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Der Untergeher - Schauspielhaus Graz

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Materialien für den Unterricht zu<br />

<strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong><br />

von Thomas Bernhard<br />

„Wir sind ja keine Menschen, wir sind Kunstprodukte, der Klavierspieler ist ein Kunstprodukt, ein<br />

widerwärtiges. Im Grunde wollen wir Klavier sein, nicht Menschen sein.“<br />

1


OnstageBackstage<br />

Inszenierung am <strong>Schauspielhaus</strong> <strong>Graz</strong><br />

Spielzeit 2012/2013<br />

Regie: Christiane Pohle<br />

Regieassistenz: Manuel Czerny<br />

Regiehospitanz: Nadja Pirringer<br />

Bühnenbild und Kostüme: Dorothee Curio<br />

Ausstattungsassistenz: Luise Gypser<br />

Dramaturgie: Britta Kampert<br />

Licht: Thomas Trummer<br />

Workshopkonzeption für SCHAUSPIEL AKTIV!: Stefan Egger, Peter Eisner, Verena Kiegerl<br />

Besetzung<br />

Christoph Luser: Autor<br />

Sebastian Reiß: Wertheimer<br />

Claudius Körber: Glenn Gould<br />

Birgit Stöger: Wertheimers Schwester, Wirtin<br />

Gerhard Balluch: Franz<br />

Dorothee Binder-Krieglstein, Sophie Horvat: das Kind<br />

Bence Földi: Pianist 1<br />

Simon Schuller: Pianist 2<br />

Zur Regisseurin<br />

Christiane Pohle, geboren 1968, studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und<br />

Theater Hamburg und arbeitet zunächst als Schauspielerin, bis sie 1999 erfolgreich ins<br />

Regiefach wechselte: An den Hamburger Kammerspielen inszenierte sie sitzen in Hamburg<br />

nach Anton Tschechows Drei Schwestern. Für die Produktion erhielt sie den Impulse-Preis<br />

für die 3sat-Fernsehaufzeichnung und den Gertrud-Eysoldt-Preis für junge Regisseure.<br />

Seither führte sie Regie u. a. an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, am<br />

<strong>Schauspielhaus</strong> Zürich, am Thalia Theater Hamburg, bei den Münchner Kammerspielen, der<br />

Münchner Staatsoper, den Salzburger Festspielen und am Wiener Burgtheater. Am<br />

<strong>Schauspielhaus</strong> <strong>Graz</strong> war 2003 ihre Inszenierung von Gert Jonkes Chorphantasie zu sehen.<br />

Für ihre Arbeiten in Wien wurde sie zweifach für den Nestroy in der Kategorie „Beste Regie“<br />

nominiert. Von Thomas Bernhard inszenierte sie bereits 2006 am Hamburger Thalia Theater<br />

eine Adaption des Romans Auslöschung, 2007 in Kooperation mit dem Düsseldorfer<br />

<strong>Schauspielhaus</strong> Ein Fest für Boris bei den Salzburger Festspielen und 2008 am Theater Basel<br />

Alte Meister. Seit 2012 unterrichtet Christiane Pohle an der Akademie für Darstellende Kunst<br />

Baden-Württemberg Schauspiel und ist Studiengangsleiterin.<br />

2


Termine<br />

Do, 14. Feb 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Di, 26. Feb. 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Fr, 01. März 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Mi, 06. März 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Do, 07. März 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Mi, 20. März 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Fr, 05. April 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Sa, 13. April 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Sa, 20. April 2013 19:30 bis ca. 21:35<br />

Weitere Termine entnehmen Sie bitte dem monatlichen Leporello oder unserer Homepage.<br />

www.schauspielhaus-graz.com<br />

3


Inhalt<br />

Ein namenloser Erzähler betritt das Gasthaus Dichtelmühle in Wankham. Von der Wirtin ist<br />

hinter dem schmutzigen Fenster zum Küchenraum nichts zu sehen. <strong>Der</strong> Erzähler stellt seine<br />

Reisetasche im Gastraum ab, und seine Gedanken beginnen zu kreisen. Er ist der<br />

Überlebende. Warum? In seinem Kopf reist er fast drei Jahrzehnte zurück nach Salzburg:<br />

Drei Pianisten, drei Freunde, eine Leidenschaft. Nur das Höchste gilt den hochbegabten<br />

Klavierstudenten am Mozarteum als wahre Kunst. Aber nur einer von ihnen ist das Genie,<br />

dem die Welt zu Füßen liegen wird. Als Glenn Gould die Goldberg-Variationen spielt,<br />

erkennen die beiden anderen, dass Goulds Genialität einzigartig ist und dass sie das<br />

selbstgesteckte Ziel nie werden erreichen können. <strong>Der</strong> eine verschenkt seinen Steinway an<br />

ein Lehrerkind und entschließt sich, „Weltanschauungskünstler“ und Autor zu werden, der<br />

andere, Wertheimer, lässt sein Klavier im Dorotheum versteigern. Gould selbst<br />

perfektioniert sein Spiel Tag für Tag, wird zum Weltstar und flieht gleichzeitig in die<br />

Einsamkeit. Zurück in der Gegenwart: Nachdem Gould mit 51 Jahren plötzlich am Klavier tot<br />

umfällt, nimmt Wertheimer sich das Leben. Jetzt stellt sich dem übriggebliebenen Freund die<br />

Frage nach einem Lebensziel zwischen Mittelmaß und Vollkommenheit neu. Er, der<br />

Überlebende, beschließt, noch einmal zum Haus Wertheimers zu gehen.<br />

Bernhards Roman vom Klavierspieler Glenn Gould ist ein faszinierendes literarisches Spiel, in<br />

dem Authentisches und Erdichtetes ineinander fließen. Die virtuos erzählte Geschichte vom<br />

Virtuosen, der sich immer tiefer in die Einsamkeit spielt, wird von Christiane Pohle für die<br />

Bühne bearbeitet. Damit setzt die Regisseurin ihre erfolgreiche Arbeit mit Prosadichtungen<br />

von Thomas Bernhard im Theater fort.<br />

4


Brainstorming<br />

(die wichtigsten Sätze aus dem Stück, die Themenschwerpunkte,...)<br />

Genialität/im Schatten eines Genies<br />

Autor:<br />

„Glenn hatte nur ein paar Takte gespielt und Wertheimer hatte schon an<br />

Aufgeben gedacht, ich erinnere mich genau, Wertheimer war in das Horowitz<br />

zugeteilte Ersterstockzimmer im Mozarteum eingetreten und hatte Glenn<br />

gehört und gesehen, war stehengeblieben an der Tür, unfähig, sich zu setzen,<br />

….. , erst als Glenn zu spielen aufgehört hatte, setzte sich Wertheimer, hatte<br />

die Augen geschlossen, das sehe ich noch ganz genau, redete nichts mehr.”<br />

Autor: „Wir studieren ein Jahrzehnt lang auf einem Instrument, das wir uns<br />

ausgesucht haben und hören dann, nach diesem mühseligen, mehr oder<br />

weniger deprimierenden Jahrzehnt, ein paar Takte eines Genies und sind<br />

erledigt.“<br />

Wertheimer: „Hätte ich Glenn Gould nicht kennengelernt, ich hätte wahrscheinlich das<br />

