AKTIV Nr.5 2012 (PDF, 1906 kb) - KV Bern
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VON KÜHEN UND FISCHEN<br />
Da stehe ich nun, auf dem Platz in meiner<br />
Heimatstadt. Rechts von mir erwartet mich<br />
der «Place to be», links von mir öffnet die<br />
Frau aus dem Oberland ihren Ladeanhänger,<br />
bemalt mit Kühen und Bergen, mit der<br />
Absicht Currywürste und Crêpes zu verkaufen.<br />
Es ist später Donnerstagnachmittag,<br />
heute Abend ist Abendverkauf. Ein Abend,<br />
der wie jeder andere ist und doch jedes Mal<br />
der Hauch eines Volksfestes mitschwingt. Ein<br />
Abend, an dem rechts von mir die Menschen<br />
über die grosse, weite Welt philosophieren<br />
und so etwas wie Sehnsucht nach mehr auf<br />
ihren Gesichtern tragen, und links von mir<br />
Menschen die stolz die Ernte der Berge und<br />
Täler präsentieren und sich mutig mit den<br />
Stadtmenschen vermischen. Sollen die Currywürste<br />
und Crêpes und die Kühe aus den<br />
Bergen auf dem Ladeanhänger die beiden<br />
Welten vereinen oder hat die Frau aus dem<br />
Oberland ganz einfach keine Freunde, die ihr<br />
eine ehrliche Meinung über die Gestaltung<br />
des Ladeanhängers mitteilen? Ich bin wieder<br />
zu Hause, stehe auf dem Platz in meiner Heimatstadt<br />
und erkenne mich dank fehlender<br />
Freunde der Frau aus dem Oberland wieder.<br />
Was ist es, was wir suchen, wenn wir auf Reisen<br />
gehen? Wir entfliehen den kleinen, biederen<br />
und einengenden Städten und hoffen<br />
auf Offenheit, Toleranz, Individualität und<br />
Vielfältigkeit. Wir haben das Gefühl, weit weg<br />
ist alles anders und besser. Wir gehen alleine,<br />
um uns selbst zu finden und uns einer Herausforderung<br />
zu stellen. Wir gehen mit der<br />
Vorstellung, endlich unser wahres Ich zu finden,<br />
uns ausleben zu können und als neuer<br />
Mensch zurückzukehren. Was tat ich? Wie<br />
die Kuh aus den Bergen stand ich in der Stadt<br />
der Currywürste und Crêpes. Mit weit geöffneten<br />
Augen wollte ich mich in einen Fisch<br />
verwandeln und mich vom Sog der Grossstadt<br />
mitreissen lassen. Doch die Kuh blieb<br />
Kuh und stand am Ufer des Flusses voller<br />
Fische. Ha, habe ich es doch gewusst! So einfach<br />
ist das nicht mit dem ach so trendigen<br />
«Ich-finde-es-zu-Hause-doof-und-finde-<br />
mich-jetzt-mal-selbst-und-finde-danach-zu-<br />
Hause-alles-noch-doofer». Leicht überfordert<br />
keinen Gesprächspartner neben mir zu<br />
haben, von mir unbekannten Gefühlen der<br />
Einsamkeit übermannt, wenig selbstbewusst,<br />
modisch etwas deplatziert und grundsätzlich<br />
an meinen Fähigkeiten zweifelnd, stand ich<br />
auf einem ähnlichen Platz, wie der in meiner<br />
Heimatstadt, nur grösser, weiter, voller.<br />
Wo war es, dieses Gefühl der Freiheit, der<br />
Unabhängigkeit, des Glücks, der Begeisterung?<br />
Das Gefühl, das ihr Reisenden bei der<br />
Rückkehr mit glänzenden Augen hinter der<br />
neuen Sonnenbrille, gestikulierend mit dem<br />
neuen Tattoo am Handgelenk, mit den neuen<br />
Lederstiefeln wippend, erzählt? Hätte ich<br />
mir sofort eine Jute-Tasche umhängen, mich<br />
mit Retro- und Vintage-Klamotten eindecken<br />
und mir einen Teil meiner Haare am Kopf<br />
rasieren müssen? Hätte ich einen Lonely-<br />
Planet-Reiseführer mit farbigen Post-Its bearbeiten<br />
müssen? Hätte ich mit einem Trekking-Rucksack<br />
statt mit einem Koffer reisen<br />
müssen? Hätte ich in einem Hostel zusammen<br />
mit Menschen aus aller Welt statt in eine<br />
Wohnung einchecken sollen? Habt ihr euch<br />
denn nie so gefühlt wie ich?<br />
Und dann, ganz plötzlich inmitten der verwirrenden<br />
Gefühle und endlosen Fragen,<br />
während ich an einem letzten Abend durch<br />
das Fenster meiner Wohnung auf das Wahrzeichen<br />
der grossen Stadt schaute, wurde<br />
die Kuh zu einem Fisch. Mit dem Gefühl von<br />
Freiheit und Glück packte ich meine neuen<br />
Lederstiefel, meinen neuen senfgelben Schal<br />
und meine neue Jute-Tasche in den Koffer<br />
und schwamm ein letztes Mal mit dem Strom<br />
in die Grossstadtnacht.<br />
Wie ein Fisch auf der Suche nach einem fliessenden<br />
Strom warte ich nun also auf dem<br />
Platz in meiner Heimatstadt. Enttäuscht,<br />
aber bestätigt, kehre ich dem Ladeanhänger<br />
den Rücken und mache mich als Kuh auf der<br />
kleinen, biederen, etwas einengenden, aber<br />
gemütlichen und anspruchslosen Wiese der<br />
Kleinstadt auf den Weg, um von der weiten,<br />
grossen Welt zu berichten.<br />
Simona Tanner<br />
PS: Dem Alltag entfliehen<br />
und die Grossstädte Europas<br />
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