Wer macht, macht Macht? Der Präsident, die UdK und wir - eigenart

eigenart
Studierendenmagazin der UdK nr. 70 | 2008

FAXVORLAGE LESERBRIEF
Liebe Eigenart
Im April nahm die eigenart mit dem Heft „Das Monster denkt
nach“ am Campus-Presse Award teil, und siehe da: Unser
Magazin hat es bis unter die zehn besten deutschsprachigen
Hochschulzeitschriften geschafft. Die Studierendenzeitung der
Humboldt Universtität,
Unaufgefordert, gewann den Award. Weiter so!
UdK_0108:Layout 2 06.06.2008 16:14 Uhr Seite 2
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Illustration: Leonard Schlüter
HAUPTSACHE
Die Robin Hoods der Kultur | 4
Die Hundert Größten | 8
Mehr Van Goghs fördern | 9
Kulturwirtschaft | 10
Geld und Kunst | 11
NETZWERKE
Wie wird Kunst als Kunst konstruiert | 12
Werbung stinkt! | 14
Berlinkiosk | 15
LA BAMBA
Dogstory One | 16
Control Cross Poster | 18
.Bachelorette | 20
NACHGEFRAGT & HERGEZEIGT
Atemlos, der Ohnmacht nah | 21
UDK POLIS
Kind oder Studium | 22
Wer macht, macht Macht? | 24
Es ist wieder passiert | 26
Aus in Brandenburg | 27
Fischen in der Auslage | 28
Fachschaften/ Interflugs | 29
HALBDURCHLÄSSIG
Das Leben in der grossen weiten Stadt | 30
U1 Menschen | 32
Elf Krallenfrösche und eine Kuss-Szene | 34
Impressum | 35
eigenart calls for gescheiterte Kunst oder
kunstvolles Scheitern, for blinde Flecken und
vergessene Artefakte, for Bordsteinabdrücke
und Traumata, for Exodus-Storyboards, exokrine
Drüsenflugzeuge, exportierte Kunstwerke
und importierte Exmänner, for vermisste
Wünschelruten und verschwundene Misses,
for Prä-Tote und Worte, die im Halse stecken,
for Fehlschläge und Schlagschattenmalerei,
for Drückermentalitäten und schlimme Finger,
for Ehemalspredigt und tauchende Eheringe,
for aufgegebene Aufgaben und Lost Images,
for Hängen-Gebliebene und phantastische
Abstürze, for Kaugummi und Toilettenspülung,
for fatale Unfälle in der Simulationsebene III,
for Unvereinbarkeiten und Unsichtbarkeiten for
Aussenherrscher und Aus-der-Welt-Gefallene.
So lautete es in unserem Aufruf zur Teilnahme
an dieser eigenart. Wir glaubten daran,
Verborgenes aufzustöbern und viel eigenartiges
zu veröffentlichen. Wir glaubten an den Schatz
der gescheiterten Ideen. Letztendlich ist in
unseren Artikeln das Klischee vom Scheitern kaum
besetzt. Der Fokus liegt eher darauf, aufzuspüren,
wie Kunst als Kunst konstruiert wird. Wenn Du
erkennst, was Dich umgibt, minimieren sich die
Chancen, riskiert zu werden.
Die eigenart ist ein Magazin von Studierenden
für Studierende der UdK und erscheint mit der
Nummer 70 pünktlich zum Rundgang 2008. Wir
sind ein kleines Team und auf Eure Mitarbeit, News
aus Eurem Studiengang oder auch auf einfache
Recherchehinweise angewiesen. Redaktionsschluss
für die nächste Ausgabe siehe: www. asta-udkberlin.de
Unser Redaktionsteam ist offen für Studierende
der UdK aus allen Studiengängen. Für das erste
Redaktionstreffen der Herbstausgabe please mail to
>>eigenart@asta-udk-berlin.de

4 | HAUPTSACHE
Die Robin Hoods der Kultur
...beherrschen die Kunst des Sich-Verbergens
und des Wieder-Auftauchens
// Text Anja Wenzel // Fotos Anke Becker und Piotr Mordel // Almudena Lobera
Berlin-Köpenick: Mit meinem Fahrrad tingele ich durch einen
riesigen Waldpark, die Wuhlheide. Mit Pionierpalast, Schmalspurbahn,
Badesee, Kletterwald, Rodelhang, wilden Lichtungen und
Freilichtbühne kommt mir der Volkspark wie ein vergessenes Land
vor. In meinem Ohr groovt der Rapper Sir Serch: „In Berlin stirbt
man schnell…“ Berlin ist hart und deshalb komme ich hierher. Die
Bäume sind krüppelig und beugen sich tief. Rauchschwaden steigen
auf und ich schaue mich um. Hunde tummeln sich um eine
Wagenburg. Genau, die Robin Hoods der Kultur: Sie überleben im
Jungle der Kunst und Kultur Berlins.
Ich sprach mit zwei kunstschaffenden Clubs Berlins, die ihre
existentielle Unabhängigkeit im Kunstgeschehen programmatisieren
und diese auch stets von Neuem erschaffen. Das besondere
an ihnen ist, dass sie wissen, wie Stehaufmännchen funktionieren.
Und wie man ein bunter Hund wird, ohne sich zu riskieren. Viel
Spaß mit den Anonymen Zeichnern und dem Club der Polnischen
Versager!
Berlin-Wedding: Anonyme Zeichner am 21. Mai 2008
Im Verborgenen tut sich allerhand. Doch erst nachdem ein Aufruf
heraus ist, bewegt sich an die Oberfläche, was in der Zwischenzeit
in die Welt gesetzt wurde. Bei der Spätannahme der Post am
Bahnhof Berlin-Friedrichstraße sind Kunst- und Kulturschaffende
der Stadt gerade an Tagen der Einsendestopps auffällig. Sogar
noch drei Minuten nach 22.00 Uhr klopfen Leute mit Päckchen
an die geschlossene und bewachte Glastür. Die fein polierten
Plots, Projektbeschreibungen, Lebensläufe und Passfotos sind
zu Briefsendungen verpackt und an stattliche Institutionen, wie
zum Beispiel an die Kulturstiftung des Bundes, adressiert. Alles
verkehrt herum ist, wenn ein Künstler seine rohe Arbeit, ganz
uneingewickelt, ohne Vita und seitenweise Ausstellungsliste, in
den Umschlag legt, dazu eine Briefmarke schiebt, ihn zuklebt
und ohne Unterschrift losschickt. Vielleicht hat er sich gehen
lassen, spielt verkehrte Welt. Anke Becker legt es darauf an,
ihre Ausschreibungen rufen zur Teilnahme an der Ausstellung
Anonymer Zeichner auf. Über 600 Einsendungen erreichen
ihren Briefkasten. Briefe aus Kanada, Brasilien, Schottland oder
Maribor – inwendig verborgen liegen Geistesschöpfungen ohne
Namen.
Blinzelnd sitzt Anke im Blusenkleid und Strickjacke auf einer
sonnigen Bank vor ihrem Atelier im Wedding. Es ist die Zeit zwischen
den anonymen Ausstellungsläufen. Über 500 Zeichnungen
sind im Archiv aufbewahrt und zu einer Wanderausstellung
zusammengestellt worden, die meisten der Ausstellungsstücke
an die Anonymen zurückgesandt. Pause und Zeit für eigene
Kunst. „Hut ab, allen die da mitmachen. Man weiß ja nicht, an
wen man seine Zeichnung schickt“, lobt Anke das Vertrauen der
Einsender. „Anfänglich fragte ich mich, ob ich auch anonym
sein könnte“, Anke hat jede Möglichkeit des Projektes innerlich
schon einmal durchgespielt. Doch es wird mindestens eine
vertrauenswürdige Person gebraucht.
Das Chaos kriege ich von den Leuten
Im April, als die Anonymen Zeichner ausgestellt wurden, war
das Ausmaß des Teilnehmeransturms nicht zu übersehen. 400
Zeichnungen hingen in der Galerie MeinBlau. „300 gingen
Pi-mal-Daumen zurück“, knapp die Hälfte aller Zusendungen.
Seit einem Interview im Februar 2007 mit dem japanischen
Web-Magazin PingMag wuchs das Netzwerk Anonymer
Zeichner spürbar. Für Anke sind das neue Seiten des Projekts:
„Ich rutsche immer mehr in die Rolle der Kuratorin rein.“ – „Klar
habe ich eine eigene Favoritenlinie. Ich schaue, was ich als Per-

son gut finde.“ Ihrer Meinung nach berücksichtigt jeder Kurator
neben konstanten Auswahlkriterien auch Tagesform, Jahreszeit
oder Ort, wo gehängt wird. Die Komplexität der Auswahl ist für
Anke eher ein Faktor, der einen Grad von „Sich-unbeliebt-machen“
mit sich bringt. Das hält sie aber nicht davon ab, den ganzen
anderen Schmock, alles, was nicht gleich aus dem Bauch heraus
gefällt, wegzulassen. Eine Jury kommt nicht in Frage: „Wichtig für
Projekte im Allgemeinen ist, dass immer einer im Auge hat, was zu
machen ist.“ Auch im persönlichen Leben ist Anke ein „Superkontrollfreak“,
das passt gut zu ihr.
Das Ganze lebt von Respekt
„Ich behandele die Sachen respektvoll und bin sehr sorgfältig bei
der Hängung. Ich will auch Respekt haben, sonst funktioniert das
nicht.“ Das Projekt lebt von Rücksicht: „Ich biete etwas an und die
Leute denken, dass ich daraufhin immer verfügbar bin.“ Respekt
zeigt sich auch im Duktus beim Verfassen von E-Mails. Mit einem
Blick auf früher entworfene Ausschreibungen sieht Anke, dass sie
ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten nicht ausreichend kommuniziert
hat. Der nächste Aufruf wird eine noch klarere Ansage machen.
Auch zur Vernissage legt die Initiatorin auf kommunikative und
unzweideutige Verständigung wert. Dann steht Anke Becker professionell
am „musealen“ Tresen. Erscheint ein Kaufwilliger, setzt
sie den Kaufakt performativ in Szene. Die gewünschte Zeichnung
wird von der Wand genommen und dem Käufer überreicht. Im
Gegenzug können die Ausstellungsbesucher sehen, wie die „Kohle
rübergeschoben wird“ – unmittelbar in die Hände des möglicherweise
anwesenden Künstlers. „Der Verteiler ist die Schnittstelle, an
der sich Anonymität auflöst“, das meint Anke auch in Bezug auf
den E-Mail-Verteiler, hier geschieht das Gleiche. Anke mag, dass
die Zeichnung zur „heißen Ware“ wird. Es kann passieren, dass
der Käufer diskret umzingelt wird und ihn Leute fragen: „Eh, kann
ich noch einmal sehen.“ Die Lücke an der Wand wird mit Namen
und Herkunftsort des Zeichners versehen. Und was ist, wenn ein
Sammler kommt und die ganze Wand kaufen möchte? Zwölf
Zeichnungen wurden bei den 8. Anonymen Zeichnern verkauft.
Das ist der Schnitt, meint Anke.
Gratis-Arbeit möchte ich vermeiden
„Indem ich die Hängung mache, bin ich die Künstlerin. Nachbarschaften,
Gruppierungen und Staffelungen sind dabei entscheidend.“
Ein philosophischer Aspekt ihres Projektes ist die Frage
nach dem, was man im Internet verkörpern kann und wer man in
Wirklichkeit ist. Viele, die noch nicht mitgemacht haben, meinen,
hinter den Anonymen Zeichnern verbirgt sich eine zusammen
agierende Gruppe. Anke sagt darauf: „Ich bin Künstlerin, absolut
vereinzelt“.
Das „Office“ funktioniert nomadisch: „frau ist mobil“. Das nomadisierende
Prinzip, ohne eigene Ausstellungsräume und Büro, generiert
sich eher aus einem Mangel an Förderung. Das Projekt wird
nicht finanziert, weil es mit 150 Euro Geldwert pro Zeichnung
als kommerzielles Projekt zählt. „Ich schreibe keine Förderanträge
mehr“, lacht Anke. Wenn kein Geld fließt, gibt es „keine Infrastruktur,
keine Barleute, kein Mobiliar, keine Künstler.“ Gratis-Arbeit
möchte Anke aus politischen Gründen vermeiden. Ihr Traum ist es,
dass sich das Projekt kommerziell alleine trägt und jeder der dafür
Arbeit gibt, inklusive ihr selbst auch bezahlt werden kann.
Noch ein Traum: Jemand kommt, jemand aus dem Ausland, ein
Herr oder eine Dame von so einer heiligen Halle, einer großen
Institution, und sagt: „Anke, ich gebe Ihnen eine Finanzierung
und einen Ausstellungsraum, kaufen Sie sich ein Ticket.“ Dann
sagt Anke: „Ja, ich mache das.“ Es geht nicht darum, an möglichst
vielen Orten auszustellen, sondern an möglichst guten Orten.
Das Drawing Center in New York wäre zum Beispiel so ein „Big
Hit“. Die Anonymität trägt es, den Vergleich zwischen Off-Raum
und Institution zu starten. Anke kommt aber nicht aus der Ecke
„Anti-Kunstmarkt“, ihr Projekt sieht sie eher als Ergänzung oder
Kommentar zum aktuellen Geschehen in der Kunstwelt.
Wissen, was Papier ist
Spaß an den Zeichnungen haben und an dem, was sie bewirken.
Ankes Konzept geht auf, „es kommen wirklich andere Sachen“.
Leute, die aus anderen Genres kommen, denken oft: „Huch, das
kann auch alles Zeichnung sein?“ Niemandem fallen Vorurteile
ein wie: „die Mauerblümchen der Malerei“. Überzeugend an der
Ausstellung ist, dass „Zeichner wissen, was Papier ist“. Auch der
Begriff der „Outsider-Kunst“, den Jean Dubuffet prägte, als er mit
André Breton im Paris der 50iger Jahre Kunst von Außenseitern
und psychisch Kranken sammelte, wird in diesem Kontext überdacht.
Jeder kann mitmachen. „Eigentlich“, sagt Anke, „könnte
auch jeder sagen, ich habe teilgenommen“. Es ist eine Vorstellung
wert, dass in sämtlichen „fucking Berliner Lebensläufen“ die Anonymen
Zeichner auftauchen könnten. Ausstellungsbeteiligung zu
faken ist möglich, da die Presse bei dem kurzen Ausstellungslauf
von zwei Tagen kaum zugreift. „Ich mag den leicht anarchischen
Charakter, obwohl das gerade out ist.“ Out sind die Anonymen
Zeichner aber nicht. Anonymität liegt in der Luft und trifft den
Kern der Zeit. Mit „Anonym – no one will be famous“ unternahm
die Schirn-Kunsthalle Frankfurt eine Ausstellung, die auf
die Verwertung von Künstler als Markenzeichen reagierte. Elf
Künstlerinnen und Künstler wurden anonym ausgestellt, selbst
die Kuratoren blieben ungenannt. Bei einer Werbeaktion zum
Rundgang der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst
verkauften Studierende und Professoren selbstgestaltete Postkarten
in Klarsichthüllen für 30 Euro. Die Namen blieben während
der Aktion unbekannt. Kenner vermuteten einen Neo Rauch
darunter, was wie ein Köder wirkte. Auch bei den Anonymen
Zeichnern stichelt die Presse gern nach Namen, doch Anke lässt
sich da nicht reinreden.
In diesem Jahr ist das Projekt in sicheren Händen. Stephan Bauer,
Leiter des Kunstraums Kreuzberg, hat die Anonymen Zeichner zu
Dezember in das Künstlerhaus Bethanien eingeladen. Erstmalig
wurde eine Institution aufmerksam und das hat mindestens drei
Vorteile. Ein Team wird Anke zur Seite stehen, die Ausschreibung
läuft zusätzlich über den Bethanien-Verteiler und Anke muss
nicht im Hauptmonat noch nebenbei jobben. Das Projekt ist auf
Unterstützer angewiesen, denn es lebt davon, dass Leute darauf
zukommen, weil sie davon hören. „Erst kennt Dich keine..., dann
ist man bekannt wie ein bunter Hund.“ So gesehen generiert sich
aus dem Mangel an Geld Stärke.
(Fortsetzung S. 6 )
5 | HAUPTSACHE

