Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy
Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy
Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
kino<br />
kino<br />
Geschichten<br />
und Geschichte<br />
von Ringo Rösener<br />
Nachdem bereits „Unter Männern – Schwul in der DDR“<br />
versucht hat, <strong>den</strong> kaum dokumentierten schwulen Alltag in<br />
der DDR zu rekonstruieren, greifen Jochen Hick und Andreas<br />
Strohfeldt das Thema erneut auf und bringen erstmals auch<br />
die Situation von Lesben in ihre Erzählung ein. Ringo Rösener,<br />
einer der bei<strong>den</strong> Regisseure von „Unter Männern“, gibt einen<br />
Einblick in die besondere Problemlage dieses Dokumentarfilm-<br />
Sujets und hebt die Besonderheiten von „Out in Ost-Berlin –<br />
Lesben und Schwule in der DDR“ hervor.<br />
s Für mich bedeutet <strong>Film</strong>emachen in erster Linie, eine Geschichte<br />
in bewegten Bildern zu erzählen – also ein movie zu drehen, wie es<br />
aus dem Englischen ableitbar wäre. Deshalb scheint mir auch das Herz<br />
eines <strong>Film</strong>s seine Bildergeschichte zu sein. Natürlich ist das eine etwas<br />
flache, vielleicht sogar naive Einstellung zum <strong>Film</strong>, aber sie hilft doch,<br />
um mit dem <strong>Film</strong>emachen zu beginnen. Daneben gibt es zahlreiche<br />
andere Formate <strong>nicht</strong>-narrativer <strong>Film</strong>e, die trotz allem movies sind,<br />
aber zumeist doch etwas anderes wollen. Vielleicht etwas aufzeigen,<br />
was man sonst <strong>nicht</strong> so einfach sieht, oder über etwas informieren. Das<br />
ist jedoch meines Erachtens kein genuines Erzählen mehr.<br />
Der Dokumentarfilm scheint hierbei ein Schwellenprodukt zu<br />
sein, <strong>den</strong>n er befindet sich genau auf der Grenze zwischen Information<br />
aus Bildern und einer Erzählung in Bildern. Er versucht <strong>den</strong><br />
Spagat zwischen unserer alltäglichen und zufälligen Wirklichkeit<br />
und einer narrativen und bewussten Erzähldramaturgie des <strong>Film</strong>s.<br />
Dabei wandelt er das, was in unserer wirklichen Welt geschieht oder<br />
geschah, in eine künstliche visuelle <strong>Film</strong>welt um. So wird mitunter<br />
das Fin<strong>den</strong> und Organisieren – das Montieren – der Bilder aus der<br />
Wirklichkeit zur Hauptaufgabe des Dokumentarfilmers.<br />
Nun steht insbesondere der Dokumentarfilm, der sich der Vergangenheit<br />
zuwendet, vor einem Problem. Er muss dieses Vergangene,<br />
und das bedeutet zumeist Verschwun<strong>den</strong>es, in eine filmische<br />
Form bringen. Dabei versucht er, über eine längst <strong>nicht</strong> mehr existierende<br />
Zeit mehr zu erfahren, und gleichzeitig, diese so lebendig wie<br />
möglich in seiner Erzählung darzustellen. Oft sind es hierbei ProtagonistInnen,<br />
die dem narrativen Dokumentarfilm zum Leben verhelfen.<br />
Aber erst Fotos, Archivaufnahmen und vieles mehr aus der Zeit, von<br />
der man erzählen will, übertragen deren Geschichten ins <strong>Film</strong>ische.<br />
Was hat das alles mit einem Dokumentarfilm über Schwule und<br />
Lesben in der DDR zu tun, um <strong>den</strong> es hier eigentlich gehen soll? Im<br />
Gegensatz zu anderen Dokumentarfilmsujets ist es oft viel schwerer,<br />
einen <strong>Film</strong> über die Vergangenheit homosexuellen Lebens zu drehen,<br />
