einSteiger 2012
Regionaljournal einSteiger
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Vom Boden bis unters Dach<br />
hängen und stehen die Werke<br />
dicht gedrängt. Zu entdecken gibt<br />
es unendlich viel, so wie auch der<br />
Künstler selbst sich immer wieder<br />
auf fantasievolle Entdeckungen<br />
einlässt, wie das Objekt aus Stein<br />
und Stroh im Türrahmen zeigt<br />
Das heißt keineswegs, dass seine<br />
Bildwelt beliebig oder sein Schaffen<br />
zufällig ist, auch wenn er sich<br />
zu Anfang des kreativen Prozesses<br />
manchmal treiben lässt, um selbst<br />
zu sehen, was sich aus seinem<br />
Pinsel oder unter seinen Händen<br />
entwickelt. Die Gestaltung ist<br />
zuletzt immer sehr wohl eine<br />
bewusste Komposition, die auf der<br />
Ausbildung an der Nürnberger<br />
Kunstakademie gründet und die<br />
in der anschließenden jahrzehntelangen<br />
Tätigkeit als freischaffender<br />
Künstler immer wieder neu<br />
erprobt ist.<br />
Dass sein Vater von ihm wie von<br />
seinen Brüdern eine handwerkliche<br />
Ausbildung verlangt hatte<br />
und er deshalb eine Tischlerlehre<br />
mit dem Gesellenbrief abschloss,<br />
hat ihm vielleicht die Gewissheit<br />
gegeben, wenn nötig auch anders<br />
als als Künstler (über)leben zu<br />
können. Er musste es nie, konnte<br />
aber seine professionellen Kenntnisse<br />
der Holzbearbeitung sowohl<br />
in seiner künstlerischen Tätigkeit<br />
nutzen als auch bei der Renovierung<br />
des Hofes einsetzen, den<br />
er 1979 mit seiner Frau gekauft<br />
und ein Jahr später mit den drei<br />
Kindern bezogen hat.<br />
Dass Paul Reutter und seine<br />
Familie sich einmal in Langenfeld<br />
niederlassen würden, war keineswegs<br />
vorgezeichnet. 1927 kam er<br />
in São Paulo in Brasilien zur Welt.<br />
Sein Vater war diplomierter Landwirt<br />
aus Göppingen, seine Mutter,<br />
die wohl die künstlerischen Gene<br />
zusteuerte, war Brasilianerin. Sie<br />
war selbst eine begabte Malerin,<br />
ihr Vetter Oscar Boeira ein<br />
bekannter brasilianischer Künstler.<br />
Er wurde der Patenonkel des<br />
kleinen Paul(o). Das Vorhaben<br />
der Eltern, eine Farm bei Araraquara<br />
zu bewirtschaften, musste<br />
aufgegeben werden, als sowohl der<br />
Vater als auch der Sohn erkrankten.<br />
Neustadt a. d. Aisch wurde<br />
zur neuen Heimat, da der Vater in<br />
Zeiten der Massenarbeitslosigkeit<br />
dort eine Stelle beim freiwilligen<br />
Arbeitsdienst, dem späteren<br />
RAD, fand. Paul Reutter besuchte<br />
dort als 10-jähriger ab 1937 die<br />
Oberrealschule. Im Herbst 1944<br />
meldete sich der Jugendliche<br />
freiwillig zum Kriegsdienst und<br />
wurde prompt als 17jähriger zur<br />
SS einberufen, hatte aber das<br />
Glück, nicht in die mörderische<br />
Maschinerie verwickelt worden zu<br />
sein. Auf dem Weg vom Schwarzwald<br />
ins Frankenland geriet er bei<br />
Thalmässing in Gefangenschaft,<br />
der er auf dem Transport vom<br />
Lager Bad Kreuznach in Richtung<br />
Osten bei Würzburg entkommen<br />
konnte, indem er aus dem Zug<br />
sprang. Er war immer noch keine<br />
18 Jahre alt, als er desillusioniert<br />
aus dem Krieg zurück nach Hause<br />
nach Neustadt kam.<br />
Die Nürnberger Akademie der<br />
bildenden Künste war nach ihrer<br />
Zerstörung 1944 nach Ellingen<br />
in das dortige Schloss ausgelagert<br />
worden. Als Paul Reutter<br />
1948 sein Studium dort aufnahm,<br />
herrschte dort immer noch Mangel,<br />
nicht nur an Werkstoffen für<br />
die künstlerische Arbeit, sondern<br />
auch an Heizmaterial. Zugleich<br />
war die Atmosphäre besonders<br />
fruchtbar, sicherlich gefördert<br />
durch den engen Zusammenhalt<br />
zwischen Studierenden und<br />
Professoren in der kreativen<br />
Abgeschiedenheit, vielleicht auch<br />
gefördert durch den Zwang zur<br />
Improvisation.<br />
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