Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy
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kino<br />
kino<br />
Berlin<br />
Mystery<br />
Tour<br />
von Jochen Werner<br />
Auf englisch mit spanischer Akzentfärbung fragt sich<br />
ein selbstvergessener Partytourist zu <strong>den</strong> Berliner Raves<br />
durch. Und gerät dort in eine Geschichte mit doppelten<br />
Tanzbö<strong>den</strong> und in <strong>den</strong> Podcast eines schon lange <strong>nicht</strong><br />
mehr abgelösten DJs. Stefan Westerwelles und Patrick<br />
Schuckmanns Easyjet-Thriller findet aber, allen Szenemü<strong>den</strong><br />
und Hipsternörglern zum Trotz, immer wieder zu Bildern,<br />
in <strong>den</strong>en Sehnsucht und Atmosphäre ganz <strong>für</strong> sich stehen.<br />
s So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher<br />
meinen, es stürbe sich hier. Berlin, das kann ein Fegefeuer sein und<br />
ein Mahlstrom, und <strong>den</strong>, der unvorbereitet hineingerät, <strong>den</strong> schluckt<br />
es mit Haut und Haar und lässt es nie wieder los. Der süße Spanier<br />
Luis (Fernando Tielve) meint genau zu wissen, was er von der Stadt<br />
will. Als klischeetrunkener Partytourist stolpert er in die Clubszene<br />
hinein, um dort Spaß, Drogen, Sex, Ekstase zu fin<strong>den</strong> – Balsam, um<br />
<strong>den</strong> Schmerz der Trennung von seinem Exfreund Carlos zu lindern.<br />
Vom Flughafenterminal direkt auf die Tanzfläche schneidet Regisseur<br />
Stefan Westerwelle schon im Vorspann von Lose Your Head,<br />
auch wenn Luis dort noch <strong>nicht</strong> angekommen ist. Das von violettrosa<br />
fluoreszierendem Licht gestreichelte und von kristallin pulsieren<strong>den</strong><br />
Elektrobeats untermalte Treiben auf dem Dancefloor braucht ihn<br />
<strong>nicht</strong>, braucht im Grunde nieman<strong>den</strong>, es scheint sich fast unabhängig<br />
von <strong>den</strong> Individuen zu ereignen, aus <strong>den</strong>en es sich zusammensetzt.<br />
Eine fluide Substanz, in die man hinein- und aus der man wieder herausgleitet,<br />
ohne dass sich an ihrer Beschaffenheit etwas ändert. Eine<br />
Party, die vergisst, wie das Zuendegehen funktioniert.<br />
Luis ist aber noch <strong>nicht</strong> Teil des rosafarbenen Traums vom Glück.<br />
Seine Farbe ist ein etwas beißendes Grün, manchmal auch ein Nachtblau,<br />
das etwas Tod mit sich trägt. Im Grün aber trifft er auf <strong>den</strong> mysteriösen<br />
Ukrainer Viktor (Marko Mandic), und auch wenn ihn eine<br />
schöne blonde Weiblichkeit (Samia Muriel Chancrin) mit sich zieht,<br />
zunächst ins Pink, dann ins Sonnenlicht und schließlich in ihre Wohnung<br />
und ihr Bett, wo dann freilich aus physiologischen Grün<strong>den</strong><br />
schnell Schluss ist mit all dem queeren Hedonismus. Zwischen Carlos<br />
und Viktor passt hier keine Grit, und der einigermaßen zugedröhnte<br />
Luis wird kurzerhand in der verschlossenen Wohnung zurückgelassen,<br />
während die Clique, die ihn kurzzeitig umspülte, zur nächsten<br />
After-Hour weiterzieht. Nur ein schwarzer Kater bleibt zurück, als<br />
die Feuerwehr <strong>den</strong> Eingesperrten befreit,<br />
und im Kater Holzig, am pastellbunten Fotoautomaten,<br />
taucht schließlich Viktor wieder<br />
auf. Man landet auf der sonnenbeschienenen<br />
Tanzfläche, dann im Fluss und schließlich<br />
im Bett – diesmal im richtigen. Die bei<strong>den</strong><br />
verbringen die Nacht miteinander, und ein<br />
gemeinsames Frühstück macht aus einem<br />
One-Night-Stand eine Liebesgeschichte.<br />
Von diesem Moment an möchte Lose Your<br />
Head mehr sein als ein Berlinfilm, als ein<br />
