16.06.2015 Aufrufe

Ausgabe 1-2013 - IGZ

Ausgabe 1-2013 - IGZ

Ausgabe 1-2013 - IGZ

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

19. Jahrgang<br />

VKZ 17248<br />

<strong>IGZ</strong><br />

DIE ALTERNATIVE<br />

1<br />

<strong>2013</strong><br />

Prävention<br />

Zwischen Fürsorge und Eigenverantwortung<br />

Editorial: Prävention zwischen Fürsorge<br />

und Eigenverantwortung ............................................ 3<br />

Prof. Dr. Giovanni Maio: Das Paradigma der<br />

Eigenverantwortung und die Privatisierung der<br />

Gesundheit. .................................................................... 4<br />

Christian Weber: Der Stellenwert der Prävention<br />

im Lichte des demografischen Wandels. ................. 8<br />

Dr. Jürgen Fedderwitz:<br />

Prävention muss Vorfahrt haben. ........................... 10<br />

Dr. Rugzan Hussein: Verbreitung prophylaktischer<br />

Maßnahmen in Zahnarztpraxen................... 14<br />

Dr. Michael Dreyer: Staatliche Fürsorge oder Eigenverantwortung<br />

des Patienten - Ein Problem für<br />

die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe?......... 20<br />

Prof. Dr. Ulrich Schiffner: Erfolge, Grenzen und<br />

Weiterentwicklung der Kariesprävention............... 22<br />

Dr. Roschan Farhumand: Zahngesundheit bei<br />

Kleinkindern in Hamburg - Ein Modellvorhaben<br />

der AOK Rheinland/Hamburg ................................... 24<br />

Prof. Dr. Thomas Kocher: Diabetes und Parodontitis<br />

- Früherkennung und Behandlung des Diabetes<br />

in Zahnarztpraxen ................................................ 26<br />

Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann:<br />

Medizin durch Zahnmediziner ................................. 28<br />

Dr. Thomas Einfeldt: SPD-Gesundheitspolitiker<br />

Steffen-Claudio Lemme zu Gast bei der <strong>IGZ</strong> ......... 30<br />

Interessengemeinschaft Zahnärztlicher Verbände<br />

in Deutschland <strong>IGZ</strong> e.V.


Konto & Karten | Beruf & Praxis | Absichern | Vorsorge | Immobilie | Vermögen | Private Banking<br />

