong>, produziert von der New-Queer-Cinema-<br />
Veteranin Rose Troche, steht aber auch <strong>für</strong> ein neues Thema im <strong>nicht</strong>-<strong>heterosexuellen</strong><br />
Kino: dass Glücklichwer<strong>den</strong> auch nach der Emanzipation und rechtlichen<br />
Gleichstellung kein Automatismus ist. The Moms are not all right.<br />
Edition Salzgeber<br />
s Bewegung, Lärm, Schwitzen, Energie. Es wird davon gesprochen, von wem man sich was<br />
ins Gesicht spritzen lassen würde. Erst kurz darauf sehen wir ein gutes Dutzend or<strong>den</strong>tlich<br />
trainierter Frauen beim Indoor-Biking. Sie treten in die Pedale und bewegen sich keinen Schritt<br />
nach vorn. Sie trainieren, um auszusehen, als könnten sie allen möglichen Herausforderungen<br />
begegnen. Sie sind bereit <strong>für</strong> jedes Abenteuer. Die Ironie in ihren Sätzen weiß, dass die Bereitschaft<br />
ausreicht, weil es <strong>für</strong> die weiße Mittelschicht keine Abenteuer mehr gibt. Ereignisse sind<br />
hier höchstens theatralische Un- oder Zwischenfälle, etwas zu rotes Kunstblut inklusive.<br />
Die Welt, in der sich der <strong>Film</strong> <strong>für</strong> einen Augenblick eine Erschütterung vorstellt, ist eine<br />
Welt der gedeckten Farben: grau, beige, mauve, taupe, greige, dazu Silber, Bronze, Edelstahl,<br />
mattes schwarz und alle möglichen Erd- und Holzfarben. Die bequemen Sofas, gut gepolsterten<br />
Betten, Küchenstühle und gemütlichen Bänke in diesen Farben sind so unaufdringlich,<br />
dass es weh tut. Wie viele Einrichtungsgegenstände in diesem wohltemperierten Farbschema<br />
kann ein Mensch ertragen? Abby hat es sich in dieser hellen Welt mit ihrer Frau und <strong>den</strong> bei<strong>den</strong><br />
Kindern so gemütlich gemacht wie es eben geht. Sie sorgt da<strong>für</strong>, dass der Garten or<strong>den</strong>tlich,<br />
die Wäsche faltenfrei, das Essen <strong>für</strong> die Kinder nahrhaft und gesund ist.<br />
Nachdem der Sohn ihr einen Baseball an <strong>den</strong> Kopf geworfen hat, sucht sie die Veränderung.<br />
In Manhattan renoviert sie mit einem Freund ein Loft. Kreative Beschäftigungstherapie<br />
<strong>für</strong> saturierte Mittelstandsmütter. Wie sehr solche kleinen Ausbrüche schon mit einkalkuliert<br />
sind, zeigt sich daran, dass hier die Fragen die gleichen wie dort im Suburb sind: Wie sieht<br />
der Holzbo<strong>den</strong> am besten aus, welche Farbe soll der Bettüberwurf haben, verkörpern diese<br />
Küchenfliesen <strong>den</strong> Spirit der Wohnung? Irgendwann ist das Loft fertig, es ist so perfekt wie<br />
alle wohlgeplanten Familienbehausungen dieser Welt. Immer wieder tastet die Kamera die<br />
Einrichtungsgegenstände in Schwenks ab: Flacons, Bilderrahmen, Uhren, Aschenbecher, Grafiken,<br />
Bücher. Sie liegen herum und wer<strong>den</strong> von uns und <strong>den</strong> <strong>Film</strong>figuren angestarrt, aber sie<br />
können <strong>nicht</strong>s erzählen. Aus einstmals nützlichen oder bedeutungsvollen Dingen ist hübscher,<br />
farblich passender Dekorationsplunder gewor<strong>den</strong>, der Besucher_innen sagen lässt: „You seem<br />
cultured.“ Das amerikanische Kino ist normalerweise wie besessen davon, uns das Außen<br />
dieser hermetischen Welten zu zeigen: Seine Protagonist_innen entkommen in fremde Länder,<br />
auf unbekannte Planeten, in eine Welt im Kleiderschrank. Oder sie begegnen <strong>den</strong> großen<br />
anderen, die ein <strong>für</strong> alle mal alles ändern: Außerirdische, die große Liebe, der verlorene Vater,<br />
der alles umstürzende Held. Concussion quält uns <strong>nicht</strong> mit solchen sinnlosen Utopien, sondern<br />
sieht der Realität ins Angesicht. Die Flucht aus einem grau-beigen Haus führt in ein anderes<br />
grau-beiges Haus. Die Aussicht ist überall dieselbe: Es gibt diese oder jene Aussicht auf die<br />
New Yorker Skyline oder irgendwelche benachbarten Vorgärten. Es ist bewundernswert, wie<br />
der <strong>Film</strong> es schafft, die Gefährdung und gleichzeitige Stabilität dieser Welt zu zeigen. Es ist<br />
ein bisschen die lesbische Version von David Lynchs Straight Story: Die Bedrohungen und Brüche<br />
sind subtil und manchmal kaum zu sehen. Oft ist es <strong>nicht</strong> mehr als ein entgleister Mundwinkel,<br />
ein aus Versehen entblößter blauer Fleck oder ein kurzer Moment, in dem man das<br />
Auto einfach an <strong>den</strong> Straßenrand fahren muss, um aus dem Fenster zu starren. Wir sehen die<br />
Gesichter von Menschen, die alles haben, was man sich wünschen kann und die doch die Leere<br />
<strong>nicht</strong> länger übersehen können. Es sind diese typisch amerikanischen Fernsehgesichter: gute<br />
Haare, gute Zähne, gute Haut, gute europäische Gene. Sie sehen wahlweise amazed, happy,<br />
tired, sad oder bored aus. Gute Schauspieler_innen habe noch einige Adjektive mehr <strong>für</strong> ihre<br />
Gesichter. Wenn Abby ihre Mini-Revolution noch ein bisschen weitertreibt und sich auf bei<strong>den</strong><br />
Seiten der Transaktion mit Sex <strong>für</strong> Geld beschäftigt, wird ihr Loft zu einem regelrechten<br />
22 sissy 19<br />
sissy 19 23
kino<br />
Casting-Studio. In der Reihenfolge ihres Auftretens:<br />
ein schwarz-langhaariges Victoria-<br />
Secret-Model mit aufdringlich trainiertem<br />
Bauch und verwegenen Tattoos; eine etwas<br />
übergewichtige und wahnsinnig nervöse<br />
Women’s-Studies-Stu<strong>den</strong>tin auf der Suche<br />
nach ihrem ersten Kuss; ein überambitionierter<br />
Girls-Sidekick mit psychoanalytisch<br />
einschlägigen Ohrringen; eine im Innersten<br />
zerbrechliche aber nach außen hart gewor<strong>den</strong>e<br />
Akteurin des Kunstbetriebes mit dünnen<br />
rötlichen Haaren; eine junge Frau, die<br />
ihre Widerständigkeit durch ihr „we are in<br />
hell“-Tattoos beglaubigt haben will; die Frau<br />
eines Goldman-Sachs-Analysten mit einem<br />
obszön großen Diamentring. Diese Frauen<br />
kommen und gehen, sie plaudern, kommen<br />
wieder, bäumen sich beim Orgasmus auf, verteilen<br />
romantische Küsse danach und zahlen,<br />
was vereinbart war. Das klingt hoffnungslos<br />
und ist es wohl auch, aber in Concussion ahnt<br />
man, dass es so etwas wie Hoffnung gibt.<br />
„I wanna take a hot<br />
yoga class after this.“<br />
Dass unter jeder professionellen Maskerade<br />
verletzbare Menschenkinder hausen, die<br />
eine Berührung suchen und keinen anderen<br />
Ausweg wissen, als da<strong>für</strong> ein paar hundert<br />
Dollar zu investieren. Abby kann an dem<br />
Leben dieser Menschen so wenig ändern wie<br />
an ihrem eigenen. Der einzige Skandal an<br />
dieser Welt ist, dass es keine Skandale gibt.<br />
Wenn eine Ehe auseinandergeht, weiß keiner<br />
so recht, woran es gelegen hat, aber es gibt<br />
gute Anwälte, die alles in Ordnung bringen.<br />
Wenn einem mal jemand unter <strong>den</strong> Rock<br />
gefasst hat, während man hinter einer Dragqueen<br />
am Unisexklo angestan<strong>den</strong> hat, dann<br />
ist das eine tolle Geschichte, um sie auf einer<br />
Party zu erzählen. Alles ist möglich, alles<br />
lässt sich integrieren, solang es irgendwann<br />
als Ware, Dienstleistung oder gute Unterhaltung<br />
in <strong>den</strong> allgemeinen Tauschkreislauf eingebracht<br />
wer<strong>den</strong> kann.<br />
Das gilt <strong>nicht</strong> nur <strong>für</strong> alles und jede_n<br />
in Concussion, sondern auch <strong>für</strong> <strong>den</strong> <strong>Film</strong><br />
selbst. Die lakonische Kamera hat weder<br />
Angst vor Kalauern noch vor pathetischen<br />
Momenten. Sie schenkt uns die New-York-<br />
Bilder, auf die wir alle warten und überrascht<br />
uns mit kleinen zauberhaften Anordnungen,<br />
die erst auf <strong>den</strong> zweiten Blick verraten, was<br />
sie sind, woher ihre Symmetrie stammt oder<br />
wieso in ihnen verrückte Lichteffekte blitzen.<br />
Der leicht verdauliche Totalitarismus<br />
des <strong>Film</strong>s und seiner Welt kommt auch in<br />
seinen immer passend getönten Bildern zum<br />
Ausdruck. Sieht alles sehr schön aus, passt<br />
alles gut zusammen, gibt keinen Ausweg.<br />
Concussion findet immer wieder Bilder, um<br />
diesen Zustand sichtbar zu machen. Das ist<br />
so subtil, dass man es kaum beschreiben<br />
kann. Man muss hingehen und es anschauen.<br />
Dieser Text könnte hier zu Ende sein,<br />
so wie der <strong>Film</strong> zu Ende sein könnte, wenn<br />
Abbys Partnerin Kate merkt, wie sinn- und<br />
hoffnungsleer ihre Welt ist. Es gelingt dem<br />
<strong>Film</strong>, seinen Schauspieler_innen und seiner<br />
Regisseurin aber, einen subtilen doppelten<br />
Bo<strong>den</strong> zu installieren, der diesen ganzen<br />
heteronormativen, kapitalistischen Irrsinn<br />
weder erträglicher oder besser, da<strong>für</strong> aber<br />
verständlich macht. Das beginnt schon zu<br />
Anfang. Eine Freundin erklärt Abby, dass sie<br />
einen Beitrag <strong>für</strong> ein Elternmagazin schreibt<br />
über die Träume junger Mütter. Abby hat<br />
ihr aufgeschrieben, dass sie träumte, wie<br />
sie ihren kleinen Sohn entweder in die Mikrowelle<br />
setzte oder ihn heiratete. „My poor<br />
baby. I didn’t know whether to kill him, fuck<br />
edition salzgeber<br />
him or eat him.“ Ihre Freundin findet das<br />
unangebracht und erklärt Abby, dass sie eher<br />
an Träume dachte, in <strong>den</strong>en man vergisst sein<br />
Kind zu füttern, weil man so unter Druck<br />
steht. Abby ergibt sich in ihr Schicksal: „OK. I<br />
dreamt I forgot to feed him.“ In dieser Gesellschaft<br />
sind alle ständig auf der Suche nach<br />
Ereignissen, nach Geschichten, nach ungewöhnlichen<br />
Personen und Konstellationen.<br />
Wann immer sie eine treffen, sind sie enttäuscht,<br />
dass ihre Erwartungen von Ereignissen,<br />
Geschichten und ungewöhnlichen<br />
Personen <strong>nicht</strong> mit diesen übereinstimmen.<br />
Wenn Abby ihre Kundinnen erst auf einen<br />
Kaffee treffen möchte, sind diese zunächst<br />
mit <strong>nicht</strong>s anderem beschäftigt als dieses<br />
Treffen in die Kategorien von Date oder Sexjob<br />
einzuordnen: „But I do pay you.“ Abby ist<br />
halb schockiert und halb ernüchtert, dass es<br />
ihr <strong>nicht</strong> gelingt, die Grenzen ihres bürgerlichen<br />
Gesellschaftsmodells zu fin<strong>den</strong>. Sie ist<br />
aber wohl auch froh darüber. Am Ende sind<br />
ihre Pläne, am Wochenende die Haustür neu<br />
zu streichen, das Auto in die Werkstatt zu<br />
bringen und sich um die Sprinkleranlage zu<br />
kümmern. Was sie wirklich will? „I wanna<br />
take a hot yoga class after this.“<br />
Sie sagt das mit diesem besonderen<br />
Gesicht, das sie die ganze Zeit durch <strong>den</strong> <strong>Film</strong><br />
trägt. Es ist ein vernünftiges Gesicht: aufgeräumt,<br />
gut erhalten, angemessen dekoriert,<br />
bewegt genug, um die notwendigen Adjektive<br />
zu zeigen: amazed, happy, tired, sad, bored.<br />
Ihr Lächeln erscheint aber etwas zu schnell,<br />
der Aufschlag ihrer Augen erfolgt etwas zu<br />
automatisiert, eine empörte Mimik ist zu<br />
bereitwillig zu Hand, wenn sie gebraucht<br />
wird. Ich habe das zu oft gesehen, um noch<br />
daran glauben zu wollen. Schaut Carry<br />
Bradshaw <strong>nicht</strong> viel glücklicher, wenn sie die<br />
Skyline von Manhattan sieht? Zieht Hannah<br />
Horvath ihre Augenbrauen <strong>nicht</strong> viel lakonischer<br />
nach oben, wenn sie ihre Mitbewohnerin<br />
beim Sex auf dem Esstisch überrascht?<br />
Abby ist eine Frau, die einem <strong>nicht</strong> leid tun<br />
muss und die am Ende jede Illusion über ihr<br />
Leben verloren hat. In der letzten Einstellung<br />
schaut sie mit festem Blick in die Kamera, in<br />
ihre Zukunft. Es wird wohl ungefähr so weitergehen,<br />
strampeln auf dem Indoor-Bike,<br />
eine neue Veranda bauen, Innenräume schaffen.<br />
Die Klugheit von Concussion besteht<br />
darin, <strong>nicht</strong> <strong>den</strong> großen Ausbruch zu simulieren,<br />
sondern die Bedingungen zu schildern,<br />
unter <strong>den</strong>en wir uns so lang selbst verbessern<br />
dürfen, wie alles beim alten bleibt. Vor<br />
etwas mehr als hundert Jahren hat man sich<br />
„The Love That Dare Not Speak Its Name“<br />
als einen Ausweg vorgestellt. Nun hocken die<br />
Namenlosen in gedecktfarbigen Familienbehausungen<br />
und beobachten an sich und ihren<br />
Nächsten die wenigen sichtbaren Erschütterungen.<br />
Concussion ist das großartige Familienalbum<br />
der Erschütterten.<br />
s<br />
Ambulantes<br />
Delirium<br />
Ein Hinweis von Richard Garay<br />
s Was kann einem jungen <strong>Film</strong>emacher Besseres passieren, als auf<br />
bislang unentdecktes Material seines berühmten Künstleronkels zu<br />
stoßen – und wie wunderbar obendrei, wenn es sich um <strong>Film</strong>-, sprich:<br />
Super8-Material handelt? Cesar Oiticica Filho ist als Journalist, bil<strong>den</strong>der<br />
Künstler und Absolvent der New Yorker <strong>Film</strong> Academy das<br />
unbeschreibliche Glück passiert, dieses Material seines Onkels, des<br />
Happening-Künstlers Hélio Oticica, in die Hände zu bekommen – und<br />
damit Familien- und Kunstgeschichte gleichermaßen fortschreiben<br />
zu können.<br />
Was der Neffe mit dem grandiosen, poppigen, performativen<br />
Material macht, folgt wunderbarerweise <strong>nicht</strong> der üblichen Nachlassverwaltermentalität<br />
vieler Familienmitglieder berühmter Künstler:<br />
Er ordnet es wild und filmisch, lässt Oiticica selbst mithilfe von Tonaufnahmen<br />
zu Wort kommen, hält sich ansonsten dem Kommentieren<br />
fern und missachtet Biografie und Werkchronologie des Erfinders<br />
der Tropicalismo-Bewegung völlig.<br />
Ein derart freier Zugriff ist im Sinne des Porträtierten gedacht<br />
– ob sich dessen Kontextkunst, in der Körper <strong>nicht</strong> nur an Farben,<br />
sondern auch an Räume, soziale Ungerechtigkeiten und ein queeres<br />
Bewusstsein gekoppelt sind, tatsächlich so auf einen filmischen Raum<br />
übertragen lässt, ist die Frage.<br />
Nicht verpassen sollte man deshalb die Kinotour von Cesar Oiticica<br />
Filho mit seinem <strong>Film</strong>, mit dem Material seines Onkels im Gepäck,<br />
mit einer Frankfurter Oiticica-Ausstellung und <strong>den</strong> Fragen des Publikums<br />
– so wird sich das „ambulante Delirium“ des „brasilianischen<br />
Beuys“ in die Gegenwart übersetzen lassen.<br />
s<br />
Hélio Oiticica<br />
von Cesar Oiticica Filho<br />
BR 2012, 94 Minuten, portugiesisch-englische<br />
OF mit deutschen UT<br />
Arsenal Distribution, www.arsenal-berlin.de/distribution<br />
Im Kino Caligarifilmpreis-Tournee: 29.09. <strong>Film</strong>museum<br />
Frankfurt · 30.09. Kino Arsenal, Berlin · 07.10. Caligari<br />
<strong>Film</strong>bühne, Wiesba<strong>den</strong> · 09.10.Kinemathek Karlsruhe ·<br />
Außerdem: 04.10. <strong>Film</strong>palette Köln · Hélio-Oiticica-Retrospektive<br />
im Museum <strong>für</strong> Moderne Kunst in Frankfurt<br />
von 27. September 2013 bis 12. Januar 2014<br />
kino<br />
arsenal distribution<br />
OSCAR® PREISTRÄGER<br />
MICHAEL DOUGLAS<br />
OSCAR® PREISTRÄGER<br />
MATT DAMON<br />
GAY-FILM-<br />
NACHT-SPEZIAL<br />
am 02.10.<br />
24 sissy 19<br />
sissy 19 25
kino<br />
kino<br />
Sex,<br />
Lügen<br />
und ein<br />
weiSSer<br />
Pudel<br />
von Matthias Frings<br />
Nein, Michael Douglas wird <strong>für</strong> die Rolle<br />
seines Lebens keinen Oscar bekommen.<br />
Auch <strong>nicht</strong> Matt Damon <strong>für</strong> seine<br />
wirklich berührende Darstellung des<br />
Liberace-Liebhabers Scott. Und auch Rob<br />
Lowes todesmutiger Knallchargenauftritt<br />
als drogensüchtiger Schönheitschirurg<br />
wird es <strong>nicht</strong> in die Auswahl der besten<br />
männlichen Nebendarsteller schaffen.<br />
Denn: „Liberace – Zuviel des Guten<br />
ist wundervoll“ konnte in <strong>den</strong> USA nur<br />
als Fernsehfilm finanziert wer<strong>den</strong>, <strong>für</strong><br />
Hollywood war er „too gay“. Was <strong>nicht</strong>s<br />
oder gerade sehr viel über die Qualität<br />
dieses <strong>Film</strong>s aussagt. Wir in Europa<br />
haben es besser: Wir können jetzt im<br />
Kino schockiert zur Kenntnis nehmen,<br />
dass Liberace tatsächlich Sex hatte.<br />
s Der Star. Was <strong>für</strong> ein Schmierlappen. Dieser Mann ist die Fleischwerdung<br />
des bösen lieben Onkels, vor dem uns unsere Mütter immer<br />
gewarnt haben. Puddinggesicht mit Hakennase, ein uferloses Lächeln,<br />
auf dem man ausrutscht. Er näselt, hat zwei gebrochene Handgelenke<br />
und trägt ein glitterbestäubtes Schmalzlockentoupet. Die Vokabel<br />
„warmer Bruder“ hätte speziell <strong>für</strong> ihn erfun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong> können.<br />
Eine „one name celebrity“ – sein polnischer Vorname ist zu schwer<br />
auszusprechen – macht Liberace schon als Wunderkind auf sich aufmerksam.<br />
Er spielt exzellent Klavier, vor allem aber so schnell wie<br />
kein anderer. Bald ist er „Mr. Showmanship“, ein Superstar von <strong>den</strong><br />
Fünfzigern bis in die Achtziger, als er an <strong>den</strong> Folgen von Aids stirbt.<br />
Grell gekleidet in Pailletten-Barock inklusive Mantel aus weißem<br />
Fuchs mit Schleppe und Strass <strong>für</strong> hunderttausend Dollar („Schauen<br />
Sie genau hin, Sie haben ihn bezahlt!“), die Bühne ein multipler Orgasmus<br />