6 | HAUPTSACHE
Berlin-Mitte:
Club der Polnischen Versager
am 15. Mai 2008
In der Ackerstraße in Berlin-Mitte sehe ich drei Gestalten
auf der Fensterbank eines Ladenlokals sitzen. Sie spielen.
Es sieht nach Dart aus: Passanten schlendern ihren
Nach-Hause-Gang. Dann springt einer von denen auf,
so als wär’s abgemacht, tritt freundlich auf den Gehsteig
und bietet den Flyer der Großen Gala der Polnischen
Versager an. Ging-Gong, ein „Guten-Mutes-Lächeln“. Mit
Adam Gusowski und Piotr Mordel vom Club der Polnischen
Versager bin ich auf ein Interview verabredet. Ich
schüttele die Hände. Später kommt Asia dazu, sie ist die
eigentliche Chefin des Clubs. Im Laufe des Abends wird
mir jeder einmal als Chef vorgestellt. Asia fragt mich, was
ich denn schreibe. Sie sagt, dass viele wegen des Namens
angezogen werden.
Bekannt ist der Club der Polnischen Versager weltweit, in
Japan und in kleinen bayrischen Dörfern. Berliner kennen
die Russendisko, ein Artefakt aus der Zeit, als der Club
noch im heutigen Kaffee Burger residierte. An die 200
Veranstaltungen wurden damals jährlich auf die Beine
gestellt. Heute treten die Polnischen Versager etwas kürzer.
Adam nickt gemütlich, was heißt, dass es eine wilde
Zeit war, die nun aber überwunden ist. Die Clubbetreiber
spucken sich jetzt in die Hände, wenn sie die vor dem
kleinen Laden nicht abreißen wollende Besucherschlange
begrüßen, so wie beim polnischen Filmfestival im April.
Und sie tun etwas fürs Ego. Sie bringen die Adam-
Gusowski-und-Piotr-Mordel-Leutnant-Show auf die Bühne,
ein politisch nicht korrekter Ratgeber der Polnischen
Versager. Der Club öffnet zur Ausgehzeit von Donnerstagnachmittag
bis Sonntagmorgen sein „schizonationales“
Lokal.
Man muss kein Draufgänger sein
„Wer hierher kommt, muss auch etwas von sich geben“,
sagt Piotr. Da mir gerade nicht nach Selbstüberwindung
zu Mute ist, fühle ich mich ertappt. Piotr erklärt, dass es
bei ihnen einfach ist, aktiv zu sein. Asia meint, dass sie
eigentlich schüchtern ist, dass das hier aber keine Rolle
spielt, denn man muss kein Draufgänger sein. Für sie ist
Ehrlichkeit wichtig: „Ehrlich zu sein, gibt sehr viel Kraft.“
Ehrlichkeit ist, wenn man bei Karstadt nicht klaut, zieht
Piotr uns auf. Die Filme, die im Club gezeigt werden, sind
eher unter dem Aspekt der Ehrlichkeit ausgesucht als
nach prominenten Kriterien. Monty-Python-Filme sind
ehrlich, schwärmt Piotr. Und Tiefseetaucher, ruft Adam
in die Runde, wobei nicht gewiss ist, ob es diesen Film
tatsächlich gibt. Sie zeigen Filme, die in Vergessenheit
geraten und unbeachtet sind, auch Dokus.
Ob es auch um Liebe geht?
Ich möchte wissen, ob ich mich einer Gesichtskontrolle
unterziehen müsste, denn bei einem Club wüsste man ja
nicht genau. Umgekehrt, sagt Piotr, es ist eine Raumkontrolle:
„Jemand kommt herein, schaut sich um und entscheidet,
ob er bleibt.“ Die dünne Glastür des Lokals ist so
wie die von einer Sommerlaube. Drinnen ist es dann ganz
anders. Ein bisschen Kneipe, ein Stückchen Bühne, Leute
auf Sofas wie in Berliner Modekneipen, nur ungleich
freier, von-der-Leber-weg flezender. Ein schwarz-weißer
Animationsfilm läuft. Jemand spielt im hinteren Raum
Klavier. Teppiche liegen auf dem Parkett, ein Schleier
hängt in der Vitrine und eine Riesennase an der Wand. Es
ist nicht leicht, durchzublicken. Adam und Piotr wollen
mich warnen. Sie, die Gründer des Clubs, finden es selbst
schwierig, die Idee dahinter in Worte zu fassen. „Es ist
wie dein verlängertes Wohnzimmer“, erklärt Piotr, „nur“
– und deutet mit der Faust auf sein Herz. Ein Gast kommt
zu uns und erklärt, dass er gehen muss. Es ist zu schwer,
er versteht es nicht. Adam fragt, worum es in dem Film
geht. Ob es um Liebe geht? Er meint, dass der Film auf
der Berlinale lief, was jedoch nichts zu bedeuten hat.
Der Club der Polnischen Versager feierte einmal seine
Schließung. Das war aber nicht das Ende für die noch
junge deutsch-polnische Geselligkeit in Berlin. Eine große
Abschiedsparty wurde veranstaltet. Groß heißt, dass
4.000 Menschen bis hinaus auf die Torstraße standen.
Mit Sektflaschen und all dem Drum und Dran samt Polizei
und Schnapsleichen, frei nach dem Programm „Nur
einmal und nie wieder“. Groß heißt auch, dass Freunde
und Bekannte davon hörten und aus der ganzen Welt
anreisten. Wer möchte da nicht Gastgeber sein und seine
Arme ausbreiten?
Gefördert von niemandem
Aus Trübsinn Tiefsinn machen, das können die Polnischen
Versager schon lange. Aus diesem Grund luden die Ausstellungsmacher
von Melancholie. Genie und Wahnsinn
in der Kunst die Show des Clubs in das Ausstellungs-Begleitprogramm
Salon Noir ein. Den Abendbesuchern der
Neuen Nationalgalerie wurden „Melancholie-Erlebnisse“
versprochen. Einmal im Jahr passiert so etwas.
„Wir sind keine Kneipe, wir sind kein Kunstbetrieb, wir
sind außerhalb des Wettbewerbs“, stellt Adam fest.
„Und wir finden Kunst von heute aufgesetzt“, Piotr hebt
entschuldigend die Hände. Adam regt sich allerdings
auf: „‚Projekt’ ist das Unwort des Jahres – gefördert von
niemandem“. Während des fast achtjährigen Bestehens
des Clubs flossen dreimal Fördergelder. Und das nur
für einzelne Veranstaltungen. Die Gelder wurden an

die Künstler weitergeleitet. „Vom Club lebt keiner“, sagt
Adam. Piotr meint, sie seien Volontäre: „Wir zahlen Miete
und verkaufen Bier, das ist ganz einfach. Wir sind die
Robin Hoods der Kultur.“ – „ROB... HOODS“, lautiert er, als
sei es mindestens ein GbR-Logo. Adam schmunzelt und
stellt die Idee des mittelalterlichen Pioniers, des Rächers
der Armen, auf den Kopf: „Wir nehmen von den Armen
und geben nicht weiter“.
Piotr hat einen guten Gedanken gefunden: „Der Club der
Polnischen Versager lebt davon, sich selbst zu hinterfragen
und davon, an sich zu glauben. Wir müssen uns vertrauen.
Man kann erfolgreich sein und Versager sein, das
ist kein Widerspruch.“ Asia sagt: „Wenn man das weiß, ist
es leichter, mit dem Scheitern umzugehen.“
„Nieudacznik“ bedeutet Neuanfang oder Stehaufmännchen.
Den „Club der Polnischen Versager“ lese ich also
lieber auf Polnisch: „Klub Polskich Nieudaczników“.
www.polnischeversager.de // Öffnungszeiten: Donnerstag bis Samstag
20.00 bis 1.00 Uhr und nach Vereinbarung
Mitte August wird die Ausschreibung auf der bluetenweiss und
Bethanien - Homepage geschalten sein: www.bluetenweiss-berlin.de //
www.bethanien.de

Knetgeschichte Erzengel Michael Mirella Oestreicher
Die 100 Größten
Die 100 Gr� � te n
Quelle: Capital Kunstkompass 2007
Rang 2007 Rang 2006 K� nstler Herkunft Kunst Preis in 1000 Euro
1 1 Gerhard Richter DE Malerei 600-700
2 2 Bruce Nauman US Objektkunst, Video Art 450-550
3 3 Sigmar Polke DE Malerei 450-750
4 4 Rosemarie Trockel DE Konzeptkunst 60-150
5 5 Louise Bourgeoise US Skulptur 200-400
6 7 Cindy Sherman US Fotokunst 30- 80
7 6 Georg Baselitz DE Malerei 250-400
8 10 Mike Kelley US Kritische Kunst 180-200
9 9 Olafur Elliasson DK Skulptur Installation 50-100
10 8 William Kentridge ZA Zeichnung, Video Art 30- 35
:
:
Zentrale Merkmale der Kreativität
Fluktualität - Fähigkeit, hinsichtlich einer Themenstellung möglichst viele
Ideen zu entwickeln beziehungsweise eine Idee mit möglichst vielen
Themen zu verknüpfen.
Flexibilität - Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Themen ohne große
Schwierigkeiten zu wechseln.
Originalität - „Neuheit für sich selbst und Bleiben bei sich selbst“, trotz
eventueller aversiver Umstände.
Sensitivität - „Fähigkeit, gesellschaftliche Veränderungen, Trends,
Moden, Strömungen, die in der Luft liegen, wahrzunehmen, darauf zu
reagieren und sie [...] entsprechend auszudrücken.“
Komplexitätspräferenz - „alle Konjunktionen mit ‚Welt‘“
Elaborationsfähigkeit - Fähigkeit, von einem Konzept zu einem konkreten
Plan zu gelangen
Quelle: Wagner, M., 2000. Stoppt das Kulturgeschwätz! Eine zeitgemäße
Differenzierung von Kunst und/oder Kultur.
41 34 Thomas Struth DE Fotokunst 80- 100
42 30 Richard Serra US Skulptur 900-1200
43 55 John Baldessari US Fotokunst 75- 150
44 42 Mona Hatoum GB Installation, Performance 55- 90
45 43 Lawrence Weiner US Konzeptkunst 60- 90
8 Regeln für eine Revolte!
Peter Lau, 2001.
1.Finde heraus, was du wirklich willst.
2.Lass dir Zeit.
3.Konzentriere dich auf das Wesentliche.
4.Vergiss deine Feinde.
5.Suche dir deine Partner sehr sorgfältig aus.
6.Vertraue deinen Partnern.
7.Halte dich von den Medien fern.
8.Fang irgendwo an.

Die Enquete-Kommission vollzog eine
Bestandsaufnahme des Kunst- und Kultursektors in
Deutschland und veröffentlichte am 11. Dezember 2007
ihren Bericht. Das darin verwendete Künstlerverständnis
entspricht dem theoretischen Konzept von Prof. Dr.
Wolfgang Ruppert. Die eigenart interviewte Prof.
Ruppert zu diesem Konzept, sowie zum „Scheitern“ in
und mit der Kunst.
Unsere aktuelle eigenart-Ausgabe thematisiert
die „Kunst des Scheiterns“. Das Scheitern kann bei
Künstlern als eine bestimmte Geste wahrgenommen
werden. Was bedeutet es in Ihren Augen?
Das Scheitern ist nicht nur eine bestimmte Geste
bei Künstlern, sondern traurige Realität. Man geht
davon aus, dass sich lediglich drei bis fünf Prozent der
Absolventen von Kunsthochschulen aus dem Bereich
der „freien“ Kunst mit ihrer Kunst finanzieren können.
Alle anderen müssen Jobs annehmen, um in Form
einer Randexistenz ihr Leben und weiteres Schaffen
finanzieren zu können. Das Scheitern bezieht sich
auf einen Misserfolg in den institutionellen Ebenen
des Kunstbetriebs, den Ausstellungsinstitutionen, der
Kunstkritik und dem Kunstmarkt, in dem der Verkauf der
eigenen Werke auch über die Anerkennung entscheidet.
Die Enquete-Kommission hat Ihr theoretisches Konzept
zur Beschreibung und Erklärung des „Künstlers“
übernommen. Wie sieht der moderne Künstler in Ihrem
Konzept aus?
Die Institutionen des Kunstbetriebs sind als normative
Medien zu verstehen, in die man reinkommen muss, um
längerfristig als Künstler zu bestehen. Wenn man diesen
Sprung geschafft hat und mit der eigenen Kunst Geld
verdienen kann, wird man als erwerbstätiger Künstler
in den Statistiken geführt. Den modernen Künstler
zeichnet aus, dass er zum eigenschöpferischen Ausdruck
befähigt ist. Das war ja nicht immer so, sondern ganz
im Gegensatz dazu konnte die Arbeit des Künstlers bis
Mitte des 19. Jahrhunderts auch in der Imitation von
anderen Kunstwerken bestehen. Doch beim modernen
Künstler geht es um das, was ich als Kompetenz zum
eigenschöpferischen Ausdruck bezeichnet habe, also
nicht um ein Wiederholen von Vorhandenem, sondern
um die Originalität des Werkes. Das Künstlerindividuum
wird zum zentralen Repräsentanten der schöpferischen
Individualität.
Die Kommission empfiehlt, die Förderung von Kunst und
Kultur im Grundgesetz zu verankern. Finden Sie eine
staatliche Unterstützung sinnvoll?
Eine staatliche Förderung eröffnet dem Künstler
die Möglichkeit, sich ästhetisch, unabhängig vom
marktgängigen Geschmack, zu individualisieren.
Mehr Van Goghs fördern
Das Konzept des
Künstlers im
Enquete-Bericht
zur „Kultur in
Deutschland“
// Interview und Foto: Anna Grieben
In Deutschland gibt es im Gegensatz zu den USA
traditionell eine gute Grundfinanzierung. Insbesondere
seit dem 20. Jahrhundert gibt es staatliche Mittel mit
dem Ziel, die Arbeit an Kunst möglich zu machen.
Vor allem ist es wichtig, denjenigen Künstler, der
unkonventionell und kritisch arbeitet, zu fördern.
Der staatlich finanzierte Rahmen muss in erster Linie
diesem Zweck dienen, um die Unabhängigkeit vom
Zeitgeist und vom Markt zu stärken.
In der Diskussion um öffentliche und private Förderung
scheint es, dass private Kunstsammler künftig den
Markt stark mitbestimmen. Bleibt es dabei?
Den selbstlosen Kunstsammler als eine allgemeinere
Erscheinung kann man als Mythos ansehen. Er schaut
nicht nach dem eigenschöpferisch Neuen, sondern
nach dem, was finanziell attraktiv ist. Er ist nicht
unbedingt ein „Liebhaber“ der Kunst im idealistischen
Sinn. Seine Kaufentscheidung kann von den jeweiligen
Trends und Moden abhängen, die auch seinen
Geschmack beeinflussen. Daher ist es notwendig,
einen staatlich finanzierten Rahmen von Kunst- und
Kulturprogrammen zu finden, um innerhalb dieses
Rahmens eine bestimmte Pluralität künstlerischer
Arbeitsrichtungen zu garantieren. Ich bin für die
Künstler, die „gegen den Strom schwimmen“, die
der konventionellen Auffassung widersprechen, die
unbequem sind.
Gibt es einen Künstler, der in Ihren Augen gescheitert
ist?
Selbstverständlich gibt es viele Künstler, die man als
gescheitert – auch an sich selbst – betrachten kann.
Doch liegt es oftmals nicht an dem Künstler selbst,
sondern daran, dass zu dem Zeitpunkt, in dem er
etwas Wichtiges, etwas Innovatives macht, dieses von
den Zeitgenossen nicht wahrgenommen, erkannt und
entschlüsselt wird. Ein bekanntes Beispiel ist Van Gogh.
Die Förderung der ästhetischen Darstellungen, der
variierenden Wahrnehmungen und unterschiedlichen
Erfahrungen der menschlichen Existenz muss durch eine
demokratische Kultur in ihren Widersprüchlichkeiten
gewährleistet werden.
Prof. Dr. Wolfgang Ruppert lehrt seit 1988
Kulturgeschichte an der UdK Berlin. Das für den im
Enquete-Bericht verwendete Konzept des Künstlers
geht auf sein zentrales Werk Der moderne Künstler.
Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen
Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und
frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt 2000
9 | HAUPTSACHE