Weil uns<br />

mehr<br />

verbindet.<br />

Spezialisierte Beratung für Apotheker<br />

und Ärzte.<br />

Ob berufl ich oder privat: Die meisten Apotheker und Ärzte in Deutschland<br />

vertrauen auf unsere Leistung und spezialisierte Beratung.<br />

Mehr Informationen erhalten Sie unter: www.apobank.de<br />

Dr. Christian Georg,<br />

Radiologe<br />

Antonia Zimmer,<br />

Studentin der Zahnmedizin<br />

Markus Felber,<br />

Zahnarzt<br />

Masoumeh Hediehlou,<br />

Apothekerin


eDitoriaL |<br />

Benn Roolf<br />

Prävention zwischen Fürsorge<br />

und Eigenverantwortung<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

den längsten Zeitraum in der Menschheitsgeschichte<br />

galten Krankheiten als vom Individuum weitgehend<br />

unbeeinflussbares Schicksal. Der Gedanke, durch eigenes<br />

Zutun, durch gesundheitsbewusstes Verhalten<br />

Erkrankungen vorzubeugen, war nichts weniger als<br />

eine kulturelle Revolution und führte ab der Mitte des<br />

19. Jahrhunderts zu einer wahren Flut von Gesundheits-<br />

und Ratgeberliteratur, Aufklärungskampagnen<br />

und einer stürmischen Entwicklung von Medizin und<br />

Pharmakologie. Die neue Hygienebewegung erfasste<br />

nahezu alle Lebensbereiche, vom Arbeitsplatz über<br />

das Wohnen bis hin zur persönlichen Hygiene: Mit<br />

dem Haarewaschen, der Körperreinigung mit Seife<br />

verbreitete sich auch das tägliche Zähneputzen - eine<br />

gewaltige Errungenschaft der Zahnprophylaxe.<br />

Eine Krankheit zu verhindern ist besser und meist<br />

auch billiger, als eine Krankheit zu behandeln. Die<br />

Zahnmedizin hat inzwischen eine deutliche Entwicklung<br />

weg von der „reparierenden“ hin zu einer präventiven<br />

Heilkunde vollzogen. „In nahezu allen Bereichen<br />

der zahnärztlichen Tätigkeit hat sich das<br />

Volumen prophylaktischer Leistungen von 2000 bis<br />

2009 erhöht“, stellt die Wissenschaftlerin Rugzan<br />

Hussein in ihrem Beitrag fest. „Prävention muss Vorfahrt<br />

haben“, formuliert denn auch der KZBV-Vorsitzende<br />

Jürgen Fedderwitz die Prämisse der Zahnmedizin.<br />

Zahnärztliche Prophylaxe habe deutliche<br />

Erfolge erzielen können. Gleichzeitig gebe es aber<br />

noch Lücken, wie beispielsweise einen besonderen<br />

Präventionsbedarf bei Pflegebdürftigen und Menschen<br />

mit Behinderungen, stellt Fedderwitz fest und<br />

fordert einen „präventionsorientierten Leistungskatalog<br />

für diesen Personenkreis“.<br />

Unbestrittene Betreuungslücken gibt es auch in der<br />

Kariesprävention bei den unter 3-Jährigen. „Viele Kinder<br />

kommen heute bereits mit Kariessymptomen in<br />

die Kita“, schreibt Roschan Farhumand von der AOK<br />

Rheinland/Hamburg in ihrem Beitrag und stellt ein<br />

Modellprojekt mit innovativen Präventionsleistungen<br />

zur frühkindlichen Kariesprophylaxe vor.<br />

Benn Roolf<br />

Chefredakteur<br />

Ein gutes Jahrhundert später haben wir ein leistungsfähiges<br />

System der Prävention und Gesundheitsversorgung.<br />

Anders jedoch als am Ausgang des 19. Jahrhunderts<br />

ist heute eine Anspruchshaltung verbreitet,<br />

die ein individuelles „Recht auf Gesundheit“ geradezu<br />

apriori voraussetzt und als Adressaten für die<br />

Einlösung dieses Rechtes „den Staat“ und „die Kassen“<br />

anspricht. Die Politik reagiert mit einer stärkeren<br />

Betonung der Eigenverantwortung des Patienten<br />

für seine Gesundheit, auch aus finanziellen Erwägungen<br />

heraus. Welches Verhältnis sollen künftig die<br />

Eigenverantwortung des Patienten und die Leistungen<br />

der Solidargemeinschaft haben? Darüber wird<br />

seit geraumer Zeit auch im Zusammenhang mit der<br />

Präventionsgesetzgebung gestritten. Mit der Balance<br />

zwischen öffentlicher Fürsorge und Eigenverantwortung<br />

beschäftigt sich der Freiburger Medizinethiker<br />

Giovanni Maio in seinem Beitrag und mahnt, „dass<br />

die an sich richtige Betonung der Eigenverantwortlichkeit<br />

nicht allmählich zu einer sanktionsbewehrten<br />

Einforderung von Gesundheit mutiert“.<br />

Eine wichtige, aber bislang wenig beachtete Präventionsinitiative<br />

stellt der Parodontologe Thomas Kocher<br />

vor. Seit langem bekannt sind die Zusammenhänge<br />

zwischen Parodontitis und Diabetes. „Parodontitiserkrankungen<br />

können ein Hinweis auf einen möglichen<br />

Diabetes sein. Zahnärzte können so oft als<br />

erste Symptome einer bislang unentdeckten Diabeteserkrankung<br />

feststellen.“ Kocher plädiert deshalb<br />

für eine stärkere Einbeziehung der Zahnärzte bei der<br />

Früherkennung und Behandlung des Diabetes. Unterstützt<br />