Klavierspielen nicht aufgegeben und ich wäre ein Klaviervirtuose geworden<br />

und vielleicht sogar einer der besten Klaviervirtuosen der Welt.“<br />

Wertheimer: „Wir waren ja besser als alle anderen, die bei Horowitz studiert haben, aber<br />

Glenn war besser als Horowitz selbst.“<br />

Autor:<br />

„Wertheimer hat den Tod Glenns nicht ertragen. Er schämte sich nach Glenns<br />

Tod noch am Leben zu sein, sozusagen das Genie überlebt zu haben, das<br />

peinigte ihn das ganze letzte Jahr, wie ich weiß.“<br />

Einmaligkeit/sich selbst genügen<br />

Autor:<br />

Autor:<br />

Autor:<br />

„…Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch und tatsächlich, für sich gesehen,<br />

das größte Kunstwerk aller Zeiten, so habe ich immer gedacht und denken<br />

dürfen.“<br />

„Wertheimer war nicht imstande, sich selbst als ein Einmaliges zu sehen,<br />

es sich jeder leisten kann und muß, will er nicht verzweifeln, gleich was für ein<br />

Mensch, er ist ein einmaliger, sage ich selbst mir immer wieder und bin<br />

gerettet.“<br />

„Wertheimer hatte diesen Rettungsanker, nämlich sich selbst als Einmaligkeit<br />

zu betrachten, niemals in Betracht ziehen können, dazu fehlten ihm alle<br />

Voraussetzungen.“<br />

5


„der <strong>Untergeher</strong>“<br />

Gould:<br />

Gould:<br />

Schwester:<br />

„Unser <strong>Untergeher</strong> ist ein fanatischer Mensch, er stirbt beinahe<br />

ununterbrochen an Selbstmitleid.“<br />

„<strong>Der</strong> Klavierkünstler darf sich durch ein Genie nicht so weit beeindrucken<br />

lassen, dass er gelähmt ist. Tatsache ist doch, dass du dich so von mir<br />

beeindrucken hast lassen, dass du jetzt gelähmt bist.“<br />

„Ich habe das Verlangen, so lange in der Stefanskirche zu sitzen, bis ich tot<br />

umfalle, sagte er. Aber es gelang ihm nicht, auch nicht in der äußersten<br />

Konzentration auf diesen Wunsch.“<br />

künstlerisches Umfeld<br />

Gould:<br />

„Ist die Umgebung, in welcher wir studieren, uns feindlich gesinnt, so<br />

studieren wir besser, als in einer solchen uns freundlich gesinnten, der<br />

Studierende tut immer gut daran, einen Studienort zu wählen, der ihm<br />

feindlich gesinnt ist, keinen, der ihm freundlich gesinnt ist, denn der ihm<br />

freundlich gesinnte Ort nimmt ihm einen Großteil der Konzentration auf das<br />

Studium, der ihm feindlich gesinnte dagegen ermöglicht ihm ein<br />

hundertprozentiges Studium, weil er sich auf das Studium konzentrieren muss,<br />

um nicht zu verzweifeln.“<br />

Verlassen werden/Zurück bleiben<br />

Wertheimer:<br />

Autor:<br />

„Wie hat sie mir das antun können. Mich allein zu lassen für einen<br />

durch und durch minderwertigen Schweizer.[...] In der plötzlich leeren<br />

Wohnung war ich die erste Zeit wie gelähmt gewesen, saß nach dem<br />

Auszug der Schwester tagelang in einem Sessel bewegungslos. […] Ich<br />

habe alles für sie getan, mich für sie aufgeopfert und sie ließ mich<br />

stehen, ganz einfach zurück.“<br />

„Ich hatte nur zwei Menschen in meinem Leben, die mir dieses Leben<br />

bedeutet haben: Glenn und Wertheimer. Jetzt sind Glenn und<br />

Wertheimer tot und ich habe mit dieser Tatsache fertig zu werden. Ich<br />

bin der Übriggebliebene!“<br />

6


Fragestellungen<br />

Was zeigt die Bühne? Wie interpretierst du das Bühnenbild?<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Was trägt die Musik zur Inszenierung bei? Welche Atmosphäre und Stimmungen<br />

werden erzeugt?<br />

Welche unterschiedlichen Figuren werden gezeigt? Wie würdest du ihre Charaktere<br />

beschreiben? Wie werden diese dargestellt?<br />

Kannst du in den gezeigten Figuren Personen wieder erkennen, die es in deinem<br />

Umfeld gibt oder die du einmal getroffen hast?<br />

Kannst du das Verhalten und die Ziele der einzelnen Rollen nachvollziehen? Immer<br />

oder in gewissen Situationen? Gibt es Momente, in denen du anders entschieden<br />

hättest?<br />

Welche Figuren erscheinen sympathisch bzw. unsympathisch? Trifft das immer zu<br />

oder in welchen Situationen?<br />

Wie würdest du den Lebensverlauf von Gould, Wertheimer und dem Autor seit<br />

ihrem Zusammentreffen in Salzburg beschreiben?<br />

Was sind konkrete Situationen im Stück und was spielt sich im Kopf des Autors ab?<br />

Gibt es Unterschiede in der Darstellung?<br />

Wie sind die Beziehungen der gezeigten Figuren zueinander? Wer kennt wen und wie<br />

ist das Verhältnis zwischen den Figuren?<br />

Welche Themen kommen vor und werden im Stück verhandelt? Welche Sichtweisen<br />

werden gebracht? Kannst du diese Sichtweisen nachvollziehen?<br />

7


Schreibaufträge<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<strong>Der</strong> Autor, Wertheimer und Glenn Gould treffen sich zum ersten Mal auf dem<br />

Mönchsberg in Salzburg und freunden sich dort an. Beschreibe, wie es zu diesem<br />

Treffen kommt und schreibe einen Dialog, wie dieser Erstkontakt abgelaufen ist.<br />

Im Roman stirbt einerseits Glenn Gould 51-jährig an einem Gehirnschlag, während<br />

einer Aufnahme der Goldberg-Variationen, als auch Wertheimer, der Selbstmord<br />

begeht in der Nähe des Hauses seiner Schwester, die ihn allein zurückgelassen hat.<br />

Schreibe eine Trauerrede für einen der beiden Figuren, die der Pfarrer beim<br />

Begräbnis vortragen würde.<br />

Wertheimer schreibt vier Briefe an den Autor, bevor er Selbstmord begeht. Schreibe<br />

diese Briefe. Was geht in Wertheimer vor? Was beschäftigt ihn? Was schreibt er dem<br />

Freund in Madrid?<br />

Wertheimer geht im Mozarteum in den ersten Stock, öffnet die Tür zum<br />

Übungsraum, bleibt wie angewurzelt stehen, weil er Gould das erste Mal Klavier<br />

spielen hört, und ihm schlagartig bewusst wird, dass Gould ein Genie ist und er dieses<br />

Können niemals erreichen wird. Schreibe ein Drehbuch, wie diese Situation filmisch<br />

umgesetzt werden könnte.<br />

„Eine Schrift anfangen ist das Allerschwierigste.“ sagt der Autor im Roman. Schreibe<br />

einen neuen Anfang für „<strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong>“. Wie würdest du die Geschichte zu<br />

erzählen beginnen?<br />

<strong>Der</strong> Autor und Wertheimer sind beide ausgezeichnete Pianisten, stehen aber<br />

trotzdem im Schatten des Genies Gould, und gehen unterschiedlich mit dieser<br />