10 | HAUPTSACHE
Die Kultur- und Kreativwirtschaft erzielt in
Europa drei Mal soviel Umsatz als die Automobilindustrie.
Zwischen 1999 und 2003 wuchs
der Kultursektor um 8,1%. Er gilt mit 654 Mrd.
Euro Umsatz (2003) als neue Wachstumsbranche.
Deutschland liegt im Vergleich zu anderen
EU-Ländern im Negativbereich (Spanien: 10,5%
Wachstum zwischen 1999 und 2003, Schweden:
7,8%, Deutschland: 4,9%).
EU-weit leistet der Kulturbereich einen Beitrag
zum Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 2,6%. Im
Vergleich: Immobilienbranche: 2,1%, chemische
Industrie: 2,5%. Auch hier liegt Deutschland mit
2,5% unter dem europäischen Durchschnitt.
In der absoluten Größe der Beschäftigung und
des Umsatzes (126 Mrd. Euro) liegt Deutschland
allerdings hinter Großbritanien (132 Mrd. Euro)
an der Spitze. Dies erklärt sich durch die Größe
der Länder: In Deutschland gibt es beispielsweise
mehr Filmproduktionsfirmen und Galerien als in
Luxemburg.
(Quelle: Kunstforum Int., Bd. 186, Juni-Juli
2007, S. 13.)
Zahlen 2007:
Die Ausgaben für Kultur in Deutschland (Bund,
Länder und Gemeinden) belaufen sich auf etwa
8,3 Mrd Eur (bei 82 Mio EW).
Der Bund stellt 1,1 Mrd Eur für Kunst und Kultur
zur Verfügung (12% der öffentlichen Mittel).
Das Leuchtturmprogramm unterstützt der Bund
mit rund 33 Mio Eur.
Die Ausgaben für Kultur in Österreich belaufen
sich auf 1,9 Mrd Eur (bei 8,3 Mio EW).
Die Ausgaben für Kultur in der Schweiz belaufen
sich auf 2 Mrd Franken (1,27 Mrd Eur, bei 7,5
Mio EW).
In Frankreich darf der Kulturetat 1% des Staatshaushaltes
(956,2 Mrd Eur) nicht überschreiten.
Kunst in Zahlen (Quelle: Die Zeit, 3.4.2008, Nr.
15, S. 46)
Christie’s erzielte 2007 rund 6,3 Milliarden Dollar
(36 Prozent mehr als 2006).
Sotheby’ kam auf 6,2 Milliarden Dollar (51 Prozent
mehr als 2006).
Das teuerste Bild eines deutschen Gegenwartskünstlers
stammt von Gerhard Richter: Ende
Februar wurde seine Kerze für 14,66 Millionen
Dollar versteigert.
Laut Aussage der Axa Art Versicherung steigen
die Preise für Bilder und Skulpturen um 20 bis 25
Prozent im Jahr.
Das jährliche Durchschnittseinkommen eines
bildenden Künstlers in Deutschland betrug 2007
10.510 Euro. Insgesamt sind 55 489 Künstler bei
der Künstlersozialkasse versichert.
Rund 315 private und öffentliche Preise und
Stipendien gibt es für Künstler.
Deutschland hat 1114 Kunstmuseen und Ausstellungshallen
mit ingesamt 102 Millionen Besuchern
(Stand 2006).
Derzeit laufen 2636 Kunstausstellungen weltweit
(Stand April 2008), davon ist jede fünfte in
Deutschland zu sehen (Quelle: artfacts.net).
Weitere Zahlen: 2353 Galerien in Deutschland,
1012 Galerien in Frankreich, 1118 Galerien in
Großbritannien.

Geld und Kunst
Kurzes Telefonat
mit Christian Boros
// Interview: Anja Wenzel // Foto: Pressemappe
Guten Tag Herr Boros! In meinen Augen sind Sie einer
der reichsten Männer der Stadt. Sie besitzen viel:
Geld und Kunst.
Sie sind gerade in Wuppertal, als Chef ihrer dort
ansässigen Werbeagentur Boros. Grund des Telefonats
ist aber unser Interesse an Ihnen als privater
Kunstsammler. Das sieht nach einem Doppelleben aus.
Warum sammeln Sie Kunst?
Wir hier leben von kreativen Ideen, die wir
kommerziell verwerten. Als Sammler lerne
ich von kreativen Ideen. Grundsätzlich ist das
verschieden, aber es gibt Gemeinsamkeiten. Diese
Gemeinsamkeiten bereichern mich.
Sie und ihre Frau Karen Boros haben den Hochbunker
in der Rheinhardstraße erworben. Zuletzt wurden dort
in den 90iger Jahren wilde Techno- und Fetischpartys
gefeiert. Nach vier Jahren aufwendiger Bauarbeiten
haben Sie ihn zu einem privaten Kunstmuseum mit
3000m² Ausstellungsfläche, plus Penthousewohnung
gemacht. Ab Juni 2008 kann die Sammlung
besichtigt werden. Was hat Sie so sehr nach Berlin
gelockt?
Kunst will betrachtet sein. Berlin ist die Stadt, in
der es am meisten Menschen gibt, die neugierig
auf Neues sind. Berlin ist eine nationale und
internationale Plattform, das macht es so anziehend.
Alle Züge sind an Feiertagen ausgebucht, weil alle
nach Berlin wollen. Ich könnte auch im Schwarzwald
ausstellen, doch in Berlin gibt es die meisten
neugierigen Menschen.
Sammler sind undurchsichtig, vor allem bei
Kaufentscheidungen. Suchen Sie nach der Idee hinter
einem Werk?
Nach der Idee zuerst, nicht nach dem Aussehen.
Obwohl Kunst vorrangig ein visuelles Medium ist,
möchte ich zu allererst mehr verstehen.
Ihr Lieblingswerk an einem Mittwochmorgen wie
heute?
Die neue Lichtarbeit von Olafur Eliasson, die ich
letzte Woche gekauft habe.
Darf ich fragen, wieviel sie gekostet hat?
Nein, Kunst ist was Intimes. Überhaupt, eine
Privatsammlung zu öffnen, heißt, man will
extrovertiert nach draußen zeigen. Man zeigt sein
eigenes Wesen, legt seine Persönlichkeitsstruktur
offen; die sieht natürlich bei jedem Kunstsammler
anders aus. Das ist mir aber wichtig.
Wie orientieren Sie sich in der Berliner Kunstszene?
Lesen und Gucken. Ich bekomme alle internationalen
Kunstpublikationen, auch Frieze Magazin und Flash
Art. Schon über Jahre hinweg mache ich mit meiner
Frau Galerienbesuche, das ist ein visuelles Training.
Besuchen Sie auch die Kunsthochschulen?
Ja, die Rundgänge besuchen meine Frau und ich.
Wie schätzen Sie die Rolle des Sammlers in der
Kunstwelt ein, welchen Standpunkt haben Sie neben
kommerziellen Galerien und Museen?
Museen haben ja die Rolle einer öffentlichen
Institution inne, sie verfügen über einen begrenzten
Einkaufsetat. Ihre Aufgabe Neues zu sammeln,
können sie meist nicht erfüllen. Wir kaufen erst
etwas von einem Künstler, wenn wir ihn über eine
langfristige vertrauensvolle Beziehung kennen. Wir
begleiten den Künstler, machen Atelierbesuche und
sind eher an Werkzyklen interessiert. Wir kaufen
immer mehrere Arbeiten von einem Künstler.
Was fasziniert Sie also?
Künstler ist der einzige Beruf, wo ein Mensch
sich traut „Ich“ zu sagen. Mich interessiert das
wertschöpferische Subjektive. Es ist nur der Künstler,
der morgens aufsteht und sagt, was mache ich heute?
Er schaut nicht nach rechts oder nach links, nimmt
einfach seine Tube rot.
Wer, nach ihrer Meinung, beherrscht die Kunst des
Scheiterns?
Jeder gute Künstler, weil er nicht gewinnt, sondern
weil er das Scheitern thematisiert. In meiner
Sammlung ist Scheitern immer ein Thema. Brüche
sind das, was ich spannend finde.
Ihr Rat für junge Kunstschaffende?
Nicht modisch agieren. Neues schaffen.
Vielen Dank, Christian Boros.
11| HAUPTSACHE

Wie wird Kunst als Kunst
konstruiert?
// Foto: Lola Göller und Claudia Dorfmeister, Filmstill
( Gitta Connemann ) // Tim Noble, Sue Webster
// Text: Kunst.System.Kunst
Wie wird zu Kunst, was wir Kunst nennen? Wird Kunst
durch Kunst konstruiert? Welchen kontextuellen Druck
üben Politik, Wirtschaft, Medien und Recht aus? Und wie
verhält sich hierzu die Kultur?
So fragte das Seminar kunst.system.kunst am Institut
Kunstwissenschaft und Ästhetik der UdK im
Wintersemester 2007/2008 unter der Leitung von
Birte Kleine-Benne. Die Studierenden erarbeiteten in
einem Work-in-progress [http://www.bkb.eyes2k.net/
kunstsystemkunst.html] erste Annäherungen zu diesen
Fragen.
Zwei Fragen an 13 SeminarteilnehmerInnen
Wer besuchte: / Wer war informiert über:(im Jahr 2007)
Moritz van Dülmen, Geschäftsführer der Kulturprojekte
Berlin GmbH, im Gespräch mit dem Seminar
kunst.system.kunst am 31.1.2008 in den Berliner
Firmenräumen, Klosterstraße 68:
„Jeder Kulturschaffende hat die größten Chancen,
Förderer, Partner, Unterstützer zu gewinnen, wenn er den
Anschein erweckt, er würde das unter ökonomischen
Aspekten betrachten. Er wäre soweit, dass er sein künstlerisches
Schaffen als Produkt begreift.“
„Erfolg richtet sich immer daran, wieviel Menschen
erreiche ich, ansonsten werden Sie kaum eine Förderung
gewinnen.“
„Wenn die ökonomischen Rahmendaten nicht stimmen,
sprich: ich hab‘ keine Zuschauer, ich kann meine
Einnahmen nicht bringen, hab‘ ich ein Problem und das
überschattet ganz schnell auch die Diskussion über Kunst
und Kultur, also die eigentlichen Inhalte. Das sind negative
Auswirkungen dieses ökonomisierten Betrachtens des
Kunst- und Kulturablaufs.“
„Betrachtet man zum Beispiel die Antragskultur oder die
Die Kommission, ein Beratungsgremium des Deutschen
Bundestages, der 22 Personen aller Parteien, aber auch
überparteiliche externe Sachverständige angehörten, legte
am 11. Dezember 2007 nach 4-jähriger Arbeit (87 Plenumssitzungen,
22 Anhörungen, 21 Expertengespräche, 6
Delegationsreisen und 12 Gutachten) ihren Schlussbericht
vor. Die Bundestagsdebatte fand am 13.12.2007 zwischen
9 und 11 Uhr statt.
Der Bericht, der über 500 Seiten zu mehr als 50 zu
behandelnden Themen, wie die öffentliche und private
Förderung, die Finanzierung von Kunst und Kultur
oder die wirtschaftliche und soziale Lage von Künstlern,
umfasst, startet zunächst mit einer Bestandsaufnahme,
nimmt dann auf der Grundlage dieser Recherchen eine
Problembeschreibung vor und gibt abschließend 465
Handlungsempfehlungen an Bund, Länder, Kommunen
sowie an Träger öffentlicher Belange. Zum Beispiel, dass
außer im Freistaat Sachsen die Ausgaben für kommunale
Kultureinrichtungen freiwillig, das heißt keine Pflichtausgabe
sind und daher die Kultur als Staatziel in einem
Artikel 20b im Grundgesetz verankert werden sollte.
die transmediale, Festival für Kunst und digitale Kultur in Berlin, Thema „unfinished!“
>> 4 Besucher, 9 Informierte
den in Venedig und Berlin zunächst verbotenen, dann in Hamburg zwischen März und Juni 2007 installierten Kubus
von Gregor Schneider
>> 1 Besucher und 10 Informierte
die art basel, die als weltweit wichtigste Kunstmesse gilt >> 0 Besucher und 12 Informierte
Art goes Heiligendamm in Rostock parallel zum G8-Wochenende >> 3 Besucher und 7 Informierte
die documenta 12 in Kassel >> 6 Besucher und 13 Informierte
die Skulpturenschau in Münster >> 2 Besucher und 11 Informierte
„Eine solche Kultur-Klausel hätte den Wert, dass im kommunalpolitischen
Entscheidungsgang nicht von vorne
herein das Theater zugunsten von Kindergärten und
Schwimmbädern zurückgesetzt werden darf.“
(Wolfgang Thierse, dradio.de/dkultur]
made in germany in Hannover (Sprengel Museum, Kunstverein Hannover und Kestnergesellschaft), Juni bis August
>> 0 Besucher und 7 Informierte
My own private reality im Edith-Russ-Haus für Medienkunst in Oldenburg >> 0 Besucher und 0 Informierte
das Festivalcamp 9to5. Wir nennen es Arbeit, zur Arbeit der digitalen Bohème, im Berliner Radialsystem
>> 1 Besucher und 2 Informierte
die ars electronica in Linz zum Thema Goodbye Privacy >> 1 Besucher und 7 Informierte
Zusammensetzung der Juries, die über Anträge befinden:
Es nimmt immer mehr zu fragen, wen interessiert es, viel
weniger interessieren rein künstlerische Entscheidungen.“
„Wenn sich die Tendenz der letzten Jahre weiter so
entwickelt, führt es immer mehr zur reinen Kommerzbetrachtung.
Nur die Kunstprojekte, die vermeintlich den
Erfolg beim Publikum garantieren, kriegen entsprechende
Förderungen. Oder Projekte, die sich unter ein Sammelthema
bündeln ... und die in ein Thema reinpassen.“
„Das freie Geld für die freie Kunst wird immer knapper,
weil im Bereich der Kulturwirtschaft immer mehr Produkte
sind. Wenn du Kunst produzierst und keine Antworten
auf die Frage hast, wie du die Leute erreichen willst, wirst
du es immer schwerer haben, entsprechende Förderungen
zu bekommen.“
Frage von uns, ob es einen größeren Etat gibt, da ja
mehr Geld reinkommt. Moritz von Duelmen: „Die Etats
gehen eher zurück. ... Es fließt bei arbeitsbeschaffenden
Fördermaßnahmen mehr Geld. Aber in der Summe ist
es trotzdem nicht mehr, das der Kunstproduktion zur Verfügung
steht. ... Es steht viel weniger Geld zur Verfügung
als noch vor 10 Jahren.“
Kultur-Enquete-Kommission in Deutschland