wird er dabei auch von Experten außerhalb<br />

der Zahnärzteschaft. So forderte der führende Diabetologe<br />

Hellmut Mehnert für Diabetiker eine fachübergreifende<br />

Behandlung und die Professionelle<br />

Zahnreinigung als Kassenleistung.<br />

Neben dem Diabetes werden auch weitere Allgemeinerkrankungen<br />

wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose<br />

oder Erkrankungen der Atemwege mit Prozessen<br />

im Mundraum in Verbindung gebracht. Der<br />

Greifswalder Versorgungsepidemiologe Wolfgang<br />

Hoffmann plädiert daher dafür, Zahnärzte künftig<br />

stärker in die fachübergreifende Diagnose und Behandlung<br />

von Allgemeinerkrankungen einzubeziehen.<br />

Mit der bestehenden flächendeckenden Versorgungsstruktur<br />

und dem geschulten Prophylaxepersonal<br />

hätte die Zahnärzteschaft dafür exzellente Voraussetzungen,<br />

so Hoffmann.<br />

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.<br />

Benn Roolf<br />

<strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

3


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Giovanni Maio<br />

Das Paradigma der Eigenverantwortung<br />

und die Privatisierung<br />

der Gesundheit<br />

Prof. Dr. med. Giovanni<br />

Maio, M.A. (phil.)<br />

Lehrstuhl für Medizinethik am<br />

Institut für Ethik und Geschichte<br />

der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität<br />

Freiburg<br />

Gibt es eine Pflicht des Individuums, gesund zu leben?<br />

Wir sehen heute die gesundheitsbewusste Lebensweise<br />

immer mehr auch als Pflicht gegenüber<br />

dem Staat, als Pflicht gegenüber der Gemeinschaft,<br />

als Pflicht gegenüber der Sozialversicherung. Immanuel<br />

Kant hat das Gebot, sich nicht selbst zu schädigen,<br />

als eine Pflicht gegen sich selbst formuliert. Diese<br />

ergibt sich daraus, dass der Mensch als Selbstzweck,<br />

als Mensch mit einer Würde betrachtet werden muss,<br />

und es wäre ein Verstoß gegen diese Würde, wenn<br />

der Mensch sich durch die Selbstschädigung selbst<br />

zur Sache machen würde. Diese von Kant postulierte<br />

Pflicht bringt zum Ausdruck, dass der Mensch auch<br />

gegenüber sich selbst letzten Endes unverfügbar ist.<br />

So ist es eben eine Form der Selbstachtung, wenn der<br />

Mensch achtgibt auf seine Gesundheit.<br />

Auf der anderen Seite muss bedacht werden, dass nur<br />

derjenige tatsächlich gesundheitsbewusst leben kann,<br />

der auch die sozialen und emotionalen Ressourcen<br />

dazu hat. Viele Menschen müssen erst befähigt werden,<br />

gesundheitsbewusst zu leben, und sie brauchen<br />

erst einmal die Freiräume und die Möglichkeiten,<br />

sich entsprechend zu verhalten. Genau dieser Aspekt<br />

kommt in den heutigen Debatten zuweilen etwas zu<br />

kurz. Das hängt mit der Veränderung des Selbstverständnisses<br />

des Staates zusammen.<br />

So ist die Vorstellung, dass der Staat schlichtweg die<br />

Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten<br />

hat, immer mehr relativiert worden, weil es<br />

nicht mehr so zentral die Fürsorge ist, die dem Staat<br />

als Leitbild dient. Stattdessen wird der Ruf nach einer<br />

Modernisierung des Staates immer lauter. Und Modernisierung<br />

wird heute verstanden als Aufruf zum<br />

„aktivierenden Staat“. Das moderne Verständnis von<br />

Sozialstaat setzt immer weniger auf die Versorgung,<br />

sondern vielmehr auf die Aktivierung der Bürger und<br />

damit auf das Konzept der Eigenverantwortung des<br />

Individuums. Prämisse der Politik ist somit die Förderung<br />

der eigenen Kompetenzen des Bürgers, letztlich<br />

mit der Zielsetzung, ihn dadurch zur Übernahme<br />

eigener Verantwortung zu verpflichten. Man sagt<br />

zwar, dass man den Sozialstaat unbedingt erhalten<br />

wolle, aber de facto fährt man ihn zurück, und dies<br />

maskiert hinter akzeptanzverschaffenden Begriffen<br />

wie Freiheit, Wahlfreiheit, Mündigkeit. Auf der anderen<br />

Seite ist es ganz sicher auch zu begrüßen, dass<br />

der Staat auf die Aktivierung des Bürgers setzt, und<br />

es ist auch zu begrüßen, dass der Bürger von heute<br />

eben nicht einfach die Medizin zur „Reparatur“ heranziehen<br />

soll, ohne sich selbst an der eigenen Gesundung<br />

und auch am Gesundbleiben zu beteiligen.<br />

Allerdings ist es unabdingbar, über die Grenzen des<br />

Aktivierungsmodells genauer zu sprechen.<br />

Grundsätzlich steht der heutige Mensch im Gesundheitswesen<br />

vermehrt in der Pflicht, Entscheidungen<br />

in Bezug auf seine Gesundheit zu treffen, sei es, weil<br />

das System nicht mehr alles bezahlt, sei es, weil das<br />