<strong>für</strong> Camp-Liebhaber, stets ein Kandelaber auf dem Klavier, hat er<br />
ausverkaufte Häuser zwischen New York und Las Vegas. Das große<br />
Bling haben <strong>nicht</strong> Äffinnen wie Paris Hilton erfun<strong>den</strong>, es war Liberace<br />
ganz allein, eine Mischung aus André Rieu und Harald Glööckler.<br />
Die Überraschung: Dieser Mann ist ein Sexsymbol, der feuchte<br />
Traum verzweifelter Hausfrauen. Schwul? Der doch <strong>nicht</strong>! „Liberace’s<br />
smile“ wird sogar in Nina Simones „My baby just cares for me“ verewigt.<br />
(George Michael ersetzte es in seiner Version durch „Ricky<br />
Martin’s smile“). Munter seiner Überzeugung folgend, dass das Publikum<br />
nur das sieht, was es sehen will, stürzt er sich nach allerlei Affären<br />
in die Beziehung mit einem Siebzehnjährigen.<br />
Man könnte die alte Geschichte vom Star und seinem Fan als Farce<br />
auf Speed erzählen, als „schrilles“ Melodram oder Tragikomödie.<br />
Nächste Überraschung: Steven Soderbergh tut <strong>nicht</strong>s dergleichen.<br />
Der Lover. Knusprig, naiv wie eine Brezel und tierlieb. Siebzehn ist<br />
<strong>nicht</strong> nur Scotts Alter, sondern als Waise hat er auch schon ebenso<br />
viele Pflegeeltern gehabt. Er arbeitet als Tiertrainer beim <strong>Film</strong>, eine<br />
schwule Barbekanntschaft nimmt ihn mit auf ein Liberace-Konzert<br />
in Las Vegas, und prompt lan<strong>den</strong> sie Backstage. Liberace ist von dem<br />
Gol<strong>den</strong> Boy entzückt. Als der auch noch <strong>für</strong>sorglich seinen Hund<br />
von einer Augenkrankheit erlöst, ist die Sache in trockenen Betttüchern.<br />
Ein weißer Königspudel als Kuppler – es könnte kein besseres<br />
Wappentier <strong>für</strong> diese Verbindung geben. Selbstre<strong>den</strong>d ist Scott vom<br />
Ruhm, der Villa, dem Geld geblendet, aber er ist weder gierig noch<br />
berechnend. Nur erstaunt wie ein Kind. Und er sucht Wärme, Nähe,<br />
Liebe.<br />
Ihre Beziehung. Von hier an könnte jeder <strong>den</strong> <strong>Film</strong> zu Ende schreiben:<br />
Eine verhängnisvolle Affäre, der falsche Glanz der Glimmerwelt, die<br />
sich als hart und schal erweist, sexuelle wie emotionale Ausbeutung,<br />
unausweichlicher Abstieg, Streit, Hass Drogen, Trennung, Erpressung.<br />
Nächste Überraschung. Soderbergh zeigt all dies. Weil es so stattgefun<strong>den</strong><br />
hat. Und zur gleichen Zeit erzählt er eine ganz andere, ganz<br />
alltägliche Geschichte. Weil er ein exzellenter Regisseur ist. Und sein<br />
Drehbuchautor verdammt originell schreiben kann. Abgesehen vom<br />
DCM<br />
ganzen Talmi, Flitter und Nippes – Liberace bezeichnet sein Haus<br />
zutreffend als „Palast-Kitsch“ – sieht man die Entwicklung einer<br />
x-beliebigen Liebesbeziehung, wie sie zwischen Männern, Frauen<br />
oder bekennen<strong>den</strong> Heterosexuellen so auch in Bad Salzuflen ablaufen<br />
könnte: Das erste Verliebtsein, die häuslichen Freu<strong>den</strong> einer sich eingrooven<strong>den</strong><br />
Zweisamkeit, das freundliche Gezänk darüber, was im<br />
Bett so alles passieren soll, der erste Streit, die ersten Freiheitsbestrebungen,<br />
Auseinandersetzungen über eine offene oder geschlossene<br />
Beziehung, Fremdgehen. Eifersucht, Trennung.<br />
Gerade weil hier alles im Las-Vegas-Format daherkommt, wird<br />
das Gewöhnliche, das Allgemeingültige dieser Beziehung zweier<br />
Menschen umso kenntlicher. Und so steht dieser <strong>Film</strong> ganz überraschend<br />
in einer Reihe mit anderen erwachsenen Werken des Queer<br />
Cinema, wo <strong>nicht</strong> mehr ausschließlich Schwulsein das Thema ist,<br />
ohne die Besonderheiten einer Liebe zwischen Männern zu leugnen.<br />
Die Darsteller. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit: Wie kann man<br />
eine flamboyante Tunte spielen, ohne in Klischees zu verfallen? Liberace<br />
selbst ist schon Klischee pur, noch einen drauflegen würde <strong>nicht</strong><br />
nur Diabetes verursachen, es wäre eine witzlose Parodie der Parodie<br />
und diskriminierend obendrein. Unterspielen geht aber auch <strong>nicht</strong>.<br />
Also greift Michael Douglas tief ins Schatzkästlein seiner Schauspielkunst.<br />
Er näselt sich absolut glaubwürdig durch Liberaces Manierismen,<br />
schlüpft mit atemberaubender Selbstverständlichkeit in seine<br />
weichen Bewegungen, präpariert die harten Seiten dieses scheinbar<br />
so leichtgewichtigen Mannes deutlich heraus. Alles ohne die großkotzige<br />
Selbstgefälligkeit, die so viele heterosexuelle Darsteller schwuler<br />
Charaktere an <strong>den</strong> Tag legen. Vor allem aber fügt er seiner Figur<br />
etwas Essentielles hinzu – die nächste Überraschung: Wärme, Liebenswürdigkeit,<br />
Charme. Da kann jemand Anteil nehmen, ist besorgt,<br />
liebevoll, aufmerksam. Gol<strong>den</strong>es Herz und eiserner Wille, er nimmt<br />
und gibt großzügig.<br />
Michael Douglas spielt schlafwandlerisch sicher, ein Augenaufschlag<br />
zu viel, eine ehrliches Lächeln zu wenig – und schon würde die<br />
Chose zusammenschrumpfen auf einen Käfig voller Narren.<br />
Matt Damon ist <strong>nicht</strong> zu benei<strong>den</strong>. Nicht nur, dass der Zweiundvierzigjährige<br />
sich verständlicherweise schwer tut, einen Siebzehnjährigen<br />
glaubwürdig darzustellen – Verbeugung vor der Kunst der<br />
Maskenbildner, Beleuchter und Fitnesstrainer – er muss auch mit seiner<br />
Boy-next-door-Rolle neben dem exzentrischen Mr. Überlebensgroß<br />
bestehen.<br />
Ganz ohne Arg legt er ihn an, ein wirklich netter Junge, eher zum<br />
Knuddeln als zum Ficken. Doch während dieser junge Mann langsam<br />
Blut leckt, Spaß findet an Ruhm, Geld und Drogen und sich trotz der<br />
Seitesprünge seines vierzig Jahre älteren Lovers an diese Beziehung<br />
klammert, rückt er immer stärker ins Zentrum des Geschehens. Eine<br />
Coming-of-Age-Story in Cinemascope. Auch bei Damon wirkt das<br />
Spiel leichtfüßig, ganz selbstverständlich. Und die Liebhaber draller<br />
Jungmännlichkeit kommen auch noch auf ihre Kosten.<br />
Die Regie. Das Buch. Welcher Regisseur würde sich diesen quietschbunten<br />
Tuschekasten entgehen lassen, die dicken Goldringe, <strong>den</strong><br />
verspiegelten Rolls Royce, Palmen, Pool und lebensgroße Leopar<strong>den</strong><br />
aus Porzellan? „Ludwig II. war der Liberace von Bayern“, sagt einmal<br />
ein Gast. Völlig zu recht. Doch inmitten dieser herrlich schwülstigen<br />
Kulissen legt Soderbergh die Struktur einer intimen Verbindung frei.<br />
Während die großen Showszenen in feurigem Rot und königlichem<br />
Blau gehalten sind, schafft er <strong>für</strong> die Privatwelt der bei<strong>den</strong> Männer<br />
eine Art ästhetischen Schutzraum. Dazu operiert er mit Licht, setzt<br />
die Lieben<strong>den</strong> zwischen Tisch und Bett sonnengelb und im flaumigsten<br />
Apricot ins Bild. Konsequenterweise fin<strong>den</strong> sich die gleichen Farben<br />
auch auf der Farm von Scotts Adoptiveltern. Die Wärme der Farben<br />
zeigt an, dass hier zwei trudelnde Seelen Nähe und Halt suchen,<br />
letztendlich so etwas wie eine Familie.<br />
Soderbergh liebt seine Schauspieler und lässt ihnen viel Raum <strong>für</strong><br />
die Entwicklung all der kleinen Zeichen, die eine Beziehung charakterisieren.<br />
Wie sie gemeinsam vor der Glotze hocken, sich gemütlich<br />
streiten und streicheln, das erzählt er mit konzentrierter Beiläufigkeit.<br />
Es wird viel geküsst in diesem <strong>Film</strong>. Während die bei<strong>den</strong> über<br />
Schwulsein, Bisexualität und Gott diskutieren, vergisst man hin und<br />
wieder, dass hier Michael Douglas unter Matt Damon liegt, ihm Poppers<br />
anbietet und im Hintergrund auf dem Videorecorder ein schwuler<br />
Hardcoreporno läuft.<br />
Die Kamera ist äußerst aufmerksam, registriert fast eifersüchtig<br />
je<strong>den</strong> Blick, jede Geste des Paares. Erst als Scott durch die „Diätpillen“<br />
eines Schönheitschirurgen süchtig wird, ändern die Farben sich,<br />
und die Kamera agiert beweglicher, hektischer, jünger. Nur zweimal<br />
erlaubt der <strong>Film</strong> sich einen Ausflug in die Farce: Rob Lowe legt als<br />
drogensüchtiger, flachgelifteter Chirurg ein schreiend komisches<br />
Kabinettstückchen hin, und wenn Liberace und Scott einen nächtlichen<br />
Ausflug in ein schmuddeliges Homo-Pornokino riskieren (in<br />
bo<strong>den</strong>langen weißen Pelzmänteln!), zeugt das <strong>nicht</strong> nur von Milieukenntnis,<br />
sondern lässt in seiner deftigen Komik auch erahnen, wie<br />
bedrückend ein Leben im Schrank <strong>für</strong> einen großen Star sein muss.<br />
Der <strong>Film</strong> lässt sich Zeit, wirkt nie gehetzt, doch hinter dem lässigen<br />
Tempo arbeitet ein präzise schnurrendes dramaturgisches<br />
Räderwerk. Drehbuchautor Richard LaGravenese (The Fisher King,<br />
The Bridges of Madison County) baut die Story äußerst ökonomisch.<br />
Für je<strong>den</strong> biographischen oder charakterlichen Aspekt seiner Figuren<br />
benötigt er exakt eine Szene. Er schreckt <strong>nicht</strong> vor <strong>den</strong> weniger<br />
sympathischen Seiten seiner Protagonisten zurück, hellt sie aber<br />
immer wieder durch pointierte und witzige Dialoge auf. Ein paar deftige<br />
Zitate <strong>für</strong> die <strong>Film</strong>geschichte sind allemal drin. Er nimmt <strong>nicht</strong><br />
Partei und weiß wie jeder gute Drehbuchschreiber, dass das Beste<br />
und das Verabscheuungswürdigste im menschlichen Verhalten nahe<br />
beieinander liegen.<br />
Die schwule Mafia. Welche schwule Mafia? In Hollywood wird gerne<br />
darüber spekuliert, wie die Homos sich gegenseitig stützen und<br />
ihre Agenda durchbringen. Schön wär’s. Dass es sie leider <strong>nicht</strong> gibt<br />
beweist die Produktionsgeschichte dieses <strong>Film</strong>s. Da hat man einen<br />
berühmten Regisseur, zwei Weltstars als Zugpferde, die sahnige<br />
Lebensgeschichte eines Mannes, <strong>den</strong> jedes Kind in <strong>den</strong> USA kennt –<br />
und doch scheiterten jahrelang alle Bemühungen, <strong>den</strong> Stoff zu finanzieren.<br />
Vergleichsweise läppische 23 Millionen Dollar waren aufzubringen,<br />
doch sie kamen <strong>nicht</strong> zusammen. Begründung: zu schwul!<br />
Und so erweist sich nebenbei die These, Brokeback Mountain habe im<br />
Mainstreamkino einige Türen <strong>für</strong> schwule Themen aufgestoßen, als<br />
Wunsch<strong>den</strong>ken.<br />
Schließlich griff der Kabelsender HBO zu. Dass Soderbergh seinen<br />
ersten <strong>Film</strong> auf der großen Leinwand in Cannes präsentierte und<br />
seinen letzten <strong>für</strong> das Fernsehen realisierte (in Europa läuft der <strong>Film</strong><br />
allerdings im Kino), zeigt ungewollt, wie sich die Gewichte zwischen<br />
dem ideenmü<strong>den</strong> Hollywood und einem quicklebendigen Fernsehen<br />
verlagert haben.<br />
Bei seiner TV-Ausstrahlung holte Behind the Candelabra die besten<br />
Quoten <strong>für</strong> <strong>den</strong> Sender seit 2004. Bye, bye Hollywood. s<br />
Liberace –<br />
Zu viel des Guten ist wundervoll<br />
von Steven Soderbergh<br />
US 2013, 119 Minuten, deutsche SF<br />
und englische OmU<br />
DCM Distribution, www.dcmworld.com<br />
Im Kino ab 3. Oktober 2013<br />
www-liberace-derfilm.de<br />
Vorab bereits im Gay-<strong>Film</strong>nacht-Special<br />
am 2. Oktober 2013 · Teilnehmende<br />
Kinos unter www.Gay-<strong>Film</strong>nacht.de<br />
26 sissy 19 sissy 19 27
kino<br />
kino<br />
Berlin<br />
Mystery<br />
Tour<br />
von Jochen Werner<br />
Auf englisch mit spanischer Akzentfärbung fragt sich<br />
ein selbstvergessener Partytourist zu <strong>den</strong> Berliner Raves<br />
durch. Und gerät dort in eine Geschichte mit doppelten<br />
Tanzbö<strong>den</strong> und in <strong>den</strong> Podcast eines schon lange <strong>nicht</strong><br />
mehr abgelösten DJs. Stefan Westerwelles und Patrick<br />
Schuckmanns Easyjet-Thriller findet aber, allen Szenemü<strong>den</strong><br />
und Hipsternörglern zum Trotz, immer wieder zu Bildern,<br />
in <strong>den</strong>en Sehnsucht und Atmosphäre ganz <strong>für</strong> sich stehen.<br />
s So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher<br />
meinen, es stürbe sich hier. Berlin, das kann ein Fegefeuer sein und<br />
ein Mahlstrom, und <strong>den</strong>, der unvorbereitet hineingerät, <strong>den</strong> schluckt<br />
es mit Haut und Haar und lässt es nie wieder los. Der süße Spanier<br />
Luis (Fernando Tielve) meint genau zu wissen, was er von der Stadt<br />
will. Als klischeetrunkener Partytourist stolpert er in die Clubszene<br />
hinein, um dort Spaß, Drogen, Sex, Ekstase zu fin<strong>den</strong> – Balsam, um<br />
<strong>den</strong> Schmerz der Trennung von seinem Exfreund Carlos zu lindern.<br />
Vom Flughafenterminal direkt auf die Tanzfläche schneidet Regisseur<br />
Stefan Westerwelle schon im Vorspann von Lose Your Head,<br />
auch wenn Luis dort noch <strong>nicht</strong> angekommen ist. Das von violettrosa<br />
fluoreszierendem Licht gestreichelte und von kristallin pulsieren<strong>den</strong><br />
Elektrobeats untermalte Treiben auf dem Dancefloor braucht ihn<br />
<strong>nicht</strong>, braucht im Grunde nieman<strong>den</strong>, es scheint sich fast unabhängig<br />
von <strong>den</strong> Individuen zu ereignen, aus <strong>den</strong>en es sich zusammensetzt.<br />
Eine fluide Substanz, in die man hinein- und aus der man wieder herausgleitet,<br />
ohne dass sich an ihrer Beschaffenheit etwas ändert. Eine<br />
Party, die vergisst, wie das Zuendegehen funktioniert.<br />
Luis ist aber noch <strong>nicht</strong> Teil des rosafarbenen Traums vom Glück.<br />
Seine Farbe ist ein etwas beißendes Grün, manchmal auch ein Nachtblau,<br />
das etwas Tod mit sich trägt. Im Grün aber trifft er auf <strong>den</strong> mysteriösen<br />
Ukrainer Viktor (Marko Mandic), und auch wenn ihn eine<br />
schöne blonde Weiblichkeit (Samia Muriel Chancrin) mit sich zieht,<br />
zunächst ins Pink, dann ins Sonnenlicht und schließlich in ihre Wohnung<br />
und ihr Bett, wo dann freilich aus physiologischen Grün<strong>den</strong><br />
schnell Schluss ist mit all dem queeren Hedonismus. Zwischen Carlos<br />
und Viktor passt hier keine Grit, und der einigermaßen zugedröhnte<br />
Luis wird kurzerhand in der verschlossenen Wohnung zurückgelassen,<br />
während die Clique, die ihn kurzzeitig umspülte, zur nächsten<br />
After-Hour weiterzieht. Nur ein schwarzer Kater bleibt zurück, als<br />
die Feuerwehr <strong>den</strong> Eingesperrten befreit,<br />
und im Kater Holzig, am pastellbunten Fotoautomaten,<br />
taucht schließlich Viktor wieder<br />
auf. Man landet auf der sonnenbeschienenen<br />
Tanzfläche, dann im Fluss und schließlich<br />
im Bett – diesmal im richtigen. Die bei<strong>den</strong><br />
verbringen die Nacht miteinander, und ein<br />
gemeinsames Frühstück macht aus einem<br />
One-Night-Stand eine Liebesgeschichte.<br />
Von diesem Moment an möchte Lose Your<br />
Head mehr sein als ein Berlinfilm, als ein<br />
Clubfilm, ein Elektropopfilm. Schade eigentlich.<br />
Denn seine schönsten Momente hat der<br />
zweite Spielfilm von Stefan Westerwelle –<br />
einem jungen <strong>Film</strong>emacher, der vor allem mit<br />
dem wundervollen Dokumentarfilm Detlef<br />
eine beeindruckende Talentprobe vorlegte –<br />
in jenen Augenblicken, in <strong>den</strong>en er ganz bei<br />
sich ist, in <strong>den</strong>en er <strong>nicht</strong>s erzählen zu müssen<br />
glaubt und sich ganz in atmosphärischen<br />
Momentaufnahmen verliert. Das Herumhängen<br />
nach einer viel zu langen Clubnacht,<br />
die drogengeschwängerten Gespräche dieser<br />
schier endlos sich zerdehnen<strong>den</strong> Zeit, rastlos<br />
zwischen Philosophie, Anekdote und Nonsens<br />
oszillierend, die weichwattige, rosafarbene<br />
Gedämpftheit dieser langen Tage, die<br />
nur <strong>für</strong> die Anderen wirklich Tage sind – in<br />
diese Momente hätte man sich mühelos zwei<br />
Stun<strong>den</strong> wohlig hineinkuscheln können, sich<br />
pro-fun media<br />
mit ihnen zudecken und hoffen, dass es nie<br />
wieder anders wird. Aber Lose Your Head hat<br />
auch etwas zu erzählen.<br />
An der Oberfläche der reinen Plotmechanik<br />
ist Westerwelles und Schuckmanns <strong>Film</strong><br />
ein recht klassisch konstruierter Mystery-<br />
Thriller: ein Geheimnis um eine abwesende,<br />
enigmatische Figur, die vielleicht tot ist, ein<br />
Liebhaber, der vielleicht ein Mörder ist, und<br />
eine unerzählte Geschichte, die mit Macht<br />
ans Licht des Tages und der Erkenntnis<br />
drängt. Die Geschichte eines Fin<strong>den</strong>s, oder<br />
Wiederfin<strong>den</strong>s, einer Wahrheit also. Eine<br />
Wahrheit freilich, die weder besonders originell<br />
noch besonders interessant ist – wesentlich<br />
mehr Faszinationskraft entwickelt<br />
Lose Your Head, wenn man seine narrative<br />
Camouflage in eine Tiefenstruktur hinein<br />
durchstößt und die, unterhalb des Radars,<br />
stets miterzählte Geschichte eines umfassen<strong>den</strong><br />
Verlustes verfolgt. Denn bevor er seinen<br />
Kopf zu verlieren droht, muss Luis zahlreiche<br />
ganz konkrete Verluste hinnehmen.<br />
Zuerst vermisst der junge Spanier, schon<br />
nach seiner ersten Berliner Clubnacht, lediglich<br />
seine Mütze, doch bald schon muss auch<br />
sein Kopfhaar dran glauben. Viktor gestaltet<br />
seine verwuschelten Haare zu einem militärisch<br />
