ZUKUNFT GEIST
Berufsperspektiven für Studierende der Geistes- und Kulturwissenschaften
Berufsperspektiven für Studierende der Geistes- und Kulturwissenschaften
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<strong>ZUKUNFT</strong> <strong>GEIST</strong><br />
STUDIUM – UND NUN?<br />
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tale Projektentwicklung und -umsetzung<br />
bei der denkfabrik group in Hürth an. Das<br />
war das erste Mal, dass ich das Gefühl<br />
hatte, ich werde durch meine Aufgabe<br />
auf angenehme Weise gefordert, und wo<br />
ich es mir vorstellen konnte, dauerhaft zu<br />
bleiben.<br />
Mussten Sie sich viele Zusatzqualifikationen<br />
aneignen, um als Geisteswissenschaftler<br />
im technischen Bereich<br />
eines Unternehmens erfolgreich<br />
zu sein?<br />
Die Zeit im Volontariat war sicher auch<br />
nicht krisenfrei. Die größte Herausforderung<br />
jedoch war, zu beweisen, dass ich in<br />
der Lage war, die Anforderungen zu bewältigen,<br />
die an mich gestellt wurden. Ich<br />
musste mir in Eigenregie die Fähigkeiten<br />
aneignen, die nötig waren, um den Job<br />
richtig zu machen. Auf der anderen Seite<br />
bekam ich genügend Zeit und Freiraum<br />
von meinem Arbeitgeber, um mich zu<br />
entwickeln. Zusatzqualifikationen kann<br />
man natürlich immer machen. Wenn<br />
man beispielweise als Freelancer tätig<br />
ist, kann das durchaus sinnvoll sein, um<br />
nachweisen zu können, dass man diese<br />
oder jene Fachkenntnis besitzt. In meinem<br />
Bereich ist es jedoch nicht notwendig,<br />
da ich mich mit der Arbeit, die ich<br />
mache, hinreichend beweise, wenn man<br />
so will. Tatsächlich studiere ich noch nebenbei<br />
an der FernUni Hagen Informatik,<br />
um gewisse technische und theoretische<br />
Hintergründe besser zu verstehen, jedoch<br />
habe ich weder abgeschlossen noch ist<br />
das eine Voraussetzung für meine aktuelle<br />
Position.<br />
Wenn man sich als Studienanfänger<br />
für die Branche Web- und Anwendungsentwicklung<br />
interessiert, dann<br />
ist die Ergreifung eines geisteswissenschaftlichen<br />
Studiums nicht sehr<br />
naheliegend. Was, würden Sie sagen,<br />
sind die Vorteile Ihres Werdegangs<br />
verglichen mit jemandem, der sich<br />
direkt für z.B. Medieninformatik entschieden<br />
hat?<br />
Ganz pragmatisch betrachtet bin ich breiter<br />
aufgestellt als z.B. ein Informatiker und<br />
mute mir deshalb auch mehr zu; nicht unbedingt<br />
in der Tiefe aber in der Breite. Bei<br />
uns in der Firma haben wir beispielsweise<br />
auch eine PR- und Marketingabteilung<br />
und alles, was an Schriftverkehr anfällt,<br />
muss von mir Korrektur gelesen werden.<br />
Vorher musste das extern erledigt werden,<br />
da es in der Firma niemanden gab,<br />
der das übernehmen konnte. Das ist eine<br />
fachliche Kompetenz, die ich mitbringe<br />
und die ein Informatiker nicht unbedingt<br />
hat. Aber das trifft auch auf den Code,<br />
den ich schreibe, zu. Den kann ich unter<br />
anderem auch als formale Sprache<br />
betrachten, die eine Syntax, funktionale<br />
Elemente und Argumentstrukturen hat<br />
und die sich in nichts von formaler Linguistik<br />
unterscheidet. Weiterhin kann ich<br />
konzeptionieren, was viele, die als reine<br />
Softwareentwickler arbeiten, nicht tun.<br />
Ich habe keine Angst davor, aus einer<br />
Idee ein Produkt werden zu lassen und es<br />
dann auch selbst zu entwickeln. Eine weitere<br />
Stärke, die ein Geisteswissenschaftler<br />
meiner Meinung nach in allen Berufen<br />
mitbringt, ist eine gewisse Offenheit und<br />
die Neigung, Dinge zu hinterfragen, anders<br />
als ein Fachmann das tun würde, der<br />
immer nur diesen reinen IT-technischen<br />
Blick gewohnt ist und schwerlich andere<br />
Perspektiven einnehmen kann.<br />
Sie haben momentan eine Führungsposition.<br />
Inwiefern kam Ihnen Ihr<br />
Lehramtsstudium dafür zugute?<br />
Indem ich unmittelbar Verantwortung<br />
übernehmen konnte. So wurden mir bald<br />
unsere Schüler, Praktikanten und Azubis<br />
anvertraut. Deren Anleitung macht<br />
mir nach wie vor großen Spaß. Deshalb<br />