System oder die Gesellschaft von ihm vermehrt gesundheitsförderndes<br />

Verhalten verlangen. Aufgabe<br />

des aktivierenden Staates ist es nicht mehr, Menschen<br />

gegen zentrale Lebensrisiken abzusichern, sondern in<br />

größtmöglichem Maße dafür zu sorgen, dass sich der<br />

Bürger selbst um das Gesundbleiben kümmert und<br />

sich eigenverantwortlich verhält. Es ist sehr interessant,<br />

dass diese staatliche Auferlegung einer Pflicht<br />

zur Verantwortungsübernahme gekoppelt worden ist<br />

an eine Rhetorik der Emanzipation. Es handelt sich<br />

hier um eine geschickte Doppelstrategie von Emanzipationsversprechen<br />

und gleichzeitiger Forderung nach<br />

Eigenverantwortung und damit nach einem konformen<br />

Verhalten. Menschen sollen also vom Staat mit<br />

allen Voraussetzungen individuellen Erfolgs ausgestattet<br />

werden, damit sie anschließend in die selbständige<br />

Eigenverantwortung entlassen werden können.<br />

Und das soll in der Weise geschehen, dass man ihnen<br />

Emanzipation verspricht und zugleich Pflichten<br />

einfordert. Man könnte das auch unter dem Schlagwort<br />

„Fördern und Fordern“ subsumieren. Im ersten<br />

Schritt werden individuelle Kompetenzen im Hinblick<br />

auf das persönliche Gesundheitsverhalten gefördert.<br />

Wenn dies nicht ausreicht, bleibt die Androhung von<br />

Sanktionen. Letzten Endes ist es dann so zu verstehen,<br />

dass wir es hier mit einer Koppelung des Konzepts<br />

der Gesundheitskompetenz mit dem Konzept<br />

der Eigenverantwortung zu tun haben. Das heißt, es<br />

besteht eine Verbindung zwischen Patientensouveränität<br />

und Individualisierung der Verantwortung, eine<br />

Verbindung von Kompetenz und Verpflichtung. Eigenverantwortung<br />

ist hier einerseits Voraussetzung<br />

4 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

und zugleich auch die Folge des politischen Postulats<br />

eines souveränen Bürgers. Und natürlich ist es vernünftig,<br />

den mündigen Bürger und auch den mündigen<br />

Patienten anzustreben, aber es wird hier zu<br />

schnell und zu leicht übersehen, dass die Übernahme<br />

von Verantwortung an Grundvoraussetzungen<br />

geknüpft werden muss. Menschen müssen erst befähigt<br />

werden, Verantwortung zu übernehmen, bevor<br />

sie sanktioniert werden.<br />

Im Kontext der besonderen Betonung von Gesundheitskompetenz<br />

in Verbindung mit der Forderung<br />

Hintergrund kann man hier von einer zunehmenden<br />

Privatisierung der Gesundheit sprechen.<br />

Beim Begriff der Eigenverantwortung wird aber zu<br />

leicht vergessen, dass die Gruppen der Bevölkerung,<br />

die das größte Risiko tragen, zu erkranken, auch im<br />

Durchschnitt die geringsten Möglichkeiten und Fähigkeiten<br />

haben, die Gesundheitsförderung in ihrem<br />

Verhalten zu berücksichtigen. Das hat damit zu tun,<br />

dass die unterprivilegierten Schichten über weniger<br />

Freiheiten und auch über weniger finanzielle Möglichkeiten<br />

verfügen, um in der Wahl ihres Lebensstils<br />

Der Doppelcharakter von Eigenverantwortung - als Mittel zur Emanzipation<br />

des Patienten und zugleich als Mittel zum Zweck der Kostenreduzierung<br />

im Gesundheitswesen - machte sie zum idealen Paradigma<br />

einer neuen Gesundheitspolitik.<br />

von Eigenverantwortung wird der Gesundheitszustand<br />

vornehmlich als individuelles Geschehen interpretiert,<br />

das geradezu ausschließlich abhängig ist<br />

von persönlichem Gesundheitsverhalten. Das ist aber<br />

eine irrige Annahme. Gesundheit ist nicht einfach<br />

ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal, sondern<br />

Gesundheit ist in hohem Maße abhängig von strukturellen<br />

Rahmenbedingungen und nicht vom Einzelnen<br />

allein. Wir haben es hier zuweilen mit einer<br />

Verengung der Verantwortungsperspektive zu tun. 1<br />

Es wird zwar sehr wohl erkannt, dass sich die individuelle<br />

Gesundheit nicht allein durch persönliche<br />

Anstrengungen erzeugen lässt, weil Gesundheit und<br />

Krankheit von einem komplexen Gefüge aus strukturellen<br />

Lebensbedingungen, milieubedingter Lebensweise<br />

und individuellem Lebensstil bestimmt<br />

werden. Doch diese komplexe Gemengelage ist offenbar<br />

unkontrollier- und unregulierbar geworden.<br />

Darum soll das eigenverantwortliche Individuum in<br />

die Pflicht genommen werden.<br />

Diese Entwicklung paart sich mit dem Emanzipationsbestreben<br />

der Patienten, die eben Partizipation<br />

für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung<br />