ausrasierten Szene-Schnitt um – der<br />
unbedarfte Luis wird Schritt <strong>für</strong> Schritt zum<br />
stylish uniformierten Berlin-Hipster umgestaltet.<br />
Fast wie Kim Novak in Hitchcocks<br />
Vertigo gerät hier ein Mensch in die Mühle<br />
der Bilder, nach <strong>den</strong>en man ihn formen will,<br />
und setzt beim Versuch, diese Stadt zu umarmen,<br />
seine Souveränität als Individuum aufs<br />
Spiel. Der Preis, <strong>den</strong> man <strong>für</strong> die Hipness zu<br />
zahlen hat, so scheint alles in Lose Your Head<br />
zunächst zu schreien – ein Fanal gegen die<br />
Stilfaschismen der Subkulturen? Gegen die<br />
Mainstreams der Minderheiten, ihre Nivellierungen<br />
und Dresscodes?<br />
Ein aufregender, kritischer und subversiver<br />
Ansatz wäre das <strong>für</strong> einen so offensiv<br />
mit touristischem Gestus kokettieren<strong>den</strong><br />
schwulen Szenefilm wie diesen, und zwischen<br />
<strong>den</strong> Sequenzen und Bildern blitzt er<br />
auch in der Tat je<strong>den</strong>falls momenthaft immer<br />
wieder einmal auf. Lose Your Head lässt sich<br />
durchaus lesen als eine subtile und doch beißende<br />
Kritik an exakt jener schon ein wenig<br />
abgegriffenen Berliner Nachtleben-Ästhetik,<br />
die er offen aufgreift und bedient. Wenn er<br />
nur <strong>nicht</strong> so umständlich gebaut wäre, und<br />
wenn er nur seine spannen<strong>den</strong> Subtexte<br />
<strong>nicht</strong> fortwährend unter schnödem Plot<br />
verstecken würde. Denn in dem Moment, in<br />
dem das Geheimnis endlich in das Drehbuch<br />
von Patrick Schuckmann eintritt, beginnt<br />
nahezu alles andere sich, wie von magnetischer<br />
Kraft angezogen, um dieses zentrale<br />
Mysterium zu gruppieren. Es ist dann, wie<br />
es in vielen <strong>Film</strong>en ist: Für die wirklich interessanten<br />
Dinge bleibt kein Platz mehr, sich<br />
zu ereignen, wenn der Erzählapparat erst<br />
einmal angeworfen wird. Man kann dann<br />
Lose Your Head beim Zerbrechen zuschauen<br />
– aber unter dieser abgestreiften Außenhaut<br />
kommt ein interessanterer <strong>Film</strong> zum Vorschein.<br />
Zunächst aber versklavt er sich, nach<br />
dem erfreulich entspannten Auftakt, <strong>für</strong> eine<br />
ganze Weile an das Erzählen: Luis gerät an<br />
Elena, die ihn mit ihrem spurlos verschwun<strong>den</strong>en<br />
Bruder Dimitri verwechselt – kein<br />
Wunder, trägt er doch dessen Frisur und dessen<br />
T-Shirt. „There must be thousands of stupid<br />
shirts like this“, so stellt Elena resigniert,<br />
aber treffend fest, und aus dem etwas naiven<br />
Partytouristen Luis ist einer gewor<strong>den</strong>, der<br />
in Reih und Glied der Hipsterbrigade marschiert<br />
und dessen T-Shirt ihn als einen Niemand<br />
unter Tausend abstempelt. Einen Niemand<br />
aber, der einem Geheimnis nachspürt<br />
und dabei letztlich vor allem deshalb hinab<br />
in <strong>den</strong> Kaninchenbau steigt, um um seine<br />
eigene I<strong>den</strong>tität zu ringen.<br />
Bald drängen sich zahlreiche Fragen um<br />
<strong>den</strong> Abwesen<strong>den</strong> auf: Handelt es sich bei<br />
Dimitri etwa um die enthauptete Leiche,<br />
die kürzlich aus der Spree gefischt wurde?<br />
Oder aber doch um <strong>den</strong> Straßenräuber, der<br />
Luis beim eher kläglich gescheiterten Cruising-Versuch<br />
niederschlägt und abzieht?<br />
Die Fotos und Erinnerungsstücke Dimitris,<br />
die Luis beim heimlichen Stöbern in Viktors<br />
Wohnung entdeckt, deuten je<strong>den</strong>falls darauf<br />
hin, dass Viktor tiefer in dessen Verschwin<strong>den</strong><br />
verstrickt ist, als er zuzugeben bereit ist,<br />
und gemeinsam mit Elena versucht Luis, der<br />
Wahrheit auf die Spur zu kommen. Aber eine<br />
Wahrheit, wie muss man sich die eigentlich<br />
vorstellen in dieser Berliner Nachtwelt? Und<br />
hat sie, wenn sie sich doch immer nur auf<br />
Einzelschicksale bezieht, <strong>für</strong> das im pinkfarbenen<br />
Licht tanzende Kollektiv überhaupt<br />
irgendeine Bedeutung? Zwischenzeitlich<br />
je<strong>den</strong>falls beginnt sich der <strong>Film</strong> zu<br />
verdichten, auf einen Showdown hin, und<br />
dann stirbt auch tatsächlich jemand, aber<br />
schlussendlich tut das alles <strong>nicht</strong>s zur Sache.<br />
Alle Protagonisten, die auf <strong>den</strong> Spuren eines<br />
Berliner Mysteriums durch <strong>den</strong> <strong>Film</strong> irrten,<br />
fin<strong>den</strong> sich am Ende auf diesem violettrosa<br />
Dance floor wieder. Und der Tod wird einfach<br />
außer Kraft getanzt.<br />
s<br />
Lose Your Head<br />
von Stefan Westerwelle<br />
und Patrick Schuckmann<br />
DE 2013, 98 Minuten, deutsche OF<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino ab 19. September 2013<br />
28 sissy 19 sissy 19 29
kino<br />
Bilder, die sprechen,<br />
wenn man sie lässt<br />
kino<br />
Silent Youth<br />
von Diemo Kemmesies<br />
DE 2012, 73 Minuten, deutsche OF<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino ab 17. Oktober 213<br />
Auf DVD ab 22. Oktober 213<br />
von Toby Ashraf<br />
Diemo Kemmesies stellt in seinem Spielfilm „Silent Youth“ zwei junge Männer ins Zentrum des Berliner<br />
Szenetrubels, schneidet sie dann aber so aus, als seien sie allein auf der Welt. Ganz langsam baut sich ihre<br />
Beziehung auf, ganz präzise ist das eingefangen. Eine Einladung zum sprachlosen Mitdriften.<br />
Edition Salzgeber<br />
s Es liegt ein ungemeiner Reiz darin, Menschen beim Schweigen<br />
zuzugucken. Das klingt in Worten ausgedrückt <strong>nicht</strong> sonderlich aufregend,<br />
doch glücklicherweise ist <strong>Film</strong> in erster Hinsicht ein visuelles<br />
Medium, dessen Sprache das Bild ist. Da sitzen also zwei junge<br />
Männer nebeneinander und schweigen sich an. Manchmal gehen sie<br />
nebeneinander her oder stehen irgendwann ziemlich unvermittelt<br />
nackt nebeneinander in der Dusche. Irgendwie ist klar, dass ihr Kennenlernen<br />
<strong>nicht</strong> über Sprache funktioniert – ab und zu mal ein paar<br />
Worte, ein kurzer verbaler Austausch, eine pragmatische Kommunikation<br />
– der Rest sind Blicke und Körpersprache.<br />
Schon die erste Begegnung von Marlo und Kirill deutet an, dass<br />
eine flüchtige Berührung und ein kurzer, wortloser Augenblick genügen,<br />
um zwei Menschen zu verbin<strong>den</strong>. So zufällig wie die Hand des<br />
einen die des anderen im Vorbeigehen streift ist auch das zweite Wiedersehen<br />
am S-Bahnhof, wo Kirill Marlo überraschend fragt, ob er<br />
„schon mal was mit Typen hatte“. Viel geredet wird nur am Küchentisch<br />
der Berliner WG, in der Marlo, Maschinenbaustu<strong>den</strong>t aus<br />
Lübeck, kurzzeitig wohnt, weil er eine Freundin besucht. Da geht es<br />
dann um physikalische Brechungsgesetze, um Statistiken und Zahlen<br />
und man merkt, dass Marlo in dieser Welt der Naturwissenschaften<br />
mehr zu Hause ist als in der Welt des Zwischenmenschlichen.<br />
Die Begegnung mit dem jungen Kirill, der – selbst noch Kind –<br />
schon Vater ist, läuft dann auch entgegen aller Gesetze der Wahrscheinlichkeit.<br />
Mitten in <strong>den</strong> Hauptschlagadern der Großstadt,<br />
zwischen Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln, steht plötzlich<br />
die Zeit still, und ein kurzer Abendspaziergang durch die Straßen<br />
Berlins endet im Morgengrauen auf einer fast menschenleeren Warschauer<br />
Straße. Auf seine Wunde im Gesicht angesprochen, erzählt<br />
Kirill, dass er in Russland zusammengeschlagen wurde. Er ist mit ein<br />
paar Männern trinken gegangen und ist dann ohne Hose und blutüberströmt<br />
in einem Fahrstuhl aufgewacht. Das ist <strong>nicht</strong> gerade die<br />
Art von Information, die man mal eben mit einem Unbekannten teilt,<br />
der einem durch die Nacht gefolgt ist, aber es zeigt, dass da jemand<br />
schnell und auf ungewöhnliche Weise Vertrauen aufbauen will.<br />
Kirill ist ein mysteriöser Einzelgänger, der es seiner Umwelt <strong>nicht</strong><br />
leicht macht, ihn zu durchschauen. In seinem kindlichen Gesicht<br />
spiegelt sich eine unerklärte Traurigkeit, die ihn verletzlich, aber<br />
auch unnahbar wirken lässt. Sein Körper und sein Wesen entsprechen<br />
<strong>nicht</strong> der Vorstellung von „Mann“, die die Mutter seines Kindes<br />
hat, und er selbst entspricht <strong>nicht</strong> dem, was andere von ihm erwarten.<br />
Marlo hingegen, der gar <strong>nicht</strong> wusste, dass er auf der Suche war, findet<br />
in Kirill etwas, das er <strong>nicht</strong> mehr loslassen möchte.<br />
Regisseur Diemo Kemmesies erzählt in seinem <strong>Film</strong>arche-<br />
Abschlussfilm Silent Youth sehr einfühlsam und außeror<strong>den</strong>tlich stilsicher<br />
von einer Ausnahmesituation, in der sich zwei Menschen trotz<br />
ihrer Sprachlosigkeit einander annähern. Viele Fragen wer<strong>den</strong> entweder<br />
<strong>nicht</strong> gestellt oder bleiben unbeantwortet, <strong>nicht</strong> nur zwischen<br />
<strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Protagonisten dieser leisen Liebesgeschichte, sondern<br />
auch innerhalb der Geschichte des <strong>Film</strong>s selbst. Biographien sind hier<br />
angedeutet, aber <strong>nicht</strong> ausformuliert, Reaktionen bleiben unvorhersehbar,<br />
und an klassischen Figurenmotivationen oder Psychologisierungen<br />
hat Diemo Kemmesies dankbarer Weise keinerlei Interesse.<br />
Dass Bilder <strong>für</strong> sich sprechen können, wenn man sie lässt, und Worte<br />
oft am schönsten sind, wenn sie verstummen, glauben leider immer<br />
noch viel zu wenige <strong>Film</strong>emacherInnen. Es gehört viel Genauigkeit<br />
und noch mehr Mut dazu, mit wenig Sprache viel zu erzählen und<br />
sich dabei zudem einer bekannten Grundidee zu bedienen, die sich<br />
auf zwei Figuren und ein eventuelles Coming-Out beschränkt.<br />
Das Thema ist <strong>nicht</strong> neu, wird aber in letzter Zeit im deutschen<br />
<strong>Film</strong> mit außergewöhnlichem Gespür <strong>für</strong> Milieus und untypischen<br />
Figuren erfrischend neu und einfühlsam erzählt. In Stadt Land Fluss<br />
(2011) von Benjamin Cantu sind es zwei junge Lehrlinge auf einem<br />
Landwirtschaftsbetrieb in Bran<strong>den</strong>burg, die zaghaft zueinander fin<strong>den</strong>.<br />
In Tim Staffels Westerland (2012) begegnen sich mit Cem und<br />
Jésus zwei ungleiche junge Männer zwischen <strong>den</strong> glanzlosen Hochhäusern<br />
auf dem winterlichen Sylt. Silent Youth hingegen spielt in <strong>den</strong><br />
sogenannten Szenebezirken Berlins, lässt dabei aber jede Form von<br />
Hype und touristischer Faszination außen vor. Hier geht es <strong>nicht</strong> um<br />
die tausendfach wiederholten Bilder einer schrecklich angesagten<br />
Metropole, sondern um die filmische Neuentdeckung von Orten, die<br />
Marlo und Kirill sich fernab der Menschenströme erschließen. Wenn<br />
die bei<strong>den</strong> im Gras des Tempelhofer Flugfelds liegen, glaubt man, sie<br />
wären weit weg, machten etwa Pause auf einer abgelegenen Bergwiese,<br />
<strong>nicht</strong> jedoch auf dem Rollfeld des stillgelegten Stadtflughafens.<br />
Der Fernsehturm, an dessen Darstellung in der Regel lediglich <strong>Film</strong>emacherInnen<br />
Interesse haben, die Berlin als Kulisse, <strong>nicht</strong> aber als<br />
Lebensraum begreifen, kommt in Silent Youth nur in einer morbi<strong>den</strong><br />
Anekdote Marlos vor. Die Schauplätze des <strong>Film</strong>s sind fast ausschließlich<br />
Transiträume. Es sind S- und U-Bahnhöfe, Hauptverkehrsstraßen<br />
und Brücken, also Orte des Reisens, des Weiterkommens und des<br />
Umsteigens. Marlo und Kirill bewegen sich zwar ständig im öffentlichen<br />
Raum, ihre Fahrten und Gänge wirken aber wenig zielgerichtet<br />
und sind eher von einer inneren Suche als von einem klaren Bestimmungsort<br />
geprägt.<br />
Überhaupt wirkte Berlin selten geheimnisvoller und entkoppelter<br />
als in <strong>den</strong> Einstellungen von Kameramann Albrecht von Grünhagen.<br />
Seine Bilder arbeiten mit geringer Schärfentiefe und legen <strong>den</strong> Fokus<br />
dabei immer auf die Figuren, während die Stadt im Hintergrund verschwimmt.<br />
Oft erinnert diese Fotografie in ihrer Schönheit an die<br />
Arbeit Reinhold Vorschneiders, der es schon in Angela Schanelecs<br />
Mein langsames Leben schaffte, unmagischen Orten wie der Friedrichstraße<br />
eine Poesie zu verleihen, die sie hier zurückbekommt.<br />
Mit einer erhöhten Totalen sehen wir in Silent Youth vom S-Bahnhof<br />
auf die Friedrichstraße hinab und wundern uns über die Länge<br />
der Sequenz, bis wir in diesem Suchbild schließlich Marlo und Kirill<br />
entdecken, die langsam und beinahe ungeachtet des Verkehrs über<br />
die Straße schlendern. Ganz zum Schluss befin<strong>den</strong> wir uns im Inneren<br />
des Bahnhofs und sehen ein verschleiertes Bild, dessen bewegte<br />
Punkte wir gerade noch als Passanten erahnen können. Langsam<br />
zieht die Schärfe an und die reisen<strong>den</strong> Großstädter wer<strong>den</strong> genauso<br />
deutlich sichtbar wie die skeletthaften Strukturen der Bahnhofsüberdachung.<br />
Das Spiel mit der Unschärfe lässt sich im <strong>Film</strong> auf seine bei<strong>den</strong><br />
Hauptfiguren übertragen, deren Konzentration trotz der konstanten<br />
Flut an Reizen und neuen Impulsen nur aufeinander zu liegen<br />
scheint. Alles um sie herum verschwimmt, ihre Hintergründe bleiben<br />
unscharf.<br />
Silent Youth eröffnet durch seine Bildsprache Seh- und Denkräume,<br />
die keiner Worte mehr bedürfen. Dass die Beziehung zwischen<br />
Marlo und Kirill dabei glaubwürdig bleibt, ist <strong>den</strong> wunderbaren<br />
Schauspielern Martin Bruchmann und Josef Mattes zu verdanken.<br />
Beide schaffen es allein durch kurze Blicke und subtile Gesten, die<br />
Unsicherheiten und Zweifel, Fragen und Probleme ihrer Figuren<br />
durch <strong>den</strong> <strong>Film</strong> zu transportieren.<br />
Durch das vorsichtige Spiel der bei<strong>den</strong> und die zurückgenommene<br />
Inszenierung baut sich langsam eine Spannung auf, die sich<br />
dann besonders effektiv entlädt, wenn Marlo und Kirill ihre Schutzpanzer<br />
ablegen und Gefühle zulassen.<br />
Auch diese Momente sind dann Momente des Schweigens, auch<br />
hier wird <strong>nicht</strong>s ausgesprochen oder erklärt, analysiert oder diskutiert.<br />
Stattdessen bewegen sich zwei junge Männer aufeinander zu,<br />
umkreisen sich und laufen nebeneinander her. Sie driften durch eine<br />
Stadt, deren Reize sie <strong>nicht</strong> wahrnehmen und machen sich dabei auf<br />
die Suche nach sich selbst. Ob sie dabei erfolgreich sind, können wir<br />
nur erkennen, wenn wir am Ende ganz genau hingucken. s<br />
30 sissy 19 sissy 19 31
kino<br />
kino<br />
Geschichten<br />
und Geschichte<br />
von Ringo Rösener<br />
Nachdem bereits „Unter Männern – Schwul in der DDR“<br />
versucht hat, <strong>den</strong> kaum dokumentierten schwulen Alltag in<br />
der DDR zu rekonstruieren, greifen Jochen Hick und Andreas<br />
Strohfeldt das Thema erneut auf und bringen erstmals auch<br />
die Situation von Lesben in ihre Erzählung ein. Ringo Rösener,<br />
einer der bei<strong>den</strong> Regisseure von „Unter Männern“, gibt einen<br />
Einblick in die besondere Problemlage dieses Dokumentarfilm-<br />
Sujets und hebt die Besonderheiten von „Out in Ost-Berlin –<br />
Lesben und Schwule in der DDR“ hervor.<br />
s Für mich bedeutet <strong>Film</strong>emachen in erster Linie, eine Geschichte<br />
in bewegten Bildern zu erzählen – also ein movie zu drehen, wie es<br />
aus dem Englischen ableitbar wäre. Deshalb scheint mir auch das Herz<br />
eines <strong>Film</strong>s seine Bildergeschichte zu sein. Natürlich ist das eine etwas<br />
flache, vielleicht sogar naive Einstellung zum <strong>Film</strong>, aber sie hilft doch,<br />
um mit dem <strong>Film</strong>emachen zu beginnen. Daneben gibt es zahlreiche<br />
andere Formate <strong>nicht</strong>-narrativer <strong>Film</strong>e, die trotz allem movies sind,<br />
aber zumeist doch etwas anderes wollen. Vielleicht etwas aufzeigen,<br />
was man sonst <strong>nicht</strong> so einfach sieht, oder über etwas informieren. Das<br />
ist jedoch meines Erachtens kein genuines Erzählen mehr.<br />
Der Dokumentarfilm scheint hierbei ein Schwellenprodukt zu<br />
sein, <strong>den</strong>n er befindet sich genau auf der Grenze zwischen Information<br />
aus Bildern und einer Erzählung in Bildern. Er versucht <strong>den</strong><br />
Spagat zwischen unserer alltäglichen und zufälligen Wirklichkeit<br />
und einer narrativen und bewussten Erzähldramaturgie des <strong>Film</strong>s.<br />
Dabei wandelt er das, was in unserer wirklichen Welt geschieht oder<br />
geschah, in eine künstliche visuelle <strong>Film</strong>welt um. So wird mitunter<br />
das Fin<strong>den</strong> und Organisieren – das Montieren – der Bilder aus der<br />
Wirklichkeit zur Hauptaufgabe des Dokumentarfilmers.<br />
Nun steht insbesondere der Dokumentarfilm, der sich der Vergangenheit<br />
zuwendet, vor einem Problem. Er muss dieses Vergangene,<br />
und das bedeutet zumeist Verschwun<strong>den</strong>es, in eine filmische<br />
Form bringen. Dabei versucht er, über eine längst <strong>nicht</strong> mehr existierende<br />
Zeit mehr zu erfahren, und gleichzeitig, diese so lebendig wie<br />
