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Magazin für den nicht-heterosexuellen Film - Sissy

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kino<br />

film-flirt<br />

Audiokommentar<br />

der Liebe<br />

von Jan Künemund<br />

Ganz leise schleicht sich diese Geschichte einer vergangenen Liebe an, die der<br />

<strong>Film</strong>emacher Vincent Dieutre aus Erinnerungen rekonstruiert und experimentell mit<br />

der Situation von Flüchtlingen in Paris in einen filmischen Zusammenhang gesetzt<br />

hat. „Jaurès“, einer der schönsten Liebesfilme des <strong>nicht</strong>-<strong>heterosexuellen</strong> Kinos,<br />

wandert gerade mit wenigen Kopien durch das Land, nachdem er letztes Jahr <strong>den</strong><br />

Dokumentarfilm-Teddy erhalten hat. Bittet eure Kinos darum, ihn zu zeigen.<br />

s Auf dem Weg zum Berliner Kino FSK,<br />

wo Jaurès gerade eine Woche lang läuft, geht<br />

man an einem Flüchtlings-Camp vorbei. Seit<br />

fast einem Jahr leben dort Menschen, die mit<br />

einem „Marsch der Würde“ <strong>für</strong> Änderungen<br />

am deutschen Asylrecht demonstriert hatten<br />

und schließlich auf dem Kreuzberger<br />

Oranienplatz einen prekären Aufenthaltsort<br />

fan<strong>den</strong>. Für regelmäßige FSK-Besucher ist<br />

das Bild vertraut und doch könnte es sich von<br />

einem Tag auf <strong>den</strong> anderen verändert haben.<br />

Auf ein Flüchtlingslager an einem Pariser<br />

Kanal, unterhalb der Métrostation Jaurès,<br />

sah der <strong>Film</strong>emacher Vincent Dieutre<br />

aus dem Fenster der Wohnung seines Liebhabers<br />

Simon. Da er keinen Schlüssel hatte,<br />

kam er abends mit Simon in die Wohnung<br />

und ging zusammen mit Simon am Morgen<br />

wieder hinaus. Er nutzte die Zeit, während<br />

Simon duschte, Essen in der Mikrowelle<br />

aufwärmte oder kurz mal <strong>nicht</strong> da war, um<br />

aus dem Fenster zu filmen. Der Ort einer<br />

prekären Liebe – kein Schlüssel zu haben<br />

heißt: eine Beziehung ohne Sicherheiten zu<br />

führen, ohne Garantie. Vincent möchte seine<br />

Situation <strong>nicht</strong> mit <strong>den</strong> jungen Männern aus<br />

Afghanistan vergleichen, die dort unten, am<br />

Kanal, noch mal bei null anfangen, irgendwann<br />

vertrieben wer<strong>den</strong> und dann wahrscheinlich<br />

woanders weitermachen. Aber<br />

das Leben führt <strong>den</strong> Gast in der Wohnung<br />

mit <strong>den</strong> Flüchtlingen aus Afghanistan <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> Moment der Liebe mit Simon zusammen.<br />

Die Aufnahmen aus dem Fenster der<br />

Wohnung von Simon zeigt Vincent in einem<br />

Tonstudio seiner Freundin Éva. Sie fragt<br />

hin und wieder, was man da sehe, was da<br />

brenne, warum in dieser Welt nur Frauen<br />

zu sehen sind – und sie fragt, wie die Liebe<br />

von Vincent und Simon war. Beide erzeugen<br />

einen Audiokommentar der Liebe. Ohne<br />

große Geste schichtet Jaurès Bilder, Töne,<br />

Gesprächsfetzen, Motive, Erzählungen übereinander,<br />

so dass man jederzeit spürt, dass<br />

etwas sehr Grundsätzliches, Existenzielles<br />

<strong>für</strong> diesen <strong>Film</strong> rekonstruiert wird. Nichts ist<br />

live, <strong>nicht</strong>s aufgeschnappt, <strong>nicht</strong>s ist (cinéma)<br />