Clubfilm, ein Elektropopfilm. Schade eigentlich.<br />
Denn seine schönsten Momente hat der<br />
zweite Spielfilm von Stefan Westerwelle –<br />
einem jungen <strong>Film</strong>emacher, der vor allem mit<br />
dem wundervollen Dokumentarfilm Detlef<br />
eine beeindruckende Talentprobe vorlegte –<br />
in jenen Augenblicken, in <strong>den</strong>en er ganz bei<br />
sich ist, in <strong>den</strong>en er <strong>nicht</strong>s erzählen zu müssen<br />
glaubt und sich ganz in atmosphärischen<br />
Momentaufnahmen verliert. Das Herumhängen<br />
nach einer viel zu langen Clubnacht,<br />
die drogengeschwängerten Gespräche dieser<br />
schier endlos sich zerdehnen<strong>den</strong> Zeit, rastlos<br />
zwischen Philosophie, Anekdote und Nonsens<br />
oszillierend, die weichwattige, rosafarbene<br />
Gedämpftheit dieser langen Tage, die<br />
nur <strong>für</strong> die Anderen wirklich Tage sind – in<br />
diese Momente hätte man sich mühelos zwei<br />
Stun<strong>den</strong> wohlig hineinkuscheln können, sich<br />
pro-fun media<br />
mit ihnen zudecken und hoffen, dass es nie<br />
wieder anders wird. Aber Lose Your Head hat<br />
auch etwas zu erzählen.<br />
An der Oberfläche der reinen Plotmechanik<br />
ist Westerwelles und Schuckmanns <strong>Film</strong><br />
ein recht klassisch konstruierter Mystery-<br />
Thriller: ein Geheimnis um eine abwesende,<br />
enigmatische Figur, die vielleicht tot ist, ein<br />
Liebhaber, der vielleicht ein Mörder ist, und<br />
eine unerzählte Geschichte, die mit Macht<br />
ans Licht des Tages und der Erkenntnis<br />
drängt. Die Geschichte eines Fin<strong>den</strong>s, oder<br />
Wiederfin<strong>den</strong>s, einer Wahrheit also. Eine<br />
Wahrheit freilich, die weder besonders originell<br />
noch besonders interessant ist – wesentlich<br />
mehr Faszinationskraft entwickelt<br />
Lose Your Head, wenn man seine narrative<br />
Camouflage in eine Tiefenstruktur hinein<br />
durchstößt und die, unterhalb des Radars,<br />
stets miterzählte Geschichte eines umfassen<strong>den</strong><br />
Verlustes verfolgt. Denn bevor er seinen<br />
Kopf zu verlieren droht, muss Luis zahlreiche<br />
ganz konkrete Verluste hinnehmen.<br />
Zuerst vermisst der junge Spanier, schon<br />
nach seiner ersten Berliner Clubnacht, lediglich<br />
seine Mütze, doch bald schon muss auch<br />
sein Kopfhaar dran glauben. Viktor gestaltet<br />
seine verwuschelten Haare zu einem militärisch<br />
ausrasierten Szene-Schnitt um – der<br />
unbedarfte Luis wird Schritt <strong>für</strong> Schritt zum<br />
stylish uniformierten Berlin-Hipster umgestaltet.<br />
Fast wie Kim Novak in Hitchcocks<br />
Vertigo gerät hier ein Mensch in die Mühle<br />
der Bilder, nach <strong>den</strong>en man ihn formen will,<br />
und setzt beim Versuch, diese Stadt zu umarmen,<br />
seine Souveränität als Individuum aufs<br />
Spiel. Der Preis, <strong>den</strong> man <strong>für</strong> die Hipness zu<br />
zahlen hat, so scheint alles in Lose Your Head<br />
zunächst zu schreien – ein Fanal gegen die<br />
Stilfaschismen der Subkulturen? Gegen die<br />
Mainstreams der Minderheiten, ihre Nivellierungen<br />
und Dresscodes?<br />
Ein aufregender, kritischer und subversiver<br />
Ansatz wäre das <strong>für</strong> einen so offensiv<br />
mit touristischem Gestus kokettieren<strong>den</strong><br />
schwulen Szenefilm wie diesen, und zwischen<br />
<strong>den</strong> Sequenzen und Bildern blitzt er<br />
auch in der Tat je<strong>den</strong>falls momenthaft immer<br />
wieder einmal auf. Lose Your Head lässt sich<br />
durchaus lesen als eine subtile und doch beißende<br />
Kritik an exakt jener schon ein wenig<br />