zu Recht forderten und fordern. Eigenverantwortliche<br />

Patienten wurden somit zur zentralen Zielvorstellung.<br />

Die Patienten wollten im Sinne der Patientenrechte<br />

mehr Mitspracherechte für die eigene Gesundheit<br />

haben und sollten dann in der Folge auch mehr Verantwortung<br />

tragen, im Sinne der Patientenpflichten.<br />

Dieser Doppelcharakter von Eigenverantwortung -<br />

als Mittel zur Emanzipation des Patienten und zugleich<br />

als Mittel zum Zweck der Kostenreduktion im<br />

Gesundheitswesen - machte sie zum idealen Paradigma<br />

einer neuen Gesundheitspolitik. Vor diesem<br />

1 Maio, Giovanni: Mittelpunkt Mensch – Ethik in der Medizin. Stuttgart: Schattauer,<br />

2012.<br />

sich gesundheitsfördernd zu verhalten. Sie haben, bedingt<br />

durch ihren sozialen Status, oft schlichtweg gar<br />

keine Wahl, verfügen nicht über die Entscheidungsfreiheiten,<br />

die bei höheren Schichten ausgeprägter<br />

sind. Aber es sind nicht nur Schichtzugehörigkeiten,<br />

die über das Ausmaß der Fähigkeit zur Übernahme<br />

von Gesundheitsverantwortung entscheiden. Auch<br />

das Alter der Patienten spielt hier eine große Rolle,<br />

und auch ihr Gesundheitszustand. Das bedeutet,<br />

dass sowohl sozial schlechter gestellte Menschen als<br />

auch ältere und vor allen Dingen kranke Menschen<br />

über weniger Möglichkeiten verfügen, eine Gesundheitskompetenz<br />

zu erwerben. Das hat auch damit zu<br />

tun, dass diese Gruppen einfach mehr Mühe haben,<br />

nicht nur Informationen zu verstehen, sondern sich<br />

auch mit anderen Personen über Fragen der Gesundheitserhaltung<br />

auszutauschen. Gesundheitskompetenz<br />

hat also nicht nur etwas mit der Fähigkeit und Bereitschaft<br />

zur Wissensaneignung beispielsweise durch Lesen<br />

zu tun, sondern vor allen Dingen damit, ob diese<br />

Menschen tragfähige soziale Kontakte haben, die ihnen<br />

Gespräche über gesundheitsrelevante Fragen ermöglichen.<br />

So sind es die Beziehungsstrukturen und<br />

nicht nur die Lesefähigkeit, die über die Fähigkeit zur<br />

Entwicklung einer Gesundheitskompetenz und damit<br />

einer Eigenverantwortung entscheiden.<br />

Was bedeutet das für die Frage nach Eigenverantwortung<br />

und Prävention? Im Folgenden seien drei Desiderate<br />

formuliert, die in ethischer Hinsicht zu beachten<br />

sind, wenn wir über Prävention und Eigenverantwortung<br />

sprechen. Gesundheitsfördendes Verhalten ist<br />

wichtig und muss unterstützt werden, aber es bedarf<br />

eines differenzierten Umgangs mit dem Präventionsappell,<br />

weil es einerseits starke Menschen gibt, die<br />

Verantwortung von sich aus übernehmen können,<br />

und andererseits auch viele Menschen, denen man<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 5


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Nicht nur unterprivilegierte<br />

Schichten, auch ältere und<br />

kranke Menschen können nur<br />

schwer die Position des eigenverantwortlich<br />

handelnden,<br />

mündigen und auf Augenhöhe<br />

mit dem Arzt spechenden<br />

Patienten einnehmen.<br />

erst helfen muss, damit sie befähigt werden, Verantwortung<br />

für ihre Gesundheit zu übernehmen. Daher<br />

muss der Ruf nach Prävention unabdingbar gekoppelt<br />

werden an das Desiderat einer Hilfe zur Verantwortungsfähigkeit,<br />

Hilfe zur Befähigung. Das heißt<br />

eben, dass die Politik die Verantwortung für die Gesundheit<br />

nicht einfach schematisch und undifferenziert<br />

an den Einzelnen abgeben kann. Die Gesellschaft<br />

bzw. die sozialen Systeme tragen selbst Verantwortung<br />

dafür, Menschen zu helfen, verantwortungsfähig<br />

zu werden.<br />

Ferner muss der Ruf nach Prävention gekoppelt werden<br />

an das Desiderat der Vermeidung einer Diskriminierung.<br />

Diese Diskriminierung stellt sich ein durch<br />

eine einseitige Sichtweise auf gesundheitsgefährdende<br />

Verhaltensweisen. Es ist ein weit verbreiteter Topos,<br />

zum Beispiel Fast Food, das Freizeitverhalten<br />

mit exzessivem Fernsehkonsum oder die Fettleibigkeit<br />

als bedrohliche krankheitsfördernde Ursachen<br />

zu kritisieren. 2 Dabei wird oft der Stab gebrochen<br />

über die Menschen, die sich so verhalten. Vergessen<br />

wird hierbei, dass alle drei genannten Merkmale<br />

in den unterpriviliegierten Gruppen unserer Gesellschaft<br />

viel häufiger anzutreffen sind als in den<br />

Mittelschichten.<br />

2 Bettina Schmidt: Der kleine Unterschied: Gesundheit -- fördern und fordern. In: B. Paul<br />

& H. Schmidt-Semisch (Hg.): Risiko Gesundheit. Wiesbaden: VS-Verlag für Gesundheit,<br />