Zeichnung: Dan Perjovschi , 2007 // Foto: bkb 2007
Kultur zeigt sich hier als ein Querschnittsthema, das
Bildungspolitik, Wirtschaftspolitik, Arbeits- und
Sozialpolitik umfasst.
=> Unsere Empfehlungen:
Absicherung von Freiberuflern
Freiberufler-Streamlining
analog dem Gender-Streamlining
Abbau bürokratischer
Einschränkungen
Offenes W-LAN
Gitta Connemann, Vorsitzende der Kultur-Enquete-
Kommission in Deutschland, im Gespräch mit dem
Seminar kunst.system.kunst am 15.2.2008 im Bundestag:
„Sie haben in mir eine Verbündete.“
„Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie formulieren, was
Sie wollen, und zwar so, dass ich es weiter transportieren
kann.“
„Wir haben ein deutliches Defizit im Bereich der Bildenden
Kunst im Gegensatz zum Film und zur Musik,
nämlich, dass Sie nicht da sind!“
„In diesem Land, in einer Demokratie funktioniert es nach
dem Prinzip, dass wenn jemand etwas will, muss er es
formulieren und muss mit Politikern Kontakt aufnehmen,
wenn das Geld verteilt wird.“
„Ich bin eine Lobbyistin für Kunst und Kultur. Ich habe
immer bedauert, dass die Bereiche Kunst und Kultur
von den Möglichkeiten, die sie haben, keinen Gebrauch
machen.“
„Da müssen Sie den Mund aufmachen und das einfordern!
Genau so funktioniert Politik, dass man sagt, was
man will. In der Regel nicht als Einzelperson, sondern als
Berufsverband. Und der Berufsverband bildender Künstler
sagt letztlich nichts.“
Do you want to be more creative, in art, in business, whatever.
Here are some tips that have worked for me over the years:
1. Ignore everybody.
2. The idea doesn‘t have to be big. It just has to be yours.
3. Put the hours in.
4. If your biz plan depends on you suddenly being „discovered“
by some big shot, your plan will probably fail.
5. You are responsible for your own experience.
6. Everyone is born creative; everyone is given a box of crayons
in kindergarten.
7. Keep your day job.
8. Companies that squelch creativity can no longer compete
with companies that champion creativity.
9. Everybody has their own private Mount Everest they were put
on this earth to climb.
10. The more talented somebody is, the less they need the
props.
11. Don‘t try to stand out from the crowd; avoid crowds altogether.
12. If you accept the pain, it cannot hurt you.
13. Never compare your inside with somebody else‘s outside.
14. Dying young is overrated.
15. The most important thing a creative person can learn
professionally is where to draw the red line that separates what
you are willing to do, and what you are not.
16. The world is changing.
17. Merit can be bought. Passion can‘t.
18. Avoid the Watercooler Gang.
19. Sing in your own voice.
20. The choice of media is irrelevant.
21. Selling out is harder than it looks.
22. Nobody cares. Do it for yourself.
23. Worrying about „Commercial vs. Artistic“ is a complete
waste of time.
24. Don‘t worry about finding inspiration. It comes eventually.
25. You have to find your own schtick.
26. Write from the heart.
27. The best way to get approval is not to need it.
28. Power is never given. Power is taken.
29. Whatever choice you make, The Devil gets his due eventually.
30. The hardest part of being creative is getting used to it.
31. Remain frugal.
32. Allow your work to age with you.
33. Being Poor Sucks.
34. Beware of turning hobbies into jobs.
35. Savor obscurity while it lasts.
36. Start blogging.
Quelle: Hugh MacLeod, http://www.gapingvoid.com/Moveable_
Type/archives/000932.html
13 | NETZWERKE

14 | NETZWERKE
Werbung stinkt!
// Text und Foto Eric Lindig// Bastelbogen Max Mondon
Kanal voll! – nicht nur Motto des diesjährigen Werbekongresses
Werbung polarisiert. Das ist per se kein Fehler, sondern
liegt in ihrer Natur begründet. Der Werbekongress und
sein Handlungsfeld haben leider bei der Studierendenschaft
der UdK ein schlechtes Standing. Im Werberjargon
spricht man von „street credibility“.
Das Bild
Der Blick Vieler auf die Werbebranche strotzt nur so
vor Klischees und negativ konnotierten Stereotypen.
Letztendlich ist Werbung in ihrer Grundausrichtung nicht
verwerflicher als der Großteil alltäglicher Kommunikation.
Der Versuch, einen mündigen und rational denkenden
Empfänger von der eigenen Position zu überzeugen,
beziehungsweise eigene Interessen durchzusetzen. Beim
Thema Werbung sehen viele UdK- Studierende schwarz.
Besonders kreative Studiengänge wie Visuelle Kommunikation
sind in den letzten Jahren recht selten unter den
Organisatoren des Werbekongresses vertreten gewesen.
Ich denke, dass man mit etwas mehr Unvoreingenommenheit
auch viele positive Aspekte an dem Projekt
finden kann.
Der Rahmen
Träger des Werbekongresses ist das Berliner KommunikationsFORUM
e. V. Ehemals als Alumniverein der UdK
gegründet, ist er heute Initiator von verschiedensten
Projekten: Werbekongress, SO KLINGT BERLIN, Bruttosozialpreis
oder Mitte der Woche. Viele Stoßrichtungen, aber
auch viele Gemeinsamkeiten. Das Forum stellt die Infrastruktur,
Studierende ihre Kreativität und ihr Engagement,
alles ehrenamtlich, aber mit viel Spaß verbunden.
Das Motiv
Idealismus und der Werbekongress schließen sich nicht
automatisch aus. Nicht umsonst ging es in diesem Jahr
unter dem Motto „Kanal voll“ auch um Themen wie
die Generation Praktikum, den Bologna-Prozess oder
Kreativität in der Werbung. Gerade für mich war die
thematische Ausrichtung ausschlaggebend, dem Organisationsteam
beizutreten. Dass dieses sich frei zusammengefunden
hat, führt automatisch auch zu einer starken
Heterogenität der Motive und Interessen innerhalb des
Teams. Somit hatten nicht alle im Team idealistische
Beweggründe. Aber neben mir fanden sich auch viele
andere, bei denen praktische Erfahrungen in Teamwork,
Auto-Organisation oder Zeitmanagement wichtige
Aspekte waren. Besonders die große Verantwortung, die
jeder Organisator in seinem Aufgabenbereich hat, ist eine
enorme Erfahrungsbereicherung.
Der Blickwinkel
Was bleibt? Neun Monate. Voll neuer Eindrücke. Kontakte,
die man nicht missen und Menschen, die man schnell
wieder vergessen möchte. Einige Menschen vernachlässigt,
anderen Kraft und Tipps gegeben. Ehrenamtliche
Projekte bergen eben immer eine Ambivalenz in sich, so
auch der Werbekongress. Ich denke, er hat mich charakterlich
gefestigt und ich konnte mich weiterentwickeln.
Ich würde es sicher noch einmal machen. Abhängig jedoch
von der thematischen Ausrichtung und dem Team.
Allerdings bietet das Kommunikationsforum ja eine breite
Palette an Projekten. Wer also partout nicht mit der Werbebranche
warm werden kann, findet dort möglicherweise
anderweitig Wege zur Selbstverwirklichung.

Fictive Dogstory One
Ein Sauflied in fünf Strophen
// Text: Boris Duhm // Illustration: Almudena Lobera und Boris Duhm
Ich bin ein Experte in Sachen Scheitern. Also möchte ich
Euch mitteilen von einer meiner zuträglichen Erfahrungen
in diesen Dingen. Sie haben mich durch Länder, Kulturen,
Städte, Meere und Wälder geführt, dass es nur so eine
wunderbare Lust gewesen ist. Neulich war ich in Polen.
Anna und ich machten einen Wochenendausflug an die
polnische Küste östlich von Swinoujscie. Wir kamen an
einen Sandstrand - weit, weißgelb und sonnig. Das Meer
rauschte sein gewöhnliches Salzwassergischtrauschen. Es
wurde Abend und wir lagen am Strand herum ohne einen
konkreten Plan für weiteres Tun. So tranken wir Bier.
Es kam ein Hund gelaufen. Ebenso wie der Sand war er
weißgelb, nur etwas dunkler im Teint. - Ach, wie schön
ist Panama? - Wir verliebten uns fast ungesehen und
auf den ersten Blick und tollten im Sand umher, Warka,
der nach dem klangvollen Biernamen benannte Hund,
Stöckchen apportierend, wir Stöckchen werfend.
Der Hund mit voller Ampulle,
dem Rauschen, dem Stock hinterher,
ins schaumige Meer
er sprang und sang.
Er sprang und sang. Lalalala – lalala...
Labradore lieben das Baden und weil sie eigentlich
Jagdhunde sind, lieben sie es, die von Jägern
abgeschossenen Wildenten im Dickicht aufzuspüren
und dem tapfren Jagersmann dann höflich auf
mittelalterliche, englische Art aus dem Maul zu
überreichen. Eigentlich sind sie nur dazu ausgenutzt
worden, diese Labradore.
Um es kurz zu machen: Warka folgte uns den Strand
entlang gen Westen, wir hielten ihn nicht ab. Er
hinterließ Marken. Er hatte kein Halsband, noch deutete
irgendetwas auf menschliche Besitzverhältnisse hin.
Wir wanderten mit Rucksäcken und Warka am Meer
entlang, kamen durch einen alten Fischereihafen, wo
die jugendlichen Fischer, ebenso wie wir Bier trinkend,
ihre Netze auftakelten, kamen über eine dieser neuen
Boddenbrücken und waren außer mit Warka beschäftigt,
auf der Suche nach einer Nachtherberge für uns. Das
Liebespaar mit dem neugeborenen Kind.
Wir fanden es an einer kleinen ruhigen Bucht mit
aufgeschüttetem Sand, Feuerstellen und viel Holz
im Dickicht. Es war wie im Ferienlager. Und wie im
Ferienlager fing es an zu regnen. Die halbgegrillten
Würste gingen den Hundemagenweg. Den Napf bastelte
Anna aus einem verdreckten Kuchenpappteller mit
drei Seitenkanten. So hat das Verhängnis seinen Lauf
genommen.
In unserem Lager am Meer schüttete es Bindfäden.
Anna wickelte den Hund in ein güldenes Tuch und er
verwandelte sich in ein Goldschaf. Um uns gestellt über
die Wiese bis zum Bodden war es dunkel.
Über die Grenze folgte Warka den Ahnungslosen,
zwischen den Lefzen ein rosa Tuch.
Ins andere Land
er sprang und sang.
Er sprang und sang. Lalalala – lalala...
Wir kennen die Grenzbestimmungen für
Tierüberführungen zwischen den Ländern im
Schengenabkommen bis heute nicht. Vom Zeltplatz
gingen wir am nächsten Tag weiter an der Steilküste
entlang, gelangten an eine Wegmündung am Strand und
folgten dem Waldweg hinauf bis ins Dorf. Dort gab es
einen Laden und einen defekten Bankomaten. Für das
letzte Geld kauften wir die einzige Dose Hundefutter,
die es dort gab. Der Grenzübertritt nach Deutschland
geschah zu fuß und problemlos. Drei Tage später und
wieder zu Hause in Berlin bekamen wir zahlreiche
Drohanrufe von einem entfernten Verwandten, der
uns wegen Entführung und illegalem Grenzübertritt in
Begleitung eines tollwütigen Hundes anzeigen wollte.
Aus der Anzeige wurde nichts.
Natürlich musste das passieren: Warka und ich waren
auf einem dieser Berliner Kunstevenemangs, bei denen
die Leute sich im Gedränge und Stimmengewirr pure
Nettigkeiten vor die Köpfe schlagen. Ich hatte einen