verité. Selbst die dokumentarischen Bilder<br />

arsenal distribution<br />

aus dem Fenster sind partiell übermalt – in<br />

einem Stoß umherwirbelnder Blätter ist eins<br />

gezeichnet, in einem Schwarm vorbeifliegender<br />

Tauben ist eine animiert. Ein angeblich<br />

von Simon gespieltes Klavierstück stellt<br />

sich im Abspann als CD-Aufnahme eines Pianisten<br />

heraus. Ein Freund, mit dem ich <strong>den</strong><br />

<strong>Film</strong> sehe, meint, dass auch die Geschichte<br />

mit Simon fiktional sein könnte – es würde<br />

<strong>nicht</strong>s ändern an der emotionalen Wucht dieses<br />

geflüsterten <strong>Film</strong>s, der so entschie<strong>den</strong> ‚in<br />

der Welt‘ ist.<br />

Warum berührt Jaurès so sehr? Er zeigt<br />

<strong>nicht</strong>s Ungewöhnliches, <strong>nicht</strong>s Tragisches.<br />

Ein kleines „Theater“, oben begrenzt von der<br />

U-Bahn, die über die Szenerie eines gutbürgerlichen<br />

Viertels einer europäischen Großstadt<br />

fährt, unten von <strong>den</strong> am Kanal campieren<strong>den</strong><br />

Flüchtlingen, die <strong>für</strong> die Passanten<br />

unsichtbar sind. Eine weiße Taube kommt<br />

vorbei, bleibt einige Zeit, fliegt wieder weg.<br />

Ein Klavierstück wird angespielt, aber nie<br />

zu Ende gebracht. Flüchtlinge wachen auf,<br />

verschwin<strong>den</strong> in <strong>den</strong> Tag, sind abends wieder<br />

da. Ein <strong>Film</strong>emacher schaltet morgens<br />

die Kamera aus und nachts wieder an. Eine<br />

Liebe kommt und geht. Ein Lichtkünstler<br />

arbeitet in der Wohnung gegenüber und<br />

seine Neonröhren beleuchten die Szene in<br />

wechseln<strong>den</strong> Farben <strong>für</strong> kurze Zeit, bis er<br />