Situation um. Denke an deinen Alltag: Beschreibe eine konkrete Alltagssituation, in<br />

der jemand im Schatten einer anderen Person steht. Kommt diese Person klar damit?<br />

Falls ja, was hilft ihr dabei, damit umgehen zu können und nicht unzufrieden zu<br />

sein? Falls nicht, wie zeigt sich ihr Unmut und wirkt sich dieser auf den Alltag aus?<br />

Im Roman verlässt die Schwester Wertheimer völlig überraschend, nachdem sie 20<br />

Jahre zusammengelebt haben und sie vom Bruder beherrscht und ihr Leben von ihm<br />

bestimmt wurde. Schreibe einen inneren Monolog, in dem die Schwester abwägt, ob<br />

sie gehen oder bleiben soll. Was spricht für das Weggehen (Partner, Liebe, Dominanz<br />

des Bruder,...), was dagegen (Familie, einziger Sozialkontakt des Bruders,...).<br />

<br />

Wertheimer gibt ein zweiwöchiges Fest für alte Bekannte aus Wien, bei dem er sie<br />

mit seinem Klavierspiel quält, bevor er in die Schweiz reist, um sich umzubringen.<br />

Angenommen, der Selbstmord wird von der Polizei untersucht und die Partygäste<br />

werden zum Befinden von Wertheimer und ihren Beobachtungen befragt: Schreibe<br />

das Polizei-Protokoll verschiedener Aussagen über Wertheimer und seinen Zustand.<br />

8


Zugaben<br />

1. Biografisches: Thomas Bernhard<br />

2. Biografisches: Glenn Gould<br />

3. Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach<br />

4. Die Möglichkeit eines Klaviers: Regisseurin Christiane Pohle im Gespräch mit<br />

Dramaturgin Britta Kampert<br />

5. Glenn Gould: Für ein Applausverbot<br />

1. Biografisches: Thomas Bernhard<br />

Thomas Bernhard ist am 9. Februar 1931 in Heerlen bei Maastricht, Holland, geboren. Die<br />

ledige Mutter, Herta Bernhard, Tochter von Anna Bernhard und dem Schriftsteller Johannes<br />

Freumbichler, hatte im Sommer 1930 Österreich verlassen, um in Holland als<br />

Dienstmädchen zu arbeiten. <strong>Der</strong> Vater des unehelichen Kindes, Alois Zuckerstätter, ein<br />

Tischler aus dem salzburgischen Henndorf, setzt sich nach der Geburt des Kindes nach<br />

Deutschland ab. Im Herbst 1931 bringt Herta Bernhard ihr Kind zu den Großeltern nach<br />

Wien. Später übersiedelt Bernhard mit seinen Großeltern nach Seekirchen in Salzburg.<br />

Anfang 1938 heiratet seine Mutter Emil Fabjan, der als Friseur in Traunstein in Deutschland<br />

arbeitet. Die Mutter nimmt nun ihren Sohn wieder zu sich, der aber in schulische<br />

Schwierigkeiten gerät. Die Mutter kommt mit Thomas nicht zurecht und schickt ihn deshalb<br />

in ein nationalsozialistisches Erziehungsheim nach Salzburg. Nach einem schweren<br />

Bombenangriff wird er nach Traunstein zurückgeholt.<br />

Sein Großvater drängt auf die künstlerische Ausbildung seines Enkels. Er lässt ihm Zeichen-,<br />

Mal- und Gesangsunterricht geben. 1945 kehrt Bernhard nach Salzburg zurück und besucht<br />

ein Humanistisches Gymnasium. Er bricht es mit 15 Jahren vorzeitig ab und beginnt eine<br />

Lehre in einem Lebensmittelgeschäft. Aufgrund einer nicht ausgeheilten Erkältung, muss er<br />

wegen einer schweren Rippenfellentzündung, woraus sich eine Lungentuberkulose<br />

entwickelt, ins Krankenhaus. Unmittelbar zuvor war auch sein Grossvater, der Schriftsteller<br />

Johannes Freumbichler, eingeliefert worden. <strong>Der</strong> Grossvater stirbt am 11. Februar 1949 an<br />

einer Nierenkrankheit.<br />

In den anschließenden Aufenthalten in Sanatorien und Lungenheilstätten, die sich bis zum<br />

Jahre 1951 hinziehen, beginnt Thomas Bernhard intensiv zu lesen und zu schreiben.<br />

Während seiner Aufenthalte stirbt seine Mutter. In der Lungenheilanstalt Grafenhof bei St.<br />

Veit lernt er die 35 Jahre ältere Hedwig Stavianicek kennen - sie begleitet ihn bis zu ihrem<br />

Tod im Jahre 1984.<br />

1951 beginnt Bernhard ein Musikstudium (Abschluss 1957 am Mozarteum in Salzburg) und<br />

nimmt an einem Schauspielseminar teil. Gleichzeitig arbeitet er als Journalist bei<br />

verschiedenen Zeitungen, unter anderem als Gerichtsreporter beim "Demokratischen<br />

Volksblatt". Danach lebt er bis zu seinem Tod als freier Schriftsteller in Österreich. Thomas<br />

Bernhard erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen in Deutschland und Österreich: 1965<br />

den Bremer Literaturpreis, 1968 den Großen österreichischen Staatspreis und den Georg-<br />

Büchner-Preis 1970.<br />

9


Bernhard schreibt vor allem über Einzelgänger (Auslöschung; Frost; Verstörung; Ja),<br />

Selbstmörder (Beton; Heldenplatz; <strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong>), und Kranke (Verstörung; Ein Fest für<br />

Boris). Die menschliche Existenz ist mit dem Leiden verbunden. Das eigentliche Wesen der<br />

Existenz liegt im Tod: "... Wenn wir ein Ziel haben, so scheint mir, ist es der Tod ..."<br />

(Verstörung). Sein Werk "Auslöschung", das er 1986 schreibt, beginnt mit einem Zitat von<br />

Montaigne: "Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch<br />

verhalte, er ist überall da".<br />

Thomas Bernhard stirbt am Morgen des 12. Februar 1989 in Gmunden, Oberösterreich. Sein<br />

letzter Abend war der 40. Todestag seines Grossvaters Johannes Freumbichler. Bernhards<br />

Tod wird erst nach dem Begräbnis bekannt gegeben.<br />

Mit einer testamentarischen Verfügung lässt er sämtliche Aufführungen (außer den<br />

laufenden Inszenierungen), Drucklegungen und Rezitationen seiner Werke in Österreich<br />

verbieten. Dieses Aufführungsverbot wird im Juli 1998 durch die Initiative einer<br />

Privatstiftung wieder aufgehoben.<br />

(Quelle: www.spirgi.com)<br />

<strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong> – Fiktion und Realität<br />

In dem Roman ist authentisches und erdichtetes Material so miteinander verwoben, dass<br />

eine Grenzlinie nur schwer zu erkennen ist. Die Romanfigur Glenn Gould unterscheidet sich<br />

in einigen Punkten deutlich von der realen Person Glenn Gould. <strong>Der</strong> echte Glenn Gould hat<br />

niemals in Salzburg und auch nicht bei Vladimir Horowitz studiert, der stilistisch das<br />

