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Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy

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kino<br />

Bilder, die sprechen,<br />

wenn man sie lässt<br />

kino<br />

Silent Youth<br />

von Diemo Kemmesies<br />

DE 2012, 73 Minuten, deutsche OF<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Im Kino ab 17. Oktober 213<br />

Auf DVD ab 22. Oktober 213<br />

von Toby Ashraf<br />

Diemo Kemmesies stellt in seinem Spielfilm „Silent Youth“ zwei junge Männer ins Zentrum des Berliner<br />

Szenetrubels, schneidet sie dann aber so aus, als seien sie allein auf der Welt. Ganz langsam baut sich ihre<br />

Beziehung auf, ganz präzise ist das eingefangen. Eine Einladung zum sprachlosen Mitdriften.<br />

Edition Salzgeber<br />

s Es liegt ein ungemeiner Reiz darin, Menschen beim Schweigen<br />

zuzugucken. Das klingt in Worten ausgedrückt <strong>nicht</strong> sonderlich aufregend,<br />

doch glücklicherweise ist <strong>Film</strong> in erster Hinsicht ein visuelles<br />

Medium, dessen Sprache das Bild ist. Da sitzen also zwei junge<br />

Männer nebeneinander und schweigen sich an. Manchmal gehen sie<br />

nebeneinander her oder stehen irgendwann ziemlich unvermittelt<br />

nackt nebeneinander in der Dusche. Irgendwie ist klar, dass ihr Kennenlernen<br />

<strong>nicht</strong> über Sprache funktioniert – ab und zu mal ein paar<br />

Worte, ein kurzer verbaler Austausch, eine pragmatische Kommunikation<br />

– der Rest sind Blicke und Körpersprache.<br />

Schon die erste Begegnung von Marlo und Kirill deutet an, dass<br />

eine flüchtige Berührung und ein kurzer, wortloser Augenblick genügen,<br />

um zwei Menschen zu verbin<strong>den</strong>. So zufällig wie die Hand des<br />

einen die des anderen im Vorbeigehen streift ist auch das zweite Wiedersehen<br />

am S-Bahnhof, wo Kirill Marlo überraschend fragt, ob er<br />

„schon mal was mit Typen hatte“. Viel geredet wird nur am Küchentisch<br />

der Berliner WG, in der Marlo, Maschinenbaustu<strong>den</strong>t aus<br />

Lübeck, kurzzeitig wohnt, weil er eine Freundin besucht. Da geht es<br />

dann um physikalische Brechungsgesetze, um Statistiken und Zahlen<br />

und man merkt, dass Marlo in dieser Welt der Naturwissenschaften<br />

mehr zu Hause ist als in der Welt des Zwischenmenschlichen.<br />

Die Begegnung mit dem jungen Kirill, der – selbst noch Kind –<br />

schon Vater ist, läuft dann auch entgegen aller Gesetze der Wahrscheinlichkeit.<br />

Mitten in <strong>den</strong> Hauptschlagadern der Großstadt,<br />

zwischen Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln, steht plötzlich<br />

die Zeit still, und ein kurzer Abendspaziergang durch die Straßen<br />

Berlins endet im Morgengrauen auf einer fast menschenleeren Warschauer<br />

Straße. Auf seine Wunde im Gesicht angesprochen, erzählt<br />

Kirill, dass er in Russland zusammengeschlagen wurde. Er ist mit ein<br />

paar Männern trinken gegangen und ist dann ohne Hose und blutüberströmt<br />

in einem Fahrstuhl aufgewacht. Das ist <strong>nicht</strong> gerade die<br />

Art von Information, die man mal eben mit einem Unbekannten teilt,<br />

der einem durch die Nacht gefolgt ist, aber es zeigt, dass da jemand<br />

schnell und auf ungewöhnliche Weise Vertrauen aufbauen will.<br />

Kirill ist ein mysteriöser Einzelgänger, der es seiner Umwelt <strong>nicht</strong><br />

leicht macht, ihn zu durchschauen. In seinem kindlichen Gesicht<br />

spiegelt sich eine unerklärte Traurigkeit, die ihn verletzlich, aber<br />

auch unnahbar wirken lässt. Sein Körper und sein Wesen entsprechen<br />

<strong>nicht</strong> der Vorstellung von „Mann“, die die Mutter seines Kindes<br />

hat, und er selbst entspricht <strong>nicht</strong> dem, was andere von ihm erwarten.<br />

