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ZUKUNFT GEIST

Berufsperspektiven für Studierende der Geistes- und Kulturwissenschaften

Berufsperspektiven für Studierende der Geistes- und Kulturwissenschaften

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<strong>ZUKUNFT</strong> <strong>GEIST</strong><br />

STUDIUM – UND NUN?<br />

22<br />

tale Projektentwicklung und -umsetzung<br />

bei der denkfabrik group in Hürth an. Das<br />

war das erste Mal, dass ich das Gefühl<br />

hatte, ich werde durch meine Aufgabe<br />

auf angenehme Weise gefordert, und wo<br />

ich es mir vorstellen konnte, dauerhaft zu<br />

bleiben.<br />

Mussten Sie sich viele Zusatzqualifikationen<br />

aneignen, um als Geisteswissenschaftler<br />

im technischen Bereich<br />

eines Unternehmens erfolgreich<br />

zu sein?<br />

Die Zeit im Volontariat war sicher auch<br />

nicht krisenfrei. Die größte Herausforderung<br />

jedoch war, zu beweisen, dass ich in<br />

der Lage war, die Anforderungen zu bewältigen,<br />

die an mich gestellt wurden. Ich<br />

musste mir in Eigenregie die Fähigkeiten<br />

aneignen, die nötig waren, um den Job<br />

richtig zu machen. Auf der anderen Seite<br />

bekam ich genügend Zeit und Freiraum<br />

von meinem Arbeitgeber, um mich zu<br />

entwickeln. Zusatzqualifikationen kann<br />

man natürlich immer machen. Wenn<br />

man beispielweise als Freelancer tätig<br />

ist, kann das durchaus sinnvoll sein, um<br />

nachweisen zu können, dass man diese<br />

oder jene Fachkenntnis besitzt. In meinem<br />

Bereich ist es jedoch nicht notwendig,<br />

da ich mich mit der Arbeit, die ich<br />

mache, hinreichend beweise, wenn man<br />

so will. Tatsächlich studiere ich noch nebenbei<br />

an der FernUni Hagen Informatik,<br />

um gewisse technische und theoretische<br />

Hintergründe besser zu verstehen, jedoch<br />

habe ich weder abgeschlossen noch ist<br />

das eine Voraussetzung für meine aktuelle<br />

Position.<br />

Wenn man sich als Studienanfänger<br />

für die Branche Web- und Anwendungsentwicklung<br />

interessiert, dann<br />

ist die Ergreifung eines geisteswissenschaftlichen<br />

Studiums nicht sehr<br />

naheliegend. Was, würden Sie sagen,<br />

sind die Vorteile Ihres Werdegangs<br />

verglichen mit jemandem, der sich<br />

direkt für z.B. Medieninformatik entschieden<br />

hat?<br />

Ganz pragmatisch betrachtet bin ich breiter<br />

aufgestellt als z.B. ein Informatiker und<br />

mute mir deshalb auch mehr zu; nicht unbedingt<br />

in der Tiefe aber in der Breite. Bei<br />

uns in der Firma haben wir beispielsweise<br />

auch eine PR- und Marketingabteilung<br />

und alles, was an Schriftverkehr anfällt,<br />

muss von mir Korrektur gelesen werden.<br />

Vorher musste das extern erledigt werden,<br />

da es in der Firma niemanden gab,<br />

der das übernehmen konnte. Das ist eine<br />

fachliche Kompetenz, die ich mitbringe<br />

und die ein Informatiker nicht unbedingt<br />

hat. Aber das trifft auch auf den Code,<br />

den ich schreibe, zu. Den kann ich unter<br />

anderem auch als formale Sprache<br />

betrachten, die eine Syntax, funktionale<br />

Elemente und Argumentstrukturen hat<br />

und die sich in nichts von formaler Linguistik<br />

unterscheidet. Weiterhin kann ich<br />

konzeptionieren, was viele, die als reine<br />

Softwareentwickler arbeiten, nicht tun.<br />

Ich habe keine Angst davor, aus einer<br />

Idee ein Produkt werden zu lassen und es<br />

dann auch selbst zu entwickeln. Eine weitere<br />

Stärke, die ein Geisteswissenschaftler<br />

meiner Meinung nach in allen Berufen<br />

mitbringt, ist eine gewisse Offenheit und<br />

die Neigung, Dinge zu hinterfragen, anders<br />

als ein Fachmann das tun würde, der<br />

immer nur diesen reinen IT-technischen<br />

Blick gewohnt ist und schwerlich andere<br />

Perspektiven einnehmen kann.<br />

Sie haben momentan eine Führungsposition.<br />

Inwiefern kam Ihnen Ihr<br />

Lehramtsstudium dafür zugute?<br />

Indem ich unmittelbar Verantwortung<br />

übernehmen konnte. So wurden mir bald<br />

unsere Schüler, Praktikanten und Azubis<br />

anvertraut. Deren Anleitung macht<br />

mir nach wie vor großen Spaß. Deshalb<br />

schließe ich es nicht aus, vielleicht später<br />