2010, S. 23-38.<br />

Es ist weithin bekannt, dass es eine Korrelation gibt<br />

zwischen sozialer Privilegiertheit und Gesundheitsstatus<br />

eines Menschen. Aber ist das wirklich so einfach?<br />

So stellt sich die drängende Frage: Warum kritisieren<br />

wir nicht genauso das gesundheitsgefährdende Verhalten<br />

von Workaholics? Warum kritisieren wir nicht<br />

das Verhalten der privilegierten Schichten, die zum<br />

Beispiel durch die Wahl eines hektischen, stressreichen<br />

Lebens ihre Gesundheit wohl in ähnlicher Weise<br />

gefährden wie der Fastfood-Konsument? Diese aufgeworfene<br />

Frage soll nicht als eine Bagatellisierung<br />

oder gar Entschuldigung des gesundheitsgefährdenden<br />

Verhaltens unterprivilegierter Schichten gedeutet<br />

werden. Aber es ist doch offenkundig, dass hinter den<br />

öffentlichen Kritiken nicht nur Statistiken stecken,<br />

sondern dahinter verbergen sich vielmehr verdeckte<br />

Werturteile und nicht zuletzt die Vorstellung des<br />

idealen, fehlerfreien Norm-Menschen, der pflichtgemäß<br />

und hochperformant für seine Gesundheit sorgt<br />

und so die Gemeinschaft entlastet.<br />

Heute leben wir in einer Leistungsgesellschaft, in der<br />

sich Menschen über ihre Leistungsfähigkeit definieren,<br />

und alle, die nicht in dieses Raster passen, fallen<br />

heraus. Daher fördert unsere Gesellschaft diejenigen,<br />

die leisten können, und schließt diejenigen aus, die<br />

nicht derart leistungsfähig sind. Damit aber versperrt<br />

die Gesellschaft denjenigen, die diese Leistungsfähigkeit<br />

nicht von alleine erreichen können, den Zugang<br />

zu Privilegien und sie belohnt diejenigen, die Leistung<br />

erbringen, selbst dann, wenn diese Leistung auf<br />

Kosten ihrer Gesundheit geht. Wir messen hier also<br />

mit zweierlei Maß.<br />

Foto: Wissmann Design / Fotolia.com<br />

Dies zeigt die Schwierigkeit auf, die wir vorfinden,<br />

wenn wir Krankheiten als Resultate menschlicher<br />

Handlungen deuten wollen. Dann müssten wir nicht<br />

nur die ohnehin negativ besetzten Handlungen in die<br />

Waagschale werfen, sondern wir müssten auch die<br />

Handlungen negativ bewerten, die ansonsten hoch<br />

im Kurs stehen, aber dennoch gesundheitsgefährdend<br />

sind. Dazu sind aber viele Menschen nicht bereit. Es<br />

sollte daher weniger die Frage im Fokus stehen, wer<br />

Schuld trägt an einer Krankheit, weil das der falsche<br />

Zugang ist zum Thema Prävention. Es ist vielmehr<br />

wichtig danach zu fragen, wie man es schaffen kann,<br />

dass möglichst wenig Menschen krank werden, und<br />

hierfür muss man an den sozialen Verhältnissen genauso<br />

ansetzen wie an der Motivation der Einzelnen<br />

zum gesunden Lebensstil. Die sozialen Verhältnisse<br />

darf man nicht einfach wegleugnen. Es bedarf vielmehr<br />

kluger Strategien, die die Menschen in ihrer<br />

jeweils spezifischen Lebenswelt abholen; es bedarf<br />

Strategien, die bei diesen Menschen das Gefühl der<br />

Freude am Gesundsein und an der gesunden Lebensweise<br />

hervorbringen. Ohne die positive Besetzung des<br />

Gesundseins und des gesundheitsfördernden Verhaltens<br />

wird man nicht erfolgreich sein können.<br />

6 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

Die Politik muss auch beachten, dass die an sich richtige<br />

Betonung der Eigenverantwortlichkeit nicht allmählich<br />

zu einer sanktionsbewehrten Einforderung<br />

von Gesundheit mutiert. Selbst wenn man dem technizistischen<br />

Glauben vom idealen Gesundheitsverhalten<br />

folgt, ist es - abgesehen von einigen gesicherten<br />

Kausalitäten - doch sehr schwierig, Gesundheit und<br />

damit auch gesundheitsförderndes Verhalten konkret<br />

zu definieren, weil oft individuelles Verhalten<br />

und soziale Verhältnisse miteinander verschränkt<br />

sind. Die Politik könnte vor allem negative Aussagen<br />

wie „Nicht-Rauchen“, „Nicht-Trinken“ formulieren,<br />

Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Präventionskampagne<br />

startet, um Gesundheit zu fördern, oder ob man sie startet, um<br />

Gesundheit zu fordern. Eine Gesundheit fordernde Gesellschaft wird<br />

die sozialen Unterschiede weiter vertiefen.<br />

Ein drittes Desiderat bezogen auf den Appell zur<br />

Prävention wäre: Vermeidung einer neuen Moralisierung<br />

von Krankheit. Gesundheit und Krankheit<br />

erscheinen uns immer weniger als Geschicke, als<br />

Fügungen, sondern immer mehr als Resultate, als<br />

Produkte unserer eigenen Handlungen, ja als Erzeugnisse<br />

unseres eigenen Willens. Nicht nur medizinische<br />

Ratgeber, sondern zunehmend auch Praxen<br />

und Kliniken lassen Gesundheit als das erscheinen,<br />

was man mit genügend Mühe und Investition auch<br />

garantiert erreichen kann. Gesundheit wird immer<br />

mehr als machbare und planbare Leistung betrachtet.<br />

Der gesunde Körper wird damit als Zeichen dafür<br />

gesehen, dass man hart genug an sich gearbeitet<br />

hat. 3 Im Gegenzug wird der Krankgewordene sich zumindest<br />

unterschwellig der Frage ausgesetzt sehen,<br />

warum er denn krank geworden sei und ob er sich<br />

denn nicht gesund ernährt oder etwa die Vorsorgeuntersuchungen<br />

nicht in Anspruch genommen habe<br />

usw. Gesundheit ist aber nicht nur Leistung, sondern<br />

am Ende auch Geschenk, und Krankheit sollte<br />

nicht mit dem Begriff der Schuld und Strafe neu in<br />

Verbindung gebracht werden, weil man damit eine<br />

grundlegende Entsolidarisierung einleiten würde. Es<br />

gilt, positive Anreize zu setzen, ohne zu signalisieren,<br />

dass man sich am Ende von den Krankgewordenen<br />

distanzieren würde.<br />

Es gilt, eine positive Motivation zu schaffen und nicht<br />

mit Strafe zu drohen. Es ist ein großer Unterschied,<br />

ob man eine Präventionskampagne startet, um Gesundheit<br />

zu fördern, oder ob man sie startet, um Gesundheit<br />

zu fordern. Der Grat zwischen Fördern und<br />

Fordern ist nicht nur semantisch sehr schmal. Eine<br />

Gesundheit fordernde Gesellschaft wird die sozialen<br />

Unterschiede in der Gesellschaft weiter vertiefen. Die<br />

Privilegierten haben entsprechende Ressourcen, um<br />

sich so zu verhalten, wie es dem Ideal einer auf Leistung<br />

ausgerichteten Gesundheitsgesellschaft entspricht.<br />

Aber die ohnehin benachteiligten Gruppen<br />

in der Gesellschaft werden aufgrund ihrer viel geringeren<br />

Ressourcen noch weiter abgehängt. Die Politik<br />

kann sich aus diesen Gründen nicht einfach darauf<br />

zurückziehen, die Verantwortung für die Gesundheit<br />

ausschließlich dem Individuum zuzuweisen.<br />

3 Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe: Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht.<br />

