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Aggra, XXXXX, MMMCDLXVII Anno Urbis Conditæ, Hora Prima<br />
(Unterwasserstadt,XXXXXXXXXXXXXX)<br />
Ich kauerte hinter einem Stein und versuchte mit dem Grau des Bodens zu verschmelzen.<br />
Vorsichtig schielte ich über den Rand und sah zur Aggra.<br />
Da war sie ...<br />
... meine Heimat.<br />
Endlich ...<br />
Ich hatte einen harten Kloß im Hals.<br />
Nur wenige Flossenschläge trennten mich von der wundervollen Stadt. Sie war auf und in den<br />
Schirm einer gigantischen Tiefseequalle gebaut. Die Kuppel ersetzte die Oberglocke, verfloss<br />
auf halber Höhe des Schirms an der Ringfurche scheinbar mit der Außenhaut des Tieres und<br />
bildete eine organisch anmutende Einheit.<br />
Eine uralte, unbewegliche Qualle, die eine ganze Stadt trug. Das Meisterwerk der<br />
Schattensänger.<br />
Ein magischer Ort ...<br />
... ich hatte seine Schönheit nie zu schätzen gewusst, als ich noch dort leben durfte ...<br />
Die Kuppel glomm kurz auf, dann legte sich eine perlmutartige Patina über sie. Die Hora<br />
Duodecima ging in die Vigilia Prima über, es wurde Nacht in der Stadt. Von innen sah es so aus,<br />
als würden zahllose glitzernde Sterne am Firmament aufziehen.<br />
Ich schluckte.<br />
Vater hatte recht, die Aggra war weit mehr als die Reste einer toten Kultur der Menschen ...<br />
... es war das Wunder meines Volkes in dem wir uns, die Menschen und unseren Lebensraum<br />
miteinander verwoben hatten.Selbst für die Qualle war es die perfekte Symbiose, sie beschützte<br />
uns mit ihren Nesselfäden, während wir sie mit unseren Abfällen fütterten.<br />
Sie schimmerte in einem sanften Blau, und während die riesigen Randlappen in leichten<br />
Kontraktionen pulsierten, schwangen die Tentakel kaum sichtbar in der Strömung.<br />
Ich konnte einen Schwarm Junge erkennen, die übermütig zwischen den Fangarmen<br />
herumtollten.<br />
Die letzten Runden, bevor sie zu den Teichen der Tiefe schwammen und für die Nacht zu ihren<br />
Eltern zurückkehrten.<br />
Die Sturmsänger passten auf, dass sie sich nicht in den Fangarmen verhedderten oder den<br />
Nesselfäden zu nahe kamen.<br />
Ich schloss die Augen und biss mir so hart auf die Unterlippe, dass ich einen metallischen<br />
Geschmack auf der Zunge hatte.<br />
Ich konnte kaum atmen ...<br />
... und diesmal lag es nicht an der i´Tascha.<br />
Die Halbform war ein Witz ...<br />
... ein dämlicher Scherz, wenn man den Kopf aus dem Wasser strecken wollte und vielleicht<br />
ganz lustig um ein paar Seeleute zu erschrecken oder ihnen eine Beule in die Hose zu zaubern<br />
aber nutzlos um längere Strecken zu schwimmen.<br />
Der menschliche Oberkörper konnte keinen Schleimfilm bilden und die Atemwege waren kaum<br />
in der Lage, bei Anstrengung genug Wasser zur amphibischen Lunge zu transportieren.<br />
Nach dem ersten Tag meiner Flucht war ich nur noch nachts und an der Wasseroberfläche<br />
geschwommen, tagsüber lag ich auf dem Meeresboden und schlief oder ließ mein Leben Revue<br />
passieren und ...<br />
... landete immer wieder im Riff.<br />
Ich hatte mich nie aus den Korallenstöcken befreit ...<br />
... oder von ihm.<br />
Sein Geschmack, sein Geruch, seine Bewegungen, sie waren allgegenwärtig, ein bleierner<br />
Mantel, der mich einhüllte und erdrückte und den ich weder abschütteln noch in einer Therme<br />