Marlo hingegen, der gar <strong>nicht</strong> wusste, dass er auf der Suche war, findet<br />

in Kirill etwas, das er <strong>nicht</strong> mehr loslassen möchte.<br />

Regisseur Diemo Kemmesies erzählt in seinem <strong>Film</strong>arche-<br />

Abschlussfilm Silent Youth sehr einfühlsam und außeror<strong>den</strong>tlich stilsicher<br />

von einer Ausnahmesituation, in der sich zwei Menschen trotz<br />

ihrer Sprachlosigkeit einander annähern. Viele Fragen wer<strong>den</strong> entweder<br />

<strong>nicht</strong> gestellt oder bleiben unbeantwortet, <strong>nicht</strong> nur zwischen<br />

<strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Protagonisten dieser leisen Liebesgeschichte, sondern<br />

auch innerhalb der Geschichte des <strong>Film</strong>s selbst. Biographien sind hier<br />

angedeutet, aber <strong>nicht</strong> ausformuliert, Reaktionen bleiben unvorhersehbar,<br />

und an klassischen Figurenmotivationen oder Psychologisierungen<br />

hat Diemo Kemmesies dankbarer Weise keinerlei Interesse.<br />

Dass Bilder <strong>für</strong> sich sprechen können, wenn man sie lässt, und Worte<br />

oft am schönsten sind, wenn sie verstummen, glauben leider immer<br />

noch viel zu wenige <strong>Film</strong>emacherInnen. Es gehört viel Genauigkeit<br />

und noch mehr Mut dazu, mit wenig Sprache viel zu erzählen und<br />

sich dabei zudem einer bekannten Grundidee zu bedienen, die sich<br />

auf zwei Figuren und ein eventuelles Coming-Out beschränkt.<br />

Das Thema ist <strong>nicht</strong> neu, wird aber in letzter Zeit im deutschen<br />

<strong>Film</strong> mit außergewöhnlichem Gespür <strong>für</strong> Milieus und untypischen<br />

Figuren erfrischend neu und einfühlsam erzählt. In Stadt Land Fluss<br />

(2011) von Benjamin Cantu sind es zwei junge Lehrlinge auf einem<br />

Landwirtschaftsbetrieb in Bran<strong>den</strong>burg, die zaghaft zueinander fin<strong>den</strong>.<br />

In Tim Staffels Westerland (2012) begegnen sich mit Cem und<br />

Jésus zwei ungleiche junge Männer zwischen <strong>den</strong> glanzlosen Hochhäusern<br />

auf dem winterlichen Sylt. Silent Youth hingegen spielt in <strong>den</strong><br />

sogenannten Szenebezirken Berlins, lässt dabei aber jede Form von<br />

Hype und touristischer Faszination außen vor. Hier geht es <strong>nicht</strong> um<br />

die tausendfach wiederholten Bilder einer schrecklich angesagten<br />

Metropole, sondern um die filmische Neuentdeckung von Orten, die<br />

Marlo und Kirill sich fernab der Menschenströme erschließen. Wenn<br />

die bei<strong>den</strong> im Gras des Tempelhofer Flugfelds liegen, glaubt man, sie<br />

wären weit weg, machten etwa Pause auf einer abgelegenen Bergwiese,<br />

<strong>nicht</strong> jedoch auf dem Rollfeld des stillgelegten Stadtflughafens.<br />

Der Fernsehturm, an dessen Darstellung in der Regel lediglich <strong>Film</strong>emacherInnen<br />

Interesse haben, die Berlin als Kulisse, <strong>nicht</strong> aber als<br />

Lebensraum begreifen, kommt in Silent Youth nur in einer morbi<strong>den</strong><br />

Anekdote Marlos vor. Die Schauplätze des <strong>Film</strong>s sind fast ausschließlich<br />