möglich in seiner Erzählung darzustellen. Oft sind es hierbei ProtagonistInnen,<br />
die dem narrativen Dokumentarfilm zum Leben verhelfen.<br />
Aber erst Fotos, Archivaufnahmen und vieles mehr aus der Zeit, von<br />
der man erzählen will, übertragen deren Geschichten ins <strong>Film</strong>ische.<br />
Was hat das alles mit einem Dokumentarfilm über Schwule und<br />
Lesben in der DDR zu tun, um <strong>den</strong> es hier eigentlich gehen soll? Im<br />
Gegensatz zu anderen Dokumentarfilmsujets ist es oft viel schwerer,<br />
einen <strong>Film</strong> über die Vergangenheit homosexuellen Lebens zu drehen,<br />
da die verfügbaren zeithistorischen Dokumente per se <strong>nicht</strong>s Homosexuelles<br />
zeigen. Denn was verboten war oder verschwiegen wurde,<br />
ist natürlich <strong>nicht</strong> kulturell und eher selten bildlich überliefert. Und<br />
gerade da, wo ein Staat viele Wege des Dokumentierens über Monopolisierungen<br />
(oder Verstaatlichungen) kontrolliert, zögert man vielleicht<br />
schon aus Selbstschutz, verdächtige Dokumente herzustellen.<br />
Für ein bebildertes Lesben- und Schwulenleben in der DDR ist „Es<br />
gab ja <strong>nicht</strong>s“ somit <strong>nicht</strong> nur eine ostalgische Phrase, sondern ein<br />
tatsächlicher Fakt. Denn die homosexuelle Kultur in der DDR war<br />
über weite Strecken eine unsichtbare. (Anders als die homosexuelle<br />
Bewegung ausgehend von <strong>den</strong> 1970ern im Westen kann die ostdeutsche<br />
homosexuelle Lebenskultur <strong>nicht</strong> auf einen vergleichsweise<br />
reichhaltigen und leicht verfügbaren Fundus an Bildern und <strong>Film</strong>en,<br />
an Erzählungen und Anekdoten zurückgreifen.) Wie soll man nun<br />
aber vom lesbischen und schwulen Leben filmisch erzählen, wenn<br />
man <strong>nicht</strong>s oder wenig hat, um es sichtbar wer<strong>den</strong> zu lassen? Der im<br />
Oktober in <strong>den</strong> Kinos startende Dokumentarfilm Out in Ost-Berlin.<br />
Lesben und Schwule in der DDR von Jochen Hick und Andreas Strohfeldt<br />
beantwortet diese Frage nun zum zweiten Mal, nachdem Markus<br />
Stein und ich 2012 mit dem Dokumentarfilm Unter Männern –<br />
Schwul in der DDR Ähnliches versucht haben.<br />
Dabei scheint es mir, dass die bei<strong>den</strong> Berliner <strong>Film</strong>emacher Hick<br />
und Strohfeld <strong>den</strong> gleichen Hinweisen gefolgt sind wie damals Markus<br />
Stein und ich. Diese kündeten von einer spannen<strong>den</strong> Zeit und<br />
einem farbenfrohen statt tristen Leben in der DDR. Hick und Strohfeldt<br />
wer<strong>den</strong> vom „Burgfrie<strong>den</strong>“, von der „Schoppenstube“, von der<br />
„Busche“ und von <strong>den</strong> zahllosen Klappen gehört haben, die es in der<br />
DDR gab, ebenso wer<strong>den</strong> sie von Heiner Carows <strong>Film</strong> Coming Out<br />
und der berühmten Charlotte von Mahlsdorf gewusst haben. Ja, das<br />
gab es alles. Trotzdem erzählen sie, genauso wie wir damals in Unter<br />
Männern, recht wenig davon. Warum eigentlich? Ich glaube, das hat<br />
mehrere Gründe:<br />
Einerseits gibt es kaum visuelles Material von all diesen Orten,<br />
das es dem <strong>Film</strong>emacher gestattet, in seinem Dokumentarvorhaben<br />
filmisch davon zu erzählen. Anderseits haben auch sie Protagonisten<br />
gefun<strong>den</strong>, die viel spannendere Geschichten zu erzählen haben, als<br />
die immer gleichen Mythen um Schoppenstube, Burgfrie<strong>den</strong>, Opern<br />
Café oder Busche zu wiederholen. Zum Glück! Denn sie hätten auch<br />
<strong>den</strong> Weg von Martin Persiel und seinem DDR-Skaterfilm This ain’t<br />
California folgen können. Dieser <strong>Film</strong> widmet sich ja einer nachweislich<br />
<strong>nicht</strong> bebilderten und damit umso mythischeren Lebenskultur.<br />
Da Persiel gerade vom Mythos DDR-Rollbrett berichten will, muss<br />
dieser sich etlicher „dokumentarischen“ Tricks bedienen. Er stellte<br />
<strong>nicht</strong> nur Bilder her, die aussehen, als wären sie in der DDR gefilmt<br />
– äußerst kluge und gut gemachte Sequenzen –, er erfand sogar eine<br />
Geschichte und eine fiktive Person, um überhaupt vom Mythos der<br />
DDR-Skater als <strong>Film</strong> berichten zu können. Diesen eher fiktionalen<br />
statt dokumentarischen Holzweg wollten weder die <strong>Film</strong>emacher<br />
Hick und Strohfeldt noch Stein und ich gehen.<br />
Stein und ich versuchten, uns dem Problem aus einer sehr persönlichen<br />
Perspektive zu nähern. Für uns nahmen vor allem die Coming-<br />
Out-Erfahrungen der Protagonisten Bedeutung an. Hick und Strohfeldt<br />
wählten einen ähnlichen, aber anders akzentuierten Weg. Ihnen<br />
war es wichtig, die Nahtstelle des privaten Lebens der Protagonisten<br />
mit dem System der DDR offenzulegen. Aus <strong>den</strong> Konfliktsituation jenseits<br />
des Coming-Outs mit dem Staat geben sie einen Einblick in das<br />
Funktionieren der untergegangenen DDR und in <strong>den</strong> Lebensstil von<br />
Schwulen und Lesben der DDR. Darunter leidet mitunter die Anforderung,<br />
einen <strong>Film</strong> visuell spannend zu erzählen, aber ganz und gar<br />
<strong>nicht</strong> die des filmischen Aufzeigens von bisher Ungesehenem.<br />
Hick und Strohfeldt heben die Konfliktsituationen heraus, auf die<br />
Schwule und Lesben nach ihrem Outing trafen: Klaus Laabs, der aus<br />
der SED und der Universität ausgeschlossen wurde und dem damit<br />
ein ganzer Lebenslauf wegbrach; Eduard Stapel, der ins Visier der<br />
Stasi geriet, weil er Arbeitskreise zur Homosexualität in der DDR als<br />
sogenannter Schwulenpfarrer organisierte; Christian Pulz, der das<br />
Theologische Seminar Leipzig verlassen musste; oder auch die „Terrorlesben“<br />
Marina Krug, Marinka Körzendörfer und Bettina Dzigge,<br />
die zur Aufgabe ihres Engagements <strong>für</strong> die lesbischen Insassinnen<br />
des KZ in Ravensbrück gezwungen wur<strong>den</strong> und Andreas Fux, der<br />
einen Pakt mit der Stasi einging.<br />
Hick und Strohfeldt haben sich da<strong>für</strong> tief ins Archiv hineingegraben.<br />
So entdecken sie bisher im Kino <strong>nicht</strong> gezeigte Raritäten,<br />
die mutige Schwule und Lesben selbst ab <strong>den</strong> 1970er Jahren pro-<br />
duzierten. Auf einigen Bildern ist der Brite Peter Tatchell als erster<br />
Demonstrant <strong>für</strong> die Rechte der Homosexuellen hinter dem Eisernen<br />
Vorhang zu sehen. Dokumente, die ich verschwun<strong>den</strong> glaubte. Kontrastiert<br />
wird dieses „inoffizielle“ und nie gezeigte Bildmaterial durch<br />
echtes, in der DDR hergestelltes Material aus Dokumentarfilmen,<br />
Spielfilmen und Fernsehaufzeichnungen. Unter diesen ganzen <strong>Film</strong>ausschnitten<br />
zur DDR zeigen Hick und Strohfeldt einen ganz kurzen<br />
Schnipsel, der auch in Persiels This ain’t California auftaucht, und<br />
<strong>den</strong> auch Markus Stein und ich fast verwendet hätten. Es handelt sich<br />
dabei um eine wenige Sekun<strong>den</strong> lange Sequenz aus Wieland Specks<br />
Spielfilm Westler. Sie zeigt einen DDR-Grenzbeamten, der einen Pass<br />
im Berliner Grenzübergang an der Friedrichstraße, <strong>den</strong> „Tränenpalast“,<br />
abstempelt. Specks <strong>Film</strong>, in <strong>den</strong> 1980ern in der BRD gedreht,<br />
stellt fiktional eine Erfahrung nach, die vielleicht <strong>den</strong> Tatsachen entspricht,<br />
aber sie ist keine Originalaufnahme, wie es beide Dokumentarfilme<br />
suggerieren. Doch sie gehört nun mit dem Eingang in gleich<br />
zwei <strong>Film</strong>e zu einem dokumentarischen und damit ja eigentlich tatsächlichen<br />
DDR-Bild unserer Zeit. Damit sind die Grenzen zwischen<br />
unserer bzw. der vergangenen Wirklichkeit und der <strong>Film</strong>welt fast<br />
aufs Unkenntliche verwischt. Der Zuschauer nimmt die Sequenz als<br />
Beleg wahr, wie die DDR ausgesehen hat, ohne zu bemerken, dass<br />
hier geschauspielert wird.<br />
An so einem hergestellten Bild wird die Spannung deutlich, in der<br />
insbesondere der Dokumentarfilm anderen <strong>Film</strong>genres gegenüber<br />
steht. Wahrheit und Fiktion laufen im Dokumentarfilm manchmal<br />
einfach ineinander über. Das ist ein geschicktes Verfahren (kein verwerfliches!),<br />
das <strong>nicht</strong> nur von Hick und Strohfeldt genutzt wird. Als<br />
<strong>Film</strong>emacher wollen sie in erster Linie ihrer Aufgabe nachkommen<br />
und eine visuelle Erzählung entwerfen. Dabei loten sie die Grenzen<br />
des Dokumentarischen aus.<br />
Dass sie diese Grenzen <strong>nicht</strong> überschreiten müssen, verdanken<br />
die Regisseure ihren Protagonisten, die <strong>den</strong> Takt des <strong>Film</strong>s angeben<br />
und <strong>den</strong>en sie sich als Dokumentarfilmer letztlich verpflichtet<br />
fühlen. Hick und Strohfeldt haben hier<strong>für</strong> Händchen beweisen; das<br />
zeigen die schönen Momente im Leben des Ehepaares Peter Bausdorf<br />
und Gerhard Plöse, auch „Die Pappritzer“ und „Putzi“ genannt,<br />
oder auch die schlagfertigen Erzählungen von Marinka Körzendörfer.<br />
Es sind die Momente, in <strong>den</strong>en der DDR-Alltag nahezu anfassbar<br />
wird und der Zuschauer mehr erfährt als durch Archivbilder, die uns<br />
zeigen sollen, wie die DDR ausgesehen hat, und die ständig Gefahr<br />
laufen, bloße Trickserei zu sein. Mir scheint auch hier: Wer seinen<br />
Protagonisten vertraut, hat manchmal mehr und auch <strong>den</strong> Zuschauer<br />
gewonnen. Damit ist Out in Ost-Berlin <strong>nicht</strong> nur ein Dokumentarfilm<br />
über Geschichte, sondern auch gute und interessante Unterhaltung.<br />
Hick und Strohfeldt wissen darum und lenken deshalb ihren<br />
<strong>Film</strong> geschickt über Bezugspunkte der DDR-Historie hinaus. Am<br />
Ende erzählt Out in Ost-Berlin DDR-Geschichte anhand Ost-Berliner<br />
Typen und wird damit selbst zu einem doch unverzichtbaren Beitrag<br />
<strong>für</strong> unsere homosexuelle Geschichte – und davon kann es eigentlich<br />
gar <strong>nicht</strong> genug geben!<br />
s<br />
Out in Ost-Berlin<br />
von Jochen Hick und<br />
Andreas Strohfeldt<br />
DE 2013, 94 Minuten, dt. OF<br />
Déjà-vu <strong>Film</strong>, www.dejavu-film.de<br />
Im Kino ab 31. Oktober 2013<br />
Unter Männern –<br />
Schwul in der DDR<br />
von Ringo Rösener<br />
und Markus Stein<br />
DE 2012, 91 Minuten, dt. OF<br />
Auf DVD bei der Edition<br />
Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
déjà-vu film<br />
This ain’t California<br />
von Marten Persiel<br />
DE 2012, 109 Minuten, deutsche<br />
OF<br />
Auf DVD bei der Deutschen<br />
Entertainment AG, www.deag.de<br />
32 sissy 19 sissy 19 33
kino<br />
kino<br />
Langsamer Sommer<br />
der feinen Unterschiede<br />
von Sebastian Markt<br />
Zwei Männer wer<strong>den</strong> vom Leben zusammen geführt und gleichzeitig durch ihre<br />
soziale Situation getrennt. Einseitigkeiten, Ungleichheiten, Schieflagen lädt Marco<br />
Berger in seinem dritten Spielfilm „Hawaii“ zu einem komplexen Spiel des Begehrens<br />
auf. Ein etwas anderer Sommerfilm.<br />
s Zum Beispiel, wie der eine Mann nahe<br />
seines improvisierten Nachtlagers sorgfältig<br />
erst seine Hände und dann <strong>den</strong> Pfirsich<br />
wäscht. Wie er später das Sandwich, das<br />
ihm die Arbeit eines Tages eingebracht hat,<br />
gierig verschlingt. Wie der andere Mann<br />
<strong>den</strong> einen mustert, erst beiläufig, dann neugierig,<br />
schließlich begehrlich. Wie der eine<br />
in der Sonne, mit seinem Werkzeug hantierend,<br />
schwitzt, und der andere im Schatten<br />
in seine Computertastatur hackt. Wie der<br />
andere Mann dem einen abgelegte Kleidung<br />
anbietet, weil dieser sie brauchen könnte,<br />
aber auch, weil das Anprobieren es nötig<br />
macht, dass er sich erst der entledigt, die er<br />
gerade anhat. Wie der eine Mann die Sachen<br />
anzieht, wie ein geborgtes Leben, und später<br />
wie sein eigenes. Wie sie in ihren Körpern zu<br />
Hause sind, selbstbewusst der eine, selbstvergessen<br />
der andere. Wie der eine beginnt,<br />
die Blicke des anderen, die er vielleicht gesehen<br />
hat, oder vielleicht auch <strong>nicht</strong>, zu erwidern,<br />
auf seine Weise auf ihn zu sehen.<br />
Am Anfang von Marco Bergers drittem<br />
Langfilm Hawaii steht ein Bild, das an die<br />
Great Depression gemahnt: Martín (Mateo<br />
Chiarino), obdachloser Binnenmigrant,<br />
schläft in einem Lager im Wald, zieht von<br />
Haus zu Haus und biete seine Dienste als<br />
Hilfsarbeiter an, gegen Essen oder Taschengeld.<br />
Das Echo klingt kurz an, dann breitet<br />
sich der <strong>Film</strong> in der Gegenwart aus: argentinische<br />
Provinz, im (Süd-)Sommer. Die<br />
Suche nach Arbeit führt Martín an die Tür<br />
von Eugenio (Manuel Vignau, der schon<br />
in Bergers Debüt Plan B zu sehen war), der<br />
das Haus seines Onkels <strong>den</strong> Sommer über in<br />
Beschlag genommen hat. Sie kennen sich von<br />
früher, ganz früher, als beide Kinder waren<br />
und Nachbarn und Martín im Pool von Eugenios<br />
Familie schwimmen durfte. Eugenio<br />
engangiert Martín, der sagt, im Winter einen<br />
Job in Buenos Aires zu haben, <strong>für</strong> <strong>den</strong> Rest<br />
des Sommers, um Renovierungen und Ausbesserungen<br />
am Haus durchzuführen.<br />
Eugenio ist Journalist. Ob er sein augenscheinlich<br />
sorgenfreies Leben seiner Arbeit<br />
verdankt oder familiär abgesichert ist, bleibt<br />
unklar. Den Sommer verbringt er je<strong>den</strong>falls<br />
damit, an einem Roman zu arbeiten. Der<br />
erzählt von einem Großgrundbesitzer, der<br />
sich durch die im besten Sinne naiven Fragen<br />
pro-fun media<br />
seiner kleinen Tochter, der an der Ordnung<br />
der (sozialen) Dinge <strong>nicht</strong>s selbstverständlich<br />
scheint, herausgefordert und bedroht<br />
fühlt. Eugenio, der Martín zunächst <strong>nicht</strong><br />
wiedererkannt hatte, erkennt in Martín<br />
zusehends ein Objekt seiner Begierde. Martín,<br />
der mit <strong>den</strong> Details seiner Biografie eher<br />
spärlich umgeht, sieht in Eugenio zunächst<br />
nur einen ökonomischen Rettungsanker. Ein<br />
simpler Rhythmus breitet sich über ihre Tage<br />
aus: Martín arbeitet an Haus und Garten,<br />
Eugenio an seinem Buch, sie re<strong>den</strong>, sie essen.<br />
Kaum jemals verlässt der <strong>Film</strong> diesen Ort,<br />
und langsam sortieren sich die Geschichten<br />
neu, die sie einander über sich erzählen, und<br />
es scheint offen, ob sie in Deckung zu bringen<br />
zu sind: in Bezug auf die Geschichte,<br />
die beide verbindet, in Bezug auf die sozialen<br />
Verwerfungen der Gegenwart, die beide<br />
trennen, hin zu einer Zukunft, die sie miteinander<br />
haben könnten.<br />
Aus dieser schnell etablierten Grundkonstellation<br />
spielt Hawaii ein so einfach und<br />
gradlinig erzähltes wie komplex verworrenes,<br />
weil vieldimensionales, Spiel von Distanz<br />
und Nähe. Dem Spiel gibt Berger weniger<br />
durch Handlung Raum als durch Gesten<br />
und Blicke und Körper, die sich zueinander<br />
verhalten. Zwei Männer, die zwar zu wissen<br />
scheinen, wie sie zueinander stün<strong>den</strong>, aber<br />
das Koordinatensystem, das ihnen ihre Orte<br />
vorgibt, noch <strong>nicht</strong> entziffert haben.<br />
Hawaii, mithin ein <strong>Film</strong> über Liebe in<br />
finsteren Zeiten, gedreht mit minimaler<br />
Crew und minimalem Budget, das zu guten<br />
Teilen über Kickstarter aufgestellt wurde,<br />
erzählt eine – wenn man so will – minimale<br />
Geschichte. Macht aber aus seinen Grenzen<br />
eine Tugend: ein Ort, zwei Männer und eine<br />
Beziehung, die noch keinen Namen trägt.<br />
Auch eine Art von Krisenkino, das in der<br />
Dürftigkeit seiner Umstände <strong>nicht</strong> nur sein<br />
Thema, sondern auch seine Form findet.<br />
Aufzulösen, was dieses <strong>den</strong>n alles mit dem<br />
eponymen Inselparadies zu tun hat, hieße<br />
die Freude zu verderben, die die Romanze<br />
in ihrer langsamen Sinnlichkeit trotz einiger<br />
bitterer Töne dann doch macht. s<br />
Hawaii<br />
von Marco Berger<br />
AR 2013, 102 Minuten, spanische<br />
OF mit deutschen UT<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino ab 7. November 2013<br />
Plan B<br />
von Marco Berger<br />
AR 2009, 103 Minuten, spanische<br />
OF mit deutschen UT<br />
Auf DVD bei Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
Lederbar. Sanft.<br />
von Enrico Ippolito<br />
Zwei <strong>Film</strong>emacher wollen die Schönheiten der schwulen Sexualität zeigen. Angeblich geschnittene<br />
Sexszenen aus einem Hollywoodklassiker sollen nachgestellt wer<strong>den</strong>. Erneut wer<strong>den</strong> Mitglieder aus der<br />
schwulen Szene <strong>für</strong> ein realistisches Bild schwuler Sexualität rekrutiert. Ein straighter Schauspieler fühlt<br />
sich dazwischen unwohl. Ein Hollywoodstar kokettiert schon wieder mit schwulen Kontexten. Das alles ist<br />
„Interior. Leather Bar.“, ein Gemeinschaftsprojekt von James Franco und Travis Mathews.<br />
s Al Pacino in einer Lederbar. Um ihn herum Männer. Jockstraps,<br />
die <strong>den</strong> Blick auf blanke Ärsche freigeben. William Friedkins Cruising<br />
aus dem Jahr 1980 war ein Skandalfilm. Pacino spielt darin <strong>den</strong> Polizisten<br />
Steve Burns, der undercover Morde an schwulen Männern aufklären<br />