da die verfügbaren zeithistorischen Dokumente per se <strong>nicht</strong>s Homosexuelles<br />
zeigen. Denn was verboten war oder verschwiegen wurde,<br />
ist natürlich <strong>nicht</strong> kulturell und eher selten bildlich überliefert. Und<br />
gerade da, wo ein Staat viele Wege des Dokumentierens über Monopolisierungen<br />
(oder Verstaatlichungen) kontrolliert, zögert man vielleicht<br />
schon aus Selbstschutz, verdächtige Dokumente herzustellen.<br />
Für ein bebildertes Lesben- und Schwulenleben in der DDR ist „Es<br />
gab ja <strong>nicht</strong>s“ somit <strong>nicht</strong> nur eine ostalgische Phrase, sondern ein<br />
tatsächlicher Fakt. Denn die homosexuelle Kultur in der DDR war<br />
über weite Strecken eine unsichtbare. (Anders als die homosexuelle<br />
Bewegung ausgehend von <strong>den</strong> 1970ern im Westen kann die ostdeutsche<br />
homosexuelle Lebenskultur <strong>nicht</strong> auf einen vergleichsweise<br />
reichhaltigen und leicht verfügbaren Fundus an Bildern und <strong>Film</strong>en,<br />
an Erzählungen und Anekdoten zurückgreifen.) Wie soll man nun<br />
aber vom lesbischen und schwulen Leben filmisch erzählen, wenn<br />
man <strong>nicht</strong>s oder wenig hat, um es sichtbar wer<strong>den</strong> zu lassen? Der im<br />
Oktober in <strong>den</strong> Kinos startende Dokumentarfilm Out in Ost-Berlin.<br />
Lesben und Schwule in der DDR von Jochen Hick und Andreas Strohfeldt<br />
beantwortet diese Frage nun zum zweiten Mal, nachdem Markus<br />
Stein und ich 2012 mit dem Dokumentarfilm Unter Männern –<br />
Schwul in der DDR Ähnliches versucht haben.<br />
Dabei scheint es mir, dass die bei<strong>den</strong> Berliner <strong>Film</strong>emacher Hick<br />
und Strohfeld <strong>den</strong> gleichen Hinweisen gefolgt sind wie damals Markus<br />
Stein und ich. Diese kündeten von einer spannen<strong>den</strong> Zeit und<br />
einem farbenfrohen statt tristen Leben in der DDR. Hick und Strohfeldt<br />
wer<strong>den</strong> vom „Burgfrie<strong>den</strong>“, von der „Schoppenstube“, von der<br />
„Busche“ und von <strong>den</strong> zahllosen Klappen gehört haben, die es in der<br />
DDR gab, ebenso wer<strong>den</strong> sie von Heiner Carows <strong>Film</strong> Coming Out<br />
und der berühmten Charlotte von Mahlsdorf gewusst haben. Ja, das<br />
gab es alles. Trotzdem erzählen sie, genauso wie wir damals in Unter<br />
Männern, recht wenig davon. Warum eigentlich? Ich glaube, das hat<br />
mehrere Gründe:<br />
Einerseits gibt es kaum visuelles Material von all diesen Orten,<br />
das es dem <strong>Film</strong>emacher gestattet, in seinem Dokumentarvorhaben<br />
filmisch davon zu erzählen. Anderseits haben auch sie Protagonisten<br />
gefun<strong>den</strong>, die viel spannendere Geschichten zu erzählen haben, als<br />
die immer gleichen Mythen um Schoppenstube, Burgfrie<strong>den</strong>, Opern<br />
Café oder Busche zu wiederholen. Zum Glück! Denn sie hätten auch<br />
<strong>den</strong> Weg von Martin Persiel und seinem DDR-Skaterfilm This ain’t<br />
California folgen können. Dieser <strong>Film</strong> widmet sich ja einer nachweislich<br />
<strong>nicht</strong> bebilderten und damit umso mythischeren Lebenskultur.<br />
Da Persiel gerade vom Mythos DDR-Rollbrett berichten will, muss<br />
dieser sich etlicher „dokumentarischen“ Tricks bedienen. Er stellte<br />