Moment nicht aufgepasst und bemerkte die Ekel
ausdrückenden Geste einer jungen Frau neben mir nicht,
als mein Hund ihr unter den Rock wollte. Von Hundehas
serinnenschimpftiraden verfolgt, floh ich von den eitlen
Kunstbewertern im Komödienstadl. Mein neuer Freund
hatte aber schon einen Moment vor mir die gleiche Idee
gehabt und war einfach weg. In keinem dieser elenden
Räume, nicht im Treppenhaus, noch im Hinterhof zu
finden. Mit der leeren Leine in der Hand lief ich in den
nächsten Park, die Straßen herunter, in jeden Hinterhof
hinein. Die zum Scheitern verurteilte Suche nach der
Nadel im Heuhaufen. Haben Sie hier einen Hund rein
laufen sehen, weiß, so einen (zeige es mit den Händen)
mittelgroß mit Schlappohren (fasse mir ans Ohr)? Hier
durch den Eingang. – Waaaas? – Ja, Hund. Hier rein
gelaufen. - Ja, Pizza dort drüben! – Waaaas? Nein, ein
Hund! – Ja, gerne, dort drüben. Frisch! – „?“ (verlasse den
Imbiss).
Was wir in diesem Moment noch nicht wissen
konnten, der Hund war in die nächste U-
Bahnstation hinuntergelaufen, hier citygewohnt
in den Zug eingestiegen und eine Station weiter
wieder ausgestiegen. Dann aber bei Ankunft vom
Bahnhofspersonal gewaltsam festgesetzt und der
Polizeistation Berlin–Mitte übergeben worden. Um drei
Uhr nachts hatten Anna und ich die Gegend mit dem
Konterfei unseres Hundes gepflastert und klingelten
schließlich an der Polizeipforte. Wir wurden vom
Wachhabenden in den Keller zu einer Zelle mit der
Aufschrift „Verlorene Hunde“ abgeführt.
Das Gespräch mit den so freundlichen Beamten
wurde zunehmend unangenehmer: wie denn die
Hundesteuernummer laute, das Finanzamt würde
gleich morgen informiert werden, der vorgelegte
Hundesteckbrief mit dem Foto eines hüpfenden Hundes
irgendwo an einem Sandstrand von bedeutungsvollen
Beamtenmienen einkassiert. Dass der Hund uns vor
einer Woche zugelaufen wäre, wollte man gar nicht
gerne hören. Dann käme noch eine Rechnung auf uns
zu, von der Dame, die den Hund überbracht hatte.
Diese wolle ihren Finderlohnanspruch, zwei Prozent des
Hundegesamtwertes, geltend machen und der Hund
müsse deswegen in seinem Geldwert geschätzt werden.
Dieser hinge ab vom - ebenfalls geschätzten - Alter des
Tieres. Das würde weitere Kosten verursachen. Mit Hund
an der Leine kamen wir nach Hause.
Im finstren Verließe, gekachelt an Wänden und Zarge,
gekettet von bösen Mächten, schmachtete Warka,
der Held dieser Sage.
Des Nachts befreit von den Ahnungslosen,
er wieder sang und sprang. Lalalala – lalala...
Chips werden bis heute Hunden und anderen Kleintieren
mittels einer Kanüle unter die Haut gespritzt. Menschen
sind davon nicht betroffen. Neben dem Chip, der
die persönliche Identifikationsnummer elektronisch
gespeichert enthält und so via Datensätze im Internet
den Heimatort des bechipten Tieres ausweist, befindet
sich in dem subkutan eingepflanzten, reiskorngroßen
Glashohlkörperimplantat ein Sender, der bei Heranführen
eines Empfangsgerätes die auf dem Chip gespeicherte
Informationen preisgibt.
Dies war also das Ergebnis unseres Besuches beim
Veterinär. Warka ist bechipt und wir schrieben folgenden
Brief an die polnische Hundeauffindzentrale in Warschau:
Dear Madame and Mister,
last month my husband and I spent
the weekend in Dziwnow. Saturday, the
17th of May a labradory ran after us
at the beach. It is a male, crème and
white coloured labradory, approximatly
three years old. We found him without
neckband and lost. We are a young
artist couple living in Berlin. The
dog is following very good and it
is always in good spirits. Now his
name is Warka. We gaved him home at
our place, take responsibility for
him and are spending a fabulous time
with him. Yesterday a veterinaire
found out that Warka has a subcutan
microship-implantation. We researched
for the organisation in which he is
registrated. The transponder number
is 877500003447369. In case any owner
makes claims on this labradory, we
are ready to hand him over. Please
phone us, we are German and English
speaking. (Telephone number and
email.)
With kind regards
Anna Michailovitch
Der Held, geschändet, durch ein elektronisches Band,
unter der Haut gezeichnet,
durch Menschenmaschinen gescannt und erkannt.
Warka, du springst und du singst.
Du springst und singst. Lalalala – lalala...
Ein Mann aus der Zentrale in Warschau rief an und sagte,
er wäre froh, dass es sich offenbar hier um einen „happy
dog” handele. Wir warten bis heute auf einen weiteren
Anruf aus Polen.
Warka lebt mit den Ahnungslosen,
die genauso wie er,
mit schmutzigen Füssen und Hosen,
springen und singen.
Sie springen und singen wie er. Lalalala – lalala...
Berlin, Mai 2008.
The Controll-Cross ( Poster in der Mitte)
Analoger C-print 120x160cm ohne digitale Bearbeitung.
Berlin Storkower Straße, 2008.
Surrealistische Fotoinszenierung aus der
Serie Garden Eden Performance (GEP).
17 | LA BAMBA
Garden Eden Performance bezieht sich auf das Surreale von Situationen aus dem Alltag, auf Situationen, denen alle Menschen auf eine
oder andere Weise ausgesetzt sind. Ich interessiere mich für zwischenmenschliche Beziehungen, besonders dann, wenn sie eine politische
Dimension bekommen. Indem eine Situation Gegenstand eines Bildes wird, kann sie symbolisch werden.
Juli 2008, Boris Duhm

20 | LA BAMBA
Die Bachelorette
// Text: Kathi Köth // Illustration: Nele Brönner
Es ist ein beliebiger Mittwochabend in der Prüfungszeit. Anstatt
zu lernen, liege ich in meinem Bett und starre meinen Hefter an.
Während ich mir einrede, dass sich
durch das Starren das Faktenwissen auf mich überträgt, schweifen
meine Gedanken ab. Ich frage mich, ob der Hefter zu meinem
Prinzen werden würde, wenn ich ihn küsste. Dann läge wenigstens
ein Mann statt der Lernmaterialie in meinem Bett. Eine
durchaus überlegenswerte Angelegenheit, wie ich finde. Denn das
Bachelorstudium
trägt seinen Namen nicht umsonst. Würde man Zeit für eine
Beziehung haben, müsste es ja „Hurra, hurra, ich bin kein Single“-
Studium heißen. Stattdessen bezieht man
sich aber auf den Junggesellen. Da Anglizismen aber „in“ sind, wie
das Wort „in“ bereits impliziert, heißt es nicht Junggeselle sondern
Bachelor. Und obwohl der
Gedanke, die Nacht nicht allein verbringen zu müssen noch so
reizvoll ist, entschließe ich mich dann doch, meinen Hefter nicht
zu küssen und ihn stattdessen
weiter anzustarren. Solange, bis ich vor lauter Starrsinn einschlafe.
Und ich einer anderen Welt wieder erwache.
Dort trage ich ein langes, schwarzes Kleid und stehe auf der
Treppe zu einem großen Schloss. Plötzlich wird es um mich herum
rosarot und weitaus bunter. Die Szenerie verschiebt sich, Herzen
fliegen wild durch die Gegend, ich werde von einem Bildrand
zum anderen geschubst, und zuletzt von einem großen, rosaroten
Schriftzug verdeckt.
easydate und RTL präsentieren:
Die Bachelorette – Eine Studentin zum Knutschen.
Kurzzeitig verschwinde ich hinter einem der akkurat geschnittenen
Buchsbäume in Schwanenoptik und übergebe mich.
Noch während ich meine Haare wieder richte und das Make-Up
korrigiere, höre ich eine Stimme aus dem Off. Sie kündigt den
Moderator dieser, meiner super-reality-Show an: Johnny Depp.
Mein Herz schmilzt dahin. Johnny sieht heute verdammt gut aus.
Mit antrainiertem nglischen Akzent verkündet er, einer der 25
Männer würde sein Diplom mit mir
teilen wollen. Dann, Schnitt, die Kamera schwenkt über die 25...
allesamt dunkelhaarig, groß, entweder gutaussehend, oder intelligent;
selten beides, vermute ich.
Ich erkenne lediglich Rio Reiser und Orlando Bloom – Sinnbilder
meiner Misere. Die anderen Männer sind mir unbekannt. Johnny
sagt, ich muss nach der Werbepause
entscheiden, welcher der mit dem Diplom ist. Aber wie soll ich
das machen? Vertrau deiner Intuition sagt Johnny. Ach, fuck
you, sage ich vor laufenden Kameras.
Werbepause.
Da dachte ich erst, RTL hätte weder Kosten noch Mühen gescheut,
um meine traurige Zukunft als verbitterte Bachelorette
zu verhindern und dann das. Zu allem Unheil
kommt der Produzent und drückt mir eine Rechung über
20.000?? in die Hand. Wofür das, frage ich? Und der Produzent,
der aussieht wie Danny de Vito, sagt mir, dass das für Rio Reiser
sei. WAS? Schreie ich. Der ist doch tot. Ja, und genau das, sagt
der Produzent, sei das Problem. Man hätte Hades ja irgendwie
überzeugen müssen, Rio freizugeben. Man hätte wohl erst vor
kurzem die Währung auf Euro umgestellt. Zuvor handelte man
mit den Seelen 14-jähriger Jungfrauen, aber seitdem es kaum
noch 14- jährige Jungfrauen gibt, liefen die Geschäfte schlecht
und man führte eine
allgemeinere Währung ein. Euro eben. Ich falle in Ohnmacht,
träume ich. Und endlich, da allzu ängstlich, wache ich auf.
Meine Nachttischlampe brennt noch immer, der Hefter liegt
ungeküsst neben mir im Bett. Das Radio ist angeschaltet. Es
läuft Pink Floyds „Another Brick in The Wall“.
Der Schweiß steht auf meiner Stirn. Und in diesem Augenblick
habe ich eine Eingebung. Ja, ich sehe es deutlicher und klarer
als nie zuvor. Diejenigen, die das
Bachelorstudium nach Deutschland holten – und darauf hätte
ich in diesem Augenblick meinen rechten Arm verwettet – diese
Frauen und Männer gehören mit Sicherheit zu den 90% der
Menschen, die sich zur Schulabschlussfeier „Another Brick in
The Wall“
wünschten, den Refrain laut mitsangen und sich die Demontage
des deutschen Bildungssystems zum Lebensziel setzten.
Ganz einfach, weil sie die doppelte
Verneinung in „We don’t need no education“ nicht verstanden
haben.

Atemlos,
der Ohnmacht nah
Strategien gegen
Prüfungsangst und
Lernkrisen
// Text: Anna Brinkmann // Illustration: Almudena Lobera
Ein bisschen Aufregung, hektische Flecken, rote Ohren und vor der
Prüfung der eine oder andere überflüssige Gang zur Toilette, das
gehört irgendwie dazu, wenn wichtige Testate anstehen.
Eigentlich kann Sandra G. gut mit solcher Aufregung umgehen,
doch im Grundstudium zeigten sich auf einmal beunruhigende
Symptome. Der Stress stieg gewaltig, sagt sie rückblickend. Eine
ihrer Vorprüfungsleistungen bestand darin, ein Referat vor 300
Studierenden zu halten. „Da hab ich erfahren, wie mir trotz guter
Vorbereitung und vorherigem Proben vor Anspannung die Luft
weg blieb. Die Stimme versagte und das mitten im Vortrag. Ich
hab mich dann über das Rednerpult gekrümmt, um mein Zwerchfell
zu entspannen.“ Leider wirkte sich ihre kurze Schwäche auch
auf die Note aus. „Mein Professor hat die Art gerügt, wie ich mich
aufs Pult lümmeln würde. Dass ich dem ‚Erstickungstod’ nah war,
hat er nicht bemerkt“, erinnert sie sich.
Solche Stress-Situationen sind im Studium nicht selten, sagt
Burghard Seegers, psychologischer Therapeut beim Studentenwerk
Berlin. Die einen nennen es Redehemmung oder Kommunikationsdefizit.
Andere empfinden es als lähmende Angst. „Wichtig
ist, sich dann Hilfe zu holen, wenn Prüfungsängste dazu führen,
dass der Studierende nicht mehr in der Lage ist, sein Wissen zu
artikulieren.“ Dafür bieten Seegers und seine Kolleginnen und
Kollegen fünf Tage die Woche kostenfreie Beratung in der psychologisch-psychotherapeutischen
Beratungsstelle des Studentenwerks.
„Am besten wird telefonisch ein Termin vereinbart. Und wir
unterliegen natürlich der Schweigepflicht“, betont er.
Etwa acht Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen wenden
sich mit Prüfungsängsten an die Psychologen. Der Rest gibt
andere Probleme an, wie zum Beispiel Schreib- und Redehemmungen,
Schwierigkeiten mit dem Zeitmanagement im Lernalltag,
Lernprobleme“, zählt Seegers auf. „Und natürlich helfen wir bei
privaten Krisen in Familie und Alltag.“
Die konkrete Beratung und Hilfe ist individuell und somit sehr
unterschiedlich. Zum Beispiel beruht die Angst vor Prüfungen
häufig auf vorherigen negativen Erfahrungen. Seegers versucht,
mit seinen Kolleginnen und Kollegen diese negativen Erfahrungen
zusammen mit dem Einzelnen zu analysieren. Was ist da passiert?
Wurde zu kurzfristig gelernt? Wie ist das Lernumfeld überhaupt?
Wieviel Stunden kann der Einzelne überhaupt effektiv lernen? Wie
viel Stoff muss verarbeitet werden? – All diese Fragen sollen im
ersten Gespräch geklärt werden.
„Eine gute Zeitplanung ist ein wichtiges Instrument im Studienalltag“,
betont Seegers. „Dazu bieten wir zum Beispiel Gruppenseminare
an. Denn es gilt, neben dem Lernpensum auch unerwartete
Dinge im Leben einzuplanen, wie gesundheitliche oder
anderweitige Krisen.“
Den Stresspegel vor der Prüfung senken
„Es hilft ungemein, sich vor der Prüfung die zu erwartende Situation
anzuschauen: Was sind denn das für Prüfer? Was gibt es für
Rituale? Oft besteht die Möglichkeit zu Vorgesprächen, die sollten
genutzt werden. Es geht in einer Prüfung vor allem immer auch
darum, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Deshalb sollten die
Prüflinge diese so gut wie möglich kennen“, empfiehlt Seegers.
„Wir versuchen gemeinsam, eine individuelle, korrigierende
Strategie auszuarbeiten. Diese wird dann erprobt. Da macht es
Sinn, bei Prüfungsangst in der Gruppe Prüfungs-Situationen zu
simulieren, Strategien für das Nachfragen zu entwickeln oder
Atemtechniken bei aufkommender Panik auszuprobieren. Das Ziel
bei all dem ist“, verdeutlicht Seegers, „den Stresspegel des Einzelnen
vor der Prüfung so zu senken, dass ein Blackout verhindert
wird. Denn ein wenig Aufregung ist ganz förderlich und macht
bekanntlich die Sinne weit.“
Die Kursangebote und Telefonnummern der psychologisch-psychotherapeutischen
Beratungsstelle finden sich unter www.studentenwerk-berlin.de in der
Rubrik Beratung und Betreuung.
21| NACHGEFRAGT & HERGEZEIGT

In meinem Heimatland Russland verläuft die
Familienplanung nach einem Muster, das auf kurzen
Studienzeiten aufbaut: Mit 17 macht man das Abitur
und bekommt den ersten Freund. Mit 22 erhält man
neben dem Diplom auch Ehemann samt einem oder zwei
Kindern. Mit 25 Jahren beginnt man zu arbeiten und in
die Rentenkasse einzuzahlen. Wenn Du eine Stufe des
Plans versemmelst, ist nichts mehr zu machen. Aber
das ist eine andere Geschichte.
In Deutschland ist die Durchschnittsstudentin 24
Jahre alt. Höchste Zeit, um Kinder zu kriegen.
Die Alarmglocken schlagen, wenn man die
Bundesdemographie doch noch retten möchte.
Solche Argumente werden jedoch gering geschätzt.
Die moderne Frau wird mit den drei übermächtigen
Faktoren Geld, Erfolg und Karriere konfrontiert, die
viel mehr Bodenständigkeit auf die Waage bringen, als
das zahnlose Babylächeln.
Kein Wunder, dass nur 7 Prozent der Studierenden
Kinder haben. Um herauszufinden, woran es liegt,
untersuchte das Deutsche Studentenwerk die
Situation studierender Eltern. Die Ergebnisse,
die als Sonderbericht der 18. Sozialerhebung im
März veröffentlicht wurden, strahlen nur mäßigen
Optimismus aus. Erstens halten 40 Prozent aller

