Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy
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kino<br />
Streichelt euch!<br />
Ein Gespräch mit Alain Guiraudie.<br />
kino<br />
nungsvollen oder auch nur flüchtigen Blicke sind Teil einer komplexen<br />
Dynamik, die sich mit Francks Erscheinen verändert. Gleich am<br />
ersten Nachmittag wird er zwei Bekanntschaften machen und damit<br />
alles Weitere in Gang setzen.<br />
Henri (Patrick d’Assumçao), der etwas abseits sitzt und <strong>nicht</strong><br />
die geringsten Anstalten macht, auf die anderen zuzugehen, fällt<br />
Franck zum ersten Mal vom Wasser aus auf. Er schwimmt zu dem<br />
korpulenten Mittvierziger hinüber, geht an Land und setzt sich zu<br />
ihm. Noch während sie sich unterhalten, bemerkt Franck einen anderen<br />
Schwimmer, <strong>den</strong> athletisch gebauten Michel (Christophe Paou),<br />
der gerade wieder ans Ufer gekommen ist, sich Shorts anzieht und<br />
in Richtung Wald verschwindet. Franck ist in diesem Moment wie<br />
verzaubert. Etwas an Michel zieht ihn unwiderstehlich an. Also verlässt<br />
er Henri überstürzt und folgt dem anderen. Schließlich findet er<br />
ihn im hohen Gras unter einem der Bäume. Nur ist das Objekt seiner<br />
Begierde bereits mit einem anderen zusammen. Während die bei<strong>den</strong><br />
sich küssen und miteinander schlafen, wirft Michel allerdings einen<br />
Blick zu Franck hinüber und lächelt ihm kurz zu. Das Interesse ist<br />
beiderseitig, der erste Schritt gemacht.<br />
Das Versprechen dieses kurzen Augenkontakts, mit dem Michel<br />
sich letztlich schon von seinem Partner gelöst hat, wird sich <strong>für</strong><br />
Franck erst zwei Tage später erfüllen. Am nächsten Nachmittag<br />
spricht er zwar kurz mit dem nackt am Strand liegen<strong>den</strong> Michel.<br />
Doch bevor etwas passieren könnte, kommt Philippe, der Mann aus<br />
dem Wald, dazwischen. Als die Abenddämmerung heraufzieht, wird<br />
Franck von der Anhöhe aus Zeuge einer Gewalttat. Was zunächst<br />
noch wie ein übermütiges Spiel unter Freun<strong>den</strong> wirkt, nimmt plötzlich<br />
bedrohlichere Züge an. Michel schwimmt ans Ufer.<br />
Guiraudie bleibt die ganze Zeit über bei Franck und beobachtet<br />
das Geschehen aus seiner Perspektive. Diese eine lange Einstellung<br />
lässt kaum einen Zweifel zu, und doch hat sie etwas beinahe Irreales.<br />
Von diesem Moment an geht ein Riss durch Franck. Die Augen<br />
sehen das eine, das Herz sagt etwas anderes. Natürlich verändert sich<br />
sein Blick auf Michel. Nicht ohne Grund versteckt er sich im Wald,<br />
bis der andere weggefahren ist. Aber sein Begehren und seine Sehnsucht<br />
bleiben. Sie sind so stark, dass er sich schon einen Tag später auf<br />
eine Affäre mit Michel einlässt. Weder dessen emotionale Distanz (er<br />
ist <strong>nicht</strong> bereit, einen Abend oder gar eine Nacht mit Franck zu verbringen),<br />
noch die Warnungen und Mahnungen, mit <strong>den</strong>en Henri ihn<br />
davon überzeugen will, dass Sex alleine auf Dauer nieman<strong>den</strong> glücklich<br />
macht, zeigen Wirkung. Franck steht so sehr im Bann seiner eigenen<br />
Lust, dass er ihr immer wieder nachgibt. Selbst als die Polizei in<br />
Gestalt von Inspecteur Damroder (Jérôme Chappatte) Ermittlungen<br />
am See aufnimmt, spricht Franck <strong>nicht</strong> über das, was er gesehen hat.<br />
Zwischen Francks Wissen und seinem Verlangen klafft ein riesiger,<br />