Kusterdingen, Die Graue Edition, 2003.<br />

aber wenn es um die Bestimmung positiven Verhaltens<br />

geht, wird es schon schwieriger. Die Vorstellung,<br />

Gesundheit sei eine positiv definierbare, individuell<br />

erzielbare Leistung und könne zur Pflicht gemacht<br />

werden, ist daher eine eher irrige Annahme.<br />

Vor diesen Hintergründen ist es entscheidend, dass<br />

sich die Medizin selbst in reflektierter Weise mit dem<br />

immer lauter werdenden Ruf nach Prävention auseinandersetzt.<br />

Gerade die gegenwärtige Ära der Ökonomisierung,<br />

Individualisierung und Entsolidarisierung<br />

ist für den sozialen Charakter der Medizin eine<br />

große Herausforderung, weil zu befürchten ist, dass<br />

die Medizin sich dadurch grundlegend verändert und<br />

sich von ihrem genuin helfenden, sozialen Auftrag<br />

entfernt. Umso notwendiger erscheint es, dass die<br />

Medizin sich gerade heute auf ihre Kernaufgabe besinnt.<br />

Sie kann nicht als Medizin alle Leistungen der<br />

Gesundheitsförderung übernehmen, weil die Gesundheitsförderung<br />

eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe<br />

ist. Es bleibt zwar eine zentrale Aufgabe der Medizin,<br />

Patienten dabei zu helfen, zu einer gesundheitsfördernden<br />

Lebensweise zu gelangen, aber gleichzeitig<br />

sollte das Bewusstsein bewahrt werden, dass die medizinische<br />

Hilfe für kranke Menschen nicht mit der<br />

Diskussion einer etwaigen individuellen Schuld des<br />

Patienten verknüpft werden kann - auch wenn diese<br />

im praktischen Einzelfall hier und da offenkundig<br />

sein mag. Aus guten Gründen folgt ärztliches Handeln<br />

von jeher dem Ideal des bedingungslos Helfenden.<br />

Versuche, dieses Paradigma aufzuweichen,<br />

rütteln an den Grundfesten der Medizin als sozialer<br />

Praxis. Daher wäre gerade in unseren Zeiten die Medizin<br />

gut beraten, nicht zum Richter über den Patienten<br />

zu mutieren, sondern Anwalt und Helfer des<br />

Patienten zu bleiben.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 7


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Christian Weber<br />

Der Stellenwert der Prävention<br />

im Lichte des demografischen<br />

Wandels<br />

Christian Weber<br />

Abteilungsleiter für Grundsatzfragen<br />

der Gesundheitspolitik,<br />

Pflegeversicherung und Prävention<br />

im Bundesministerium für<br />

Gesundheit<br />

Gesundheit und deren Erhaltung ist ein wichtiger<br />

gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktor.<br />

Die Gesundheit der Menschen ist entscheidend für<br />

Wohlbefinden, selbstbestimmte Lebensführung, Leistungsbereitschaft<br />

und Leistungsfähigkeit. Sie ist die<br />

unverzichtbare Basis für produktives und erfülltes Arbeiten<br />

und mehr Lebensqualität. Unsere Gesellschaft<br />

hat sich seit dem 19. Jahrhundert stark gewandelt,<br />

was auch Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat.<br />

Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich und das<br />

Krankheitsspektrum hat sich verändert. Infektiöse<br />

Erkrankungen wurden zurückgedrängt, chronische<br />

Krankheitsgeschehen hingegen haben stark zugenommen.<br />

Zusätzlich haben sich die Lebensbedingungen<br />

und die Lebensstile der Bevölkerung grundlegend<br />

geändert. Für die Gesellschaft des längeren Lebens<br />

brauchen wir die Mitverantwortung jedes Einzelnen<br />

und jedes Unternehmens sowie stützende Rahmenbedingungen<br />

durch die Politik.<br />

Ziel der Demografiestrategie der Bundesregierung<br />

ist es daher, jedem Einzelnen entsprechend seiner<br />

Lebenssituation und seines Alters Chancen zu eröffnen,<br />

seine Potenziale und Fähigkeiten zu entwickeln,<br />

und ihm zu helfen, seine Vorstellungen vom<br />

Leben zu verwirklichen. Um dieses Ziel zu erreichen,<br />

will die Bundesregierung die Rahmenbedingungen<br />

in allen Lebensbereichen – von der Familie über die<br />

Bildung, das Arbeitsleben und Ehrenamt bis hin zur<br />

Gesundheit – so gestalten, dass sie den Erfordernissen<br />

Rechnung tragen, die sich aus dem demografischen<br />

Wandel ergeben.<br />

Die Maßnahmen der Bundesregierung betonen die<br />

gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Prävention<br />

und Gesundheitsförderung. Sie setzen auf eine<br />

koordinierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen<br />

Präventionsakteure mit gemeinsamen Zielen.<br />

Nationale Gesundheitsziele<br />

Im Kooperationsverbund „gesundheitsziele.de“ ist<br />