abgegriffenen Berliner Nachtleben-Ästhetik,<br />
die er offen aufgreift und bedient. Wenn er<br />
nur <strong>nicht</strong> so umständlich gebaut wäre, und<br />
wenn er nur seine spannen<strong>den</strong> Subtexte<br />
<strong>nicht</strong> fortwährend unter schnödem Plot<br />
verstecken würde. Denn in dem Moment, in<br />
dem das Geheimnis endlich in das Drehbuch<br />
von Patrick Schuckmann eintritt, beginnt<br />
nahezu alles andere sich, wie von magnetischer<br />
Kraft angezogen, um dieses zentrale<br />
Mysterium zu gruppieren. Es ist dann, wie<br />
es in vielen <strong>Film</strong>en ist: Für die wirklich interessanten<br />
Dinge bleibt kein Platz mehr, sich<br />
zu ereignen, wenn der Erzählapparat erst<br />
einmal angeworfen wird. Man kann dann<br />
Lose Your Head beim Zerbrechen zuschauen<br />
– aber unter dieser abgestreiften Außenhaut<br />
kommt ein interessanterer <strong>Film</strong> zum Vorschein.<br />
Zunächst aber versklavt er sich, nach<br />
dem erfreulich entspannten Auftakt, <strong>für</strong> eine<br />
ganze Weile an das Erzählen: Luis gerät an<br />
Elena, die ihn mit ihrem spurlos verschwun<strong>den</strong>en<br />
Bruder Dimitri verwechselt – kein<br />
Wunder, trägt er doch dessen Frisur und dessen<br />
T-Shirt. „There must be thousands of stupid<br />
shirts like this“, so stellt Elena resigniert,<br />
aber treffend fest, und aus dem etwas naiven<br />
Partytouristen Luis ist einer gewor<strong>den</strong>, der<br />
in Reih und Glied der Hipsterbrigade marschiert<br />
und dessen T-Shirt ihn als einen Niemand<br />
unter Tausend abstempelt. Einen Niemand<br />
aber, der einem Geheimnis nachspürt<br />
und dabei letztlich vor allem deshalb hinab<br />
in <strong>den</strong> Kaninchenbau steigt, um um seine<br />
eigene I<strong>den</strong>tität zu ringen.<br />
Bald drängen sich zahlreiche Fragen um<br />
<strong>den</strong> Abwesen<strong>den</strong> auf: Handelt es sich bei<br />
Dimitri etwa um die enthauptete Leiche,<br />
die kürzlich aus der Spree gefischt wurde?<br />
Oder aber doch um <strong>den</strong> Straßenräuber, der<br />
Luis beim eher kläglich gescheiterten Cruising-Versuch<br />
niederschlägt und abzieht?<br />
Die Fotos und Erinnerungsstücke Dimitris,<br />
die Luis beim heimlichen Stöbern in Viktors<br />
Wohnung entdeckt, deuten je<strong>den</strong>falls darauf<br />
hin, dass Viktor tiefer in dessen Verschwin<strong>den</strong><br />
verstrickt ist, als er zuzugeben bereit ist,<br />
und gemeinsam mit Elena versucht Luis, der<br />
Wahrheit auf die Spur zu kommen. Aber eine<br />
Wahrheit, wie muss man sich die eigentlich<br />
vorstellen in dieser Berliner Nachtwelt? Und<br />
hat sie, wenn sie sich doch immer nur auf<br />
Einzelschicksale bezieht, <strong>für</strong> das im pinkfarbenen<br />
Licht tanzende Kollektiv überhaupt<br />
irgendeine Bedeutung? Zwischenzeitlich<br />
je<strong>den</strong>falls beginnt sich der <strong>Film</strong> zu<br />
verdichten, auf einen Showdown hin, und<br />
dann stirbt auch tatsächlich jemand, aber<br />
schlussendlich tut das alles <strong>nicht</strong>s zur Sache.<br />
Alle Protagonisten, die auf <strong>den</strong> Spuren eines<br />
Berliner Mysteriums durch <strong>den</strong> <strong>Film</strong> irrten,<br />
fin<strong>den</strong> sich am Ende auf diesem violettrosa<br />
Dance floor wieder. Und der Tod wird einfach<br />
außer Kraft getanzt.<br />
s<br />
Lose Your Head<br />
von Stefan Westerwelle<br />
und Patrick Schuckmann<br />
DE 2013, 98 Minuten, deutsche OF<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino ab 19. September 2013<br />
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