immer größer wer<strong>den</strong>der Abgrund, in dem schließlich alles,<br />
sogar die Welt, verschwin<strong>den</strong> wird. Aber <strong>nicht</strong> nur er, der sieht und<br />
doch blind begehrt, will das eine <strong>nicht</strong> mit dem anderen vereinen.<br />
Der Fremde am See ist selbst ein Ausdruck dieses Widerspruchs.<br />
Wie Franck sieht auch Guiraudie alles. Sein Blick auf diesen Cruising-Ort<br />
und seine Rituale nähert sich in seiner radikalen räumlichen<br />
Beschränkung und seinem konsequenten Verzicht auf Musik dem<br />
Dokumentarischen so weit wie nur eben möglich an. Zugleich fügen<br />
sich der See und der angrenzende Wald aber auch perfekt in die Topographie<br />
des Verwunschenen ein, die sein Kino schon seit längerem<br />
prägt. So trägt die südfranzösische Provinz in Der König der Fluchten,<br />
Guiraudies vorherigem <strong>Film</strong>, ganz deutlich märchenhafte Züge. Es<br />
ist, als ob das strahlende Sonnenlicht die Menschen von der Last der<br />
Konventionen befreit. So haben in dieser bizarren Komödie um <strong>den</strong><br />
Traktorenverkäufer Armand, einen ziemlich korpulenten 43-jährigen<br />
Schwulen, in <strong>den</strong> sich eine 16-Jährige unsterblich verliebt, nahezu<br />
alle homoerotische Neigungen. Selbst der Kommissar, der lange Zeit<br />
als Repräsentant einer mehr oder weniger bürgerlichen Normalität<br />
fungiert und das seltsame Treiben der anderen mit distanziertem<br />
Interesse zu verfolgen scheint, landet schließlich mit Guiraudies Hel<strong>den</strong><br />
und zwei anderen Männern im Bett. Homosexualität ist in der<br />
Welt dieses <strong>Film</strong>s genauso selbstverständlich wie das Begehren, das<br />
ein junges Mädchen <strong>für</strong> einen deutlich älteren und alles andere als<br />
attraktiven Mann empfindet. Die Liebe, oder zumindest die Lust ist<br />
in Guiraudies Werk tatsächlich meist blind.<br />
Francks wie auch Michels Begierde bewegen sich in deutlich<br />
konventionelleren Bahnen. Ihr sich am Körper des jeweils anderen<br />
entzün<strong>den</strong>des Begehren spiegelt durchaus Realitäten wieder. In <strong>den</strong><br />
kurzen, eher angedeuteten Cruising-Szenen in Der König der Fluchten<br />
herrschte noch ein anderer Geist. Armand bekannte sich in ihnen<br />
freimütig zu seiner Vorliebe <strong>für</strong> ältere Männer, und Guiraudie träumte<br />
von einer von allen Äußerlichkeiten befreiten Lust. Doch unterschwellig<br />
erfüllt dieser utopische Gedanke auch <strong>den</strong> neuen <strong>Film</strong>. Nur trennt<br />
Guiraudie das Körperliche schärfer von allen anderen Sehnsüchten<br />
und Begier<strong>den</strong>. Mit der größten Selbstverständlichkeit überhaupt<br />
wer<strong>den</strong> Franck und Henri innerhalb kürzester Zeit zu Freun<strong>den</strong>, die<br />
sich letztlich näher stehen als Liebende. Dabei erweist sich die zwischen<br />
ihnen bestehende platonische Zuneigung auf ihre Art als ebenso<br />
mächtig wie die erotische Anziehung zwischen Franck und Michel.<br />
Ein eigenwilliger Zauber liegt über dieser in sich abgeschlossenen<br />
Cruising-Welt. Ein Zauber, <strong>den</strong> schließlich Henri mit seinen letzten<br />
Worten benennen wird: „Lass es gut sein. Ich habe bekommen, was<br />
ich wollte.“ Hier am See findet tatsächlich jeder, was er sucht und<br />
begehrt. Eric, der die Paare im Wald am liebsten beobachtet und sich<br />