Gegenteil von Gould verkörperte, was Thomas Bernhard sicherlich wusste. In seinem Roman<br />

erwähnt er auch nie den Vornamen von Horowitz. Außerdem wird die Romanfigur 51 Jahre<br />

alt, während der echte Gould wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag – zwar an einem<br />

Schlaganfall, aber keineswegs am Klavier sitzend, wie im Roman beschrieben – gestorben ist.<br />

(Quelle: wikipedia.de)<br />

10


2. Biografisches: Glenn Gould<br />

Glenn Herbert Gould wurde am 25. September 1932 als Sohn eines Pelzhändlers und einer<br />

Klavierlehrerin in Toronto geboren. Bereits im Alter von drei Jahren begann er mit dem<br />

Klavierunterricht, zuerst bei seiner Mutter, später bei Alberto Guerrero. Mit sieben trat er in<br />

das Royal College of Music ein. Im Mai 1946 trat er zum ersten Mal öffentlich als Pianist auf.<br />

Als Glenn Gould zwanzig Jahre alt war, hatte er bereits landesweiten Ruhm erreicht und<br />

überall in Kanada Konzerte gegeben.<br />

Sein Debüt in den USA gab er am 2. Januar 1955 in der Philipps Gallery in Washington D.C.<br />

und erregte dort hohes Aufsehen. In der daurauffolgenden Woche gab er sein New Yorker<br />

Debüt in der Town Hall. David Oppenheim, der Direktor von Columbia Masterworks (später<br />

Sony Classical), nahm ihn kurzer Hand gleich am Morgen nach dem Konzert unter<br />

Exklusivvertrag. Damit begann die internationale Karriere von Glenn Gould mit weiteren<br />

Konzerten in den Vereinigten Staaten, Europa und Russland.<br />

Aufsehenerregend waren diese frühen Auftritte jedoch hauptsächlich wegen Glenn Goulds<br />

künstlerischer Darbietung. Sie begründeten seinen Ruf als einer der herausragendsten und<br />

ungewöhnlichsten Pianisten seiner Generation. Die Musikkritiker der ganzen Welt überboten<br />

sich in neuen Superlativen und ergingen sich in Abhandlungen über seine außergewöhnliche<br />

Musikalität und zugleich haarsträubende Technik. Viele zeigten sich erstaunt über seine<br />

unorthodoxen Bach-Interpretationen. Die „Goldberg-Variationen“ fanden starke<br />

internationale Beachtung und wurde zu einem Meilenstein in Goulds Laufbahn.<br />

1964, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, zog sich Glenn Gould vom Konzertgeschehen<br />

zurück, um sich Studioaufnahmen sowie zahlreichen anderen Interessen zu widmen. So<br />

widersprüchlich die Gründe für seinen Rückzug auch waren, er blieb bei seiner Entscheidung<br />

und verschwand gänzlich von der öffentlichen Bühne. Kein berühmter Musiker hatte je<br />

etwas <strong>Der</strong>artiges getan und gewagt. Doch dieser scheinbar nicht sehr geschäftstüchtige<br />

Schritt tat seiner Popularität keineswegs Abbruch; seine Platten verkauften sich weiterhin.<br />

Goulds Studioeinspielungen sind inzwischen Legende geworden - nicht nur wegen seiner<br />

inzwischen vielzitierten Extravaganzen: Neben Stapeln von Handtüchern (Gould tauchte<br />

seine Hände vorher zwanzig Minuten lang bis zu den Ellbogen in warmes Wasser) benötigte<br />

der Pianist zwei große Flaschen Mineralwasser, fünf verschiedene Sorten Pillen mit diversen<br />

Indikationen sowie einen speziell angefertigten Stuhl, dessen unverwechselbares Knarren zu<br />

Goulds musikalischem Markenzeichen wurde. Auch musste die Innentemperatur unbedingt<br />

konstant bleiben; jede Temperaturschwankung wurde ungnädig registriert. Kein Wunder,<br />

war doch Gould zur Überraschung der Toningenieure zur ersten Aufnahme mitten im milden<br />

New Yorker Juniwetter eingemummelt in einen dicken Mantel, mit Baskenmütze, Schal und<br />

Handschuhen erschienen.<br />

11


Gould starb am 4. Oktober 1982 an einem Schlaganfall, nur zehn Tage nach seinem<br />

fünfzigsten Geburtstag. Das Erbe, das er uns hinterlassen hat, ist groß : Aufnahmen im<br />

Umfang von mehr als fünfzig Stunden sind im Handel erhältlich, Radio- und<br />

Fernsehsendungen, die Musik für die beiden Filme „Slaughterhouse-Five“ (1972) und „The<br />

Wars“ (1982) und einige der frischesten und unerschrockensten Musikkritiken des späten<br />

20.Jahrhunderts, sowie Schriften über Medien und Tonaufzeichnung.<br />

(Quelle: www.arte.tv)<br />

Details: (Quelle: wikipedia.de)<br />

Die Schüler von Guerrero erlernten eine besondere Technik des Klavierspielens.<br />

Obgleich die Klaviertasten von oben mit den Fingern heruntergedrückt werden,<br />

sollten seine Schüler mit dem Gefühl spielen, dass die Tasten „heruntergezogen“ und<br />

nicht „von oben niedergeschlagen“ werden. Außerdem saß Guerrero sehr tief am<br />

Klavier und nah an den Tasten, was Gould ebenfalls übernahm, daher nahm er als<br />

Erwachsener stets einen Klavierstuhl mit 33 cm Sitzhöhe bei seinen Auftritten mit.<br />

Ein normaler Klavierstuhl ist 51 bis 60 cm hoch. Mindestens einmal bei einem Konzert<br />

soll er auch am Boden sitzend gespielt haben.<br />

Seine Mutter erwartete von ihm, dass er beim Spielen sang. Diese Gewohnheit<br />

konnte er später nur sehr schwer ablegen.<br />

12


3. Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach<br />

Die Goldberg-Variationen sind ein Klavierwerk von Johann Sebastian Bach (BWV 988).<br />

Die Goldberg-Variationen stellen einen Höhepunkt barocker Variationskunst dar. Das Werk<br />

zeichnet sich durch einen planvollen Gesamtaufbau mit regelmäßig eingefügten, in den<br />

Oberstimmen streng kanonischen Sätzen aus. Den inneren Zusammenhang der Variationen<br />

untereinander liefert das gemeinsame Bassthema. Jeder Einzelsatz besitzt seinen ganz<br />

eigenen Charakter. Die Haupttonart ist G-Dur.<br />

Die genaue Entstehungszeit des Werkes ist unbekannt. Es wurde im Herbst 1741 in Nürnberg<br />

verlegt. Bachs Autograph existiert nicht mehr. Große Beachtung fand daher ein 1975<br />

aufgefundenes, einwandfrei Bach zuzuschreibendes Handexemplar des Erstdruckes, das<br />

neben kleinen Korrekturen auch 14 Kanons in Bachs Handschrift enthält.<br />

<strong>Der</strong> Name Goldberg-Variationen etablierte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Er wurde<br />

nach einem anekdotischen Bericht in Johann Nikolaus Forkels „Über Johann Sebastian Bachs<br />

Leben, Kunst und Kunstwerke“ von 1802 gebildet. Laut Forkel sei Bachs Aria mit<br />

verschiedenen Veränderungen für den russischen Gesandten am Dresdner Hof, den Grafen<br />