<strong>nicht</strong> nur Bilder her, die aussehen, als wären sie in der DDR gefilmt<br />
– äußerst kluge und gut gemachte Sequenzen –, er erfand sogar eine<br />
Geschichte und eine fiktive Person, um überhaupt vom Mythos der<br />
DDR-Skater als <strong>Film</strong> berichten zu können. Diesen eher fiktionalen<br />
statt dokumentarischen Holzweg wollten weder die <strong>Film</strong>emacher<br />
Hick und Strohfeldt noch Stein und ich gehen.<br />
Stein und ich versuchten, uns dem Problem aus einer sehr persönlichen<br />
Perspektive zu nähern. Für uns nahmen vor allem die Coming-<br />
Out-Erfahrungen der Protagonisten Bedeutung an. Hick und Strohfeldt<br />
wählten einen ähnlichen, aber anders akzentuierten Weg. Ihnen<br />
war es wichtig, die Nahtstelle des privaten Lebens der Protagonisten<br />
mit dem System der DDR offenzulegen. Aus <strong>den</strong> Konfliktsituation jenseits<br />
des Coming-Outs mit dem Staat geben sie einen Einblick in das<br />
Funktionieren der untergegangenen DDR und in <strong>den</strong> Lebensstil von<br />
Schwulen und Lesben der DDR. Darunter leidet mitunter die Anforderung,<br />
einen <strong>Film</strong> visuell spannend zu erzählen, aber ganz und gar<br />
<strong>nicht</strong> die des filmischen Aufzeigens von bisher Ungesehenem.<br />
Hick und Strohfeldt heben die Konfliktsituationen heraus, auf die<br />
Schwule und Lesben nach ihrem Outing trafen: Klaus Laabs, der aus<br />
der SED und der Universität ausgeschlossen wurde und dem damit<br />
ein ganzer Lebenslauf wegbrach; Eduard Stapel, der ins Visier der<br />
Stasi geriet, weil er Arbeitskreise zur Homosexualität in der DDR als<br />
sogenannter Schwulenpfarrer organisierte; Christian Pulz, der das<br />
Theologische Seminar Leipzig verlassen musste; oder auch die „Terrorlesben“<br />
Marina Krug, Marinka Körzendörfer und Bettina Dzigge,<br />
die zur Aufgabe ihres Engagements <strong>für</strong> die lesbischen Insassinnen<br />
des KZ in Ravensbrück gezwungen wur<strong>den</strong> und Andreas Fux, der<br />
einen Pakt mit der Stasi einging.<br />
Hick und Strohfeldt haben sich da<strong>für</strong> tief ins Archiv hineingegraben.<br />
So entdecken sie bisher im Kino <strong>nicht</strong> gezeigte Raritäten,<br />
die mutige Schwule und Lesben selbst ab <strong>den</strong> 1970er Jahren pro-<br />
duzierten. Auf einigen Bildern ist der Brite Peter Tatchell als erster<br />
Demonstrant <strong>für</strong> die Rechte der Homosexuellen hinter dem Eisernen<br />
Vorhang zu sehen. Dokumente, die ich verschwun<strong>den</strong> glaubte. Kontrastiert<br />
wird dieses „inoffizielle“ und nie gezeigte Bildmaterial durch<br />
echtes, in der DDR hergestelltes Material aus Dokumentarfilmen,<br />
Spielfilmen und Fernsehaufzeichnungen. Unter diesen ganzen <strong>Film</strong>ausschnitten<br />
zur DDR zeigen Hick und Strohfeldt einen ganz kurzen<br />
Schnipsel, der auch in Persiels This ain’t California auftaucht, und<br />
<strong>den</strong> auch Markus Stein und ich fast verwendet hätten. Es handelt sich<br />
dabei um eine wenige Sekun<strong>den</strong> lange Sequenz aus Wieland Specks<br />
Spielfilm Westler. Sie zeigt einen DDR-Grenzbeamten, der einen Pass<br />
im Berliner Grenzübergang an der Friedrichstraße, <strong>den</strong> „Tränenpalast“,<br />
abstempelt. Specks <strong>Film</strong>, in <strong>den</strong> 1980ern in der BRD gedreht,<br />