wieder auszieht. Simon erscheint in <strong>den</strong> rau<br />

geflüsterten Erinnerungen von Vincent und<br />

verschwindet wieder. Die Welt hat das alles<br />

zusammengeführt. Ein <strong>Film</strong> hat das alles<br />

zusammengeführt. Und „alles hat sich ein<br />

bisschen bewegt.“ (Dieutre)<br />

Man verlässt aufgewühlt und sinnlich<br />

geschärft das Kino FSK. Der Blick fällt auf<br />

das Flüchtlings-Camp am Oranienplatz.<br />

Man meldet sich mit dem Smartphone bei<br />

Facebook an und checkt die Meldungen der<br />

letzten 90 Minuten. Ein Blog-Text wandert<br />

durch die Postings von „Freun<strong>den</strong>“, in dem<br />

ein Autor fragt, warum diejenigen, die sich<br />

gerade über <strong>den</strong> systematischen Statusentzug<br />

der russischen Nicht-Heterosexuellen<br />

durch die Putin-Regierung aufregen, vorher<br />

nie etwas zu <strong>den</strong> schon lange bekannten systematischen<br />

Statusentzug der Migranten in<br />

Russland gesagt haben.<br />

s<br />

Jaurès<br />

von Vincent Dieutre<br />

FR 2012, 83 Minuten, französische<br />

OF mit deutsche UT<br />

Arsenal Distribution,<br />

www.arsenal-berlin.de/distribution<br />

Im Kino seit 8. August 2013<br />

ab 29.08. <strong>Film</strong>haus Nürnberg ·<br />

ab 12.09. Schaubühne Lin<strong>den</strong>fels/<br />

Leipzig · 19.9. Lichtmess/Hamburg<br />

Der Moment<br />

Schriftsteller sehen <strong>Film</strong>e: Andreas Steinhöfel<br />

„Die Mitte der Welt“ haben wir alle gelesen. Kommen wir mal<br />

in Verlegenheit, ein Geschenk zu einem Kindergeburtstag<br />

mitbringen oder einen Jugendlichen mit Lesestoff versorgen<br />

zu müssen, gibt es keine bessere Idee, als beim Carlsen-<br />

Verlag nachzuschauen, ob Andreas Steinhöfel seine Serie<br />

um Oskar und Rico erweitert oder gar etwas ganz Neues<br />

veröffentlicht hat – sofern die vielen Klassiker wie der von<br />

ihm selbst auch zum Drehbuch entwickelte „Es ist ein Elch<br />

entsprungen“ oder „Beschützer der Diebe“ schon bekannt<br />

sind. Neben der Arbeit an einem neuen Roman <strong>für</strong> Erwachsene<br />

und einem neuen Roman <strong>für</strong> Jugendliche fand Andreas<br />

Steinhöfel Zeit, uns von einem <strong>Film</strong>moment zu erzählen,<br />

dessen Gewalttätigkeit ihn und uns daran erinnert hat, dass<br />

das queere Leben <strong>nicht</strong> nur aus dem Coming-Out besteht.<br />

s Vor einiger Zeit wurde ich <strong>für</strong> eine Radiosendung befragt, was<br />

man einem Jugendlichen raten solle <strong>für</strong> <strong>den</strong> Fall, dass ihm wegen<br />

seines Schwulseins von jemandem Dresche angedroht würde. Tja, da<br />

könne man wohl bloß hoffen, erwiderte ich, dass dieser Jugendliche<br />

seinem Aggressor dermaßen eine reinsemmeln würde, dass der sich<br />

davon <strong>nicht</strong> so rasch wieder erholte. Ob ich, kam die pikierte Frage<br />

der Moderatorin, mit diesem Statement etwa zu Gewalt aufrufen<br />

wolle. Nein, bloß zu Gegengewalt, antwortete ich, schließlich lasse<br />

sich mit eingeschlagenen Zähnen schlecht über Ethik diskutieren,<br />

und die Schwuppen im „Stonewall Inn“ hätten vermutlich auch <strong>nicht</strong><br />

mit Wattebällchen um sich geworfen. Das Interview wurde, große<br />

Überraschung, <strong>nicht</strong> etwa bloß um diese Passage gekürzt, sondern<br />

Torch Song Trilogy<br />

von Paul Bogart<br />

US 1988, 119 Minuten,<br />

englische OF<br />

Auf DVD als Import<br />

Mitte der Welt<br />

von Andreas Steinhöfel<br />

Roman, 480 Seiten,<br />

Carlsen 2004,<br />

www.carlsen.de<br />

screenshot<br />

gar <strong>nicht</strong> erst ausgestrahlt. Was einmal mehr meine lang gehegte<br />

Vermutung bestätigte, dass politische Korrektheit je<strong>den</strong> demokratischen<br />

Diskurs ebenso effizient verhindern kann wie ein Schlag in die<br />

Fresse.<br />

Als Ende der 80er das schwule Kino endgültig im Mainstream<br />

angekommen war, hatte ich eben – und endlich – mein Coming-Out<br />

aufs Parkett gelegt. Ich hatte es nur in Tippelschritten vollzogen, von<br />

steter Angst erfüllt vor dem unwiderruflich damit verbun<strong>den</strong>en Ich<br />

bin. Jetzt war ich, und ich sang es stolz, ich tanzte es, ich vögelte es,<br />

und irgendwann nach dem durchtanzten, durchsungenen, durchvögelten<br />

Sommer ließ ich mich erschöpft in einen Kinosessel sinken, um<br />

mir einen schwulen <strong>Film</strong> anzuschauen, erfüllt von dem Gedanken,<br />