Hermann Carl von Keyserlingk verfasst worden. <strong>Der</strong> in dessen Diensten stehende Cembalist<br />

Johann Gottlieb Goldberg, ein hochbegabter Schüler Wilhelm Friedemann Bachs und Johann<br />

Sebastian Bachs, sollte dem Grafen daraus vorspielen.<br />

„Einst äußerte der Graf gegen Bach, daß er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg<br />

haben möchte, die so sanften und etwas muntern Charakters wären, daß er dadurch in<br />

seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte. Bach glaubte, diesen<br />

Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können, die er bisher, der stets gleichen<br />

Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte.“<br />

Dieser Bericht geht wahrscheinlich auf Informationen der beiden ältesten Bachsöhne zurück.<br />

Eine weitere Quelle wurde nicht aufgefunden. Die gedruckte Fassung der Variationen enthält<br />

keine Widmung. Daher ist der Wahrheitsgehalt von Forkels Bericht umstritten und wird<br />

heute auch als Anwendung eines späteren, romantischen Kunstbegriffs des beginnenden 19.<br />

Jahrhunderts auf Bachs Motive und die Kunstauffassung seiner Epoche gewertet. Er<br />

widerspricht allerdings nicht der heute meist vertretenen Meinung, die Komposition sei von<br />

Anfang an als Teil – und krönender Abschluss – der Clavierübung geplant worden. Doch<br />

selbst hierbei gibt es keine Sicherheit; denn der Druck von Teil IV der Clavier-Übung von<br />

1741 wurde – anders als Teil II und III und genauso wie Teil I von 1731 mit seinen<br />

Vorveröffentlichungen – nicht in die laufende Nummerierung Bachs aufgenommen.<br />

Allerdings legen identische, sich nur in der Rechtschreibung unterscheidende<br />

Formulierungen auf den Titelblättern die Zusammengehörigkeit sämtlicher Clavier-Übungen<br />

nahe. Auf dem Titelblatt von Bachs OPUS 1 heißt es: Clavir-Ubung / bestehend in /<br />

Præludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giguen, / Menuetten, und anderen<br />

Galanterien ; / Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget / von / Johann<br />

Sebastian Bach […]<br />

(Quelle: wikipedia.de)<br />

13


4. Die Möglichkeit eines Klaviers: Regisseurin Christiane Pohle im Gespräch<br />

mit Dramaturgin Britta Kampert<br />

Britta Kampert: Das Theater ist immer ein Ort für Geschichten – doch im Roman <strong>Der</strong><br />

<strong>Untergeher</strong> scheinen die Geschichten weniger wichtig zu sein.<br />

Christiane Pohle: Ja, Theater kann neben vielem anderen auch ein Denkraum sein. Und<br />

dieser Bernhard-Roman verweigert ja jede Form von Geschichten und letztlich auch von<br />

Figuren. Man weiß nicht, sind die Figuren real oder sind sie nur erinnert? Gab es sie<br />

tatsächlich oder sind sie nur erfunden, um über ein bestimmtes Thema zu reflektieren?<br />

Innerhalb der permanenten Erfindungen weiß man irgendwann nicht mehr, wer hier<br />

eigentlich wen erfindet: Gibt es Glenn Gould, Wertheimer und den Ich-Erzähler überhaupt<br />

oder gibt es nur einen, gibt es nur Thomas Bernhard als übergeordneten Autor, der diese<br />

drei zum Anlass nimmt, um die eigene Existenz im Bezug auf „der Beste sein oder gar keiner“<br />

zu überprüfen.<br />

Es gibt nur wenige konkrete Vorgänge. Das, was tatsächlich passiert, während der Erzähler<br />

nachdenkt, ist eher unspezifisch.<br />

Und das finde ich unglaublich reizvoll. Diese Verweigerung ist so in den Text eingeschrieben,<br />

dass man gezwungen ist, für die Bühne ein neues Konzept zu denken.<br />

Tatsächlich ähnelt Bernhards Roman darin aber auch dem klassischen Drama. <strong>Der</strong> Autor<br />

spaltet ein Thema auf mehrere Figuren auf, von denen jede eine andere Haltung einnimmt.<br />

Das macht das Dramatische aus: dass zwischen den unterschiedlichen Positionen ein Konflikt<br />

ausgetragen wird. Im <strong>Untergeher</strong> wird der Autor wieder sichtbar, denn er vereinigt die unterschiedlichen<br />

Positionen im Nachdenken über die anderen: eine Figur, die aber über drei Ich-<br />

Möglichkeiten nachdenkt, die von ihm verschieden und doch er sind.<br />

Und die Bühne ist der Ort der Auseinandersetzung, in die mich die Protagonisten mit<br />

einbeziehen.<br />

Ist der Ich-Erzähler im Roman, der ja selbst immer wieder versucht, eine Abhandlung über<br />

Glenn Gould zu schreiben, Thomas Bernhard?<br />

Man darf nie den Fehler begehen, sich von der Ich-Form in dem Roman verleiten zu lassen,<br />

zu glauben, da erzähle gerade Thomas Bernhard autobiographisch von sich. In einer<br />

gewissen Weise tut er natürlich genau das, aber auf eine andere Weise auch wieder gar<br />

nicht. Es geht ja, wie gesagt, um eine Konstruktion, innerhalb derer Bernhard über<br />

existentielle Fragen des Daseins nachdenken kann.<br />

Ein zentrales Thema in <strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong> ist das Verlassenwerden. <strong>Der</strong> namenlose Ich-Erzähler<br />

beschreibt sich selbst als „den Übriggebliebenen“. Wertheimer hingegen kann es nicht<br />

verwinden, dass seine Schwester geheiratet hat und ihn, wie er es nennt, „im Stich lässt“.<br />

14


Thomas Bernhard spricht in Ferry Radax’ Film Drei Tage über die Einsamkeit und darüber,<br />

dass praktisch jeder allein ist. Schreibt man ein Buch, dann ist man noch sehr viel mehr<br />

allein. Man wechselt die Städte in immer kürzeren Abständen, flieht nach Rom oder Brüssel<br />

oder Madrid oder Wien, lässt sich treiben und ist doch immer mit sich und der eigenen<br />

Arbeit allein. Und diese Arbeit ist immer scheußlich, denn sich verständlich machen, ist, so<br />

sagt Bernhard, sowieso unmöglich. In <strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong> kommt der Ich-Erzähler, der Autor, zu<br />

dem Schluss, dass Wertheimer sein Alleinsein nicht ausgehalten hat. Vielleicht hat es aber<br />

auch nur den Anschein, als ginge es um die Ursache von Wertheimers Selbstmord, während<br />

es tatsächlich darum geht, wie man dieses Alleinsein überlebt, es bewältigt. Wie schafft man<br />

es, wenn man der Übriggebliebene oder der Überlebende ist? Wie bewältigt man das<br />

Alleinsein?<br />

Aber es handelt sich auch um eine selbstgewählte Isolation. Im Text heißt es im Bezug auf<br />

den Autor, Wertheimer und Glenn Gould: „Alle drei waren wir die geborenen<br />

Verrammlungsfanatiker.“<br />

Es geht um die totale Akzeptanz der Tatsache, dass man allein auf der Welt ist. Das ganze<br />

andere drum herum ist nur Brimborium. Man muss die Dinge unterbrechen und abreißen,<br />

weil es nur Versuche sind, dem zu entkommen. Die Art, wie der Autor über Glenn Gould und<br />

dessen Rückzug, über Wertheimer und dessen Rückzug, wie er über seinen eigenen Rückzug<br />

nachdenkt, behandelt nicht nur die Frage, wie man das Alleinsein überleben kann, sondern<br />

wie man das auch erleben muss – und zwar so konsequent wie möglich. Bernhard sagt im<br />

