ZUKUNFT GEIST
Berufsperspektiven für Studierende der Geistes- und Kulturwissenschaften
Berufsperspektiven für Studierende der Geistes- und Kulturwissenschaften
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<strong>ZUKUNFT</strong> <strong>GEIST</strong><br />
STUDIUM – UND NUN?<br />
14<br />
Die Pflege eines solchen Netzwerkes ist<br />
anstrengend, aber wichtig. Man muss<br />
gegenseitiges Vertrauen schaffen. Wenn<br />
die anderen dir vertrauen, helfen sie dir<br />
auch, etwa mit Infos und Erfahrungen,<br />
und das ist wichtig. Beispielsweise kann<br />
man manchmal, wenn man einen Auftrag<br />
nicht bekommen hat oder sich aus anderen<br />
Gründen abgelehnt fühlt, nicht selbst<br />
einschätzen, ob man Fehler gemacht<br />
hat oder ob es an<br />
ganz anderen Umständen<br />
lag. Das<br />
Netzwerk ist einem<br />
dabei eine große<br />
Hilfe, wenn man es<br />
richtig aufgebaut<br />
hat. Ich kann das<br />
inzwischen ganz<br />
gut einschätzen,<br />
aber das war ein<br />
steiniger Weg. So<br />
ein Netzwerk kann<br />
einen notfalls sogar<br />
auffangen, obwohl<br />
man sich darauf<br />
natürlich nicht<br />
verlassen kann.<br />
Aber man braucht<br />
es nicht nur, um Probleme zu lösen, sondern<br />
auch, um sich gegenseitig zu professionalisieren.<br />
Das ist sehr wichtig dabei.<br />
Neben der Musik lehren Sie auch noch<br />
an verschiedenen Hochschulen. Wie<br />
erleben Sie die Situation der Geisteswissenschaften<br />
in dieser Tätigkeit?<br />
Ich habe den Eindruck, dass die Studierenden<br />
bei dem, was alles von Ihnen erwartet<br />
wird, aufpassen müssen, dass sie<br />
im Studium eine gewisse inhaltliche Tiefe<br />
erreichen, denn sonst ist das alles nutzlos.<br />
Man muss sich im Studium mit den Diskursen<br />
seines Fachs auseinandersetzen.<br />
Aber diese Auseinandersetzung kostet<br />
Zeit und die fehlt häufig. Ich sehe es daher<br />
als meine Zielsetzung an, die Leute<br />
dazu zu bringen, Diskurse zu kennen und<br />
sich darin einordnen oder vielleicht auch<br />
davon distanzieren zu können. Das ist<br />
auch gesamtgesellschaftlich wichtig.<br />
Wir müssen vorsichtig sein, den Einzelnen<br />
vorzuwerfen, dass sie sich zu wenig öffnen<br />
oder zu wenig wissen, denn woher<br />
sollen sie es denn wissen? Als Lehrende<br />
ist es unsere Aufgabe, ihnen diesen Horizont<br />
zu eröffnen, aber das erfordert Zeit.<br />
Wir werden zu bequem im Umgang mit<br />
dem Denken, aber in einem geisteswissenschaftlichen<br />
Studium lässt sich genau<br />
das forcieren – hier kann man Leute begeistern.<br />
Ich kann niemanden zwingen<br />
zu denken, aber ich kann zu den Leuten<br />
durchdringen und ihnen zeigen, wie zufriedenstellend<br />
es sein kann, Erkenntnisse<br />
zu haben und sich Dinge selbst zu erschließen.<br />
Das setzt aber voraus, dass ich<br />
mich als Lehrender aber auch begeistere<br />
und einbringe, sonst geht das nicht. Ein<br />
Gegenüber, das sich engagiert und den<br />
Funken überspringen lässt, ist für junge<br />
Leute extrem wichtig.<br />
Die Förderung der Geisteswissenschaften<br />
ist daher meines Erachtens eigentlich<br />
gar nichts Schöngeistiges, sondern etwas<br />
ganz Pragmatisches, das sein muss. Die<br />
Frage ist ja, wo Innovation herkommen<br />
soll, wenn wir nur noch auf Effizienz hinarbeiten?<br />
Da kann der Geist ja gar nicht<br />
mehr quertreiben. Das scheint vielen auf<br />
den ersten Blick ineffizient, ist es aber<br />
gar nicht, weil dadurch wieder neue Ideen<br />
entstehen. Momentan herrscht der<br />
Wahnsinn, dass wir auf Basis von Studien<br />
privater Stiftungen unser Bildungssystem<br />
auf den Kopf stellen. Das führt langfristig<br />
dazu, dass wir unsere Essentials und unsere<br />
Identität als Gesellschaft aufgeben.<br />
Aus diesem Grund ist die Ausbildung von<br />
Geisteswissenschaftler*innen etwas Existenzielles<br />
für unsere Gesellschaft und ich<br />
versuche, meinen Beitrag dazu zu leisten.<br />
Würden Sie sagen, dass das geisteswissenschaftliche<br />
Arbeiten für Sie<br />