schließe ich es nicht aus, vielleicht später<br />
doch wieder lehrend tätig zu werden. Das<br />
ist auch etwas, was mich sehr glücklich<br />
macht: der Gedanke, nicht auf eine einzige<br />
Sache festgelegt zu sein. Außerdem<br />
arbeite ich auch an unserem Ausbildungsprogramm<br />
mit. Ich sehe dabei, dass mir<br />
die Vermittlung unserer Ausbildungsinhalte<br />
leichter fällt als manchen Kollegen,<br />
die bereits auf so einem spezialisierten<br />
Niveau denken und arbeiten, dass sie die<br />
Inhalte kaum noch so herunterbrechen<br />
können, dass auch ein Nicht-Fachmann<br />
sie versteht. Ich als Quereinsteiger kann<br />
mich da sehr gut hineinversetzen und die<br />
Perspektive desjenigen annehmen, der es<br />
gerade erst lernt. So kann ich auch anders<br />
mit Kunden umgehen als ein Techniker.<br />
Das sind auf jeden Fall Stärken, die jedem<br />
Unternehmen zugute kommen.<br />
Was würden Sie Studieninteressierten<br />
raten, die sich gerne für ein geisteswissenschaftliches<br />
Studium entscheiden<br />
würden, sich aber unsicher<br />
bezüglich der Berufsperspektiven<br />
nach dem Abschluss sind?<br />
Ein geisteswissenschaftliches Studium ist<br />
gewissermaßen ein Neigungsstudium,<br />
sofern man nicht in die Forschung oder<br />
Lehre gehen will oder kann, da die Stellen<br />
in diesem Bereich ja begrenzt sind. Man<br />
erlernt somit keinen Beruf, sondern vielleicht<br />
einen Blick auf die Welt, der fachlich<br />
untermauert wird. Das kann ein Vorteil<br />
sein. Ein Rat, den ich geben kann, ist,<br />
dass man keine Angst haben darf, es sich<br />
schwer zu machen. Ich kann nur davor<br />
warnen, sich für ein geisteswissenschaftliches<br />
Studium zu entscheiden, weil man<br />
es für „leichter“ hält als etwa Medizin,<br />
Biologie oder Physik. Die Anforderungen<br />
können in einem geisteswissenschaftlichen<br />
Studium genauso hoch sein, wenn<br />
man es will und zulässt. Zu meiner Zeit<br />
war es z.B. so, dass man mit Themen wie<br />
Harry Potter eine Abschlussarbeit bestreiten<br />
konnte. Da sollte man es sich nicht zu<br />
leicht machen. Man sollte für sich selbst<br />
den Anspruch hochhalten, dass man tatsächlich<br />
etwas sein und erreichen will und<br />
dass man sich selbst auch verbessern will.<br />
Dann kommt man irgendwann an einen<br />
Punkt, wo man merkt, egal welche Anforderungen<br />
an einen herangetragen<br />
werden, man kann diese mit den gleichen<br />
Methoden und Systematiken bearbeiten,<br />
verstehen und beherrschen. Dann ist es<br />
im Prinzip egal, in welche Richtung man<br />
geht. Es gibt Berufszweige, in denen<br />
man immer quer einsteigen kann. Man<br />
sollte das Lehramt beispielsweise nicht<br />
als Notstopfen sehen. Ich sehe es auch<br />
in meinem Bekanntenkreis – da ist die<br />
Geschichtswissenschaftlerin, die schnell<br />
noch promoviert und dann doch ins Lehramt<br />
geht, weil es vermeintlich sicherer ist.<br />
Ich finde das ein bisschen traurig, denn<br />
sie könnte vieles anders machen, aber es<br />
ist eben ein etwas steiniger Weg und da<br />
muss man dran bleiben. Und in meinem<br />
Fall – hätte ich vom Anfang an Informatik<br />
studiert, stünde ich nicht da, wo ich jetzt<br />
stehe. Ich wäre ein Teil einer Masse, aus<br />
der ich heute heraussteche. Ich erledige<br />
die Arbeit eines Entwicklers, obwohl ich<br />
kein Entwickler bin, und auf der anderen<br />
Seite ich bin auch kein Germanist oder<br />
Anglist…<br />
… oder sind Sie vielleicht auch all das<br />
gleichzeitig?<br />
… ganz genau. Nicht zu passen kann<br />
ein riesen Vorteil sein. Geisteswissenschaftler*innen<br />
können im Prinzip in<br />
jede Richtung gehen und, auch wenn sie<br />
nie voll passen, werden sie immer etwas<br />
mehr sein als das, was sie konkret tun.<br />
Zudem finde ich den Antagonismus von<br />
wirtschaftlichen und geisteswissenschaftlichen<br />
Inhalten komplett unsinnig. Es gibt<br />
keine wirtschaftlichen Konzepte ohne<br />
Kultur, Sprache oder Kommunikation.<br />
Deshalb sind die Geisteswissenschaften<br />
auch auf dem heutigen Arbeitsmarkt<br />
nicht wegzudenken.<br />
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