Interview mit Radax, man müsse es schaffen, in diese Finsternis hineinzugehen.<br />

Man könnte also sagen, der Erzähler ist der einzige, der mit dem Alleinsein klarkommt, weil<br />

er konsequent darüber nachdenkt und sich dem aussetzt. Er ist ein Übriggebliebener. Es gibt<br />

zwei Tote, und damit muss er jetzt leben.<br />

Und aus dem Nachdenken über Glenn Gould, Wertheimer und sich selbst entsteht ja dann<br />

doch etwas anderes: die zuvor nie vollendete Abhandlung über Glenn Gould, eben das Buch<br />

<strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong>, das man als Leser in Händen hält.<br />

Dann steht am Ende nicht das Scheitern?<br />

Natürlich beschäftigt sich <strong>Der</strong> <strong>Untergeher</strong> mit dem Selbstmord Wertheimers, mit dem<br />

Scheitern eines mittelmäßigen Musikers am außerordentlichen Genie Glenn Gould, und<br />

natürlich reflektiert der Ich-Erzähler in der typisch Bernhard schen Manier über dieses<br />

Scheitern, aber immer wieder befreit sich dann eine fast heitere Gelassenheit. Man muss<br />

anerkennen, dass jemand anderes besser ist und man selbst eben nicht der Größte werden<br />

kann. Doch das ist eben nichts Negatives, nichts Deprimierendes, sondern seltsamerweise<br />

etwas merkwürdig Utopisches. <strong>Der</strong> Erzähler sagt, Wertheimer war nicht imstande, „sich<br />

selbst als ein Einmaliges zu sehen, wie es sich jeder leisten kann und muß, will er nicht<br />

verzweifeln, gleich was für ein Mensch, er ist ein einmaliger, sage ich selbst mir immer<br />

wieder und bin gerettet.“<br />

15


Das Leben hat also Sinn, auch wenn man kein Genie ist. Man ist im Scheitern zwar der<br />

Verzweiflung nahe, aber es ist auch ein Motor, weiter zu machen.<br />

Es ist ein Prinzip, das mit Befreiung zu tun hat: das Scheitern zu provozieren, z.B. indem der<br />

Erzähler immer wieder mit seinem „Versuch über Scheitern Glenn“ neu anfängt, dann alles<br />

vernichtet, wieder anfängt, es vernichtet usw. Und die Lust an der Vernichtung des Eigenen<br />

ist viel sinnvoller als erfolgreich ein Buch herauszubringen.<br />

<strong>Der</strong> Erzähler, Wertheimer und Gould begegnen sich zum ersten Mal auf dem Mönchsberg,<br />

und zwischen ihnen entsteht spontan eine Freundschaft. Sie sind sich einig in dem, was sie<br />

ablehnen. Sie hassen Salzburg, sie hassen die Schule, sie hassen die Eltern. Über den<br />

Widerstand gegen die anderen entwickeln sie ein Gefühl der Gemeinschaft, die sich aber als<br />

Illusion entpuppt, weil einer von ihnen eben ein Genie ist und damit nicht mehr Teil dieser<br />

Gruppe. Und dann sind sie noch einsamer, weil sie jetzt alles von sich abstoßen.<br />

Ja, und auch das Genie ist allein. Die Rettung für das Genie Gould waren sein Rückzug, die<br />

Aufnahmen und die Arbeit im Studio, nicht die Arbeit im Konzertsaal. Ich glaube, deshalb<br />

war die Person Glenn Gould für Thomas Bernhard ein großartiger Ausgangspunkt, weil der<br />

selbst genau das betriebenhat. Sich immer weiter zurückzuziehen. Aber was ist der Preis für<br />

die Konsequenz der Einsamkeit, die extreme Fokussierung? Man ist komplett isoliert. Und<br />

das kann der Mensch nicht aushalten. Ein Mensch braucht andere Menschen, denn die<br />

eingeforderte Isolation oder Bedingungslosigkeit führt ja ebenfalls in die Katastrophe.<br />

Man muss zwangsläufig scheitern. Ist das nicht ein trostloses Fazit?<br />

Die Frage, von der für den <strong>Untergeher</strong> Wertheimer immer alles ausgeht, ist: Wofür<br />

bekomme ich Anerkennung?<br />

Für gute Leistungen. Wer gute Ergebnisse vorweisen kann, gilt als erfolgreich und bekommt<br />

auch Anerkennung. Das ist das bestimmende Prinzip…<br />

… in einer Welt, in der die Oberfläche und das Zeigen von Erfolg den Menschen ausmachen.<br />

<strong>Der</strong> Ich-Erzähler entwickelt eine Gegen-Idee: Sollte man das permanente persönliche<br />

Scheitern nicht aktiv betreiben? Eine Vorstellung nach der anderen abbrechen, Konzerte<br />

abbrechen, die Bühne verlassen? Was ist, wenn Scheitern zelebriert wird? Wie der Ich-<br />

Erzähler, der immer alles wieder vernichtet, was er geschrieben hat. Trotzdem, es geht<br />

weder hier noch in irgendeinem Roman von Thomas Bernhard um Gebrauchsanleitungen<br />

zum Leben.<br />

Sondern um das Nachdenken darüber, in einer virtuellen Versuchsanordnung. Das lässt sich<br />

auch an der Entscheidung für den weit offenen Bühnenraum erkennen.<br />

Wir haben bewusst einen Bühnenraum gewählt, der eigentlich wie eine Probebühne, wie ein<br />

Arbeitsatelier aussieht. Ein Raum, der überhaupt nichts will, nichts darstellen will, sondern<br />

einfach nur verschiedene Möglichkeiten bietet. Also die Möglichkeit eines Klaviers oder die<br />

Möglichkeit einer Orchesterbestuhlung …<br />

16


Eine Art Labor, aber auch ein Erinnerungsraum, ein Kopfraum eigentlich.<br />

Thomas Bernhard sagt über seine Prosa: „In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt,<br />

alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich auf einer Bühne ab, und der<br />

Bühnenraum ist total finster. [...] In der Finsternis wird alles deutlich [...] Es ist auch mit der<br />

Sprache so. Man muss sich die Seiten der Bücher vollkommen finster vorstellen: das Wort<br />

leuchtet auf, dadurch bekommt es seine Deutlichkeit oder Überdeutlichkeit.“ Das finde ich<br />

sehr besonders. Jemand schreibt Prosa und sagt: Das muss man sich vorstellen wie Theater.<br />

Daraus hat sich für uns das Raumkonzept entwickelt.<br />

Dieses Ausgestellte.<br />

Das Künstliche. Denn das ist immer eine Behauptung. Also diese Künstlichkeit, die dadurch<br />

entsteht, dass jemand auf der Bühne etwas spielt, was er ja nicht ist.<br />

Dadurch wird es auch leicht.<br />

Ja, genau. Dadurch kann man Abstand nehmen, übertreiben, dadurch kann man in die<br />