muss. Da<strong>für</strong> taucht er in die „Leder“-Szene New Yorks ein.<br />
Der Skandal wurde <strong>nicht</strong> durch die nackten Ärsche und die <strong>für</strong> die<br />
Zeit expliziten Szenen heraufbeschworen, sondern einerseits, weil<br />
die homosexuelle Community eine negative Repräsentation ihrer<br />
Szene <strong>für</strong>chtete – und andererseits, weil Friedkin 40 Minuten aus seinem<br />
<strong>Film</strong> kürzen musste, um ein X-Rating zu umgehen, sonst hätte<br />
Cruising nur in Pornokinos laufen können.<br />
Und genau an dieser Stelle setzt Interior. Leather Bar. an. Die bei<strong>den</strong><br />
Regissuere James Franco und Travis Mathews versuchen, <strong>den</strong><br />
Mythos der 40 Minuten nachzustellen. Eine Art des Reenactments, in<br />
der sich die Genres Dokumentar- und Spielfilm vermischen.<br />
Interior. Leather Bar. beginnt in einem Hotelzimmer. Franco und<br />
Travis unterhalten sich – über ihr Projekt, über die Queer-Theory.<br />
Franco zitiert aus dem Buch des Theoretikers Michael Warner, „The<br />
Trouble With Normal“, und dessen Kritik an der Öffnung der Ehe <strong>für</strong><br />
homosexuelle Paare. Warner sieht darin eine Art der Normalisierung<br />
eines wertvollen „queeren Lifestyles“. Mit dieser Szene öffnen die<br />
bei<strong>den</strong> Regisseur <strong>den</strong> intellektuellen Diskurs <strong>für</strong> ihr Projekt.<br />
Francos Freund, der Schauspieler Val Lauren, kommt ins Hotelzimmer<br />
und spricht mit <strong>den</strong> Regisseuren. Er soll die Pacino-Figur<br />
pro-fun media<br />
nachspielen oder zumindest eine Repräsentation derer. Wie Burns/<br />
Pacino taucht auch Lauren in eine nachkonstruierte S&M-Welt ein.<br />
In dieser muss sich Lauren erst mal von seinen Werten, die klar heterosexuell<br />
konstituiert sind, befreien. Die Angst steht ihm ins Gesicht<br />
geschrieben. Um klar zu kommen, spricht er oft am Telefon mit seiner<br />
Frau, während in der Fake-Fetisch-Welt die Männer Sex haben. In<br />
Gesprächen mit ihm versucht sein Kumpel Franco, ihn <strong>für</strong> schwulen<br />
Sex zu begeistern, der „attraktiv und wunderschön“ sei.<br />
Und weil Franco so weltoffen ist, tanzt er in einer Szene in der<br />
nachkonstruierten Lederbar – umgeben von nackten Männern. Dabei<br />
zieht er, der Hollywood-Schauspieler, jedoch noch <strong>nicht</strong> mal sein<br />
T-Shirt aus. Franco bleibt somit stets Voyeur. Er verlässt sich in dem<br />
Projekt auf Travis Mathews, auf dessen typische Ästhetik. Mathews<br />
inszeniert schöne Sexszenen.<br />
In seinem ersten Spielfilm I Want Your Love funktioniert die Einbindung<br />
von Sexualität in die Narration. Schauspieler haben sexuelle<br />
Begegnungen, die Kamera hält drauf, verweigert sich aber dem pornografischen<br />
Blick, ist nie auf <strong>den</strong> Money-Shot, also auf die männliche<br />
Ejakulation, aus. Die Männer in I Want Your Love pausieren zwischen<br />
<strong>den</strong> Sexszenen, beginnen, sich gegenseitig einen zu blasen und<br />
hören dann auf. Nach einem ähnlichen Muster funktionieren auch<br />
die Sexszenen in Interior. Leather Bar. Mathews dreht sie sanft und<br />
zahm, das kann er.<br />
Dabei bleiben aber Franco und Mathews in ihrem Projekt defensiv,<br />
stecken in Repräsentationsdiskursen fest. Ihre Prämisse: Die Opfer<br />
von Cruising – in diesem Fall die schwulen Männern – hätten damals<br />
etwas Besseres verdient. Das mag vielleicht eine Lesart von Crusing<br />
sein. Was aber die Fetisch- und S&M-Szene definitiv <strong>nicht</strong> braucht,<br />
ist eine Art der Weichzeichnung. Sie muss <strong>nicht</strong> <strong>für</strong> <strong>den</strong> <strong>heterosexuellen</strong><br />
Zuschauer verniedlicht wer<strong>den</strong>. Das allerdings passt in Francos<br />
Mission, in der er die Zuschauer von ihren Vorurteilen befreien will.<br />
Er selbst bleibt dabei aber auf der sicheren Seite.<br />
s<br />
Interior. Leather Bar.<br />
von James Franco und<br />
Travis Mathews<br />
US 2013, 60 Minuten, englische<br />
OF mit deutschen UT<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino ab 17. Oktober 2013<br />
I Want Your Love<br />
von Travis Mathews<br />
US 2012, 71 Minuten, englische<br />
OF mit deutschen UT<br />
Auf DVD bei der Edition<br />
Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Cruising<br />
von William Friedkin<br />
US 1980, 102 Minuten, englische OF<br />
Auf DVD als Import<br />
bei Warner Home Video<br />
34 sissy 19 sissy 19 35
kino<br />
film-flirt<br />
Audiokommentar<br />
der Liebe<br />
von Jan Künemund<br />
Ganz leise schleicht sich diese Geschichte einer vergangenen Liebe an, die der<br />
<strong>Film</strong>emacher Vincent Dieutre aus Erinnerungen rekonstruiert und experimentell mit<br />
der Situation von Flüchtlingen in Paris in einen filmischen Zusammenhang gesetzt<br />
hat. „Jaurès“, einer der schönsten Liebesfilme des <strong>nicht</strong>-<strong>heterosexuellen</strong> Kinos,<br />
wandert gerade mit wenigen Kopien durch das Land, nachdem er letztes Jahr <strong>den</strong><br />
Dokumentarfilm-Teddy erhalten hat. Bittet eure Kinos darum, ihn zu zeigen.<br />
s Auf dem Weg zum Berliner Kino FSK,<br />
wo Jaurès gerade eine Woche lang läuft, geht<br />
man an einem Flüchtlings-Camp vorbei. Seit<br />
fast einem Jahr leben dort Menschen, die mit<br />
einem „Marsch der Würde“ <strong>für</strong> Änderungen<br />
am deutschen Asylrecht demonstriert hatten<br />
und schließlich auf dem Kreuzberger<br />
Oranienplatz einen prekären Aufenthaltsort<br />
fan<strong>den</strong>. Für regelmäßige FSK-Besucher ist<br />
das Bild vertraut und doch könnte es sich von<br />
einem Tag auf <strong>den</strong> anderen verändert haben.<br />
Auf ein Flüchtlingslager an einem Pariser<br />
Kanal, unterhalb der Métrostation Jaurès,<br />
sah der <strong>Film</strong>emacher Vincent Dieutre<br />
aus dem Fenster der Wohnung seines Liebhabers<br />
Simon. Da er keinen Schlüssel hatte,<br />
kam er abends mit Simon in die Wohnung<br />
und ging zusammen mit Simon am Morgen<br />
wieder hinaus. Er nutzte die Zeit, während<br />
Simon duschte, Essen in der Mikrowelle<br />
aufwärmte oder kurz mal <strong>nicht</strong> da war, um<br />
aus dem Fenster zu filmen. Der Ort einer<br />
prekären Liebe – kein Schlüssel zu haben<br />
heißt: eine Beziehung ohne Sicherheiten zu<br />
führen, ohne Garantie. Vincent möchte seine<br />
Situation <strong>nicht</strong> mit <strong>den</strong> jungen Männern aus<br />
Afghanistan vergleichen, die dort unten, am<br />
Kanal, noch mal bei null anfangen, irgendwann<br />
vertrieben wer<strong>den</strong> und dann wahrscheinlich<br />
woanders weitermachen. Aber<br />
das Leben führt <strong>den</strong> Gast in der Wohnung<br />
mit <strong>den</strong> Flüchtlingen aus Afghanistan <strong>für</strong><br />
<strong>den</strong> Moment der Liebe mit Simon zusammen.<br />
Die Aufnahmen aus dem Fenster der<br />
Wohnung von Simon zeigt Vincent in einem<br />
Tonstudio seiner Freundin Éva. Sie fragt<br />
hin und wieder, was man da sehe, was da<br />
brenne, warum in dieser Welt nur Frauen<br />
zu sehen sind – und sie fragt, wie die Liebe<br />
von Vincent und Simon war. Beide erzeugen<br />
einen Audiokommentar der Liebe. Ohne<br />
große Geste schichtet Jaurès Bilder, Töne,<br />
Gesprächsfetzen, Motive, Erzählungen übereinander,<br />
so dass man jederzeit spürt, dass<br />
etwas sehr Grundsätzliches, Existenzielles<br />
<strong>für</strong> diesen <strong>Film</strong> rekonstruiert wird. Nichts ist<br />
live, <strong>nicht</strong>s aufgeschnappt, <strong>nicht</strong>s ist (cinéma)<br />
verité. Selbst die dokumentarischen Bilder<br />
arsenal distribution<br />
aus dem Fenster sind partiell übermalt – in<br />
einem Stoß umherwirbelnder Blätter ist eins<br />
gezeichnet, in einem Schwarm vorbeifliegender<br />
Tauben ist eine animiert. Ein angeblich<br />
von Simon gespieltes Klavierstück stellt<br />
sich im Abspann als CD-Aufnahme eines Pianisten<br />
heraus. Ein Freund, mit dem ich <strong>den</strong><br />
<strong>Film</strong> sehe, meint, dass auch die Geschichte<br />
mit Simon fiktional sein könnte – es würde<br />
<strong>nicht</strong>s ändern an der emotionalen Wucht dieses<br />
geflüsterten <strong>Film</strong>s, der so entschie<strong>den</strong> ‚in<br />
der Welt‘ ist.<br />
Warum berührt Jaurès so sehr? Er zeigt<br />
<strong>nicht</strong>s Ungewöhnliches, <strong>nicht</strong>s Tragisches.<br />
Ein kleines „Theater“, oben begrenzt von der<br />
U-Bahn, die über die Szenerie eines gutbürgerlichen<br />
Viertels einer europäischen Großstadt<br />
fährt, unten von <strong>den</strong> am Kanal campieren<strong>den</strong><br />
Flüchtlingen, die <strong>für</strong> die Passanten<br />
unsichtbar sind. Eine weiße Taube kommt<br />
vorbei, bleibt einige Zeit, fliegt wieder weg.<br />
Ein Klavierstück wird angespielt, aber nie<br />
zu Ende gebracht. Flüchtlinge wachen auf,<br />
verschwin<strong>den</strong> in <strong>den</strong> Tag, sind abends wieder<br />
da. Ein <strong>Film</strong>emacher schaltet morgens<br />
die Kamera aus und nachts wieder an. Eine<br />
Liebe kommt und geht. Ein Lichtkünstler<br />
arbeitet in der Wohnung gegenüber und<br />
seine Neonröhren beleuchten die Szene in<br />
wechseln<strong>den</strong> Farben <strong>für</strong> kurze Zeit, bis er<br />
wieder auszieht. Simon erscheint in <strong>den</strong> rau<br />
geflüsterten Erinnerungen von Vincent und<br />
verschwindet wieder. Die Welt hat das alles<br />
zusammengeführt. Ein <strong>Film</strong> hat das alles<br />
zusammengeführt. Und „alles hat sich ein<br />
bisschen bewegt.“ (Dieutre)<br />
Man verlässt aufgewühlt und sinnlich<br />
geschärft das Kino FSK. Der Blick fällt auf<br />
das Flüchtlings-Camp am Oranienplatz.<br />
Man meldet sich mit dem Smartphone bei<br />
Facebook an und checkt die Meldungen der<br />
letzten 90 Minuten. Ein Blog-Text wandert<br />
durch die Postings von „Freun<strong>den</strong>“, in dem<br />
ein Autor fragt, warum diejenigen, die sich<br />
gerade über <strong>den</strong> systematischen Statusentzug<br />
der russischen Nicht-Heterosexuellen<br />
durch die Putin-Regierung aufregen, vorher<br />
nie etwas zu <strong>den</strong> schon lange bekannten systematischen<br />
Statusentzug der Migranten in<br />
Russland gesagt haben.<br />
s<br />
Jaurès<br />
von Vincent Dieutre<br />
FR 2012, 83 Minuten, französische<br />
OF mit deutsche UT<br />
Arsenal Distribution,<br />
www.arsenal-berlin.de/distribution<br />
Im Kino seit 8. August 2013<br />
ab 29.08. <strong>Film</strong>haus Nürnberg ·<br />
ab 12.09. Schaubühne Lin<strong>den</strong>fels/<br />
Leipzig · 19.9. Lichtmess/Hamburg<br />
Der Moment<br />
Schriftsteller sehen <strong>Film</strong>e: Andreas Steinhöfel<br />
„Die Mitte der Welt“ haben wir alle gelesen. Kommen wir mal<br />
in Verlegenheit, ein Geschenk zu einem Kindergeburtstag<br />
mitbringen oder einen Jugendlichen mit Lesestoff versorgen<br />
zu müssen, gibt es keine bessere Idee, als beim Carlsen-<br />
Verlag nachzuschauen, ob Andreas Steinhöfel seine Serie<br />
um Oskar und Rico erweitert oder gar etwas ganz Neues<br />
veröffentlicht hat – sofern die vielen Klassiker wie der von<br />
ihm selbst auch zum Drehbuch entwickelte „Es ist ein Elch<br />
entsprungen“ oder „Beschützer der Diebe“ schon bekannt<br />
sind. Neben der Arbeit an einem neuen Roman <strong>für</strong> Erwachsene<br />
und einem neuen Roman <strong>für</strong> Jugendliche fand Andreas<br />
Steinhöfel Zeit, uns von einem <strong>Film</strong>moment zu erzählen,<br />
dessen Gewalttätigkeit ihn und uns daran erinnert hat, dass<br />
das queere Leben <strong>nicht</strong> nur aus dem Coming-Out besteht.<br />
s Vor einiger Zeit wurde ich <strong>für</strong> eine Radiosendung befragt, was<br />
man einem Jugendlichen raten solle <strong>für</strong> <strong>den</strong> Fall, dass ihm wegen<br />
seines Schwulseins von jemandem Dresche angedroht würde. Tja, da<br />
könne man wohl bloß hoffen, erwiderte ich, dass dieser Jugendliche<br />
seinem Aggressor dermaßen eine reinsemmeln würde, dass der sich<br />
davon <strong>nicht</strong> so rasch wieder erholte. Ob ich, kam die pikierte Frage<br />
der Moderatorin, mit diesem Statement etwa zu Gewalt aufrufen<br />
wolle. Nein, bloß zu Gegengewalt, antwortete ich, schließlich lasse<br />
sich mit eingeschlagenen Zähnen schlecht über Ethik diskutieren,<br />
und die Schwuppen im „Stonewall Inn“ hätten vermutlich auch <strong>nicht</strong><br />
mit Wattebällchen um sich geworfen. Das Interview wurde, große<br />
Überraschung, <strong>nicht</strong> etwa bloß um diese Passage gekürzt, sondern<br />
Torch Song Trilogy<br />
von Paul Bogart<br />
US 1988, 119 Minuten,<br />
englische OF<br />
Auf DVD als Import<br />
Mitte der Welt<br />
von Andreas Steinhöfel<br />
Roman, 480 Seiten,<br />
Carlsen 2004,<br />
www.carlsen.de<br />
screenshot<br />
gar <strong>nicht</strong> erst ausgestrahlt. Was einmal mehr meine lang gehegte<br />
Vermutung bestätigte, dass politische Korrektheit je<strong>den</strong> demokratischen<br />
Diskurs ebenso effizient verhindern kann wie ein Schlag in die<br />
Fresse.<br />
Als Ende der 80er das schwule Kino endgültig im Mainstream<br />
angekommen war, hatte ich eben – und endlich – mein Coming-Out<br />
aufs Parkett gelegt. Ich hatte es nur in Tippelschritten vollzogen, von<br />
steter Angst erfüllt vor dem unwiderruflich damit verbun<strong>den</strong>en Ich<br />
bin. Jetzt war ich, und ich sang es stolz, ich tanzte es, ich vögelte es,<br />
und irgendwann nach dem durchtanzten, durchsungenen, durchvögelten<br />
Sommer ließ ich mich erschöpft in einen Kinosessel sinken, um<br />
mir einen schwulen <strong>Film</strong> anzuschauen, erfüllt von dem Gedanken,<br />
dabei <strong>nicht</strong> mehr womöglich, sondern hoffentlich im Publikum gesehen<br />
zu wer<strong>den</strong>.<br />
Die rauchig-melancholische Sentimentalität des englischen Torch<br />
Song lässt sich nur schlecht ins Deutsche übersetzen, und so musste<br />
der deutsche Zuschauer mit Das Kuckucksei vorlieb nehmen, aber<br />
das war mir, kaum dass zwei rot bemalte Lippen in Großaufnahme<br />
„Ich bin ein Entertainer“ in die Kamera geschnarrt hatten, komplett<br />
gleichgültig. Die sich über knapp zehn Jahre ziehende Geschichte um<br />
<strong>den</strong> New Yorker Travestiekünstler Arnold dürfte hinlänglich bekannt<br />
sein: Erst liebt er <strong>den</strong> Falschen, dann <strong>den</strong> Richtigen, dann verliert er<br />
<strong>den</strong> Richtigen, weshalb zuletzt der ehemals Falsche zurückkommt<br />
und zum neuen Richtigen wird. Dazwischen kabbelt Arnold sich mit<br />
seiner Mutter, und am Ende ziehen er und sein Kerl einen schwulen<br />
Pflegesohn auf, der sein offenes Schwulsein nötigenfalls mit <strong>den</strong><br />
Fäusten verteidigt: Eine der ersten Patchwork-Familien Hollywoods<br />
war geboren. Seufz.<br />
I’ve Heard the Mermaids Singing (1986) ist mein eigentlicher Lieblingsfilm<br />
aus dieser Zeit, ein poetisches kleines Meisterwerk, das sich<br />
jedoch nur einer einzigen Aufnahme rühmen kann, der ich das Prädikat<br />
der Moment verleihen würde (nämlich als die Hauptdarstellerin<br />
gedankenverloren ein paar Erbsen isst; ihre verliebte Selbstvergessenheit<br />
findet sich 1989 in Coming Out wieder, als die Noch-Freundin<br />
des schwulen Hel<strong>den</strong> eine Gewürzgurke verspeist). Das Kuckucksei<br />
hingegen war, wenn man so will, ein einziger großer Moment, wenn<br />
auch mit einem <strong>für</strong>chterlichen Kulminationspunkt, als Arnolds Lover<br />
Alan – der ursprüngliche Richtige – am Ende des zweiten <strong>Film</strong>teils<br />
von einer schwulenfeindlichen Gang mit einem Baseballschläger<br />
erschlagen wird. Der Schlag ließ mich im Kinosessel zusammenzucken<br />
und weckte mich aus der trügerischen Sicherheit, in der ich<br />
mich über jenen Sommer hinweg bisher gewähnt hatte, der naiven<br />
Vorstellung nämlich, ein beherzter Schritt ins Licht reiche aus, alles<br />
Dunkel ein <strong>für</strong> allemal fern zu halten. Ein blutiges, aufgeplatztes<br />
Gesicht machte mir klar, dass es <strong>nicht</strong> ausreichte – niemals ausreichen<br />
würde – in rosaroter Verklärung einmal im Jahr ein Regenbogenfähnchen<br />
zu schwenken. Ich war, und ein Teil von mir würde<br />
immer wachsam sein, immer auch ängstlich, sicherlich … aber immer<br />
auch bereit, nötigenfalls zurückzuschlagen. Ich bin ist ein Stolz, der<br />
keine Demut kennt.<br />
s<br />
Andreas Steinhöfels Blog: newsfromvisible.blogspot.de<br />
Es ist ein Elch entsprungen<br />
von Andreas Steinhöfel<br />
Roman, 80 Seiten,<br />
Carlsen 2004,<br />
www.carlsen.de<br />
Es ist ein Elch entsprungen<br />
von Ben Verbong<br />
DE 2005, 90 Minuten,<br />
deutsche OF<br />
Auf DVD bei Disney/Buena<br />
Vista, www.movie.de<br />
36 sissy 19 sissy 19 37
dvd<br />
dvd<br />
Owens erste Liebe<br />
von Bryn Higgins<br />
UK 2012, 92 Minuten, englische OF<br />
mit deutschen UT<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Verstörend gradlinig<br />
von Malte Göbel<br />
Der Titel ist schlicht, die Handlung relativ gradlinig – trotzdem bietet „Owens erste<br />
Liebe“, Bryn Higgins Hart-aber-herzlich-Drama einer obsessiven Liebe Momente von<br />
Staunen, Schreck und Berührtsein.<br />
Edition Salzgeber<br />
s Owen ist zarte siebzehn und verliebt. Das gibt Probleme: Er liebt einen Mann und hat sich<br />
