Energie
St. Gallen Business Review Sommer 2012
St. Gallen Business Review
Sommer 2012
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ESPRIT St.Gallen Business Review<br />
Aufbruch in ein neues<br />
<strong>Energie</strong>zeitalter<br />
Dr. Norbert Röttgen<br />
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />
Wer zu spät kommt, den bestraft das<br />
Leben – wir alle kennen diesen Ausspruch<br />
Michael Gorbatschows, und<br />
wohl jeder würde ihm ohne nachzudenken<br />
zustimmen. Doch unser Handeln sieht häufig<br />
ganz anders aus. Kurzfristigkeit prägt die Entscheidungen<br />
vieler Unternehmen. Die Erfolgs- und Gewinnerwartungen<br />
müssen sich innerhalb weniger Jahre, zum<br />
Teil innerhalb von Monaten realisieren. Es sind die<br />
jährlichen Bilanzen, die die Börsenkurse bestimmen,<br />
nicht die langfristigen Erfolgsaussichten. Was in der<br />
Wirtschaft der Börsenkurs ist, ist in der Politik die<br />
Wahlprognose. Erfolg muss sich bis zur nächsten Wahl<br />
zeigen, sonst droht die Strafe durch den Wähler, so zumindest<br />
die Befürchtung der Handelnden. Die Folgen<br />
dieser Logiken sind heute unübersehbar: Renditeblasen,<br />
die ganze Volkswirtschaften ins Straucheln bringen,<br />
eine Staatsverschuldung, die die Handlungsfähigkeit<br />
unserer Gemeinwesen über Jahrzehnte gefährdet,<br />
Sozialsysteme, die mitunter ungebremst in die demografische<br />
Falle laufen. Und wir wissen auch, dass unser<br />
Wohlstand auf einem hemmungslosen Verbrauch natürlicher<br />
Ressourcen beruht: Je mehr verbraucht wird,<br />
umso mehr Wohlstand gibt es. Das war und ist noch<br />
immer ein fast allgemeingültiger Zusammenhang. So<br />
kann es nicht weitergehen. Mit einem «Weiter so» des<br />
alten Wachstumspfads steuern wir unweigerlich auf die<br />
Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlagen<br />
zu, auf einen ungebremsten Klimawandel, auf einen<br />
unwiederbringlichen Verlust natürlicher, aber auch<br />
kultureller Schätze, auf eine Welt der Instabilitäten<br />
und der wirtschaftlichen Verunsicherung. Ist diese Entwicklung<br />
unausweichlich? Ich bin überzeugt: Die Antwort<br />
lautet «nein». Denn wir haben klare Alternativen.<br />
Wir müssen sie nur nutzen.<br />
Politik der Zukunftsverantwortung<br />
Wir können eine stabilere, eine menschlichere,<br />
eine sicherere Ordnung schaffen, wenn wir unser Denken<br />
und Handeln langfristiger orientieren, wenn wir<br />
lernen, politisch nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten<br />
zu denken. Für die Entscheidungen, die wir heute<br />
«Was in der Wirtschaft<br />
der Börsenkurs<br />
ist, ist in der Politik<br />
die Wahlprognose.»<br />
treffen, müssen wir die Lebensbedingungen und Lebensperspektiven<br />
der nächsten Generation zum aktuellen<br />
politischen Entscheidungsmassstab machen. Das<br />
ist ausgesprochen anspruchsvoll und verlangt allen,<br />
der Politik genauso wie den Wählerinnen und Wählern,<br />
grosse politische Reife ab. Aber es ist zwingend notwendig.<br />
Denn gerade das Phänomen des Klimawandels<br />
zeigt: Wir müssen heute antizipierend Entscheidungen<br />
über Entwicklungen treffen, die teilweise erst in Jahrzehnten<br />
eintreten werden, aber nur durch Entscheidungen<br />
heute beeinflusst werden können.<br />
Ein neues Paradigma des Wachstums<br />
Im Mittelpunkt muss bei allem eine Politik für<br />
Wachstum und Fortschritt stehen. Verzicht auf Wachstum<br />
ist nicht die Lösung der Probleme des (post-) industriellen<br />
Zeitalters. Das Grundprinzip der Moderne<br />
ist und bleibt Wachstum. Nur mit Wachstum bleiben<br />
wir zukunftsfähig. Nur so bleibt unsere Gesellschaft<br />
solidarisch, denn es kann nur das verteilt werden, was<br />
auch erwirtschaftet worden ist. Allerdings kommt es<br />
auf eine neue Art des Wachstums an, auf ein Wachstum,<br />
das sich vom Verbrauch endlicher natürlicher Ressourcen<br />
entkoppelt. Die grosse Chance liegt darin, von<br />
einer Ressourcen verbrauchenden zu einer Ressourcen<br />
schonenden Wirtschafts- und Lebensweise zu gelangen.<br />
Aber – und das ist entscheidend – das geht nicht<br />
mit weniger, sondern nur mit mehr technologischem<br />
und wirtschaftlichem Fortschritt. Wachstum und Ressourcenverbrauch<br />
zu entkoppeln ist möglich.<br />
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Sommer 2012