Karikatur gehen und in die Groteske.<br />

Und das Schrecklichste benennen.<br />

Die Welten, die Bernhard in seinen Romanen erschafft, sind künstlich. Das sind künstliche<br />

Figuren. Es gibt Formen von Übertreibung, Übersteigerung. Keine nachvollziehbaren<br />

Psychologien oder offen ausgetragenen Konflikte. Das, was passiert, passiert allein dadurch,<br />

dass die Figuren permanent über sich selber reflektieren. Sie sprechen ja ständig über sich.<br />

Und meistens auch noch in der Vergangenheit. „Dachte ich.“ „Sagte ich.“ Also befinden<br />

Tonstudio Finsternis sie sich nie jetzt akut in einem Konflikt, sondern reflektieren über den<br />

Konflikt. Und reflektieren noch einmal und noch einmal und geraten durch dieses<br />

permanente Insistieren in eine Emotionalität. Die wird aber nicht durch eine Geschichte<br />

hergestellt, sondern die Emotion entsteht in dem Moment auf der Bühne, in dem sich der<br />

Schauspieler – aber auch der Zuschauer – mit dem Text auseinandersetzt.<br />

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5. Glenn Gould: Für ein Applausverbot<br />

Die guten Bürger meiner Heimatstadt Toronto hatten im letzten Frühjahr wie alljährlich die<br />

Metropolitan Opera Company zu Gast. Das ist ein Ereignis, auf das wir uns alle immer sehr<br />

freuen, und diese Saison gab Anlass zu besonderer Aufmerksamkeit, da sie den Umzug jenes<br />

trefflichen Ensembles von der königlichen Weite eines Hockeyplatzes auf das beschränktere<br />

Proszenium eines neuen Theaters mit sich brachte, errichtet für uns dank der Generosität,<br />

des städtischen Weitblicks und des Steuervorteils einer ortsansässigen Brauerei. Die<br />

Metropolitan, mit ihrem gewohnten Takt und ihrer Diplomatie, sah wohlweislich davon ab,<br />

uns die alkoholischen Ausschweifungen von Sir John Falstaff, die aphrodisischen<br />

Wahnvorstellungen von Meister Tristan oder irgendwelche anderen Tableaus zu zeigen, die<br />

das Firmenimage ihres Gastgebers kompromittieren könnten. Doch trotz dieser<br />

Höflichkeiten wurde der Besuch von höchst ungnädigen Leserzuschriften in der lokalen<br />

Presse begleitet. Diese rührten her von dem Missfallen, das einige Schreiber über die relativ<br />

begrenzte Kapazität des neuen Salons bekundeten, und von dem Mitgefühl gegenüber jenen<br />

unserer weniger wohlhabenden Mitbürger, die den entsprechend hohen Eintrittspreis<br />

unerschwinglich fanden.<br />

Es waren jedoch nicht diese maßvollen, wenn auch gerechtfertigten Beschwerden, die meine<br />

Aufmerksamkeit erregten, sondern die ernsten Warnungen von einigen unserer<br />

weltgewandteren Kolumnisten, dass wir mit der reduzierten Besucherzahl beim Gastspiel<br />

der Metropolitan nicht Geld verloren hätten, sondern vielmehr jenen ungreifbaren Geist<br />

theatralischer Erregung, die von jenen erzeugt wird, deren einheimische Bräuche das<br />

schamlose Zeigen von Begeisterung oder Missfallen gestatten. […]<br />

Dies hat mir Gelegenheit gegeben, über die Beziehung des Applauses zur musikalischen<br />

Kultur nachzudenken, und ich bin, ganz ernsthaft, zu dem Schluss gelangt, dass der<br />

wirksamste Schritt, der in unserer Kultur heute unternommen werden könnte, die<br />

allmähliche, aber völlige Beseitigung der Publikumsreaktion wäre. <strong>Der</strong> Zweck der Kunst ist<br />

nicht die Auslösung einer kurzzeitigen Adrenalinausschüttung, sondern vielmehr die<br />

allmähliche, ein Leben lang dauernde Schaffung eines Zustandes des Staunens und der<br />

Heiterkeit. Durch die Dienste des Radios und des Phonographen lernen wir rasch und recht<br />

gründlich die Elemente des ästhetischen Narzissmus – und ich gebrauche dieses Wort in<br />

seinem besten Sinne – schätzen und werden der Herausforderung gewahr, dass jeder<br />

Mensch kontemplativ seine eigene Göttlichkeit schaffe. Diese neu erworbene Introspektion<br />

hat sich auf unsere Kultur als Ganzes heilsam ausgewirkt. Wenn es demnach möglich<br />

gewesen ist, innerhalb einer Generation diesen hohen Grad von triftigem Hören zu<br />

erreichen, wird es die nächste Generation sicherlich nicht als gewaltige Aufgabe empfinden,<br />

diese Qualität der Introspektion einen Schritt weiter zu tragen – in den Konzertsaal und das<br />

Theater selbst. Es gibt freilich jene, die die Meinung vertreten, dass wir nur im Theater, nur<br />

mit der direkten Verbindung des Künstlers zum Hörer, das große Drama der menschlichen<br />

Kommunikation erfahren können. Die Antwort darauf, scheint mir, lautet, dass Kunst in ihrer<br />

erhabensten Mission überhaupt kaum menschlich ist. „Aber sicherlich“, mögen einige<br />

kontern, „ist es für einen Hörer ebenso natürlich, nach einer Vorstellung zu applaudieren wie<br />

an einem windigen Tag die Sonne zu verwünschen.“ Ich antworte, dass man allein oder in<br />

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Gesellschaft von Freunden der Aufnahme einer Beethoven-Sinfonie lauschen und, obwohl<br />

man tief bewegt ist von ihrem Schluss, kein dringenderes Bedürfnis verspüren kann, als zum<br />

Kühlschrank zu eilen, um ein Sodawasser zu holen. Und wenn wir also konzedieren, dass es<br />

das Gesetz des Gehörten ist, dass die Reaktion des Publikums auf einen Künstler reagiert,<br />

kann dann diese Reaktion darüber hinaus gerechtfertigt werden? „Demokratie, die<br />

Herrschaft der Mehrheit“, wirft jemand ein. „Weshalb sollte der zahlende Kunde des Rechtes<br />

beraubt werden, seine Meinung kundzutun?“ Nun, abgesehen davon, dass die anderen<br />

zahlenden Kunden keineswegs um seine Meinung gebeten haben, muss man die<br />

eigentümlichen Gesetze der akustischen Psychologie in Rechnung stellen, wonach ein<br />

strategisch platzierter Anfeuerer oder Lästerer, wenn er den rechten stimmlichen Hebel im<br />

entscheidenden Moment ansetzt, bei vielen Hunderten seiner Genossen brüllenden<br />

Widerhall finden kann. „Aber was kann das für einen Schaden anrichten?“ fragt jemand.<br />

„Jeder weiß, dass Künstler unglaublich eingebildet und durchaus in der Lage sind, die<br />

Sticheleien unhöflicher Laien auszuhalten.“ Ah ja, sind sie das wirklich? frage ich. Oder sind<br />

die absurden, auf Wettbewerb eingestellten Überspanntheiten unserer Kollegen von der<br />