noch <strong>nicht</strong> geoutet. Dummerweise hat sich Owens Zwillingsschwester Kristen in <strong>den</strong> gleichen<br />
Typen verknallt. Das verkompliziert alles, <strong>den</strong>n Owen und Kristen sind ein Team. Sie leben mit<br />
ihrer pflegebedürftigen Mutter in einer gesichtslosen britischen Vorstadt-Sozialsiedlung, einen<br />
Vater gibt es <strong>nicht</strong>. Owen ist hin- und hergerissen zwischen Loyalität zu seiner Schwester und<br />
seinen eigenen Gefühlen.<br />
Der Typ, <strong>den</strong> beide lieben, ist Liam: ein Yuppie, Anfang 20, mit Babyface und Haartolle.<br />
Er kommt als Finanzberater in die Hochhauswohnung der Kleinfamilie, gutaussehend, erfolgreich,<br />
agil. Als er im Cabrio davonfährt, flattern die Hoffnungen und Sehnsüchte der Zwillinge<br />
hinterher: Coolness, ungebun<strong>den</strong>es Leben, schnelles Auto, Geld – Liam verkörpert alles, was<br />
Owen und Kristen <strong>nicht</strong> haben.<br />
Und Owen knackt <strong>den</strong> Jackpot, scheint es: Liam lädt ihn ein, sie gehen in <strong>den</strong> Pub, spielen<br />
Billard, heizen mit dem Auto durch die Stadt, lungern mit Schnaps auf Liams Couch. Es<br />
knistert. „Bist du schwul?“, fragt Liam Owen unvermittelt. „Nein“, sagt dieser schnell. „Du?“<br />
– „Nein“, und Liam fragt erneut: „Bist du schwul?“ – „Ich habe es dir gerade gesagt“, stottert<br />
Owen sichtlich irritiert. Es ist nur der erste verstörende Moment. Dann führt ihn Liam zum<br />
Kleiderschrank, holt Kleid und Perücke heraus. Liam steht <strong>nicht</strong> auf Jungs. Er steht auf Mädchen,<br />
die Jungs sind.<br />
Owen macht mit, staffiert sich mit Kleid, Perücke und Make-Up aus. Liam nennt ihn „Kristen“,<br />
wie die Schwester, umgarnt ihn, macht ihm <strong>den</strong> Hof, führt ihn aus, kauft Champagner.<br />
Owen weiß <strong>nicht</strong>, wie ihm geschieht, fühlt sich geschmeichelt – und lässt es vorerst geschehen.<br />
Das Setting von Owens erste Liebe ist also spannend. Nach einer halben Stunde ist es aufgebaut<br />
– und die restliche Stunde des <strong>Film</strong>s ist gradlinig, fast schlicht. Regisseur Bryn Higgins<br />
arbeitet die absehbaren Komplikationen der Konstellation ab: Owens Schwester findet es heraus<br />
und macht ihm Vorwürfe, die Mutter erleidet einen Herzinfarkt. Liam wird immer obsessiver<br />
und manischer, und Owen ist hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Liam und dem<br />
Wunsch, auch als Typ geliebt zu wer<strong>den</strong>.<br />
Hier beeindrucken die Schauspieler: Christian Cooke als Liam droht, brüllt und mackert,<br />
die Augen blitzen irr – im nächsten Moment ist er der treusorgende, schmachtende Liebhaber.<br />
Harry McEntire als Owen überzeugt als stiller und zarter Junge, der sich blen<strong>den</strong> lässt und erst<br />
langsam emanzipiert.<br />
Owens erste Liebe ist Coming-of-Age-Geschichte und Sozialdrama in einem, um Homosexualität<br />
geht es kaum. Owens Schwester Kristen ist wütend, aber <strong>nicht</strong>, weil sie Schwule<br />
ablehnt, sondern weil Owen ihr <strong>den</strong> Typen weggeschnappt hat. Und als Liam Owen/Kristen zu<br />
seinen Eltern mitnimmt, stellt die Mutter Owen/Kristen später in der Küche zur Rede: „Du bist<br />
ein Junge, oder?“, um dann anzufügen: „Wichtig ist vor allem, dass Du gut zu ihm bist.“<br />
Am Meer erreicht der <strong>Film</strong> einen Klimax, kurz nach dem Besuch bei Liams Eltern. Owen<br />
hat keine Lust mehr sich zu verklei<strong>den</strong> und nimmt die Perücke ab. Daraufhin setzt Liam ihn am<br />
Meer auf einer Betonrampe ab und lässt ihn dort nackt und schluchzend zurück. Nach einiger<br />
Zeit kommt Liam wieder, bremst mit quietschen<strong>den</strong> Reifen und hält dem panischen Owen zwei<br />
Taschen unter die Nase: In der einen sind Kleid und Perücke, in der anderen Owens alte Kleider.<br />
Owen soll wählen: „In meiner linken Hand ist bedingungslose Liebe, Geld, gemeinsames<br />
Leben. In der rechten … sag Du es mir.“ Unconditional („Bedingungslos“) heißt der <strong>Film</strong> im<br />
Original. Welche Wahl bleibt dem verstörten Owen? Es scheint die Wahl zwischen alles und<br />
<strong>nicht</strong>s. Und natürlich will Owen etwas.<br />
s<br />
38 sissy 19<br />
sissy 19 39
tellerrand<br />
tellerrand<br />
Homo PoMo<br />
by Heart!<br />
von Jan Künemund<br />
Die <strong>Film</strong>kritikerin B. Ruby Rich kam 1992 von <strong>Film</strong>festivals zurück und rief das<br />
„New Queer Cinema“ aus. Jetzt hat sie ihren eigenen Begriff auf die Probe gestellt und bis<br />
in die Gegenwart verlängert. Ihr Essayband „New Queer Cinema – The Director’s Cut“<br />
ist ein Sehnsuchtsbericht eines lei<strong>den</strong>schaftlich verstrickten <strong>Film</strong>-Nerds.<br />
s Natürlich kann immer noch niemand wikipediareif erklären,<br />
was „Queer Cinema“ eigentlich ist. Nicht wenige kriegen Platzangst,<br />
sobald dieser Begriff im Raum steht. Die Zensurgeschichte <strong>nicht</strong>heterosexueller<br />
Repräsentation ist im Prinzip ausgeschrieben, <strong>Film</strong>e<br />
sind jetzt postemanzipiert. Vito Russos tief aus der Bewegungs-<br />
Erfahrung fehlender Sichtbarkeit heraus entwickeltes „Celluloid<br />
Closet“ wird zwar heutzutage etwas verzweifelt auf <strong>nicht</strong>-westliche<br />
<strong>Film</strong>szenen übertragen (Der erste schwule <strong>Film</strong> aus Vietnam!), aber<br />
insgeheim weiß man, dass <strong>nicht</strong>-heterosexuelle Figuren und Konstellationen<br />
die <strong>Film</strong>e bevölkern wie noch nie.<br />
Eigentlich läuft die Queer-Cinema-Begriffsklärung auf zwei verschie<strong>den</strong>e<br />
Interpretationen hinaus, die von zwei sehr unterschiedlichen<br />
<strong>Film</strong>verstehertypen vertreten wer<strong>den</strong>:<br />
Typ Eins ist der lässige, elegante, ironische „Queer Reader“, der<br />
weiß: „Queer ist das, was ich daraus mache!“ Vorzugsweise erkennt<br />
er queere Aspekte in James-Bond-<strong>Film</strong>en, in Zombie-Serien oder in<br />
Jackass: The Movie und ist sich damit eines Party-Spotlights sicher.<br />
Nichts strengt Typ Eins so sehr an wie ein Gespräch über als „schwul“<br />
oder „lesbisch“ gelabelte <strong>Film</strong>e, zu <strong>den</strong>en man eine Meinung haben<br />
muss – ist Brokeback Mountain jetzt konservativ, wo<strong>für</strong> braucht man<br />
2011 nochmal ein Milk-Biopic und warum muss ich ständig schlechte<br />
<strong>Film</strong>e gucken, nur, weil sich da Frauen oder Männer küssen oder<br />
darin jemand mit ungewissem Geschlecht herumläuft? Typ Eins plädiert<br />
dagegen <strong>für</strong> die freie und subtile Rezeption: Movie-Queerness<br />
liegt im Auge der Betrachterin.<br />
Typ Zwei dagegen ist eher engagiert, hat hohe Erwartungen an<br />
<strong>Film</strong>e und verzieht bei <strong>den</strong> Worten „RomCom“, „Blockbuster“ oder<br />
„Mainstream“ das Gesicht und fühlt sich von ihnen beim Nach<strong>den</strong>ken<br />
gestört. Er geht davon aus, dass „queer cinema“ mehr heißen muss<br />
als eine Handvoll <strong>Film</strong>e, in <strong>den</strong>en Lesben, Schwule und Trangender<br />
herumlaufen. Typ Zwei möchte, dass diese <strong>Film</strong>e, die unkonventionelle<br />
Geschichten erzählen, auch unkonventionell aussehen. Berufen<br />
kann sich Typ Zwei dabei auf eine lange queere Avantgardefilm-<br />
Geschichte von Edison bis Weerasethakul, von Anger, Genet und<br />
Warhol gar <strong>nicht</strong> zu re<strong>den</strong>. Während Typ Eins sich einfach mal ein<br />
paar FreundInnen zum lustigen DVD- oder gar Fernseh-Abend einla<strong>den</strong><br />
kann, muss Typ Zwei ständig auf Festivals rennen oder – noch<br />
schlimmer – ins Museum gehen.<br />
B. Ruby Rich gehört ganz sicher zum Typ Zwei. Sie rannte 1991<br />
und 1992 auf Festivals herum und konnte ihr Glück kaum fassen.<br />
Nicht nur, dass es mit The Living End, Go Fish, Edward II., Swoon,<br />
Poison, Paris Is Burning, My Private Idaho plötzlich einen Haufen<br />
<strong>Film</strong>e mit queeren Figuren gab – sie waren auch dreckig, wütend,<br />
politisch unkorrekt, ein Durcheinander von Genres, Formen, Materialien,<br />
voller Sex, befreit vom Gut-aussehen-Müssen und Anständigsein-Müssen,<br />
offene Infragestellungen von filmischen Ästhetiken,<br />
die das Mainstreamkino schon lange <strong>nicht</strong> mehr überprüft hatte:<br />
unvorhersehbar, herausfordernd, heiß. Die „Homo-Postmoderne“<br />
oder kurz: „Homo Pomo“ war angebrochen. Rich schrieb das auf und<br />
verbreitete als ‚embedded filmjournalist‘ die frohe Kunde einer neuen<br />
Welle, zuerst in der „Village Voice“, dann in „Sight & Sound“, wo sie<br />
endlich auch <strong>den</strong> passen<strong>den</strong> Begriff da<strong>für</strong> fand: „New Queer Cinema!“<br />
Der Begriff war bald so heiß wie sein Gegenstand, machte die<br />
publizistische Runde, war Seminar-Thema und bald schon Pitchingfähig:<br />
ein(e) junge(r) <strong>Film</strong>emacher(in) brauchte ihn nur in <strong>den</strong> Raum<br />
zu werfen und potentielle ProduzentInnen wussten, worauf sie sich<br />
freuen konnten. Festivals wur<strong>den</strong> größer, Verleiher sprangen auf,<br />
Kinos schufen Platz <strong>für</strong> das neue Zeug. SchauspielerInnen wollten<br />
plötzlich queere Rollen übernehmen, AutorInnen außerhalb der<br />
Szene auf die Queer <strong>Film</strong> Festivals. Die <strong>Film</strong>e verflachten, kommerzialisierten<br />
sich, queere Figuren wur<strong>den</strong> ohne die komplexen queeren<br />
I<strong>den</strong>titätsfragen zu interessanten Sidekicks in Mainstreamfilmen<br />
und Fernsehserien. Nischen entstan<strong>den</strong>, die die eigene, segmentierte<br />
Zielgruppe bedienten, die Queerness an <strong>Film</strong>en außerhalb dieser<br />
Nische wurde ignoriert. (Da gibt es, wie Rich ihren Kollegen Richard<br />
Dyer zitiert, zwei Möglichkeiten – entweder man sagt: „Das ist nur so<br />
ein queerer <strong>Film</strong>“, oder man sagt: „Das ist ein toller <strong>Film</strong>, und dass er<br />
queer ist, spielt dabei überhaupt keine Rolle!“)<br />
B. Ruby Rich verfolgt diese Entwicklung bis heute, schärfte dabei<br />
immer mehr ihren Blick <strong>für</strong> das, was da 1991/92 <strong>für</strong> sie selbst so überraschend<br />
passiert war und überlegte, wie es dazu kommen konnte.<br />
Herausgekommen ist dabei ihr grandioser Essayband „New Queer<br />
Cinema – The Director’s Cut“.<br />
„Ich bin niemals glücklicher als in diesen seltenen Momenten,<br />
wenn meine eigenen Interessen, die <strong>Film</strong>e, die ich liebe, die Interessen<br />
einer Community, der ich angehöre, und die Aufmerksamkeit<br />
einer größeren Gesellschaft zusammenkommen. Ich lebe <strong>für</strong> diese<br />
Momente, immer noch.“ Solch ein Moment war <strong>für</strong> Rich das New<br />
Queer Cinema. Ein Moment, keine Bewegung („a moment, not a<br />
movement“), ausgelöst von fünf Faktoren: Aids, Reagan, Camcorder,<br />
billige Mieten und dem akademischen Queer-Begriff. Aids machte<br />
das queere Kino zu einer dringlichen, lebensnotwendigen Angelegenheit,<br />
gegen die Reagans und Thatchers musste man die totgeschwiegene<br />
Szene sichtbar machen, die neue Videotechnik verbilligte die<br />
Produktionsprozesse, in <strong>den</strong> urbanen Zentren konnten noch Künstler<br />
leben und sich neuerfin<strong>den</strong>, und mit dem Queer-Diskurs war endlich<br />
eine Möglichkeit gegeben, <strong>nicht</strong> mehr in festen I<strong>den</strong>titätskategorien<br />
zu <strong>den</strong>ken. Das New Queer Cinema war Ausdruck von „Reflexion,<br />
Grundversorgung und erneuertem Engagement“. Richs mitbewegter<br />
Blick darauf ist der Schlüssel zum Verständnis ihres Schreibens<br />
– eine Erneuerung des Kinos aus dem Geist der künstlerischen Avantgarde<br />
entsprach ihrer eigenen, Anfang der 1990er endlich in Erfüllung<br />
gegangenen Sehnsucht; ihr Ärger über das schwullesbische<br />
Publikum, dem diese <strong>Film</strong>e zu roh und „unglossy“ waren, ein ewiger<br />
Begleiter; die Enttäuschung über Kommerzialisierung, „Disneyfication“,<br />
Vernischung und Mainstreamumarmung bis heute Grund<br />
genug, ihren Blick zu erweitern und sich mit anderen Szenen und<br />
Werken des Weltkinos auseinanderzusetzen.<br />
Frisch wirken ihre Berichte aus der Emergenzzeit des New Queer<br />
Cinema nach wie vor, auch wenn die 2012 geschriebene Anmerkungen<br />
dazu oft ziemlich ernüchternd sind: Nicht wenige <strong>Film</strong>emacherInnen,<br />
<strong>den</strong>en sie damals eine große Zukunft vorhersagte, haben<br />
nach ihren Debüts <strong>nicht</strong>s mehr hinbekommen, <strong>nicht</strong> wenige von ihr<br />
auserkorene Meisterwerke kennen heute nur noch ein paar Nerds<br />
(vom Typ Zwei), <strong>nicht</strong> selten sind gefühlte kreative Explosionen zu<br />
Knallerbsen der <strong>Film</strong>geschichte gewor<strong>den</strong>. Trotzdem lesen sich ihre<br />
Begeisterungs- und entschie<strong>den</strong>en Promotionstexte oft sehr geistreich:<br />
Ein frühes Porträt über Tropical Malady-Regisseur Apichatpong<br />
Weerasethakul, bei dem heute die etabliertesten Galerien und<br />
Festivals Sturm klingeln, mit dem Satz zu beginnen: „Der junge thailändische<br />
<strong>Film</strong>emacher macht seine Karriere da<strong>für</strong> verantwortlich,<br />
dass ihm ein Liebhaber fehlt!“, ist genauso hübsch wie ihr Frontbericht<br />
aus dem Schlafzimmer-Schneideraum von Tarnation-Regisseur<br />
Jonathan Caouette (der Sprachspiele halber hier mal im Original<br />
widergegeben): „Caouette had burnt the midnight oil on his boyfriend<br />
David Sanin Paz’s consumer iMac, with nothing but its built-in software<br />
to edit the melancholia out of his system and onto the screen.“<br />
Wirklich grandios aber ist Rich immer dann, wenn sie mit leichtem<br />
Abstand zum Gegenstand dichte Beschreibungen von <strong>Film</strong>phänomenen<br />
wagt, mühelos diverse Aufmerksamkeitsebenen in klare<br />
Texte umwandelt, ohne sich selbst darin unkenntlich zu machen: ihr<br />
Porträt der Produktions- und Rezeptionsgeschichte von Brokeback<br />
Mountain verhält sich wunderbar widerständig gegen die Kanonisierungsmaßnahmen,<br />
die ihn heute als „unseren Vom Winde verweht“<br />
befriedet haben; ihr anfängliches Unverständnis über Gus Van Sants<br />
konservatives Biopic über Harvey Milk, dem authentischen Bild einer<br />
historischen Szene, einem Hel<strong>den</strong> und einer politischen Korrektheit<br />
verpflichtet, spiegelt sie überraschend im Schock der gleichzeitig im<br />
Parlament durchgesetzten „Proposition 8“, durch das u.a. ihre eigene<br />
„Ehe“ rückwirkend annuliert wurde; ein Szene-Schock, der aus Van<br />
Sants <strong>Film</strong> ein Politikum machte, ein Statement, ein nun vielschichtig<br />
angereichertes Ventil <strong>für</strong> Enttäuschungen und Wut, ein „von der<br />
Geschichte neu geschnittener <strong>Film</strong>“.<br />
Scharfsinnig und besonders engagiert ist Rich auch, wenn es um<br />
<strong>den</strong> weiblichen Beitrag am Queer Cinema geht. Vor allem die komplexen<br />
Strategien eines Heterokinos, das die Lesbe in <strong>Film</strong>en wie Thelma<br />
& Louise oder Basic Instinct zur verführerischen Killerin stilisiert<br />
(„während die schwulen Jungs mit dem Sterben beschäftigt waren“)<br />
verfolgt sie mit Ambivalenz und persönlicher Betroffenheit: „The lesbian,<br />
the age-old creature from the black lagoon, was abruptly transformed<br />
from scorned humorless outsider into glamorous insider. It<br />
may have been Madonna’s fault.“<br />
Schwierig wird es bei Rich immer dann, wenn sie über <strong>den</strong> USamerikanischen<br />
Tellerrand hinausschaut und <strong>für</strong> diese komplexen<br />
Beschreibungen <strong>nicht</strong> mehr genügend Kontexte zur Verfügung<br />
hat: Ihr Versuch über <strong>den</strong> französischen Republikanismus und das<br />
„queer nouveau“ bei Ozon, Téchiné und Collard gerät genauso flach<br />
wie die Exkurse über das lateinamerikanische Kino. Hier tönen die<br />
Superlative schal und der Blick geht <strong>nicht</strong> über die Kurzsichtigkeit<br />
der Gastdozentin und Stipendiatin hinaus. Auch möchte man dann<br />
doch gerne wissen, wie ein Queer Cinema aussehen könnte, das sich<br />
vom zeitlichen Bezug auf <strong>den</strong> Moment zu Beginn der 1990er Jahre<br />
emanzipiert: Was wäre <strong>den</strong>n das Queere an <strong>den</strong> <strong>Film</strong>en von Bidgood,<br />
Maya Deren, Lucía Puenzo oder Travis Mathews? Wie kann man die<br />
formalen Infragestellungen und Erfindungen beschreiben, die queere<br />
Inhalte laut Rich immer provozieren und initiieren? Warum sind<br />
<strong>den</strong>n die Transfilme, allen schönen Wortspielen mit „Transgender“<br />
und „Transgenre“ zum Trotz, so biografie- und Coming-Out-lastig,<br />
wie Rich moniert? Warum sind so viele queere <strong>Film</strong>künstlerInnen ins<br />
Fernsehen (die Schluss credits von The L-Word), in <strong>den</strong> akademischen<br />
Betrieb, in Gallerien oder ins Netz gegangen? Und sind neue <strong>Film</strong>e<br />
wie Pariah, Weekend und Keep The Lights On <strong>nicht</strong> viel mehr als die<br />
legitimen NQC-Nachfolger, als die sie sie vorstellt? Oder wie klang<br />
das noch in ihrer Sehnsuchtsbeschreibung eines „good gay films“<br />
1998: „Ich will einen Post-Coming-Out-, Post-Reiß-Dich-Zusammen-<br />
<strong>Film</strong>, voll mit Sex, Romantik, Tragik und voller Lebensvorstellungen<br />