Kind oder Studium oder Kind und Studium
Zahnloses Babylächeln macht Freunde – die UdK-Babysitterliste
// Text: Marina Jentsch // Illustration: Nele Brönner
Eltern Kind und Studium für unvereinbar. Zweitens
emfinden 56 Prozent ihre Studienfinanzierung als
unsicher (im Vergleich zu 49 Prozent der Kinderlosen).
Drittens unterbrechen sie viermal häufiger das
Studium und brauchen fünf Semester mehr bis
zum Abschluss. Als Problemlösung schlägt das
Studentenwerk familienfreundliche Rahmenbedingungen
des Studiums, eine flexiblere Studienorganisation und
die Möglichkeit eines Teilzeitstudiums vor.
Erfahrungen aus meiner Beratungstätigkeit im
Sozialreferat des AStA der UdK bestätigen diese
Studie: UdK-Mütter fragen sich oft verzweifelt, ob
sie es neben Kind und Arbeit jemals schaffen, das
Studium abzuschließen. Die Nichtmütter fragen sich,
ob sie nach dem erfolgreichen Abschluss und noch
erfolgreicheren ersten Arbeitsjahren jemals dazu
kommen, Mütter zu werden.
Für die Ersten gibt es seit September 2006 einen
Trost, denn die neu entstandene UdK-Kita bietet
Studierenden freundliche Öffnungszeiten bis 18 Uhr,
so dass man auch Nachmittagskurse an der Uni
besuchen kann. Den Zweiten reicht das Argument
nicht aus, denn Studieren mit Kind ist und bleibt eine
doppelte Belastung und ein Unsicherheitsfaktor. Ohne
sichere Zukunftsaussichten gibt es bekanntlich keine
Kinder.
P.S.: Im Sozialreferat des AStA steht für Euch eine Babysitterliste von
Studierenden bereit, die man auch jederzeit per E-Mail unter soziales@asta-
udk-berlin.de anfordern kann. Außerdem würde ich mich über Eure Vorschläge
und Anregungen freuen, wie man die Rahmenbedingungen an unserer Universität
verbessern könnte. Lasst uns zusammen versuchen, Kind und Studium besser zu
vereinen.
23 | UDK POLIS

24 | UDK POLIS
Wer macht, macht Macht?
Der Präsident, die UdK und wir –
oder: Vorsicht! Ein Trend geht um
// Text: Tobias Hömberg
Die Nachricht kam überraschend: Martin Rennert, der
Präsident der UdK, plant den großformatigen Umbau der
Hochschulleitung ab dem kommenden Jahr.
Zum einen soll die Amtszeit des Präsidenten von derzeit
vier Jahren mit der nächsten Amtsperiode auf fünf
Jahre verlängert werden. Zum anderen soll es in Zukunft
zwei Vizepräsidenten bzw. Vizepräsidentinnen geben,
die übergreifende Aufgaben wahrnehmen. Gleichzeitig
werden die Dekaninnen und Dekane der vier Fakultäten
ihrer bisher zusätzlichen Ämter als Vizepräsidentinnen
und Vizepräsidenten enthoben. Erster Vorbeschluss: im
Akademischen Senat vom 7. Mai.
Uni-Leitung als Spielwiese
Möglich werden derlei Experimente durch die sogenannte
„Erprobungsklausel“ des Berliner Hochschulgesetzes.
Seit 1997 schafft sie Raum zum Experimentieren mit
neuen Modellen für die Leitung von Universitäten und
Fachhochschulen. Das Ziel, so steht es in Paragraf 7a,
ist eine „Vereinfachung der Entscheidungsprozesse“ an
den Hochschulen. Auch der Finanzierung sollen neue
Wege geebnet werden, insbesondere der „Erzielung
eigener Einnahmen der Hochschule“. Für einen begrenzten
Zeitraum kann so individuell probiert werden, was später
vielleicht einmal Gesetz wird.
Die UdK hat von den neuen Möglichkeiten bereits
regen Gebrauch gemacht. Der Flirt mit der Wirtschaft
ist mit der „Volkswagen-Universitätsbibliothek“
längst zur Dauerbeziehung geworden, kostspielige
Bezahlstudiengänge wie „Leadership in digitaler
Kommunikation“ tragen sich dank studentischer wie
unternehmerischer Kapitalanlagen fast selbst, auch wenn
manch einer die Freiheit der Künste und des Wissens in
Gefahr wähnt.
Strukturell hat die UdK sich schon unter der Federführung
des langjährigen Präsidenten Lothar Romain
grunderneuert. 2004 wurde das aufgrund seiner Größe
und Besetzung kaum arbeitsfähige Kuratorium – vier
(!) Senatorinnen oder Senatoren des Landes Berlin, vier
Mitglieder des Abgeordnetenhauses, Vertreter von
Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie
der Professoren, des akademischen Mittelbaus, der
Studierenden und der Angestellten der UdK – durch den als
„modern“ gepriesenen Hochschulrat ersetzt. Ihm gehören
neben dem Präsidenten, der Berliner Bildungssenator
Jürgen Zöllner und, dies ist das große Novum, vier von
der UdK vorzuschlagende externe Mitglieder aus Kultur,
Wissenschaft und Wirtschaft an. Ein Stimmrecht der vier
Hochschulgruppen ist hier nicht mehr vorgesehen. Der
Hochschulrat beschließt den Haushaltsplan und verfügt,
wie zuvor das Kuratorium, über globale Angelegenheiten
wie die Einrichtung oder Aufhebung von Instituten und
Fakultäten, Gebührenordnungen etc.
Schleichende Verschiebung der Gewichte
Andere Aufgaben des Kuratoriums sind in die
Hochschulleitung gewandert. Sie gilt nun als „oberste
Dienstbehörde“ und Personalstelle und legt beispielsweise
die Zweckbestimmungen für Professuren selbständig
fest. Die Meinung der demokratischen Basis wird im
Akademischen Senat, dem größten beständig tagenden
Hochschulgremium, nur noch befragt, entschieden wird
letztlich vom Präsidenten.
Ebenfalls 2004 wurde aber auch der wichtige Versuch
unternommen, die Interessen der vier UdK-Fakultäten
Bildende Kunst, Gestaltung, Musik und Darstellende Kunst
auf höchster Ebene zu verankern, indem alle Dekaninnen
und Dekane automatisch zu Vizepräsidentinnen und
Vizepräsidenten ernannt wurden. Dieses Konzept soll nun
zurückgenommen werden.
Martin Rennert, der Präsident, setzt auf die Stärkung
des Präsidiums, neben seinem bisherigen direkten
Stellvertreter, dem Ersten Vizepräsidenten, soll ein
weiterer Vizepräsident von einer repräsentativen
Mehrheit im Erweiterten Akademischen Senat gewählt
werden. Auf diesem Wege seien die Mitglieder des
Präsidiums von der gesamten UdK legitimiert, im
Gegensatz zu einem Dekan, der nur von seiner Fakultät
gewählt wurde, so Rennert. Mit derart solidem Mandat
ausgestattet, sollen die zwei Vizepräsidenten zukünftig
Querschnittsaufgaben übernehmen, um die UdK auf
Aufgabenfeldern wie „Drittmittel, Internationalität,
Lehrerbildung, Kreativwirtschaft“ zu profilieren. In
Bereichen, die zunehmend wichtiger würden und in der
derzeitigen Struktur nur unzureichend abgedeckt wären,
dies die Argumentation des Präsidenten.
Kein Zweifel: Verlässliche Ansprechpartner in der
Hochschulleitung, die ihre Gebiete selbständig
betreuen und nach innen wie außen vertreten, können
der UdK nur nützlich sein. Alleinstellungsmerkmale
wie die Ausbildung von Kunst- und Musiklehrern in
Berlin oder die Verklammerung der Künste mit den
anverwandten Wissenschaften sollten hier selbstbewusst
in alle Richtungen behauptet werden, Kooperationen mit
Forschungs- und Kultureinrichtungen befördert, Modelle
wie die „Graduiertenschule“ vorangetrieben.
Die Dekane der Fakultäten äußern mehrheitlich, sie hätten
nie das Gefühl gehabt, in diesem Sinne für die ganze UdK
sprechen zu können. Die Aufgaben in ihren Fachbereichen
füllten sie zumal voll und ganz aus. Insofern empfänden
sie die vorgesehene Reduzierung auf die Funktion von
Beraterinnen und Beratern des Präsidiums als Entlastung.
Einzig Kirsten Langkilde, Dekanin der Fakultät Gestaltung,
äußert Bedenken: Sie habe den Mitgliedern ihrer Fakultät
nicht ohne weiteres plausibel machen können, welche
positiven Auswirkungen auf deren jeweilige Arbeit die
avisierte Strukturmaßnahme mit sich brächte.

Anmerkung:
Studierende bezeichnet man
als Gruppe 3
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Unten rufen, oben nicht gehört werden?
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Und genau hier liegen die möglichen Schattenseiten
des Entwurfs, den Martin Rennert selbst als
vermeintlich unbedeutend abtut. Der Plan gibt sich
bei zusammenhängender Betrachtung als Teil einer
kontinuierlichen Entwicklung zu erkennen. Waren
die Kompetenzen der verschiedenen Ebenen früher
weitreichend miteinander verzahnt, setzt sich sukzessive
ein System durch, das bewusst die Distanzen vergrößert
zwischen Ideen, Konzepten und Einflüssen der Basis.
Beispielsweise bei den einzelnen Studiengängen und
den Dekanaten der Fakultäten bis hoch zum Präsidium,
dessen Eigenständigkeit zusehends schärfere Konturen
annimmt. Das kann Misstrauen schüren, nicht nur in
der Bildenden Kunst, wo Vorbehalte gegenüber dem
Präsidenten bedauerliche Tradition haben. Das Gefühl,
in entscheidenden Momenten „oben“ nicht gehört zu
werden auch wenn „unten“ noch so laut gerufen wird,
befällt nicht nur Studierende, die vor den intransparent
wirkenden Strukturen häufig kapitulieren. Der Gedanke
der allgemeinen akademischen Mitbestimmung ist in
Gefahr – nicht von heute auf morgen, und im Übrigen
nicht nur in der UdK, wo es immer noch vergleichsweise
beschaulich zugeht. Der Trend jedoch ist kaum zu
übersehen, und der neueste Entschluss nur ein weiteres,
bezeichnendes Detail.
Die Frage lautet schließlich, in welcher Art von Uni wir
zukünftig studieren und arbeiten wollen. Und welches
Demokratieverständnis diese Arbeit bestimmt. Ist nicht die
Uni immer auch ein Modell für gesellschaftliche Muster,
das in breiter Teilhabe gestaltet werden sollte?
Gleichzeitig muss erkannt werden, dass die universitäre
Demokratie ihre Grenzen hat, wenn Entwicklungen
dauerhaft blockiert werden und Selbstzerfleischung
droht, auch dies ein an der UdK bekanntes Szenario.
Rennert bewegt sich mit seiner Vorlage zweifelsfrei
zwischen Pragmatismus und dem Willen zur Macht,
der einem Präsidenten jedoch schwerlich vorzuwerfen
ist. Fünfjährige Amtszeit, ohne abwählbar zu sein?
Stabilisierung und Autonomie eines dreiköpfigen
Präsidiums?
Diese Entscheidung mag fallen. Die Diskussion geht
weiter.
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25 | UDK POLIS

Es ist wieder passiert
- keine fachgerechten
Prüfungen
an der Fakultät 1!
// Text: redaktioneller Beitrag // Illustration: Almudena Lobera
Bei der diesjährigen Absolventenprüfung haben acht
von 25 Absolventen der freien Kunst die Zulassung
zum Meisterschüler NICHT erhalten! Wen überrascht
es, dass die Professorinnen und Professoren dieser acht
Studierenden, nicht Teil der Prüfungskommission waren.
Vor allem Studierende, deren Klassen von Gastprofessuren
betreut werden, fielen bei der Wertung der Kommission
durch. Gastprofessorinnen und –professoren dürfen bei
der Prüfungsbewertung nicht mitwirken. Obwohl ihre
Stellung als Stütze der unterbesetzten Fakultät 1 doch
ausdrücklich gestärkt werden sollte.
Die Absolventen dieses Semesters bemängelten
„mangelndes Interesse“ der Kommissionsmitglieder
an den studentischen Arbeiten und „fehlende
Prüfungskriterien“.
Videopräsentationen wurden von der Kommission einfach
abgebrochen, einzelne Professoren redeten dazwischen
oder verließen sogar den Raum. Ist das das Resultat
der Evaluation der studentischen „Struktur-AG“ und
der von externen Gutachtern geforderten Verbesserung
der Prüfungssituation? Ein herber Rückschlag und die
bittere Erkenntnis: An der Fakultät 1 lassen fachgerechte
Prüfungen weiterhin auf sich warten!
siehe auch: eigenart No 69, Seite 22 „Starke Stimmen – Ergebnisse der
studentischen Evaluation 2007“

Aus für die Kunst in
Brandenburg
Lehramtsstudium Kunst
künftig in Potsdam und an
der UdK Berlin?
// Text: Sven Cishmack
Was Immatrikulationsstopp bedeutet, ist klar: Ohne
Studienbewerber läuft ein Studiengang aus. An der
Universität Potsdam werden ab dem Wintersemester
2008 keine neuen Studierenden für das Fach Lehramt
Kunst zugelassen, so der Beschluss des Fakultätsrats an
der Philosophischen Fakultät im Frühjahr 2008. Innerhalb
weniger Semester wird also die KunstlehrerInnen-
Ausbildung in Potsdam enden. Katastrophal daran
ist, dass Brandenburg schon jetzt lediglich in der
Landeshauptstadt KunstlehrerInnen ausbildet. Ein
Auslaufen-Lassen des Studiengangs kann generell auch
als Angriff auf das Schulfach Kunst gesehen werden.
250 Kunstlehramts-Studierende werden in Potsdam
von einer Professur und mehreren Gastdozenturen
betreut. „Wie ein ExpertInnengutachten über die
LehrerInnenbildung der Agentur AQAS nun feststellt,
sei ein Erhalt des Fachbereichs Kunst an der
Universität Potsdam nur sinnvoll, wenn dieser zu einer
‚forschungsfähigen Einheit’ ausgebaut werden würde.
Dies könne durch einen Ausbau bzw. die personelle
Aufstockung, durch einen zu prüfenden Fakultätswechsel
zur Philosophischen Fakultät oder alternativ durch eine
Verlagerung der KunstlehrerInnenausbildung an die
UdK erfolgen“, trägt Tamás Blénessy vom AStA der Uni
Potsdam während einer am 14. Mai 2008 veranstalteten
Podiumsdiskussion vor.
Der Potsdamer Vizepräsident Thomas Grünewald äußert
auf der Veranstaltung seine Zweifel daran, dass ein
Studiengang mit nur einer Professur akkreditiert werden
könne. Martin Rennert, Präsident der UdK, bezog beim P-
AStA-Treffen (Präsident trifft AStA) am 23. April 2008 in
der Sache Stellung: Die UdK werde, sollte das Präsidium
der Uni Potsdam in einem anstehenden Gespräch nach
Möglichkeiten der Zusammenlegung fragen, ablehnend
reagieren.
Fraglich ist auch, ob die Potsdamer Gutachter die
inhaltlichen Strukturen beider Studiengänge verglichen
haben. Im Gegensatz zum didaktischen Schwerpunkt
in Potsdam liegt die Gewichtung an der UdK beim
praktischen Studium der Kunst.
Eine zukünftige Zusammenarbeit der
Lehramtsstudiengänge der Potsdamer Universität
und der Berliner Universität der Künste wird nun aber
offenbar doch in Erwägung gezogen. Die am 21. Mai
2008 veröffentlichte Pressemitteilung der Universität
Potsdam berichtet von einer Vereinbarung beider
Hochschulleitungen, rechtliche und organisatorische
Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu klären.
Die ins Auge gefasste Alternative, Kunst in Berlin und
Grundschulpädagogik in Potdsam zu studieren, ist ein
Angriff auf das Fach Bildende Kunst in den Schulen
Brandenburgs. Vielmehr sollte eine interne Lösung in
Potsdam gefunden werden. Die dortige Hochschulleitung
muss sich beim Ministerium dafür einsetzen, dass die
fi nanziellen Möglichkeiten für eine zweite Professur
geschaffen werden.
Unterstützt mit namentlicher Unterzeichnung die Kommilitoninnen
und Kommilitonen der Uni Potsdam! Online-Petition zum Erhalt des
Studiengangs: www.rettet-die-kunst.de.
27 | UDK POLIS

