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Das Jahrhundert der Bilder 1949 bis heute Herausgegeben von ...

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469 Die Entführung 1977<br />

Aufnahme <strong>der</strong> RAF <strong>von</strong> Hanns Martin Schleyer vom 13.10.1977.<br />

ullstein bild<br />

dem Text «Commando Siegfried Hausner Commando<br />

Martyr Halimeh»; hier ist das Opfer bereits sichtlich<br />

<strong>von</strong> den Strapazen seiner Gefangenschaft gezeichnet.<br />

Von allen drei Aufnahmen sind mir nur schwarzweiße<br />

Reproduktionen bekannt.<br />

Zu diesen insgesamt vier Bil<strong>der</strong>n gibt es noch eine<br />

kleine Anzahl <strong>von</strong> Ausschnitten und Standbild-Clips<br />

aus mindestens zwei Videoaufzeichnungen, die die<br />

Entführer <strong>der</strong> Presse und den Verfolgungsbehörden<br />

zugespielt hatten. <strong>Das</strong>s diese Bil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Rezeption<br />

zu einem einzigen verschmolzen sind, liegt an <strong>der</strong><br />

Ähnlichkeit ihrer Inszenierung. Jedes Bild enthält drei<br />

Ebenen, die <strong>von</strong> unten nach oben o<strong>der</strong> <strong>von</strong> vorn nach<br />

hinten gelesen werden können: das Schild, den Mann,<br />

das Logo. Dabei ist die Reihenfolge wichtig: Erst die<br />

propagandistische Information, dann das Bild des<br />

Opfers als Beleg, darüber o<strong>der</strong> dahinter <strong>der</strong> teleologische<br />

Bezug zur Macht, das Logo als Signet. Diese Doppelung<br />

<strong>der</strong> Bezugsebenen hat sich in Täterbil<strong>der</strong>n des<br />

Terrors <strong>bis</strong> <strong>heute</strong> erhalten, da sie gleichermaßen auf<br />

zwei kulturelle Grundmuster rekurriert: auf die Illustration<br />

persischer Firdausi-Epen aus dem 15. <strong>Jahrhun<strong>der</strong>t</strong><br />

mit ihrer strikten Anordnung <strong>von</strong> unten nach<br />

oben wie auf die europäische Malerei mit ihrer räumlichen<br />

(Zentral-)Perspektive <strong>von</strong> vorn nach hinten.<br />

Die räumliche Enge des Ganzen signalisiert Ausweglosigkeit<br />

o<strong>der</strong> – aus <strong>der</strong> Tätersicht – Entschlossenheit.<br />

Beides, Bildaufbau wie Raumdarstellung sind Muster<br />

einer Gedächtnis-Topologie, die die gesamte Bildgeschichte<br />

<strong>der</strong> Menschheit durchzieht und einige Kulminationen<br />

in <strong>der</strong> christlichen Ikonografie gefunden<br />

hat. Da es sich bei den Tätern <strong>der</strong> RAF durchweg um<br />

Menschen mit <strong>der</strong> Medienerfahrung <strong>der</strong> bundesdeutschen<br />

1950er Jahre handelte, vor allem mit einer starken<br />

Affinität zur Popkultur <strong>der</strong> 1960er Jahre, ist diese<br />

Bildinszenierung <strong>von</strong> einer – <strong>heute</strong> als postmo<strong>der</strong>n<br />

beschriebenen – Mehrfachcodierung geprägt.<br />

y Die Vorbil<strong>der</strong><br />

<strong>Das</strong>s Menschen gedemütigt werden, indem man sie<br />

öffentlich zur Schau stellt und dabei eine beschriftete<br />

Tafel vor sie hält, ist in allen Kulturkreisen so lange bekannt,<br />

wie es schriftliche Überlieferungen gibt. Ein<br />

prägnantes Beispiel findet sich in <strong>der</strong> Legende des<br />

Bischofs Pothin, dessen frühchristliche Gemeinde in<br />

Lyon im Jahr 177 <strong>von</strong> den Truppen des römischen<br />

Kaisers Marc Aurel ausgehoben und in einem mehrtägigen<br />

Spektakel öffentlich gefoltert und ermordet<br />

wurde; dabei wurde ein Mann namens Attalus mit<br />

einem Schild durch die Straßen getrieben, auf dem<br />

stand: «Dieser ist ein Christ». Ähnliche Inszenierungen<br />

sind als Strafen im ara<strong>bis</strong>ch-asiatischen Raum wie<br />

im europäischen Mittelalter bekannt; umgekehrt setzt<br />

ein Maler wie Lukas Cranach <strong>der</strong> Ältere 1533 zwei<br />

Porträts sächsischer Fürsten hinter Bekenntnistexte,<br />

die auf den hölzernen Bildträger geklebt wurden. Die<br />

erkennungsdienstliche Behandlung <strong>von</strong> Tatverdächtigen,<br />

wie sie Alphonse Bertillon am Ende des 19. <strong>Jahrhun<strong>der</strong>t</strong>s<br />

in die Polizeiarbeit eingeführt hat (y I: Verbrechergesichter),<br />

kennt ebenfalls die Einfügung eines<br />

Namens- o<strong>der</strong> Nummernschildes vor das Porträt en<br />

face, gelegentlich vor dem Hintergrund einer Größenskala<br />

o<strong>der</strong> eines an<strong>der</strong>en Informationsträgers.<br />

Die Entführung<br />

Am 5. 9.1977 gegen 9 Uhr wird <strong>der</strong> Dienstwagen Schleyers<br />

in Köln gestoppt; die Täter eröffnen das Feuer und töten drei<br />

Sicherheitsbeamte und den Fahrer. Schleyer wird nach Erftstadt-Liblar<br />

gebracht, wo er in den ersten Tagen in einer Wohnung<br />

in einer Hochhaussiedlung gefangen gehalten wurde.<br />

Am 6. 9.1977 stellen die Täter ein erstes Ultimatum und for<strong>der</strong>n<br />

die Freilassung <strong>von</strong> elf RAF-Gefangenen; dem Brief wird<br />

das erste Polaroidfoto beigelegt. Die Bundesregierung weigert<br />

sich, dem Druck <strong>der</strong> Entführer nachzugeben; eine Klage des<br />

Sohnes vor dem Bundesverfassungsgericht auf Erfüllung <strong>der</strong><br />

For<strong>der</strong>ungen wird am 15.10. nie<strong>der</strong>geschlagen. Schleyer wird<br />

in die Nie<strong>der</strong>lande, später nach Brüssel verbracht. Am 25.9.<br />

und am 8.10.1977 entstehen weitere Fotografien, die jeweils<br />

einem Brief mit neuen For<strong>der</strong>ungen beigelegt werden. Am<br />

13. 10.1977 entführt ein palästinensisches Kommando das<br />

Flugzeug «Landshut» <strong>der</strong> Lufthansa; am 18. 10. gelingt die Befreiung<br />

<strong>der</strong> Maschine in Mogadischu/Somalia, nachdem die<br />

Entführer am Tag zuvor den Piloten erschossen haben. Am selben<br />

Abend wird Schleyer <strong>von</strong> seinen Entführern erschossen.

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