Oper nicht das Produkt oder vielleicht das Antidot zu der vulgären Künstlerfeindlichkeit jener<br />

von der Sonne ausgedörrten Gesellschaften, die eine Operntradition errichtet haben, in der<br />

ihr ursprünglicher Sinn für Gladiatorenkämpfe eine anmutigere, aber kaum getarnte<br />

Sublimation gefunden hat? […]<br />

„Aha“, sagt der Disputant in einer letzten Anstrengung, mein Argument zunichte zu machen,<br />

„dieser Bursche Gould spricht mit besonderer Leidenschaft. Vielleicht hat auch er sich schon<br />

einmal aus dem Staub machen müssen, um dem Zorn eines empörten Publikums zu<br />

entgehen!“ Ja, gebe ich freimütig zu, einen solchen Anlass hat es gegeben. Es war in Florenz<br />

oder, wie wir internationalen Menschen vorziehen zu sagen, in Firenze. Ich hatte eben eine<br />

Aufführung der Suite op. 25 von Schönberg beendet, die, wenngleich sie zu der Zeit<br />

fünfunddreißig Jahre alt war, noch nicht in das Vokabular der Florentiner aufgenommen<br />

worden war. Ich erhob mich vom Instrument, um von einem höchst unangenehmen<br />

Sprechchor vom oberen Balkon gegrüßt zu werden, dem sogleich durch fieberhafte<br />

Gunstbezeigungen aus den niederen Rängen widersprochen ward. Obwohl diese Erfahrung<br />

neu für mich war, erkannte ich instinktiv, dass mir nichts geschehen konnte, solange ich den<br />

Zuschauern erlaubte, ihre Wut aneinander abzureagieren. Listig melkte ich deshalb den<br />

Applaus für sechs Vorhänge (ein außergewöhnlicher Beifall für op. 25), und darauf lehnte<br />

sich das erschöpfte Publikum in verdrießlicher Schläfrigkeit zurück, um den Goldberg-<br />

Variationen beizuwohnen.<br />

Ich meine, dass ich nun meinen Fall mit wahrer Offenheit vorgetragen habe, und so bleibt<br />

nur noch, Mittel und Wege anzudeuten, um meinen Vorschlag umzusetzen, dass das<br />

Publikum der Zukunft sichtbar, nicht aber hörbar sein sollte. Zu diesem Ende und zur<br />

Unterstützung jedes Konzertmanagers, der davon Gebrauch machen möchte, habe ich den<br />

Gould-Plan zur Abschaffung von Applaus und Kundgaben Aller Art aufgestellt, auf den im<br />

Folgenden als GPAAKAA Bezug genommen wird. Es versteht sich von selbst, dass der<br />

GPAAKAA anfangs, neben einer aktiven Werbekampagne, ein Maß an gutem Willen<br />

gleichermaßen von Seiten des Künstlers, des Publikums und des Managements erfordern<br />

wird. <strong>Der</strong> erste Schritt in der Durchführung des GPAAKAA wird in der Ansetzung von<br />

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applauslosen Konzerten an jedem Freitag, Samstag und Sonntag bestehen. Diese drei Tage,<br />

mit den ihnen eigenen liturgischen Konnotationen, sind am besten geeignet, einen<br />

angemessen ehrfürchtigen Bewusstseinszustand hervorzurufen. Konzerte während der<br />

übrigen Woche, von Montag bis Donnerstag, könnten als Familienausflugsprogramme<br />

beworben werden, wenn ich mir diesen Ausdruck bei den Fluggesellschaften ausborgen darf.<br />

Preisnachlässe würden gewährt, und natürlich wäre Applaus gestattet. Kinder würden<br />

ermutigt, während der Woche teilzunehmen, und die Pflicht, sie zu begleiten, würde eine<br />

willkommene Entschuldigung für jene der älteren Generation liefern, denen die Umstellung<br />

Schwierigkeiten bereitete. Die ausführenden Musiker gehörten ausschließlich zur zweiten<br />

Garnitur. Bei den gehobenen Wochenendkonzerten wird das schwierigste Problem im<br />

frühen Stadium des GPAAKAA die Auswahl von geeignetem Repertoire sein – von Werken,<br />

die am besten zur allgemeinen Feierlichkeit beitragen. Ich würde vorschlagen, dass man es<br />

zuerst mit großangelegten Oratorien versuchen sollte, gefolgt vielleicht von einer<br />

Veranstaltungsreihe mit Musik, die von Mitgliedern königlicher Häuser komponiert wurde.<br />

Es könnten freilich gewisse Ausnahmen angeraten sein. Eine Komposition des Maharadschas<br />

von Porbandar wäre für ein Sonntagskonzert in Karatschi vielleicht ungeeignet. <strong>Der</strong> nächste<br />

in den GPAAKAA aufzunehmende Repertoirebereich sollte die Aufführung von neunten<br />

Sinfonien sein – gleichviel von wem, auch wenn Schostakowitschs ein bisschen flippig sein<br />

mag –, doch nachdem man die Beethoven-Bruckner-Mahler-Parallele erkundet hätte, wäre<br />

es klug, mit Schuberts Neunter zu schließen, denn da sie in Wirklichkeit seine Siebente ist,<br />

würde sie eine passende Note von Weltlichkeit in die numerische Pietät der Reihe bringen.<br />

Ich denke, dass diese wenigen Anregungen bereits erkennen lassen, dass die<br />

Konzertmanager der Zukunft gezwungen sein werden, ungewohnte Initiative bei der<br />

Programmplanung zu zeigen. Fürwahr, unter der Ägide des GPAAKAA mögen manche von<br />

diesen Gentlemen durchaus von ihrer gegenwärtigen Stellung als Eintrittskartenverkäufer<br />

aufrücken und des alten und noblen Titels eines Impresarios würdig werden.<br />

In den frühen Stadien des GPAAKAA mögen die ausführenden Musiker am Schluss ihrer<br />

Auswahl von Stücken vielleicht einen Moment ungewohnter Spannung verspüren, wenn sie<br />

sich ohne die Eskorte der Huldigung durch ihre Hörer hinter die Kulissen zurückziehen<br />

müssen. Für Orchestermusiker sollte das keine Gefahr in sich bergen: Ein Zug von Cellisten,<br />

der flott im Paradeschritt die Bühne verlässt, ist ein begeisternder Anblick. Für den<br />

Solopianisten freilich würde ich so etwas wie eine Drehbühne vorschlagen, die ihn und sein<br />

Instrument hinter die Kulissen befördern würde, ohne dass er sich zu erheben bräuchte. Dies<br />

würde die Aufführung jener Sonaten nahelegen, die mit einer Note von heiterer Reminiszenz<br />

enden und bei denen die Drehbühne einige Augenblicke vor Schluss in Bewegung gesetzt<br />

werden könnte. Ich sehe einen heftigen Run auf op. 109 voraus, das sich beinahe inszenieren<br />

ließe, vorausgesetzt, es gäbe eine klare Verständigung zwischen dem Solisten und dem<br />

Verantwortlichen hinter der Bühne.<br />

Als Begründer und Chronist des GPAAKAA geziemt es sich wohl für mich, unter den ersten zu<br />

sein, die ihn in die Praxis umsetzen. Unnötig zu sagen, dass ich dieser Verantwortung<br />

manche Überlegung gewidmet habe. […]<br />

In sich gekürzter Auszug aus: Glenn Gould. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Herausgegeben<br />

von Tim Page, München, Piper 2002.<br />

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