außerhalb klassischer Beziehungsmuster“? Hat sie <strong>den</strong> also <strong>nicht</strong><br />
mittlerweile in mehrfacher Ausführung bekommen? Aber – diese<br />
Fragen stehen jetzt im Raum. Und verlangen vielleicht ein Sequel zum<br />
Autorenfilm.<br />
B. Ruby Richs „Director’s Cut“ ihres New-Queer-Cinema-Begriffs<br />
ist kein eleganter Partytalk, sondern eine klare und vielschichtige<br />
Analyse eines Wissensfeldes, zu dem notwendigerweise gehört, dass<br />
es <strong>nicht</strong> vollständig bestellt wer<strong>den</strong> kann. Sie bleibt fragmentarisch,<br />
ein unabgeschlossener Versuch über eine Kategorie, die sich aus der<br />
Sehnsucht nach Nicht-Kategorierbarkeit speist („Ich bin eine Postmodernistin<br />
aus vollem Herzen!“). Man kann nur hoffen, dass Rich<br />
weiterhin als dichte Beschreiberin vom Typ Zwei das Weltkino<br />
beobachten und begleiten wird. Und als lei<strong>den</strong>schaftlich verstrickte<br />
Anwältin <strong>für</strong> das Unangepasste, die solche Sätze schreibt:<br />
„In <strong>den</strong> 50ern konnten sich Jugendliche ein Leben nach dem<br />
Muster von Zorro, Peter Pan oder Robin Hood vorstellen; oder sich,<br />
wenn sie etwas älter waren, in Johnny Guitar oder <strong>den</strong> Rebel Without<br />
A Cause hineinfantasieren. Die Gleeks von heute kriegen Glee,<br />
zur Unterhaltung und Selbstbestätigung. So schön es ist, sich queere<br />
High-Scool-Kids anzusehen: Es bleibt immer noch eine blitz-saubere<br />
Sitcom.“<br />
s<br />
New Queer Cinema –<br />
The Director’s Cut<br />
von B. Ruby Rich<br />
322 Seiten, Duke University Press 2013<br />
www.dukeupress.edu<br />
40 sissy 19 sissy 19 41
frisch ausgepackt<br />
Neu auf DVD<br />
von paul schulz (ps) und Jan Künemund (JK)<br />
TRANSPAPA<br />
DE 2012, Regie: Sarah Judith Mettke, Renaissance Medien<br />
Transpapa erzählt die Geschichte<br />
von Maren (Luisa<br />
Sappelt) und Sophia<br />
(Devid Striesow). Maren<br />
steckt mitten in der Pubertät,<br />
als sie erfährt, dass<br />
ihr Vater – <strong>den</strong> sie auf einem<br />
Selbstfindungstrip in<br />
Nepal wähnt – sich längst<br />
gefun<strong>den</strong> und das Geschlecht gewechselt hat.<br />
Heimlich macht sie sich auf <strong>den</strong> Weg in die<br />
spießige Vorstadtidylle Nordrhein-Westfalens,<br />
um ihren Vater zu suchen, und findet Sophia,<br />
die eigentlich viel lieber ihre Mutter sein würde.<br />
Regisseurin und Dreh buchauto rin Sarah<br />
Judith Mettke hat 2012 <strong>für</strong> ihren Abschlussfilm<br />
an der <strong>Film</strong>hochschule Ba<strong>den</strong>-Württemberg<br />
gleich ein ganzes Bündel Preise bekommen,<br />
alle zu Recht. Herr Striesow beweist als<br />
Sophia, dass er <strong>nicht</strong> ganz umsonst mehr Rollen<br />
ablehnen kann, als er annimmt, das Zusammenspiel<br />
zwischen ihm und Luisa Sappelt ist<br />
so zart und wohlüberlegt, dass es eine große<br />
Freude ist. Auch, dass hier <strong>nicht</strong> eine direkte<br />
Frage nach dem „Warum“ gestellt wird, sondern<br />
es dem Buch einfach nur um eine sehr<br />
spezielle Form der Familiendynamik zwischen<br />
<strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Frauen geht, ist einfach nur hinreißend.<br />
Angucken!<br />
ps<br />
THE PAPERBOY<br />
US 2012, Regie: Lee Daniels, Studiocanal<br />
Es ist so heiß im Sommer<br />
1969 im tiefen Sü<strong>den</strong> Floridas,<br />
dass sich alles Feste<br />
verflüssigt. Wimperntusche<br />
zerläuft, Schweiß<br />
fließt am Polyester herab,<br />
Eiswürfel schmelzen im<br />
Eistee, Quallen treiben im<br />
Meer, Gedärm bricht aus<br />
toten Krokodilen heraus. Ein Ensemble hochkarätiger<br />
Stars dünstet aus in Lee Daniels (Precious)<br />
neuem Wahnsinnsfilm, in dem es oberflächlich<br />
um die Untersuchung eines<br />
Polizistenmordes geht. Stets kurzsichtig starren<br />
die blauen Augen von Zac Efron in nahe<br />
Fernen, stets klebt ihm ein scharfer Kamerablick<br />
auf dem schweißnassen Körper. Wie sie<br />
haben alle anderen Figuren mindestens eine<br />
doppelte Agenda und häuten sich im Verlauf<br />
des <strong>Film</strong>s: Nicole Kidman nimmt ihre blonde<br />
Perücke ab und uriniert auf das Teenie-Idol,<br />
Matthew McConaughey reckt sich obszön<br />
dunklen Schwänzen entgegen, John Cusack ergießt<br />
sich in seine Sträflingshose, David<br />
Oyelowos Spott fällt vom British English in<br />
breitesten Südstaatenakzent zurück. Manchmal<br />
wird die Kamera davon ohnmächtig,<br />
rutscht von <strong>den</strong> Körpern ab, ertrinkt das heiße<br />
Durcheinander der Stimmen in träger Soulmusik<br />
auf der Tonspur. Das 16mm-<strong>Film</strong>material<br />
flimmert, die Farben sind halb durchgebrannt,<br />
die Gesichter maskenhaft erstarrt. High Camp<br />
das Ganze, ohne Zweifel, doch liegt überall ein<br />
heißes Gefühl darunter, eine Choreographie<br />
gefallener Engel, die, ganz unten angelangt, zu<br />
sagenhafter Größe auftauchen. Wie schafft<br />
dieser <strong>Film</strong>emacher das bloß, aus diesen Stars<br />
solch zuckende Leiber zu machen, und warum<br />
zucken alle dabei so lustvoll mit, dass die Kinobesucher<br />
in <strong>den</strong> USA da kaum hinsehen mochten?<br />
Es gibt kein aufregenderes Erzählkino gerade<br />
aus Hollywood – und keinen aufregenderen<br />
<strong>Film</strong>emacher dort als Lee Daniels.<br />
jk<br />
OWENS ERSTE LIEBE<br />
UK 2012, Regie: Bryn Higgins, Edition Salzgeber<br />
„Der Typ, <strong>den</strong> die Geschwister<br />
Owen und Kristen<br />
lieben, ist Liam: ein<br />
Yuppie, Anfang 20, mit<br />
Babyface und Haartolle.<br />
Er kommt als Finanzberater<br />
in die Hochhauswohnung<br />
der Kleinfamilie,<br />
gutaussehend, erfolgreich,<br />
agil. Als er im Cabrio davonfährt, flattern<br />
die Hoffnungen und Sehnsüchte der Zwillinge<br />
hinterher.“ (p Seite 36)<br />
FRAUENSEE<br />
DE 2012, Regie: Zoltan Paul, Edition Salzgeber<br />
Vier Frauen treffen an einem<br />
Wochenende in einer<br />
malerischen Bran<strong>den</strong>burger<br />
Seenlandschaft aufeinander<br />
und ihre Flirts,<br />
ihr Begehren, ihre Lebensweisheiten<br />
und Zukunftspläne<br />
fließen inund<br />
durcheinander. „Was<br />
wollen sie voneinander, die beherrschte, reflektierte<br />
Kirsten, die sich selbst bewusst aus<br />
ihrem eigenen Inneren ausschließt, die<br />
schweigsame, toughe Rosa, die Verbindlichkeit<br />
und Erdung sucht, die provokante und sexuelle<br />
aggressive Evi und ihre langjährige Geliebte<br />
Olivia, die immer um Ausgleich bemüht<br />
ist? Die Charaktere sind schnell und nachvollziehbar<br />
skizziert und doch wer<strong>den</strong> scheinbar<br />
klare, romantische Rollenbilder überraschend<br />
verdreht. Es geht um die Suche und um das<br />
Lernen voneinander, um die Sehnsucht nach<br />
jugendlicher Leichtigkeit und die nach Verwurzelung<br />
in der Gesellschaft. Um eine Brücke<br />
zwischen <strong>den</strong> Altersgruppen. Das abgebrühte<br />
‚been there, done that‘ von Kirsten<br />
gegenüber der Unverdorbenheit, mit der die<br />
bei<strong>den</strong> Stu<strong>den</strong>tinnen das Leben erobern. Die<br />
Paare sind Spiegel und zugleich Reibungsfläche<br />
<strong>für</strong>einander, stehen <strong>für</strong> Ziele und Verlorenes,<br />
<strong>für</strong> Möglichkeiten und Mut.“ (Tania Witte<br />
in SISSY 16)<br />
SLEEPLESS KNIGHTS<br />
DE 2012, Regie: Stefan Butzmühlen & Cristina Diz,<br />
Edition Salzgeber<br />
Sleepless Knights erzählt<br />
vom Aufeinandertreffen<br />
und Aneinander-Vorbeileben<br />
einer alten, starren,<br />
verpanzerten Dorfbevölkerung<br />
in der spanischen<br />
Extremadura und einem<br />
jungen schwulen Paar, das<br />
die Jugendarbeitslosigkeit<br />
aus <strong>den</strong> Metropolen aufs Land vertrieben hat.<br />
„Der Flirt von Juan und Carlos schlägt rasch<br />
um in handfeste Liebeshändel, mit elliptischer<br />
Plötzlichkeit fast ganz ohne Anbahnung, so unvorbereitet<br />
und ungeschützt wie auch der Rest<br />
von Sleepless Knights sich Bahn brechen wird.<br />
Eine einschlägige Szene: Unmittelbar nachdem<br />
sie einander zum ersten Mal begegnet sind, sitzen<br />
Juan und Carlos am Ufer eines Flusses, der<br />
so breit ist, dass er als zweiter Himmel durchgeht.<br />
Juan erhebt sich, pinkelt in <strong>den</strong> vorbeilaufen<strong>den</strong><br />
Strom und eh er sich’s versieht ist Carlos<br />
nackt und springt, schwups, in die urinangereicherten<br />
Fluten: ‚Kommst du <strong>nicht</strong> rein?‘ Außer<br />
dem Wasser ist jetzt alles klar.“ (Nikolaus<br />
Perneczky, SISSY 16)<br />
PAULISTA – GESCHICHTEN<br />
AUS SÃO PAOLO<br />
BR 2010, Regie: Roberto Moreira, Bildkraft<br />
Kurz bevor sich Marina in<br />
der großen Stadt <strong>für</strong> eine<br />
Theaterrolle bewirbt,<br />
spielt sie auf ihrer Provinzbühne<br />
das Rotkäppchen.<br />
Der böse Wolf heißt<br />
nur wenig später São Paulo<br />
und Marina wird so ihre<br />
Erfahrungen mit ihm machen.<br />
Sie kommt unter im vierten Stock eines<br />
Hochhauses an der Avenida Paulista, dem or-<br />
<strong>den</strong>tlichen Zentrum des Molochs – einen besseren<br />
Überblick kann man <strong>nicht</strong> haben. Die Wohnung<br />
teilt sie sich mit der erfolgreichen Anwältin<br />
Suzana, die biologisch mal ein Junge war und es<br />
nun gerne or<strong>den</strong>tlich und aufgeräumt hat. Ihr<br />
Nachbar ist die dritte Figur in dieser eleganten<br />
Variation der „Stadtgeschichten“, ein lebensferner<br />
Träumer namens Jay, der Gedichte schreibt<br />
und eine Prostituierte liebt. „In dieser Stadt<br />
kann sich jeder über Nacht verändern“,<br />
schwärmt Marina und wirft sich ins Nachtleben,<br />
wo sie schnell einem weiteren bösen Wolf<br />
namens Justine verfällt und ihren Freund zuhause<br />
vergisst. Und doch schleppen alle drei<br />
HeldInnen dieses <strong>Film</strong>s ihre Biografien wie Altlasten<br />
mit sich herum und sind <strong>für</strong> <strong>den</strong> amourösen<br />
Nahkampf vier Stockwerke tiefer schlecht<br />
ausgerüstet – Suzana helfen ihre Karatetechniken<br />
<strong>nicht</strong>s, als sie <strong>den</strong> braven Juristen Gil über<br />
ihre Vergangenheit aufklärt; Marina bleibt zu<br />
sehr das Rotkäppchen, das vor <strong>den</strong> Exzessen ihrer<br />
Punkfreundin zurückweicht, als dass sie das<br />
Wolfbändigen lernt; und Jay, das Muttersöhnchen<br />
mit der geerbten Wohnung, kriegt seine<br />
Geliebte <strong>nicht</strong> rum, weil er nur in Gedichten<br />
und <strong>nicht</strong> mit Geld <strong>für</strong> sie zahlen will. Alle drei<br />
wer<strong>den</strong> enttäuscht und nehmen dann doch wieder<br />
<strong>den</strong> retten<strong>den</strong> Aufzug zur Terrasse ihres<br />
Hochhauses. Sie wissen, dass sie immer wieder<br />
hinunter müssen, ins „Herz des Dschungels“.<br />
Denn wie heißt es in Sonjas Monolog aus Onkel<br />
Wanja, mit dem Marina <strong>den</strong> Theaterregisseur in<br />
der großen Stadt überzeugt: „Was soll man<br />
schon tun – man muß leben!“<br />
jk<br />
Dem Himmel so nah – Al Cielo<br />
AR 2012, Regie: Diego Prado, Pro-Fun Media<br />
Diego Prado ist noch klein<br />
gewesen, als Kurt Cobain<br />
starb, aber der Tod des<br />
„Nirvana“-Frontmanns<br />
muss tiefe Spuren hinterlassen<br />
haben. Denn in<br />
Dem Himmel so nah, seinem<br />
Debüt, inszeniert<br />
Prado eine Geschichte<br />
über erste Liebe vor der Blaupause der damaligen<br />
Verhältnisse: Andrés ist sechzehn, schüchtern<br />
und ein kleiner Punkrocker. Als er eines<br />
Tages erfährt, dass der Sänger seiner Lieblingsband<br />
sich das Leben genommen hat, wird er so<br />
einsiedlerisch, dass seine tief religiöse Mama<br />
glaubt, jetzt könne nur noch Gott helfen und<br />
ihn in die Jugendgruppe der nächsten Kirche<br />
schleppt. Dort findet Andrés zwar seelischen<br />
Beistand, allerdings <strong>nicht</strong> in Form einer spirituellen<br />
Erweckung, sondern in Alex, dem Gitarristen<br />
einer Band, die in der Kirche probt. Die<br />
bei<strong>den</strong> fangen irgendwas miteinander an, von<br />
dem keiner von ihnen so genau weiß, was es ist<br />
oder wo es hinführen könnte. Prado erzählt seine<br />
hübsche kleine Geschichte in sachlichen,<br />
fast dokumentarischen Bildern, was besonders<br />
Mauro Haramboure in der männlich jugendlichen<br />
Hauptrolle noch mehr leuchten lässt. Hinreißender<br />
kleiner <strong>Film</strong>, so schön wie ein sachtes,<br />
sauber gespieltes Nirvana-Riff.<br />
ps<br />
STUD LIFE<br />
UK 2012, Regie: Campbell X, GM <strong>Film</strong>s<br />
Das Großstadtliebesleben<br />
ist <strong>nicht</strong> so einfach: Keiner<br />
bekommt wirklich,<br />
was er will, aber alle versuchen<br />
es ständig weiter.<br />
So auch JJ und Seb, ihres<br />
Zeichens eine traumschöne<br />
Butchlesbe, die als<br />
Hochzeitsfotografin arbeitet,<br />
und ein fröhlicher Großstadthomo mit<br />
Hang zu und einer genauen Vorstellung von der<br />
großen Liebe. Stud Life inszeniert die größte<br />
aller Gefühlsaufwallungen als Einbruch in<br />
eine wohlgeordnete, schön gebaute Welt: JJ<br />
lernt ihre Traumfrau kennen und Seb will mit<br />
dem hübschen Dealer, der ihn mag, <strong>nicht</strong>s anfangen<br />
können. Beides stellt ihre Freundschaft,<br />
die wichtigste Beziehung in Stud Life, auf eine<br />
harte Probe. Campbell X erzählt in seinem Debüt<br />
von jungen Schwulen und Lesben in London,<br />
die sich Kategorisierungen verweigern:<br />
Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung<br />
sind ein bisschen egal, der Großstadtdschungel<br />
hat Verwirrenderes, mit dem umzugehen<br />
schwierig ist. Was eine traurige Studie<br />
über Bindungslosigkeit sein könnte, ist ein<br />
fröhlicher, unterhaltsamer und sehr sexy <strong>Film</strong><br />
über Nähe aller Art gewor<strong>den</strong>, der unangestrengt<br />
queer ist und Spaß macht.<br />
ps<br />
WE HAVE TO STOP NOW<br />
frisch ausgepackt<br />
US 2009-2010, Regie: Robyn Dettmann, Edition Salzgeber<br />
Es gibt diesen Witz über<br />
Glühbirnen und Lesben<br />
und wie viele man von der<br />
einen Sorte braucht, um<br />
die andere einzuschrauben,<br />
und die Punchline ist:<br />
„Eine. Und daran ist überhaupt<br />
<strong>nicht</strong>s komisch.“<br />
Heißt: Frauenliebende<br />
Frauen haben <strong>den</strong> Ruf, <strong>nicht</strong> besonders komisch<br />
zu sein, besonders im <strong>Film</strong>. Das mag früher gestimmt<br />
haben, aber seit The L-Word und ein<br />
paar hübschen Versuchen in sapphistischen<br />
Romcoms ist alles anders. Das sieht man jetzt<br />
auch an We have to stop now. Die auf eine DVD<br />
gepresste 14-teilige Webserie von Robyn Dettmann<br />
ist zum Schreien. Weil sie so böse und ein<br />
kleines Bisschen zynisch ist: Kit und Dyna sind<br />
schon seit Ewigkeiten ein Paar. Sie sind Therapeutinnen<br />
und haben einen Bestseller geschrieben,<br />
der „How to succeed in marriage without<br />
really trying“ heißt. Und sie hassen sich. Was<br />
schwierig ist, weil, seit ihr Buch die „New York<br />
42 sissy 19 sissy 19 43<br />
»Geltinger wagt alles<br />
und gewinnt viel.«<br />
KulturSpiegel<br />
Gunther Geltinger MOOR<br />
440 S. Geb. € 22,95 (D)<br />
Auch als eBook erhältlich<br />
Erscheint am 9. September<br />
Er ist dreizehn und wächst ohne<br />
Vater auf. Er stottert und heißt<br />
wie kein anderes Kind im Dorf, in<br />
der Schule: Dion. Dion Katthusen,<br />
Außenseiter unter <strong>den</strong> Gleichaltrigen,<br />
Einzelkind, Libellensammler<br />
in einer Moorlandschaft voller<br />
Mythen und Legen<strong>den</strong>. Am Ende<br />
seiner Kind heit erzählt er seine<br />
Geschichte. Und lässt das Moor<br />
<strong>für</strong> sich sprechen.<br />
Code scannen und<br />
Buchtrailer ansehen<br />
Suhrkamp<br />
www.suhrkamp.de<br />
Foto: Jürgen Bauer
frisch ausgepackt<br />
frisch ausgepackt<br />
Times“-Bestsellerliste gestürmt hat, ein Kamerateam<br />
versucht festzuhalten, wie ihre ach so<br />
gelungene Beziehung aussieht. Außerdem ist<br />
Kits permanent bekiffte Schwester bei ihnen<br />
eingezogen. Aus dieser Ausgangssituation<br />
schlägt der 80-Minüter in kurzen Episo<strong>den</strong> komödiantische<br />
Funken, an <strong>den</strong>en <strong>nicht</strong> nur die<br />
bei<strong>den</strong> Hauptdarstellerinnen Jill Bennett<br />
(Dante’s Cove) und Cathy DeBuono (StarTrek:<br />
Deep Space Nine, Exes & Ohs), sondern auch die<br />
Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen einen<br />
Hei<strong>den</strong>spaß haben. Weil es ein bisschen so<br />
ist, als würde Michael Patrick King seine lesbische<br />
Seite entdecken, ist das übrigens auch was<br />
<strong>für</strong> Jungs – oder fröhliche queere Abende. ps<br />
JENSEITS DER MAUERN<br />
BE/FR/CA 2012, Regie: David Lambert, Edition Salzgeber<br />
Ein Musiker nimmt einen<br />
anderen aus der Kneipe<br />
mit nach Hause und bald<br />
verlässt der seine Frau<br />
und zieht ein. Die Liebesgeschichte,<br />
die jetzt beginnt,<br />
entwickelt sich<br />
nach völlig eigenem Muster,<br />
leicht und spielerisch<br />
– bis einer der bei<strong>den</strong> von einem Tag auf <strong>den</strong><br />
anderen verschwindet. „Festgelegt auf einen<br />
bestimmten Typus scheinen zunächst die bei<strong>den</strong><br />
Hauptfiguren zu sein: Während Ilir eher<br />
die selbstsichere, sehr virile Rolle eines Beschützers<br />
und großen Bruders spielt, wirkt<br />