dabei selbst einen herunterholt, wird von <strong>den</strong> anderen zwar immer<br />
wieder weggeschickt. Aber schließlich gewährt Guiraudie auch ihm,<br />
der von Franck geradewegs besessen zu sein scheint und immer wie-<br />
der in dessen Nähe auftaucht, einen Moment der Erfüllung. Nur <strong>für</strong><br />
<strong>den</strong> einen wahren Außenseiter, <strong>den</strong> Polizisten Damroder, der wie<br />
schon der Kommissar in Der König der Fluchten ein Mittler zwischen<br />
<strong>den</strong> in ihrem ganz eigenen Kosmos kreisen<strong>den</strong> Figuren und<br />
dem Zuschauer ist, gibt es keinen solchen Moment. Er, der in seiner<br />
Steifheit und seiner scheinbaren Naivität etwas ebenso Groteskes wie<br />
Anrührendes hat, wird einfach ausgelöscht.<br />
Für einen Moment scheint der <strong>Film</strong>, der nach dem gewalttätigen<br />
Vorfall beharrlich mit Thriller-Konventionen kokettiert, sie aber<br />
immer wieder unterläuft, endgültig umzukippen und sich in einen<br />
Slasher zu verwandeln. In diesem Augenblick ist er William Friedkins<br />
Cruising, der auch vorher schon über ihm schwebte, mit einmal<br />
ganz nah, nur um sich dann endgültig aus seinem Schatten zu<br />
lösen. Es wird dunkel, die Nacht senkt sich über <strong>den</strong> Wald. Guiraudie<br />
bleibt bei Franck, der Michel wie schon einmal am Abend des<br />
zweiten Tages ausweicht. Er reagiert <strong>nicht</strong> auf dessen Rufe, aber er<br />
flieht auch <strong>nicht</strong>. Er, der seine Lust von Anfang an ohne Be<strong>den</strong>ken<br />
und auch ohne Angst ausleben will, der auf ungeschützten Sex steht<br />
und sich in die Hand eines Mörders begibt, verschwindet einfach im<br />
Schwarz des Abspanns. Am Ende von Der König der Fluchten liegen<br />
vier Männer gemeinsam im Bett. Jeder wird mit jedem schlafen, ein<br />
Traum von Freiheit, der in Erfüllung geht. Am Ende von Der Fremde<br />
am See verlieren oder – und das ist bei Guiraudie nur eine Frage<br />
der Perspektive – fin<strong>den</strong> sich vier Männer in einem Wald. In dem<br />
Moment, in dem das Bild schwarz wird, scheint noch einmal alles<br />
möglich. Mit Moral oder Psychologie ist diesem Ende genauso wenig<br />
beizukommen wie dem von Der König der Fluchten. Das eine wie<br />
das andere löst sich auf in diesen Utopien der Lust, die alle Grenzen<br />
überschreiten.<br />
s<br />
Der Fremde am See<br />
von Alain Guiraudie<br />
FR 2013, 97 Minuten, deutsche SF<br />
und französische OmU<br />
Alamode <strong>Film</strong>,<br />
www.alamodefilm.de<br />
Im Kino in der Gay-<strong>Film</strong>nacht im<br />
September, www.Gay-<strong>Film</strong>nacht.de<br />
Kinostart: 19. September 2013<br />
Der König der Fluchten<br />
von Alain Guiraudie<br />
FR 2009, 90 Minuten,<br />
französische OF mit deutschen UT<br />
Auf DVD bei der Edition<br />
Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
alamode film (3)<br />
sissy: Lieber Herr Guiraudie, ist das <strong>nicht</strong> eigentlich das komplette<br />
Spektrum schwuler Männlichkeiten, was Sie da an diesem See versammeln?<br />
Alain Guiraudie: Nun, es gibt drei Hauptfiguren: Franck, der Frivole,<br />
Michel, der Libertinäre und Henri, der auf der Suche nach<br />
rein platonischer Freundschaft ist. Aber Sie haben Recht, um sie<br />
herum gibt es <strong>den</strong> Voyeur, das Paar, das immer zusammen kommt<br />
und geht, <strong>den</strong> Ehemann, der sich mal eine Auszeit vom Hetero-<br />