stellt fiktional eine Erfahrung nach, die vielleicht <strong>den</strong> Tatsachen entspricht,<br />
aber sie ist keine Originalaufnahme, wie es beide Dokumentarfilme<br />
suggerieren. Doch sie gehört nun mit dem Eingang in gleich<br />
zwei <strong>Film</strong>e zu einem dokumentarischen und damit ja eigentlich tatsächlichen<br />
DDR-Bild unserer Zeit. Damit sind die Grenzen zwischen<br />
unserer bzw. der vergangenen Wirklichkeit und der <strong>Film</strong>welt fast<br />
aufs Unkenntliche verwischt. Der Zuschauer nimmt die Sequenz als<br />
Beleg wahr, wie die DDR ausgesehen hat, ohne zu bemerken, dass<br />
hier geschauspielert wird.<br />
An so einem hergestellten Bild wird die Spannung deutlich, in der<br />
insbesondere der Dokumentarfilm anderen <strong>Film</strong>genres gegenüber<br />
steht. Wahrheit und Fiktion laufen im Dokumentarfilm manchmal<br />
einfach ineinander über. Das ist ein geschicktes Verfahren (kein verwerfliches!),<br />
das <strong>nicht</strong> nur von Hick und Strohfeldt genutzt wird. Als<br />
<strong>Film</strong>emacher wollen sie in erster Linie ihrer Aufgabe nachkommen<br />
und eine visuelle Erzählung entwerfen. Dabei loten sie die Grenzen<br />
des Dokumentarischen aus.<br />
Dass sie diese Grenzen <strong>nicht</strong> überschreiten müssen, verdanken<br />
die Regisseure ihren Protagonisten, die <strong>den</strong> Takt des <strong>Film</strong>s angeben<br />
und <strong>den</strong>en sie sich als Dokumentarfilmer letztlich verpflichtet<br />
fühlen. Hick und Strohfeldt haben hier<strong>für</strong> Händchen beweisen; das<br />
zeigen die schönen Momente im Leben des Ehepaares Peter Bausdorf<br />
und Gerhard Plöse, auch „Die Pappritzer“ und „Putzi“ genannt,<br />
oder auch die schlagfertigen Erzählungen von Marinka Körzendörfer.<br />
Es sind die Momente, in <strong>den</strong>en der DDR-Alltag nahezu anfassbar<br />
wird und der Zuschauer mehr erfährt als durch Archivbilder, die uns<br />
zeigen sollen, wie die DDR ausgesehen hat, und die ständig Gefahr<br />
laufen, bloße Trickserei zu sein. Mir scheint auch hier: Wer seinen<br />
Protagonisten vertraut, hat manchmal mehr und auch <strong>den</strong> Zuschauer<br />
gewonnen. Damit ist Out in Ost-Berlin <strong>nicht</strong> nur ein Dokumentarfilm<br />
über Geschichte, sondern auch gute und interessante Unterhaltung.<br />
Hick und Strohfeldt wissen darum und lenken deshalb ihren<br />
<strong>Film</strong> geschickt über Bezugspunkte der DDR-Historie hinaus. Am<br />
Ende erzählt Out in Ost-Berlin DDR-Geschichte anhand Ost-Berliner<br />
Typen und wird damit selbst zu einem doch unverzichtbaren Beitrag<br />
<strong>für</strong> unsere homosexuelle Geschichte – und davon kann es eigentlich<br />
gar <strong>nicht</strong> genug geben!<br />
s<br />
Out in Ost-Berlin<br />
von Jochen Hick und<br />
Andreas Strohfeldt<br />
DE 2013, 94 Minuten, dt. OF<br />
Déjà-vu <strong>Film</strong>, www.dejavu-film.de<br />
Im Kino ab 31. Oktober 2013<br />
Unter Männern –<br />
Schwul in der DDR<br />
von Ringo Rösener<br />
und Markus Stein<br />
DE 2012, 91 Minuten, dt. OF<br />
Auf DVD bei der Edition<br />
Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
déjà-vu film<br />
This ain’t California<br />
von Marten Persiel<br />
DE 2012, 109 Minuten, deutsche<br />
OF<br />
Auf DVD bei der Deutschen<br />
Entertainment AG, www.deag.de<br />
32 sissy 19 sissy 19 33