nach wie vor relevant ist?<br />
Auf jeden Fall. Neben der Komposition<br />
und Musikproduktion arbeite ich auch in<br />
der Kultur- und Verbandpolitik. Bei diesen<br />
Tätigkeiten und bei der Mitarbeit an<br />
Kongressen ist der Nutzen natürlich am<br />
größten, aber auch beim Komponieren<br />
hilft mir die Herangehensweise, die für<br />
die Geisteswissenschaften<br />
klassisch<br />
ist. Ich brauche immer<br />
ein Konzept<br />
und ich muss den<br />
Gegenstand erst mal<br />
in Worte fassen können,<br />
um ihn dann in<br />
Musik umsetzen zu<br />
können. Das habe<br />
ich im Studium perfektioniert.<br />
Ich habe<br />
ein Bewusstsein dafür<br />
entwickelt, dass<br />
man sich nicht blind<br />
auf angestammte<br />
Kategorien verlassen<br />
kann, dass man<br />
Dinge infrage stellen<br />
muss. Kritisches Denken und Hinterfragen<br />
hilft mir ungemein bei der Umsetzung<br />
meiner Werke.<br />
Was zeichnet Sie persönlich als<br />
Geisteswissenschaftler aus?<br />
Da würde ich neben der Fähigkeit, Konzepte<br />
zu entwickeln und die Dinge kritisch<br />
zu hinterfragen, vor allem Abstraktionsvermögen<br />
und diskursive Verortung<br />
nennen. Wenn ich einen Diskurs kenne,<br />
kann ich, wenn ein bestimmtes Wort fällt,<br />
erkennen, dass dies eine Referenz auf etwas<br />
wirft, das viel weiter entfernt ist, aber<br />
plötzlich hier eine Bedeutung bekommt.<br />
Wie ich mir Dinge erschließe, von denen<br />
ich heute noch gar nichts weiß, ist ebenso<br />
eine wesentliche Kompetenz meines<br />
Studiums. Ich muss eben die Diskurse und<br />
die Gedanken dahinter verstehen und erst<br />
dann kann ich mich daran abarbeiten; alles<br />
andere sind nur Vorurteile. Der Ertrag<br />
eines fundierten geisteswissenschaftlichen<br />
Studiums ist, dass es wirklich zulässt,<br />
dass Fragen aufkommen. Die Fragen sind<br />
viel wichtiger als die Antworten.<br />
Als letzten Aspekt würde ich noch das<br />
Wissen, dass ich mich als Experte in einem<br />
Gebiet sehe, hinzufügen. Das gibt mir<br />
Selbstvertrauen und mit meinem akademischen<br />
Anspruch weiß ich, dass ich mir<br />
das erarbeitet habe. Letztlich bedeutet<br />
das auch, dass ich das auch für andere<br />
Bereiche schaffen kann.<br />
Was waren die Meilensteine, die zentralen<br />
Entscheidungen und Wendepunkte<br />
in Ihrer beruflichen Laufbahn?<br />
Mein Weg ist ja ziemlich um die Ecke,<br />
aber das bedaure ich nicht. Es war die<br />
richtige Entscheidung, mein Violinstudium<br />
abzubrechen, weil mir das viele neue<br />
Perspektiven eröffnet hat. Ein weiterer<br />
zentraler Wendepunkt war für mich mein<br />
Studienbeginn an der Uni Köln, denn in<br />
dem Moment hat sich mir eine ganze<br />
Welt eröffnet, die meinen ganzen weiteren<br />
Werdegang geprägt hat. Diesem<br />
Weg, den ich da beschritten habe, bin ich<br />
dann auch kontinuierlich gefolgt. Solche<br />
Aha-Erlebnisse sind mir immer mal wieder<br />
passiert und die bereichern mich jedes<br />
Mal enorm. Das passiert häufig, wenn<br />
ich neue Menschen kennenlerne, die sich<br />
selbst und ihr Fach hinterfragen und neue<br />
Wege gehen.<br />
Welchen Rat würden Sie Studierenden<br />
geisteswissenschaftlicher Fächer<br />
für den beruflichen Werdegang geben<br />
bzw. welchen für junge Menschen,<br />
die sich für ein solches Studium<br />
interessieren, aber unsicher bezüglich<br />
der Perspektiven sind?<br />
Junge Leute sollten neugierig sein, Fragen<br />
haben, Fragen finden wollen und<br />
nicht frustriert sein, wenn es mal etwas<br />
dauert, bis sie in die Nähe von Antworten<br />
kommen. Man muss das schon wollen, es<br />
ist nicht so, dass das Studium etwas von<br />
einem will, dafür hat es zu viele Möglichkeiten<br />
und ist kein gradliniges Studium.<br />
Man sollte auf der Suche nach etwas sein.<br />
Es ist auch nicht für jeden was. Und man<br />
kann auch mal Entscheidungen revidieren<br />
und irgendwo abbiegen. Das bringt einen<br />
alles weiter!<br />
Foto: © privat<br />
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