Alltag gönnt … und natürlich <strong>den</strong> Typen, der ohne Gummi noch<br />
<strong>nicht</strong> mal blasen will.<br />
Wie kommt man eigentlich auf eine solche Idee, schwules Cruising<br />
zu einem <strong>Film</strong>thema zu machen?<br />
Eigentlich sollte das ein <strong>Film</strong> über die Liebe und die Lieben<strong>den</strong><br />
wer<strong>den</strong>, ganz davon abgesehen, dass ich mich mit meiner eigenen<br />
Sexualität auseinandergesetzt habe. Mir ging es vor allem darum,<br />
einen Mikrokosmos zu zeigen, in dem sich schwule Männer frei<br />
bewegen und lieben. Für mich ist es ein <strong>Film</strong> im Licht der sexuellen<br />
Befreiung. Ende der 1960er Jahre gab es in Frankreich eine<br />
Gruppe schwuler und lesbischer AktivistInnen namens Front<br />
homosexuel d’action révolutionnaire, die einen Slogan hatte: „Proletarier<br />
aller Länder, streichelt euch!“ Es ging um eine sexuelle<br />
Befreiung <strong>für</strong> alle. Heute kämpfen sie dagegen <strong>für</strong> die Homo-Ehe …<br />
Es war schon immer eine Mär, dass die Schwulen automatisch<br />
progressiver sind. Und das Ideal der sexuellen Befreiung hat sich<br />
zu einer Diktatur gewandelt, man muss dauernd Befriedigung fin<strong>den</strong><br />
und das Ganze ist zu einer großen Industrie verkommen. Das<br />
Cruising hat sich von frei zugänglichen Orten zu kommerziellen<br />
verlagert, wo man Eintritt zahlen und sich auf eine festgelegte Art<br />
verhalten muss. Ja, Schwule und Lesben sind akzeptierter, aber sie<br />
haben auch einen Preis da<strong>für</strong> bezahlt.<br />
Deshalb wirkt ja auch der See in Zeiten von schwulen Sexportalen<br />
wie Gaydar, Grindr oder Scruff fast wie eine untergegangene Welt.<br />
Bei Ihnen laufen die Männer durch die Büsche, während die meisten<br />
heute auf ihr Handydisplay starren.<br />
Mir gefällt diese Situation, die Begegnungen, die Verführung.<br />
Aber es ist keine Nostalgie, weil diese Orte immer noch existieren,<br />
auch wenn es immer weniger wer<strong>den</strong>.<br />
Expliziten Sex zeigen Sie, weil …<br />
… weil zur Liebe und Lei<strong>den</strong>schaft auch der Sex gehört, und <strong>den</strong><br />
gibt es eben <strong>nicht</strong> ohne Geschlechtsorgane. Die großen romantischen<br />
Gefühle und der triviale Sexakt, beides ist gleichberechtigt.<br />
Und Sex ist auch <strong>nicht</strong>s Schmutziges, eine Ejakulation ist doch<br />
sehr schön. Diese Szenen sind <strong>nicht</strong> simuliert, aber ich habe sie<br />
von Doubles ausführen lassen.<br />
Es gibt ja mittlerweile mehrere <strong>Film</strong>emacher wie Travis Matthews,<br />
die Erektionen und echten Sex in Spielfilmen zeigen …<br />
Das wurde aber auch höchste Zeit!<br />
Folgen Franck und die Männer, die auf Verhütung verzichten, in<br />
diesem Paradies, auf das ein Schatten fällt, einem Todestrieb?<br />
Mit einem Todestrieb hat das <strong>nicht</strong>s zu tun. Ein Kondom ist<br />
schlicht kein Instrument der Lei<strong>den</strong>schaft. Es geht um <strong>den</strong><br />
Wunsch, Lei<strong>den</strong>schaft bis zum Letzten auszukosten, alle Grenzen<br />
einzureißen. Das gilt auch <strong>für</strong> Franck. Ich glaube <strong>nicht</strong>, dass er<br />
nach der Gefahr sucht, sondern seine Lust ist stärker als die Angst<br />
vor dem Tod.<br />
s<br />
Interview: Thomas Abeltshauser<br />
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