abwaschen konnte egal, in wie viel Tonnen Wasser ich badete und wie viele Schwämme Harim
auf meinem Rücken zerschrubbte.<br />
Es war wie eine Algenpest, die mich langsam erstickte ...<br />
Wenn Mutter noch da gewesen wäre ...<br />
... aber so blieb nur Vater, auf den ich meinen gesamten Zorn abwettern konnte.<br />
Ein alter Mann, der mit der Agonie seiner Tochter überfordert war und gleichzeitig unser Volk<br />
durch seine wahrscheinlich schwerste Zeit manövrieren musste.<br />
Als er jung war, kämpften die Menschen mit Schwert und Schild, wie sollte er Ingenui mit<br />
Smartphones oder die Welt des 21. Jahrhunderts begreifen.<br />
Hasse ich ihn?<br />
... nein.<br />
Ebenso wenig wir Karl.<br />
Was hätte er machen sollen?<br />
Mich nicht kaufen, ja klar.<br />
Aber dann wäre es eben ein anderes Arschloch gewesen ...<br />
Bin ich wirklich so autodestruktiv, dass ich jeden in meiner Umgebung zwinge mich zu quälen?<br />
Keine Ahnung ...<br />
... und eigentlich war es auch egal.<br />
Ich musste Vater sagen, was mit den natiff´Te´tala geschah. Er musste wissen, dass wir nur ein<br />
paar Jahre in der e´Tascha überleben konnten, ohne uns zurückzuverwandeln.<br />
Und dann?<br />
Ein filmreifes Happy End?<br />
Wieder keine Ahnung.<br />
Meine Gedanken gingen nicht über dieses eine Gespräch mit ihm hinaus.<br />
Ich hatte keinen Plan für danach.<br />
Für diesen einen Moment setzte ich alles aufs Spiel und warf mein Leben in die Waagschale ...<br />
... fühlt es sich so an, wenn man Verantwortung für jene übernimmt, die man liebt?<br />
Ja wahrscheinlich ...<br />
Ich drehte mich auf den Rücken und starrte in das Dunkel über mir.<br />
Jetzt übernehme ich doch noch Verantwortung für mein Volk Vater.<br />
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, mein Magen knurrte. Das letzte Mal, dass ich<br />
etwas gegessen hatte, war die Pizza im Strandkorb mit Roy.<br />
Rhygifarch Ross ...<br />
... bescheuerter Name.<br />
Ob er mit Eckhard Ross verwandt ist?<br />
Ein seltsamer Gedanke ...<br />
... aber wohl kaum. Der Kapitän war ein Ingenui gewesen.<br />
Ein weiterer Nachteil der i´Tascha. Ohne einen Schleimfilm über meinem Körper war ich so<br />
langsam, dass mir eine altersschwache Makrele mit Krückstock entkommen konnte.<br />
Ich musste grinsen, als ich mir eine Makrele mit einem Stock an der Brustflosse vorstellte.<br />
Also wie komme ich in die Aggra?<br />
Das war die große Frage und in den langen Stunden hinter dem Stein waren mir nur zwei<br />
Lösungen eingefallen.<br />
Entweder stellte ich mich den Sturmsängern oder ich schlich mich irgendwie hinein ...<br />
... nur, wie schleicht man sich in eine Unterwasserstadt?<br />
Wenn ich mich stelle, bringen sie mich zum Kommandanten.<br />
Es gab zwar kein Protokoll dafür, was zu tun war, wenn eine natiff´Te´tala zurückkehrte, das war<br />
noch nie vorgekommen, aber ich würde es so machen.<br />
Der Kommandant wird mich einsperren und Vater benachrichtigen.<br />
Und dann?<br />
Was mache ich, wenn er nicht mit mir reden will?<br />
... dann saß ich hilflos in einer Zelle im Keller des roten Turms mit der vielleicht wichtigsten<br />
Information für unser Volk seit der letzten Eiszeit.<br />
Besonders der Teil mit dem hilflos und der Zelle gefiel mir überhaupt nicht.