dabei <strong>nicht</strong> mehr womöglich, sondern hoffentlich im Publikum gesehen<br />

zu wer<strong>den</strong>.<br />

Die rauchig-melancholische Sentimentalität des englischen Torch<br />

Song lässt sich nur schlecht ins Deutsche übersetzen, und so musste<br />

der deutsche Zuschauer mit Das Kuckucksei vorlieb nehmen, aber<br />

das war mir, kaum dass zwei rot bemalte Lippen in Großaufnahme<br />

„Ich bin ein Entertainer“ in die Kamera geschnarrt hatten, komplett<br />

gleichgültig. Die sich über knapp zehn Jahre ziehende Geschichte um<br />

<strong>den</strong> New Yorker Travestiekünstler Arnold dürfte hinlänglich bekannt<br />

sein: Erst liebt er <strong>den</strong> Falschen, dann <strong>den</strong> Richtigen, dann verliert er<br />

<strong>den</strong> Richtigen, weshalb zuletzt der ehemals Falsche zurückkommt<br />

und zum neuen Richtigen wird. Dazwischen kabbelt Arnold sich mit<br />

seiner Mutter, und am Ende ziehen er und sein Kerl einen schwulen<br />

Pflegesohn auf, der sein offenes Schwulsein nötigenfalls mit <strong>den</strong><br />

Fäusten verteidigt: Eine der ersten Patchwork-Familien Hollywoods<br />

war geboren. Seufz.<br />

I’ve Heard the Mermaids Singing (1986) ist mein eigentlicher Lieblingsfilm<br />

aus dieser Zeit, ein poetisches kleines Meisterwerk, das sich<br />

jedoch nur einer einzigen Aufnahme rühmen kann, der ich das Prädikat<br />

der Moment verleihen würde (nämlich als die Hauptdarstellerin<br />

gedankenverloren ein paar Erbsen isst; ihre verliebte Selbstvergessenheit<br />

findet sich 1989 in Coming Out wieder, als die Noch-Freundin<br />

des schwulen Hel<strong>den</strong> eine Gewürzgurke verspeist). Das Kuckucksei<br />

hingegen war, wenn man so will, ein einziger großer Moment, wenn<br />

auch mit einem <strong>für</strong>chterlichen Kulminationspunkt, als Arnolds Lover<br />

Alan – der ursprüngliche Richtige – am Ende des zweiten <strong>Film</strong>teils<br />

von einer schwulenfeindlichen Gang mit einem Baseballschläger<br />

erschlagen wird. Der Schlag ließ mich im Kinosessel zusammenzucken<br />

und weckte mich aus der trügerischen Sicherheit, in der ich<br />

mich über jenen Sommer hinweg bisher gewähnt hatte, der naiven<br />

Vorstellung nämlich, ein beherzter Schritt ins Licht reiche aus, alles<br />

Dunkel ein <strong>für</strong> allemal fern zu halten. Ein blutiges, aufgeplatztes<br />

Gesicht machte mir klar, dass es <strong>nicht</strong> ausreichte – niemals ausreichen<br />

würde – in rosaroter Verklärung einmal im Jahr ein Regenbogenfähnchen<br />

zu schwenken. Ich war, und ein Teil von mir würde<br />

immer wachsam sein, immer auch ängstlich, sicherlich … aber immer<br />

auch bereit, nötigenfalls zurückzuschlagen. Ich bin ist ein Stolz, der<br />

keine Demut kennt.<br />

s<br />

Andreas Steinhöfels Blog: newsfromvisible.blogspot.de<br />

Es ist ein Elch entsprungen<br />

von Andreas Steinhöfel<br />

Roman, 80 Seiten,<br />

Carlsen 2004,<br />

www.carlsen.de<br />

Es ist ein Elch entsprungen<br />

von Ben Verbong<br />

DE 2005, 90 Minuten,<br />

deutsche OF<br />

Auf DVD bei Disney/Buena<br />

Vista, www.movie.de<br />

36 sissy 19 sissy 19 37

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