doch wieder lehrend tätig zu werden. Das<br />

ist auch etwas, was mich sehr glücklich<br />

macht: der Gedanke, nicht auf eine einzige<br />

Sache festgelegt zu sein. Außerdem<br />

arbeite ich auch an unserem Ausbildungsprogramm<br />

mit. Ich sehe dabei, dass mir<br />

die Vermittlung unserer Ausbildungsinhalte<br />

leichter fällt als manchen Kollegen,<br />

die bereits auf so einem spezialisierten<br />

Niveau denken und arbeiten, dass sie die<br />

Inhalte kaum noch so herunterbrechen<br />

können, dass auch ein Nicht-Fachmann<br />

sie versteht. Ich als Quereinsteiger kann<br />

mich da sehr gut hineinversetzen und die<br />

Perspektive desjenigen annehmen, der es<br />

gerade erst lernt. So kann ich auch anders<br />

mit Kunden umgehen als ein Techniker.<br />

Das sind auf jeden Fall Stärken, die jedem<br />

Unternehmen zugute kommen.<br />

Was würden Sie Studieninteressierten<br />

raten, die sich gerne für ein geisteswissenschaftliches<br />

Studium entscheiden<br />

würden, sich aber unsicher<br />

bezüglich der Berufsperspektiven<br />

nach dem Abschluss sind?<br />

Ein geisteswissenschaftliches Studium ist<br />

gewissermaßen ein Neigungsstudium,<br />

sofern man nicht in die Forschung oder<br />

Lehre gehen will oder kann, da die Stellen<br />

in diesem Bereich ja begrenzt sind. Man<br />

erlernt somit keinen Beruf, sondern vielleicht<br />

einen Blick auf die Welt, der fachlich<br />

untermauert wird. Das kann ein Vorteil<br />

sein. Ein Rat, den ich geben kann, ist,<br />

dass man keine Angst haben darf, es sich<br />

schwer zu machen. Ich kann nur davor<br />

warnen, sich für ein geisteswissenschaftliches<br />

Studium zu entscheiden, weil man<br />

es für „leichter“ hält als etwa Medizin,<br />

Biologie oder Physik. Die Anforderungen<br />

können in einem geisteswissenschaftlichen<br />

Studium genauso hoch sein, wenn<br />

man es will und zulässt. Zu meiner Zeit<br />

war es z.B. so, dass man mit Themen wie<br />

Harry Potter eine Abschlussarbeit bestreiten<br />

konnte. Da sollte man es sich nicht zu<br />

leicht machen. Man sollte für sich selbst<br />

den Anspruch hochhalten, dass man tatsächlich<br />

etwas sein und erreichen will und<br />

dass man sich selbst auch verbessern will.<br />

Dann kommt man irgendwann an einen<br />

Punkt, wo man merkt, egal welche Anforderungen<br />

an einen herangetragen<br />

werden, man kann diese mit den gleichen<br />

Methoden und Systematiken bearbeiten,<br />

verstehen und beherrschen. Dann ist es<br />

im Prinzip egal, in welche Richtung man<br />

geht. Es gibt Berufszweige, in denen<br />

man immer quer einsteigen kann. Man<br />

sollte das Lehramt beispielsweise nicht<br />

als Notstopfen sehen. Ich sehe es auch<br />

in meinem Bekanntenkreis – da ist die<br />

Geschichtswissenschaftlerin, die schnell<br />

noch promoviert und dann doch ins Lehramt<br />

geht, weil es vermeintlich sicherer ist.<br />

Ich finde das ein bisschen traurig, denn<br />

sie könnte vieles anders machen, aber es<br />

ist eben ein etwas steiniger Weg und da<br />

muss man dran bleiben. Und in meinem<br />

Fall – hätte ich vom Anfang an Informatik<br />

studiert, stünde ich nicht da, wo ich jetzt<br />

stehe. Ich wäre ein Teil einer Masse, aus<br />

der ich heute heraussteche. Ich erledige<br />

die Arbeit eines Entwicklers, obwohl ich<br />

kein Entwickler bin, und auf der anderen<br />

Seite ich bin auch kein Germanist oder<br />

Anglist…<br />

… oder sind Sie vielleicht auch all das<br />

gleichzeitig?<br />

… ganz genau. Nicht zu passen kann<br />

ein riesen Vorteil sein. Geisteswissenschaftler*innen<br />

können im Prinzip in<br />

jede Richtung gehen und, auch wenn sie<br />

nie voll passen, werden sie immer etwas<br />

mehr sein als das, was sie konkret tun.<br />

Zudem finde ich den Antagonismus von<br />

wirtschaftlichen und geisteswissenschaftlichen<br />

Inhalten komplett unsinnig. Es gibt<br />

keine wirtschaftlichen Konzepte ohne<br />

Kultur, Sprache oder Kommunikation.<br />

Deshalb sind die Geisteswissenschaften<br />

auch auf dem heutigen Arbeitsmarkt<br />

nicht wegzudenken.<br />

© shutterstock | master art<br />

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