Transiträume. Es sind S- und U-Bahnhöfe, Hauptverkehrsstraßen<br />

und Brücken, also Orte des Reisens, des Weiterkommens und des<br />

Umsteigens. Marlo und Kirill bewegen sich zwar ständig im öffentlichen<br />

Raum, ihre Fahrten und Gänge wirken aber wenig zielgerichtet<br />

und sind eher von einer inneren Suche als von einem klaren Bestimmungsort<br />

geprägt.<br />

Überhaupt wirkte Berlin selten geheimnisvoller und entkoppelter<br />

als in <strong>den</strong> Einstellungen von Kameramann Albrecht von Grünhagen.<br />

Seine Bilder arbeiten mit geringer Schärfentiefe und legen <strong>den</strong> Fokus<br />

dabei immer auf die Figuren, während die Stadt im Hintergrund verschwimmt.<br />

Oft erinnert diese Fotografie in ihrer Schönheit an die<br />

Arbeit Reinhold Vorschneiders, der es schon in Angela Schanelecs<br />

Mein langsames Leben schaffte, unmagischen Orten wie der Friedrichstraße<br />

eine Poesie zu verleihen, die sie hier zurückbekommt.<br />

Mit einer erhöhten Totalen sehen wir in Silent Youth vom S-Bahnhof<br />

auf die Friedrichstraße hinab und wundern uns über die Länge<br />

der Sequenz, bis wir in diesem Suchbild schließlich Marlo und Kirill<br />

entdecken, die langsam und beinahe ungeachtet des Verkehrs über<br />

die Straße schlendern. Ganz zum Schluss befin<strong>den</strong> wir uns im Inneren<br />

des Bahnhofs und sehen ein verschleiertes Bild, dessen bewegte<br />

Punkte wir gerade noch als Passanten erahnen können. Langsam<br />

zieht die Schärfe an und die reisen<strong>den</strong> Großstädter wer<strong>den</strong> genauso<br />

deutlich sichtbar wie die skeletthaften Strukturen der Bahnhofsüberdachung.<br />

Das Spiel mit der Unschärfe lässt sich im <strong>Film</strong> auf seine bei<strong>den</strong><br />

Hauptfiguren übertragen, deren Konzentration trotz der konstanten<br />

Flut an Reizen und neuen Impulsen nur aufeinander zu liegen<br />

scheint. Alles um sie herum verschwimmt, ihre Hintergründe bleiben<br />

unscharf.<br />

Silent Youth eröffnet durch seine Bildsprache Seh- und Denkräume,<br />

die keiner Worte mehr bedürfen. Dass die Beziehung zwischen<br />

Marlo und Kirill dabei glaubwürdig bleibt, ist <strong>den</strong> wunderbaren<br />

Schauspielern Martin Bruchmann und Josef Mattes zu verdanken.<br />

Beide schaffen es allein durch kurze Blicke und subtile Gesten, die<br />

Unsicherheiten und Zweifel, Fragen und Probleme ihrer Figuren<br />

durch <strong>den</strong> <strong>Film</strong> zu transportieren.<br />

Durch das vorsichtige Spiel der bei<strong>den</strong> und die zurückgenommene<br />

Inszenierung baut sich langsam eine Spannung auf, die sich<br />

dann besonders effektiv entlädt, wenn Marlo und Kirill ihre Schutzpanzer<br />

ablegen und Gefühle zulassen.<br />

Auch diese Momente sind dann Momente des Schweigens, auch<br />

hier wird <strong>nicht</strong>s ausgesprochen oder erklärt, analysiert oder diskutiert.<br />

Stattdessen bewegen sich zwei junge Männer aufeinander zu,<br />

umkreisen sich und laufen nebeneinander her. Sie driften durch eine<br />

Stadt, deren Reize sie <strong>nicht</strong> wahrnehmen und machen sich dabei auf<br />

die Suche nach sich selbst. Ob sie dabei erfolgreich sind, können wir<br />

nur erkennen, wenn wir am Ende ganz genau hingucken. s<br />

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