Paulo sehr kindlich, verloren und anlehnungsbedürftig.<br />
Doch im Verlauf der Geschichte wer<strong>den</strong><br />
die Positionen immer wieder vertauscht,<br />
Dominanz verwandelt sich in Unterlegenheit,<br />
Schwäche in Stärke. ‚Diese Dynamiken deutlich<br />
herauszuarbeiten‘, erklärt Lambert, ‚war<br />
mir sehr wichtig, <strong>den</strong>n sie gehören einfach zu<br />
Liebesbeziehungen dazu, sie liegen in der Natur<br />
der Sache: Mal begehrt der eine Partner <strong>den</strong><br />
anderen mehr, woraus letzterem eine gewisse<br />
Überlegenheit erwächst, mal ist es umgekehrt.<br />
(…) Ich mag <strong>Film</strong>e, die einen innerhalb von zwei<br />
oder drei Minuten sowohl zum Weinen als auch<br />
zum Lachen bringen können, <strong>den</strong>n ich glaube,<br />
so ist das Leben, das macht die Magie des Lebens<br />
aus.‘“ (Christoph Meyring im Gespräch<br />
mit David Lambert in SISSY 17).<br />
OUT IN THE DARK<br />
IL/US 2012, Regie: Michael Mayer, Pro-Fun Media<br />
„Eine klassische Boymeets-Boy-Geschichte<br />
wird zum Drama. In einem<br />
Club in Tel Aviv kommen<br />
der Psychologie-Stu<strong>den</strong>t<br />
Nimr aus Ramallah<br />
und der Rechtsanwalt Roy<br />
ins Gespräch, sie treffen<br />
sich wieder – und verlieben<br />
sich. Doch dann erpresst der Mossad Nimr:<br />
Wenn er seine Einreisegenehmigung <strong>für</strong> Israel<br />
behalten will, soll er seinen Bruder ausspionieren,<br />
der aktiv in einer militanten Palästinenser-<br />
Organisation ist. (…) Die Geschichte von Israel<br />
als sicherem Ort <strong>für</strong> schwule Palästinenser<br />
wurde schon oft erzählt und hat es mit The Buble<br />
von Eytan Fox schon vor Jahren ins Mainstream-Kino<br />
geschafft. Out In The Dark erzählt<br />
die gleiche Geschichte ohne große Schnörkel,<br />
fast erwartbar. Um so erstaunlicher, dass der<br />
<strong>Film</strong> trotzdem berührt und gefangen nimmt.<br />
Vielleicht liegt das auch an <strong>den</strong> Bildern: Out In<br />
The Dark scheint in warmen Farbtönen, man ist<br />
bei Partys oder im Wohnzimmer von Ramallah<br />
direkt dabei. Und die Figuren haben Ambivalenzen.“<br />
(Malte Göbel in SISSY 17)<br />
WESTERLAND<br />
DE 2012, Regie: Tim Staffel, Edition Salzgeber<br />
In Westerland treffen sich<br />
zwei Jungs und gehen<br />
eine Beziehung ein. Jesús<br />
ist Borderliner, Cem hat<br />
Angst vor dem Leben. Das<br />
Staunen über die Sylter<br />
Winterlandschaftsperspektiven<br />
verlernen sie<br />
schnell. Aufeinander aufpassen<br />
wird zum Teil des Problems. Tim Staffel<br />
Debütfilm nach seinem eigenen Roman erzählt<br />
eine Freundschaft und eine Landschaft. „Westerland<br />
verzichtet fast vollständig auf die diversen<br />
Zeichen realistischer <strong>Film</strong>e <strong>für</strong> Homosexualität.<br />
Abgesehen davon, dass wir immer wieder<br />
eingela<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>, die jungen männlichen<br />
Körper beider Protagonisten anzuschauen,<br />
sind wir von <strong>den</strong> besonders aufdringlich romantischen<br />
schwulen Küssen, dem Händchenhalten<br />
im Close-Up, <strong>den</strong> argwöhnisch dreinblicken<strong>den</strong><br />
Prollschlägern und dergleichen<br />
filmischer Klischeebildung verschont. Am<br />
Ende ist es fast egal, ob die bei<strong>den</strong> eigentlich<br />
schwul sind und man gleich von Liebe sprechen<br />
muss, oder ob sich hier ‚nur‘ eine intensive<br />
Freundschaft entwickelt hat. Homosexualität<br />
ist hier weder die Bedingung alles Geschehens<br />
noch ein ausgezeichnetes Problem oder überhaupt<br />
ein Problem. Sie ist da oder <strong>nicht</strong> und<br />
letztlich liegt die Entscheidung über diese Frage<br />
wohl auch sehr bei uns Zuschauer_innen.<br />
Westerland gehört je<strong>den</strong>falls zu einer Reihe von<br />
<strong>Film</strong>en aus der jüngsten Zeit, in der Schwulsein<br />
<strong>nicht</strong> das Problem ist, sondern wo Schwule<br />
auch einmal andere Probleme haben dürfen als<br />
ihre sexuelle I<strong>den</strong>tität. In einer so bedrücken<strong>den</strong><br />
und komplexen Problemlage, wie sie Westerland<br />
entwirft, ist die sexuelle I<strong>den</strong>tität weder<br />
eine zusätzliche Bürde noch irgend eine Hilfe.“<br />
(André Wendler in SISSY 16)<br />
THE DELTA<br />
US 1996, Regie: Ira Sachs, Edition Salzgeber<br />
Der Debütspielfilm von<br />
Ira Sachs (Keep The Lights<br />
On) ist eine schwule Fieberphantasie,<br />
in der ein<br />
armer kleiner reicher weißer<br />
Junge aus einer Südstaatenfamilie<br />
sich mit einem<br />
afroasiatischen<br />
Stricher auf eine Bootsfahrt<br />
begibt. „Je nach erzählerischem Erfordernis<br />
verwandelt sich The Delta in einen geduldig<br />
beobachten<strong>den</strong> Dokumentarfilm, in<br />
eine bukolische Elegie, in ein sozialrealistisches<br />
Melodram, in eine ödipale Rachefantasie<br />
oder in einen Festivalfilm avant la lettre, der<br />
aus Grün<strong>den</strong>, die <strong>den</strong> erzählerischen Erfordernissen<br />
gerade äußerlich bleiben, in zwei ungleiche,<br />
deutlich demarkierte Hälften zerfällt.<br />
Der junge Lincoln gibt irgendwann die Staffel<br />
ab an <strong>den</strong> Vietnamesen Minh, mit dem er eine<br />
kurze und weniger heftige als melancholische<br />
Affäre hatte, worauf der <strong>Film</strong> urplötzlich und<br />
völlig unvermittelt noch einmal ganz neue Perspektiven<br />
und Vektoren auf diesen südlichsten<br />
Ort der Welt eröffnet, der gerade noch wie<br />
Amerika aussah, im nächsten Moment aber in<br />
Vietnam liegen kann. Alle diese Verwandlungen<br />
vollziehen sich ohne das geringste Aufsehen,<br />
als <strong>den</strong>kbar unauffälliger Pluralismus<br />
bzw. Eklektizismus der Form, wie er vielleicht<br />
nur hier im ständig überfluteten Einzugsgebiet<br />
des Mississippi-Delta gedeihen kann, wo Gestalt<br />
die Ausnahme ist und Erosion die Regel.“<br />
(Nikolaus Perneczky in SISSY 18)<br />
ZWEI MÜTTER<br />
DE 2013, Regie: Anne Zohra Berrached, Edition Salzgeber<br />
Zwei Frauen beschließen,<br />
gemeinsam ein Kind zu<br />
zeugen. Eine kunstvoll<br />
verzahnte Nahaufnahme<br />
eines lesbischen Paares,<br />
das an einer rechtlichen<br />
Unklarheit und am inneren<br />
und äußeren Druck<br />
verzweifelt, <strong>den</strong> ihr einfacher<br />
und naheliegender Wunsch auslöst.<br />
„Berrached verwebt Realität und Fiktion zu einem<br />
dokumentarischen Spielfilm – sie nimmt<br />
Gesetzeslage, Statistiken und Prognosen, vermischt<br />
sie mit Wunschbildern und lässt ihre<br />
Protagonistinnen mehr als einmal an der Wirklichkeit<br />
scheitern. Das Drehbuch fußt auf Gesprächen<br />
mit und Erfahrungsberichten von lesbischen<br />
Paaren und das macht die Geschichte<br />
in weiten Teilen so schmerzhaft real. Zwei Mütter<br />
balanciert auf der Grenze zwischen <strong>den</strong><br />
Genres – die Farben, die Kameraarbeit, die Protagonist_innen,<br />
die sich teils selbst spielen, teils<br />
Schauspieler_innen sind, die Art der Dialogführung<br />
– alles, wirklich alles atmet Dokumentationscharakter.<br />
Das ist sicherlich <strong>nicht</strong> nur gewollt,<br />
sondern vor allem dem Budget geschuldet;<br />
ihr Ziel erreicht Berrached dadurch erst recht.<br />
Der <strong>Film</strong> öffnet <strong>den</strong> Blick, ohne <strong>den</strong> Zeigefinger<br />
allzu großräumig zu schwenken. Ohne ein<br />
Übermaß an Klischees zu bemühen entsteht<br />
eine feine Nähe zu <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Protagonistinnen,<br />
die von Sabine Wolf und Karina Plachetka<br />
pur und überzeugend dargestellt wer<strong>den</strong>. Und<br />
so sind <strong>den</strong>n auch die Gefühle des Liebespaares<br />
und die Veränderungen in ihrer Beziehung das<br />
eigentlich Spannende an dem <strong>Film</strong>. Der leidvolle<br />
Weg, auf dem das ‚Wir‘ sich wieder in ‚Du’<br />
und ‚Ich‘ aufspaltet und das ‚Du‘ sogar zum<br />
Druckmittel wird …“ (Tania Witte in SISSY 17)<br />
<strong>Film</strong>s by Sheila McLaughlin<br />
and Lynne Tillman<br />
US/DE 1979–87, Regie: Sheila McLaughlin und Lynne Tillman,<br />
<strong>Film</strong>galerie 451<br />
Committed und She Must<br />
Be Seeing Things sind <strong>Film</strong>e,<br />
die jede lesbische<br />
Frau, die in <strong>den</strong> 1980ern<br />
in der BRD groß wurde,<br />
gesehen hat. Die „andere“<br />
Frances-Farmer-Biografie<br />
und das kleine Fernsehspiel<br />
über lesbische<br />
I<strong>den</strong>tität und Beziehungsfähigkeit, sind Standarten<br />
einer Avantgarde-Bewegung, die viele<br />
queere <strong>Film</strong>emacher beeinflusst und auf <strong>den</strong><br />
<strong>für</strong> sie richtigen Weg gebracht hat, weil sie formal<br />
und erzählerisch neu waren und ihre Produzentinnen<br />
lieber lange Zeit an etwas arbeiteten,<br />
als sich ihre ganz persönliche Vision<br />
kompromittieren zu lassen. Sheila McLaughlin,<br />
Schauspielerin, Schriftstellerin, Regisseurin<br />
war (und ist) die Schlüsselfigur hinter <strong>den</strong><br />
drei Produktionen, die hier versammelt sind.<br />
Das Bemerkenswerteste an dieser von Heinz<br />
Emigholz zusammengestellten Kollektion ist<br />
jedoch, wie unterschiedlich „alt“ die Werke<br />
gewor<strong>den</strong> sind. Der unerzählerischste von<br />
ihnen, die viertelstun<strong>den</strong>lange Zeitverlaufsstudie<br />
Inside Out, hat <strong>nicht</strong>s von seiner Kraft<br />
und dem Sog verloren, <strong>den</strong> ihre stummen Bilder<br />
schon in <strong>den</strong> 70ern gehabt haben müssen,<br />
während She Must Be Seeing Things in seiner<br />
lesbischen Selbstzerfleischung und seinen relativ<br />
konventionellen erzählerischen Mitteln<br />
einfach nur altbacken und verstaubt wirkt.<br />
Committed, der zwei Jahre vor Frances die Lebensgeschichte<br />
von Frances Farmer als Weg in<br />
<strong>den</strong> gesellschaftlich erzeugten Irrsinn schildert,<br />
steht <strong>für</strong> sich allein und sollte als Double-<br />
Feature zusammen mit dem Jessica Lange-<br />
<strong>Film</strong> gesehen wer<strong>den</strong>, damit das Publikum<br />
erkennt, welchen Sprengstoff die Hollywood-<br />
Fassung ignoriert.<br />
ps<br />
I AM A WOMAN NOW<br />
NL 2011, Regie: Michiel van Erp, Indigo<br />
Als Ort mit der klassischen<br />
Infrastruktur zur<br />
operativen Geschlechtsangleichung<br />
war Casablanca<br />
lange Zeit ein Mythos.<br />
Der Dokumentar film<br />
I Am A Woman Now befragt<br />
fünf Transfrauen,<br />
was sie dort und damit erlebt<br />
haben. „Und, was machen alternde Frauen<br />
in I Am A Woman Now so? Zum Beispiel im See<br />
herumschwimmen. Cool. Oder eine windige<br />
Bootstour mit einer Freundin. Oder spazieren<br />
mit dem Hund im Park. Mhm. Dr. Burou,<br />
Trans* und geschlechtsangleichende Operationen<br />
habe ich vergessen. Was <strong>für</strong> schöne Frauen!<br />
Wenn, dann beim Altern mit so viel Style,<br />
Charme und Power, bitte. Bleibt nur zu hoffen,<br />
dass die weniger selbstbewussten Statements<br />
generationenbedingt abgegeben wur<strong>den</strong>. Und<br />
die offene Ansprache eines nach wie vor<br />
Trans*-diskriminieren<strong>den</strong> Arbeitsmarktes<br />
und einer Trans*-diskriminieren<strong>den</strong> Lebenswelt<br />
zu merklichen positiven Veränderungen<br />
auf ebensolchen führt.“ (Biru David Binder in<br />
SISSY 17)<br />
DER FREMDE AM SEE · ICH FÜHL MICH DISCO<br />
· FIVE DANCES · ALBERT NOBBS · REACHING<br />
FOR THE MOON · CONCUSSION<br />
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Schleifbrückenstr. 15, 07361/5559994 3 Aschaffenburg: Casino filmtheater<br />
Ohmbachsgasse 1, 06021/4510772 3 Bad Füssing: <strong>Film</strong>galerie<br />
Sonnenstr. 4, 08531/980555 3 bamberg: lichtspiel Untere Königstr.<br />
34, 0951/26785 3 Berlin: acud Veteranenstr. 21, 030/44359498 · arsenal<br />
Potsdamer Str. 2, 030/26955100 · Kino International Karl-Marx-<br />
Allee 33, 030/24756011 · Xenon Kino Kolonnenstr. 5–6, 030/78001530<br />
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Zeughofstr. 20, 030/6116016 · FSK am Oranienplatz Segitzdamm 2,<br />
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Bhf. Langendreer Wallbaumweg 108, 0234/6871620 3 BONN: Kino in<br />
der Brotfabrik Kreuzstr. 16, 0228/478489 3 braunschweig: C1 Cinema<br />
Lange Str. 60 3 Bremen: city 46 Birkenstr. 1, 0421/44963582 3 dortmund:<br />
schauburg Brückstr. 66, 0231/9565606 · sweetsixteen Immermannstr.<br />
29, 0231/9106623 3 Dres<strong>den</strong>: Kid – Kino im Dach Schandauer<br />
Str. 64, 0351/3107373 · Thalia Görlitzer Str. 6, 0351/6524703 3 Erlangen:<br />
Manhattan Güterhallenstr. 4, 09131/22223 3 Esslingen: Kommunales<br />
Kino Maille 4–9, 0711/31059510 3 Frankfurt/Main: Lesbisch-schwules<br />
Kulturhaus Klingerstr. 6, 069/293045 · Mal Seh’n Adlerflychtstr. 6,<br />
069/5970845 · Orfeos Erben Hamburger Allee 45, 069/70769100 3 Freiburg:<br />
Kommunales Kino Urachstr. 40, 0761/709033 · Kandelhof Kandelstr.<br />
27, 0761/283707 3 Göttingen: Kino Lumière Geismar Landstr. 19,<br />
0551/484523 3 Halle: Lux kino am zoo Seebener Str. 172, 0345/5238631<br />
· Zazie Kleine Ulrichstr. 22, 0345/7792805 3 Hamburg: Metropolis Kino<br />
Kleine Theaterstr. 10, 040/342353 · B-Movie Brigittenstr. 5, 040/4305867 ·<br />
3001 Schanzenstr. 75–77, 040/437679 3 Hanau: Kinopolis Am Steinheimer<br />
Tor 17, 06181/42825188 3 Hannover: kino im künstlerhaus Sophienstr.<br />
2, 0511/16845522 · Kino im Sprengel K.-M.-Kilian-Weg 2, 0511/703814<br />
3 karlsruhe: studio 3 Kaiserpassage 6, 0721/9374714 · Schauburg Marienstr.<br />
16, 0721/3500018 3 Kiel: Die Pumpe – Kommunales Kino Haßstr.<br />
22, 0431/2007650 · Traum Kino Grasweg 48, 0431/544450 3 Köln: filmpalette<br />
Lübecker Str. 15, 0221/122112 3 Konstanz: Zebra Kino Joseph-Belli-<br />
Weg 5, 07531/60162 3 Leipzig: Passage Kino Hainstr. 19 a, 0341/2173865<br />
· Schaubühne Lin<strong>den</strong>fels Karl-Heine-Str., 0341/4846211 3 magdeburg:<br />
Studiokino Moritzplatz 1, 0391/2564925 Mannheim: Cinema Quadrat<br />
Collinistr. 5, 0621/1223454 · Cinemaxx N7 17, 01805/625466 3 Marburg:<br />
Cineplex Biegenstr. 1a, 06421/17300 3 München: Neues Arena <strong>Film</strong>theater<br />
Hans-Sachs-Str. 7, 089/2603265 · City Kino Sonnenstr. 12, 089/591983<br />
· CinemaxX Isartorplatz 8, 01805/24636299 3 Münster: Cinema <strong>Film</strong>theater<br />
Warendorfer Str. 45–47, 0251/30300 3 Nürnberg: Kommkino/<br />
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111, 0781/4350 3 Ol<strong>den</strong>burg: Cine K Bahnhofstr. 11, 0441/2489646<br />
3 Potsdam: Thalia Arthouse Rudolf-Breitscheid-Str. 50, 0331/7437020<br />
3 Regensburg: Wintergarten Andreasstr. 28, 0941/2980963 3 Saarbrücken:<br />
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Kneipe Ignaz-Schön-Str. 32, 09721/82358 3 Stuttgart: Cinemaxx an der<br />
Liederhalle Robert-Bosch-Platz 1, 01805/24636299 3 Trier: Broadway<br />
<strong>Film</strong>theater Paulinstr. 18, 0651/96657200 3 Weiterstadt: Kommunales<br />
Kino Carl-Ulrich-Str. 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185<br />
Impressum<br />
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Verlag<br />
Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />
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Redaktion Jan Künemund, presse@salzgeber.de<br />
Gestaltung Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de<br />
Autoren Thomas Abeltshauser, Toby Ashraf, Ingeborg Boxhammer,<br />
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Anzeigen Jan Nurja, nurja@salzgeber.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste 01/2013 (www.sissymag.de/media).<br />
SISSY erscheint alle drei Monate, jeweils <strong>für</strong> <strong>den</strong> Zeitraum Dezember/<br />
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Auch das noch …<br />
ISSN 1868-4009<br />
John Waters (unscharf) versucht, unter <strong>den</strong> überraschten Blicken des Publikums sein Fahrrad an einer<br />
Parkbank in Provincetown anzuschließen.<br />
jan künemund<br />
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46 sissy 19
„Weil das Leben <strong>nicht</strong> immer schön ist, tanzt der<br />
junge schwule Florian zu Christan Steiffens Song<br />
‚Ich fühl mich Disco‘ und flüchtet sich in eine Fantasiewelt.<br />
Wie er in Axel Ranischs Seelenwärmer dann<br />
doch <strong>den</strong> ersten Kuss und sein Coming-Out schafft,<br />
ist zum Küssen gut und trifft mitten ins Herz.“<br />
AZ MÜNCHEN<br />
„Axel Ranisch verrührt Skurriles mit Anrührendem,<br />
orchestriert die erste Liebe mit zotigen Mitklatschsongs<br />
und würzt seine ungewöhnliche Geschichte,<br />
die überdies von ganz wunderbaren Schauspielern<br />
getragen wird, mit gehörigem Schwung aus Trash<br />
und Tränen!“<br />
PLAYER<br />
„Axel Ranisch erobert erneut die Herzen seiner<br />
Zuschauer im Sturm. Sein zärtliches Coming-of-Age-<br />
Drama rührt, ohne rührselig zu veren<strong>den</strong>. Ranisch<br />
schafft es, einen kauzigen Neo-Schlagerstar wie<br />
Christian Steiffen und seine cheesy Melodien humorig<br />
einzusetzen, ohne im Klamauk zu stran<strong>den</strong>.“<br />
BERLIN-FILMFESTIVALS.DE<br />
„Axel Ranisch bringt ein wenig Anarchie und Verspieltheit<br />
in die deutsche <strong>Film</strong>landschaft.“ CRITIC.DE<br />
„Was von ‚Ich fühl mich Disco‘ in Erinnerung bleibt,<br />
sind aber das Herz und die Wucht, mit <strong>den</strong>en Ranisch<br />
von Floris sanftem Erblühen erzählt.“ SPIEGEL ONLINE