Um es mit Nermins Worten auszudrücken: Epic fail!<br />
Ich konnte es natürlich dem Kommandanten sagen, dem Boten und jedem, dem ich auf den Weg<br />
in die Zelle begegnete ...<br />
... aber wenn ich wirklich etwas erreichen wollte, musste ich mit Vater sprechen. Er war der<br />
amasch´Lareff und der Einzige, der tatsächlich etwas ändern konnte.<br />
Es war eine betörend einfache Lösung und wahrscheinlich würde Vater im Sturmschritt gerannt<br />
kommen, um mich aus der Zelle zu holen ...<br />
... aber es konnte einfach zu viel schief gehen.<br />
Also?<br />
Der einzige Weg in die Aggra führte durch die Teiche der Tiefe.<br />
Es war zwar Nacht, aber an den Becken war immer jemand. Und wenn es nur die Sklaven waren,<br />
die darauf warteten, Heimkehrer und Besucher abzutrocknen und in eine Toga zu hüllen.<br />
Eine aman`Natur, die in ihrer i´Tascha auftauchte und ein Halsband der Ingenui trug ...<br />
... das wird ein riesen Spaß.<br />
Schreiende Sklaven, entgleiste Gesichtszüge ...<br />
... ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir die dämlichen Fratzen und das Getuschel vorzustellen<br />
...<br />
... und weit werde ich nicht kommen, bevor der halbe rote Turm um die Ecke trabt.<br />
High Noon für die Sturmsänger!<br />
Es war meine va´Arna, aber im Moment waren sie einfach im Weg.<br />
Ich seufzte, ließ eine Luftblase von meinen Lippen aufsteigen und folgte ihr mit den Augen, bis<br />
sie in der Schwärze verschwand.<br />
Also doch stellen?<br />
Scheiße!<br />
Nein.<br />
Es gibt immer einen Weg!<br />
Karls Satz!<br />
Er hatte es von einem bettelarmen preussischen Flüchtlingsjungen zu einem der reichsten<br />
Firmenmagnaten der Welt geschafft ...<br />
... und ich wollte aufgeben, nur weil kein goldenes Tor mit einem Fanfarenchor auf mich wartete.<br />
Ich nehme mir jetzt aber nicht gerade Karl Dragus als Vorbild ...<br />
Doch.<br />
Egal wie ich zu ihm stand, egal wie ich ihn sah und egal ob er der Arsch war, der mich die<br />
letzten Jahre gequält und gevögelt hatte ...<br />
... er hätte nie aufgegeben oder den leichten Weg genommen.<br />
Er stand wie kein anderer für den Unterschied zwischen uns und den Menschen. Wo wir uns so<br />
leicht in ein Schicksal fügten, kämpften sie.<br />
Niemals aufgeben, es gibt immer einen Weg!<br />
Ich rollte mich auf den Rücken, kniff die Augen zusammen und beobachtete die verdammte<br />
riesige Qualle.<br />
Es ist ein Gallertklumpen und keine beschissene Sardinendose, also musste es eine Möglichkeit<br />
geben hineinzukommen ...<br />
... auch wenn ich gerade keinen Schimmer habe, wie die aussehen soll.<br />
Ob ich Karl jemals wiedersehen werde?<br />
... oder Roy.<br />
Die Randlappen bewegten sich sanft.<br />
Was würde Karl jetzt machen?<br />
Sein Scheckbuch zücken und die Patrouille bestechen.<br />
Nein, das ist unfair, er ist schließlich nicht immer reich gewesen ...<br />
... sein Studium hatte er sich hart erarbeitet.<br />
Eine seiner Lieblingsgeschichten. Bevor er Francesco traf, wohnte er in einem einfachen<br />
Studentenwohnheim und trug sogar jeden Vormittag Zeitungen aus. Die Tür des Wohnheims<br />
wurde erst eine Stunde vor Vorlesungsbeginn aufgeschlossen und deshalb musste er durch ein
Kellerfenster aussteigen um ...<br />
... ich schnappte nach Luft ...<br />
... oder besser Wasser.<br />
Das Vieh hatte zwar keine Kellerfenster ...