In der Auslage fischen
Prekäre Arbeitsverhältnisse
vor den Türen
der Künstlersozialkasse
// Text: Francisca Gómez // Illustration: Nele Brönner
In Zeiten fortschreitender Aufweichung sozialer Sicherungssysteme
wundert es nicht, dass die Diskussion um
den Zugang zum und die Breite von Versicherungsschutz
nun auch die Künstlersozialversicherung (KSV) trifft.
Betrachtet man ihre historischen Entstehungszusammenhänge,
wird klar, wie unabdingbar diese Art der Absicherung
für die Gruppe der freischaffenden, selbstständigen
Künstler ist.
Die Idee einer in ihrer Art einmaligen KSV ergab sich
direkt aus den Ergebnissen der 1974 durchgeführten
Untersuchung zur finanziellen Situation der in Deutschland
lebenden Künstlerinnen und Künstler – dem
Künstlerbericht (später folgte der Autorenreport). Kaum
eine andere Berufsgruppe litt an einer derart gravierenden
Einkommensschwäche, in der Krankenversicherung
und Altersvorsorge in viel zu geringem Umfang vorhanden
waren. Diese soziale Unterversicherung sollte mit
der 1983 in Kraft getretenen gesetzlichen Renten- und
Krankenversicherung (seit 1995 auch Pflegeversicherung)
aufgefangen werden.
Die besondere Zusammensetzung der Beiträge zur
Künstlersozialkasse (KSK) trug der Notwendigkeit, den
unteren Einkommensschichten mit der spezifischen Art
ihrer beruflichen Ausübung ein attraktives und bezahl-
bares Modell anzubieten, Rechnung. Die KSV, die wie alle
anderen eine gesetzliche Pflichtversicherung ist, steht
aber innerhalb selbstständiger Berufe singulär.
Künstlersozialabgaben für kreative Leistungen? Kontra
von Unternehmern
Genau gegen diese Besonderheiten richtet sich der
Großteil der Kritik. Vertreter aus der Wirtschaft, deren
Sprachrohr die Deutsche Industrie- und Handelskammer
ist, wehren sich gegen das vermeintliche „Zweiklassen-
System“ innerhalb der Selbstständigkeit, in dem das Verhältnis
zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer eher
einem Angestelltenverhältnis gleichkommt. Aber auch
andere kreative Selbstständige sehen einen Wettbewerbsnachteil,
da sie sich ihre Versicherung nicht aussuchen
können. Die Frage reibt sich vor allem an der Künstlersozialabgabe
(KSA), die die Unternehmen auf die Honorare
leisten müssen – 4,9 Prozent für 2008 –, auch wenn die
Auftragsnehmer selbst nicht in der KSV versichert sind. Es
hat sich mittlerweile herausgestellt, dass ein Großteil der
Unternehmer all die Jahre diese Abgabe versäumt hat.
Durch die Eingliederung der KSK in die Rentenversicherung
hat sie nun die personellen Kapazitäten, Unternehmen
flächendeckend fünf Jahre rückwirkend zu prüfen
– und ggf. Bußgelder zu erheben.
Zugegeben, die Diskussion ist komplex und die Kritik
einzelner nicht immer zurückzuweisen. Auch wenn sich
die soziale Situation der Künstlerinnen und Künstler bis
heute nicht grundlegend geändert hat, ist die Masse der
Betroffenen immens gestiegen. Die Mitgliederzahl wächst
kontinuierlich und die Schlange der um Einlass Begehrenden
reißt nicht ab. Die KSK ist mittlerweile zu einem
riesigen bürokratischem System geworden, deren Arbeitsweise
nicht selten untransparent und widersprüchlich
bleibt. So ist der Vorwurf, sie mobilisiere vor allem
ihre Kräfte, um immer mehr Anträge abzuweisen oder
zumindest so lange hinauszuschieben bis die Personen,
die nun mal auf einen Versicherungsschutz angewiesen
sind, endgültig aufgeben, nicht von der Hand zu weisen.
Kulturarbeiter – ein leichter Fang
Das Modell der KSK entstand zu einer Zeit, in der noch
nicht abzusehen war, dass die klassischen Arbeitsverhältnisse
in diesem Maße aufbrechen werden und
immer mehr Menschen potentielle Bezieher der KSK,
deren Konzept ursprünglich für eine überschaubare
Gruppe konzipiert worden war, darstellen würden. Heute
leistet das offensive Outsourcing von Personal in eine
aufgezwungene Selbstständigkeit dem Ausbreiten von
prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen immensen
Vorschub. Die Wirtschaft als Urheber und Antreiber
generiert damit eigene Vorteile: schlecht gemeinschaftlich
organisierte, flexible Arbeitnehmer, die im freien Fluss
der Kräfte teilweise auf jeden Euro angewiesen sind und
aus dem die Unternehmen nach Belieben fischen können
– als Inbegriff von der Freiheit des Einzelnen.
Anstatt von einem Zweiklassen-System der Selbstständigkeit
zu sprechen, sollte vielmehr die Frage gestellt
werden, wieso überhaupt eine Zweigliedrigkeit im

Versicherungsschutz existiert. Angesichts dessen, dass
sich der Staat immer mehr aus seiner sozialen (und
kulturellen) Verantwortung zu winden versucht, ist nicht
nur grundsätzlich die Idee der KSK zu verteidigen –
immerhin geht es dort um existentielle Fragen. Vielmehr
noch, nämlich mit der Ausweitung der ursprünglich
dem Künstler anhaftenden marginalisierten Stellung
in der Gesellschaft auf sehr viele Arbeitsbereiche, ist
eine ausreichend staatliche Absicherung für alle zu
fordern. Denn nicht zuletzt lässt sich die Bedeutung,
die eine Gesellschaft einer bestimmten sozialen Gruppe
beimisst, an ihrer Einbettung in ihr sozialstaatliches
System, an ihrer staatlichen Förderung und den daraus
folgenden gewährten und als adäquat bemessenen
Lebensverhältnissen, ablesen.
Allgemeine Infos über die KSK:
Künstler ist, wer in den Fachkreisen der Bildenden Kunst anerkannt ist,
d.h. Ausstellungen hat.
Ein Anspruch auf diese Versicherung haben Künstler (Personen, die Musik,
Darstellende oder Bildende Kunst schaffen, ausüben oder lehren), die
„erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend“ (das heißt, muss geeignet
und subjektiv darauf ausgerichtet sein) aus ihrer künstlerischen Tätigkeit
ein Mindesteinkommen erzielen und nicht mehr als einen Arbeitnehmer
beschäftigen.
Die Geringfügigkeitsgrenze für einen Anspruch beträgt 3.900 Euro.
Es gibt aber Ausnahmen, z.B. bei zeitweiligem Einkommenseinbruch,
und zwar zweimal innerhalb von sechs Jahren, außerdem den
sogenannten Berufsanfängerschutz, bei dem in den ersten drei
Jahren die Einkommensgrenze unterschritten werden kann. Dazu
gibt es eine kostenlose Familienmitversicherung. Eine Unfall- oder
Arbeitslosenversicherung ist nicht inbegriffen.
Die Finanzierung leisten zu einer Hälfte die Nehmer, die andere Hälfte
trägt die KSK, deren Anteil sich aus 20 Prozent vom Bund, 30 Prozent aus
der Künstlersozialabgabe zusammensetzt.
Anträge und weitere Informationen:
www.kuenstlersozialkasse.de.
„Einzige Farbtupfer sind Möhren, Äpfel, Gurken, Zwiebeln und der
Rotkohl, den ein Interflugs-Flieger über dem Häusermeer abwirft“
(Quelle: www.svz.de vom 16.02.2005).
Interflug: eine ehemalige ostdeutsche Fluggesellschaft, heute eine
autonome studentische Organisation. Nächstes Jahr werden wir
20. Mit „s“. Do-It-Yourself-Education also. Wir suchen noch
Steward(Essen) und Pi(Lotinnen): Wir nehmen (fast) jeden!
...für „ein selbstbestimmtes, unabhängiges Studium als Alternative
zur klassenorientierten Lehre und Kunst-/ Kulturproduktion an der
UdK.“
B-t-w (neben dem Weg):
Die Freie Klasse plant die Räumung des Einsteinufers.
Herzlichst,
Dein Interflugs
www.interflugs.de
Eure Fachschaftsräte
— Kunst im Kontext
Einsteinufer 43–53
Anfragen für Container:
kikbox@udk-berlin.de
— Bildende Kunst
fsrbk@udk-berlin.de
Treffen freitags 14.30 Uhr
Hardenbergstr. 33, Raum 34
030.31?85-21?09
— Architektur
fachschaftsrat@alink.
udk-berlin.de
Treffen mittwochs 12 Uhr
Hardenbergstr. 33, Raum 335
31?85-29?42
— Industrial Design
fsr-id@udk-berlin.de
Straße des 17. Juni, Raum 107
030.31?85-23?30
— Visuelle Kommunikation/
Experim. Mediengestaltung
fsr-emvk@udk-berlin.de
Treffen montags 14 Uhr
Grunewaldstr. 2–5, Raum 301
030.31?85-12?55
— GWK
fachschaftsratgwk@gmx.de
Mierendorffstr 28–30, 103
030.31?85-25?86
— Musik (Lehramt)
musik-fs@udk-berlin.de
Treffen dienstags 17 Uhr
Lietzenburgerstr. 45, Raum 004
030.31?85-26?38
— Darstellende Kunst
fachschaft_fak4@
yahoogroups.de
Lietzenburger Str. 45
29 | UDK POLIS

Leben in der großen weiten Stadt
Urban pleasure,
urban pressure
// Text: Anna Grieben // Fotos: Anja Wenzel und Benny Karg
Ein Gedankenspiel. Stellen wir uns einen Fußballplatz vor.
Wie sieht er aus?
Ob Straßenstück, Parkplatz, Wohnzimmer oder Hinterhof,
jeder dieser Orte trägt die Möglichkeit in sich, ein Fußballplatz
zu sein, durch die Person, die den Ball mit dem Fuß
anspielt. Er wird dadurch zu dem, was er ist, durch das,
was ihn definiert, indem der vorhandene Frei-Raum dazu
genutzt wird.
Urbane Lebensräume sind gezeichnet von komplexen
Strukturen und einer speziellen städtischen Dynamik. Sie
bieten daher ein breites Möglichkeitsspektrum, sich in
ihnen zu verwirklichen. Sie können privat, öffentlich oder
halb- öffentlich sein.
Ein Wegbrechen (halb-)öffentlicher Räume bedeutet
auch gleichzeitig ein Verdrängen von Räumen, in denen
eine ortspezifische Dynamik besteht oder sich entwickeln
kann. Eine Freifläche, umfunktioniert als Park, trägt
gewiss mehr zum interkulturellen Miteinander bei, als
der Neubau von Büro- und Dienstleistungskomplexen.
Angeblich wird hierdurch ein ökonomischer „Aufwertungsprozess“
der Umgebung durchgeführt. Anstatt eine
Verbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen
herzustellen, resultiert aus einer solchen Umstruktu-
rierung eine Verdrängung vorwiegend sozial schwacher
Bevölkerungsschichten einer Stadt. Der Prozess der „Aufwertung“
von Stadtteilen und die damit einhergehende
Verdrängung von sozial schwachen Bewohnern wird als
Gentrifizierung bezeichnet.
Gentrifizierung existiert in globalen Metropolen, als Teil
von Marktprozessen normaler Kapitalakkumulation.
Deutlich erkennbar ist dieses Phänomen in den Megacitys
wie Bombay, London oder Mexiko Stadt, in denen die Bevölkerung
eher in sozial ghettoisierten Bezirken getrennt
lebt, die nicht nur kultureller Art, sondern vielmehr durch
harte finanzielle Unterschiede geprägt sind.
Verschiedene Anpassungserscheinungen wurden zum
Beispiel im Centre de Cultura Contemporánia de Barcelona
(CCCB) in der Ausstellung POST-IT CITY. Ciudades
Ocasionales dargestellt. Das Leben in ghettoisierten
verdrängten Lebenswelten und Konzepte alternativer
Nutzung noch vorhandener Frei-Räume, beziehungsweise
die Neu-Erschaffung derselben werden thematisiert.
Begriffe wie Obdach, Markt und Platz verwandeln sich
von bekannten Alternativen hin ins Skurrile bis Makabre,
was anhand von vor allem fotografischen und filmischen
Arbeiten visualisiert wird. Die Grenzen des eigenen Kulturverständnisses
werden durchbrochen und Eindrücke
radikal unterschiedlicher Lebenswelten widergespiegelt.
Zum Beispiel wird dargestellt, wie in Mailand eine Transformation
des eigentlichen Begriffs „Auto“ stattfindet.
Gestohlene Wagen werden zu einem Spottpreis als
„Zimmer“ vermietet, in denen man schlafen kann, wenn
man gerade kein Obdach besitzt. Am Beispiel Kairo wird
das Phänomen der Umfunktionierung von Plätzen – wie
Friedhöfen – in Räume dialektischer Natur aufgezeigt.
Diese werden aufgrund von Überbevölkerung und Armut
// Wandbild Blu

„Freiheit statt Angst 2008“
Europaweiter dezentraler Aktionstag am 20. September
Nach dem erfolgreichen dezentralen Demonstrationstag unter dem Motto „Freiheit
statt Angst“ des Aktionskreises Vorratsdatenspeicherung am 31.05.2008, an dem sich
Aktivisten mit Aktionen in 36 Städten beteiligten, wird es eine Fortführung der dezentralen
Demos am 11. Oktober 2008 geben. Ziel ist, auf europaweiter Ebene mit Demos,
Kunstaktionen, Kundgebungen, Parties und anderen Aktionen gegen die zunehmende
Überwachung und Protokollierung personenbezogener Daten durch Wirtschaft
und Staat, sowie für den Erhalt der Freiheits- und Menschenrechte zu protestieren.
Mehr Infos findet ihr unter www.freiheitstattangst.de.
als neue Schlafstätten genutzt. Im Kontrast dazu stehen die schon fast normal
gewordenen Formen des Verkaufens durch fliegende Händler auf öffentlichen
Plätzen. Transformationen von grünen Parks in holzkohlegetunkte Grillovationen
(wie im Görlitzer Park) und gemütliche Außerwohnungswohnzimmer auf der
Straße werden zu Untersuchungsgegenständen. Die Ausstellung beschreibt nicht
nur die sich im Zuge der Globalisierung verschärfende Trennung unterschiedlicher
Bevölkerungsschichten, sondern vielmehr ein gesamtglobales Bild dessen, was
das Leben in urbanen und suburbanen Räumen kennzeichnet, gemessen an der
bestehenden gesellschaftlichen Situation und den kulturellen Besonderheiten des
jeweiligen Landes.
Die Faszination der Städte wird vor allem durch die Dynamik der Nutzung und den
Umgang mit vorhandenem Raum erzeugt, wobei der vorhandene Frei-Raum eine
große Rolle spielt.
Wenn Berlins Bürgermeister Wowereit schon richtig bemerkt, dass Berlin arm
ist, sollte ihm ebenso bewusst sein, dass die Berliner Bevölkerung nicht am
einkommensstärksten ist. Hier bedeutet die Umstrukturierung von Bezirken wie
Friedrichshain-Kreuzberg nicht nur eine Ansiedlung von gewinnbringenden Unternehmen
und die darauffolgende Anhebung von Grundstücks- und Mietpreisen,
sondern auch das Verdrängen von sozial schwachen Bevölkerungsschichten. Angaben
zum Haushaltsnettoeinkommen des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg
zufolge ist es der einkommensschwächste Stadtteil. Im Vergleich zu den anderen
Bezirken Berlins ist das Haushaltsnettoeinkommen (2006: 1175 Euro monatlich;
Durchschnitt der Berliner Bezirke: 1475 Euro monatlich) in Friedrichshain- Kreuzberg
am geringsten. Das Stadtteilmanagement und die Baupläne rund um das
Projekt „Mediaspree“ bedeuten dort nicht eine allgemeine Aufwertung des Bezirks,
sondern nur eine Aufwertung des Bildes eines transformierten Bezirks und das
Wegdrängen sozial Schwacher aus der „repräsentativen“ Stadtmitte Berlins.
Die Dynamik in Berlin ist Bestandteil verschiedener Projekte geworden. Einerseits
durch Initiativen wie „Mediaspree Versenken“, die eine Umsetzung der Baupläne
des Stadtumbauprogramms „Mediaspree“ verhindern wollen und sich somit gegen
die Verdrängung der sozialen Netzwerke in Friedrichshain-Kreuzberg einsetzen.
Andererseits durch Vereine wie „Urban Dialogues“, die sich auf künstlerische Art
und Weise mit der Erforschung urbaner Subsysteme und urbaner Kommunikation
beschäftigen und integrative Kunstprojekte mit Schülern durchführen.
Die Stadt ist ein riesiges Experimentierfeld kollektiven Zusammenlebens, sowie
eine Fusion von Übereinstimmung und Unterschieden, von Zustimmung und
Widerstand, von Döner und Champagner. Sie ist geprägt von komplexen dynamischen
Prozessen und dabei immer ein Schauplatz und Spiegel globaler Prozesse
im Miniaturformat. Der Diskurs um städtische Prozesse trägt zur Analyse von
Tendenzen und zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit bei. Auf lokaler Ebene
geschieht dies nicht nur auf Seiten der finanzstärkeren Entscheidungsträger,
sondern vor allem aus alternativer Perspektive, durch Initiativen und Bewegungen,
durch künstlerische Projekte. Dieses Gegengewicht ist wichtig, um doch eigentlich
geliebte Städte wie Berlin nicht „Räume ohne Orte“ werden zu lassen, wie es
der spanische Soziologe Castells beschreibt und um auf Entscheidungen Einfluss
nehmen zu können. Think global, act local.
Einfluss nehmen zu können. Think global, act local.
Anna- K. Grieben
31 | HALBDURCHLÄSSIG

Menschen aus der Linie 1
// Text: Adam Nümm // Illustration: Nele Brönner
Die Linie U1 ist die älteste Strecke der Berliner U-Bahn.
Sie wurde im Jahr 1901 fertiggestellt und entstand nach
dem Vorbild der New Yorker Hochbahn.
In einem Stadtteil gebaut, in dem viele Quartiere als sogenannte
„Armenviertel“ betrachtet wurden (die Stadtplaner
befürchteten Verschmutzung und Lärm, weshalb wohlhabendere
Viertel den Bau einer Hochbahn ablehnten),
verbindet sie heute auf einer rund zehn Kilometer langen
Strecke die Warschauer Straße in Friedrichshain mit der
Uhlandstraße am Kurfürstendamm.
Schon immer hatte die U1 ihren ganz eigenen Charme:
eine spezielle Charakteristik, die durch die besondere
Strecke, die teils verspielt und liebevoll, teils klobig und
lieblos wirkenden Hochbahnstationen, letzten Endes aber
sicherlich durch die unterschiedlichen Menschen, die Tag
für Tag die U1 benutzen, zustande kommt. So wurde das
Musical “Linie 1”, das in den 80ern uraufgeführt wurde
und komplett in der U1 spielt, zum seinerzeit meistgespielten
Stück Deutschlands.
Weil die U1 auch heute noch Berlins interessanteste
U-Bahnlinie ist, bin ich dieser Tage mal wieder mit ihr
gefahren und habe den mitreisenden Menschen Fragen
gestellt.
An einem sonnigen Mai-Nachmittag, etwa gegen 15 Uhr,
probiere ich mein Glück: Ich begebe mich in der U1 auf
die Suche nach einem Menschen, der Lust und Zeit hat,
mir etwas von sich preiszugeben – anonym und unverbindlich.
Ich steige am Schlesischen Tor ein und brauche
genau fünf Versuche, bis ich prompt auf jemanden stoße,
der an der Endhaltestelle Warschauer Straße aussteigt
und gewillt ist, mir ein paar Sachen zu erzählen. Es ist
ein junger Mann, den ich auf Anfang Dreißig schätze.
Auffällig ist die KaDeWe-Tüte, die er bei sich trägt.
Kommst du gerade vom KaDeWe?
Ja, genau.
Und was hast du gekauft?
Also, ich selber habe nichts gekauft, mein Vater hat mir
Socken gekauft (lacht).
Im KaDeWe?
Ja, genau.
Dein Vater kauft dir Socken im KaDeWe? Das ist ja ‘ne
Story! Gibt es einen besonderen Anlass? Die waren ja
bestimmt nicht billig.
Also, mein Vater trifft mich öfter im KaDeWe. Das liegt
für uns beide günstig und weil er dort schon immer
hingeht, fühlt er sich da irgendwie wohl.
Okay, aber bevor das jetzt hier so ne Art Werbeinterview
fürs KaDeWe wird... Du triffst also öfter deinen Vater im
KaDeWe – das Wort darf jetzt ab sofort nicht mehr vorkommen!
– so dass ihr euch dort verabredet, oder wie?
Alle paar Wochen eben, wenn er mal wieder in Berlin ist,
dann sehen wir uns dort, ganz oben im Restaurant. Die
Socken hatte er schon da liegen, als ich vorhin hinkam.
Okay, also ein reisender Vater?
Naja, er lebt in Lissabon, kommt aber alle paar Wochen
nach Berlin, in seine Heimat.

Du bist also auch Berliner.
Jopps.
Und wohnst du hier in Friedrichshain?
Ja genau, ich wohne zusammen mit meiner Freundin hier.
Habe aber früher in Westberlin gewohnt.
Ist das nicht ungewöhnlich? Dass ein Westberliner in den
Osten zieht?
Wahrscheinlich schon. Find ich aber Quatsch, diese ganze
Angelegenheit.
Und ist Friedrichshain cool? Ich hör nur, dass es immer
versnobbter wird und so.
Naja, also wir fühlen uns ganz wohl hier (lacht).
Und, Nachwuchs schon in Planung?
Sogar schon unterwegs. Ein Junge.
Glückwunsch, wobei, ja doch, da kann man ja schon
gratulieren. Und kaufst du dem dann auch irgendwann
Socken im KaDeWe?
Nein, mit Sicherheit nicht (lacht schon wieder).
Okay, cool, dass du so offen bist und was von dir erzählst.
Es geht ja in dem Interview um Menschen aus der U-
Bahnlinie 1. Was verbindet dich mit der U1?
Hm. Ehrlich gesagt, benutze ich die U-Bahn gar nicht
mehr so häufig. Früher hab ich sie täglich benutzt.
Und benutzt du sie gerne?
Naja, die U1 ist durch diese Hochtrasse oder wie das
heißt schon eine schöne Fahrt, vor allem, wenn die Sonne
scheint. Allerdings ist es mir schon etwas zu muffig
manchmal. Ich fahre ja, wie gesagt, kaum noch U-Bahn.
Was war denn dein erinnerungswürdigstes U-Bahnerlebnis
in Berlin? Gab es da eins?
(überlegt länger) Naja, also einmal war ich in einem
Wagen ganz allein mit einer Riesenhorde Gothics oder
wie die heißen, also so lauter weiß Geschminkte mit
schwarzen Mänteln und Ketten und so. Die fuhren zu so
einem Festival, glaube ich, das war auch hier in der U1.
Na, das ist ja echt mal ein lustiges Erlebnis.
Das Komische war, dass ich wirklich der einzige im Wagen
war, der nicht zu dieser Gruppe gehörte.
Aber was Unangenehmes oder wirklich Beängstigendes
ist dir in der U-Bahn noch nicht passiert?
Nein, soweit ich mich erinnern kann, gab’s da nichts
dergleichen. Berliner sind eben friedliebende Kreaturen
(lacht)!
Okay, also dann frage ich dich noch was, was ich immer
gerne einfach mal so frage: Hältst du dich für einen
guten Menschen?
Uih. Jetzt hier Bibelrunde. Nein, das sollen andere beurteilen,
oder nein, sagen wir, ja irgendwie schon, aber, na
ja, also mal so und mal so.
Ja wie jetzt?
Ich glaube, dass ich sicher auch schon Dinge gemacht
habe, die nicht okay sind. Oder die ich dann nicht mehr
okay fand im Nachhinein. Aber ich glaube mittlerweile
daran, dass unser Gewissen und so weiter so programmiert
ist, dass alles, das wir gegen unser gutes Gewissen
tun, letzten Endes uns selbst gewissermaßen psychisch
stresst, also schadet.
Na, das war doch mal ‘ne Antwort. Ich glaube, ich hatte
Glück mit dir als Gesprächspartner!
Naja. Also so ‘ne Zeitung will ich dann aber auch kriegen.
Wenn hier schon mal meine Person interviewt wird!
(lacht)
Sollte kein Problem sein. Danke für deine Zeit.
33 | HALBDURCHLÄSSIG

Elf Krallenfrösche
und eine
Kuss-Szene
Interview mit Anni Gembus, UdK-Pförtnerin in der
Lietzenburger Straße
Friederike Meese
Wie lange sind Sie schon an der UdK?
Seit 1986. Die ersten 14 Jahre war ich in der
Fasanenstraße, seitdem bin ich hier in der Lietzenburger.
Was ist das Merkwürdigste, was Sie je an der UdK erlebt
haben?
So vom normalen Zusammenleben mit den Studenten
fällt mir nichts ein, aber auf dem Heimweg einmal…
Wir haben ja damals in der Fasanenstraße bis 23.30 Uhr
gearbeitet, da lief ich dann zum Zoo und es kam jemand
hinter mir her und wollte ne Zigarette haben. Da hab ich
das erste Mal in meinem Leben ‚Nein’ gesagt. Darauf hat
er mich mit einem Regenschirm bedroht, angegriffen und
verfolgt und ich bin um mein Leben gerannt. Bis zum Zoo
und gottseidank der Polizei in die Arme.
Gibt es eine Persönlichkeit aus der Kunst oder Musik, die
Sie bewundern?
Na, die Kollegin hier zum Beispiel (kommen Se’ mit
raus, eine rauchen?). – Hm, damals war mein Schwarm
ja Andreas Holm, ein Sänger… nein, kann ich jetzt
nichts dazu sagen. Alle ziemlich durchschnittlich.
Aber ich könnte Sie ja mal was fragen. Warum sind
Sie denn immer so still? Wir haben uns ja noch gar
nie unterhalten, hab mich richtig gewundert, als Sie
mich nun angesprochen haben. Sind Sie ein bisschen
schüchtern? Wenn Sie mich nach meinen Hobbies fragen
würden…
Mmh. Haben Sie ein besonderes Hobby?
Also, ich bin Tierfreundin durch und durch, das kann ich
Ihnen sagen: Ich habe elf afrikanische Krallenfrösche,
vier Molche, eine Bartagame und noch drei kleine
Frösche, die haben allerdings einen Gendefekt, die
haben mir so leid getan im Laden. – Was die fressen?
Na, Lebendes: schwarze, rote und weiße Mückenlarven
und dann gefriergetrocknetes Futter, das sieht aus wie
Schokoladentafeln. Bin ‘84 aus der DDR rüber, dort hatte
ich einen grünen Leguan, der ist leider noch drüben
gestorben, aber seitdem bin ich richtig vernarrt in diese
Tiere. Ganz früher habe ich auch mal Theater gespielt, im
Arbeiter- und Bauerntheater. Ich hatte sogar ne Kuss-
Szene im Fernsehen!

die eigenart erscheint semesterweise
Herausgeber
Allgemeiner Studierenden Ausschuss (AStA)
Universität der Künste Berlin
Hardenbergstraße 33
10623 Berlin
Redaktionsleitung
Anja Wenzel
Autoren
Anja Wenzel, Anna Grieben, Birte Kleine-Benne, Eric Lindig,
Boris Duhm, Kathi Köth, Anna Brinkmann, Marina Jentsch,
Tobias Hömberg, Sven Cishmack, Franciska Gómez, Adam
Nümm, Friederike Meese
Lektorat
Tobias Hömberg
Gestaltung
Lisa Glauer
Schriften
FangoNo/Rotis Sans
Illustrationen
Nele Brönner, Almudena Lobera, Leonard Schlüter, Boris Duhm
Umschlag
„Berliner Tiere“ Nele Brönner
„Wir bitten Dich, verführe uns!“ filmstill // Carola Schmidt /Ali
Kaaf
Poster „The Controll-Cross“ Boris Duhm
Druck ausDRUCK Kassel
Auflage 2500
Anzeigen eigenart magazin
tel 030.3185-2464
fax 030.3185-2670
eigenart@asta-udk-berlin.de
Danke Iris Wessolowski für redaktionelle Begleitung
Impressum