u. a. das Ziel „gesund älter werden“ erarbeitet worden.<br />

Es beinhaltet die Stärkung gesellschaftlicher<br />

Teilhabe, die Stärkung gesundheitlicher Ressourcen<br />

und der Widerstandskraft, die Minderung gesundheitlicher<br />

Risiken, die Stärkung körperlicher Aktivität<br />

und Mobilität, eine ausgewogene Ernährung<br />

und Mundgesundheit. Dazu gibt es Empfehlungen<br />

für Gesundheitsförderung und Prävention sowie für<br />

die gesundheitliche und pflegerische Versorgung älterer<br />

Menschen. Darüber hinaus berücksichtigt es<br />

besondere Herausforderungen wie das Thema Demenz<br />

oder Multimorbidität.<br />

Viele Krankheiten können vermieden werden, wenn<br />

frühzeitig auf bekannte Risikofaktoren wie Übergewicht,<br />

Bewegungsmangel oder etwa auf psychische<br />

Belastungen Einfluss genommen wird. Gerade bei<br />

Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, frühzeitig<br />

gegenzusteuern.<br />

Nationaler Aktionsplan IN FORM<br />

Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und<br />

mehr Bewegung wird gemeinsam vom Bundesministerium<br />

für Ernährung und vom Bundesministerium<br />

für Gesundheit durchgeführt. IN FORM setzt bei Kindern<br />

und Jugendlichen an. Da das Gesundheitsverhalten<br />

insbesondere in den ersten Lebensjahren stark<br />

geprägt wird, muss mit dieser Aufklärung bereits bei<br />

Kindern angesetzt werden. Nur so werden aus Kindern<br />

gesunde und informierte Erwachsene, die die<br />

Verantwortung für die eigene Gesundheit und die<br />

der Familie übernehmen können. Wichtig ist es, die<br />

Menschen in die Lage zu versetzen, frei und selbstbestimmt<br />

zu entscheiden, ob sie sich gesund verhalten<br />

oder nicht. Ein Schwerpunkt des Aktionsplans ist es<br />

daher, zu informieren und aufzuklären und damit die<br />

Kenntnisse über die Zusammenhänge von ausgewogener<br />

Ernährung, ausreichender Bewegung und Gesundheit<br />

bei den Menschen weiter zu verbessern und<br />

zu gesunder Lebensweise zu motivieren. Außerdem<br />

wurde eine Vielzahl von breitgefächerten Aktivitäten<br />

zur Etablierung von gesundheitsförderlichen Strukturen<br />

in Familien, Kindertagesstätten und Schulen, aber<br />

auch in anderen Lebenswelten unternommen.<br />

Wie effektiv Prävention und Prophylaxe sein können,<br />

wird insbesondere im Bereich der zahnmedizinischen<br />

Versorgung deutlich.<br />

Zahnmedizinische Versorgung<br />

Im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung hat<br />

sich in den letzten 25 Jahren ein Paradigmenwechsel<br />

hin zu einer von der Prävention geprägten Versorgung<br />

vollzogen. Vorsorge und Prophylaxe haben<br />

8 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

hier dazu geführt, dass immer mehr Menschen in unserem<br />

Land deutlich länger Freude an ihren eigenen<br />

Zähnen haben. Dank einer guten Aufklärung durch<br />

Zahnärzte und Zahnärztinnen, entsprechender Vorsorge<br />

der Patientinnen und Patienten sowie einer prophylaxeorientierten<br />

Behandlung stellen wir bei Kindern,<br />

Jugendlichen und Erwachsenen eine erfreuliche<br />

Verbesserung der Mundgesundheit fest.<br />

Verstärkte Anstrengungen in der Gruppen- und Individualprophylaxe<br />

bei Kindern und Jugendlichen<br />

Gesetzentwurf zur Förderung der Prävention<br />

Die bestehenden Aktivitäten und Überlegungen sind<br />

in den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der<br />

Prävention eingeflossen, der sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren<br />

befindet. Mit dem Gesetzentwurf<br />

wird nicht nur ein gesundheitspolitischer Schwerpunkt<br />

des Koalitionsvertrages aufgegriffen, sondern<br />

auch ein wesentlicher Beitrag zur Umsetzung der im<br />

vergangenen Jahr von der Bundesregierung beschlossenen<br />

Demografiestrategie geleistet. Seinerzeit hatte<br />

die Bundesregierung ausdrücklich hervorgehoben,<br />

Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich und für die Gesellschaft<br />

des längeren Lebens brauchen wir die Mitverantwortung jedes Einzelnen<br />

und jedes Unternehmens sowie stützende Rahmenbedingungen<br />

durch die Politik.<br />

sowie eine verbesserte Mundhygiene tragen hier<br />

Früchte. Entscheidend ist zudem, dass sich der Fokus<br />

der zahnärztlichen Behandlung seit den 1990er<br />

Jahren maßgeblich verändert hat: Vorsorge und Zahnerhaltung<br />

verdrängen Spätversorgung und Zahnersatz.<br />

Die Gesundheitspolitik hat durch entsprechende<br />

Rahmenbedingungen ganz wesentlich dazu beigetragen,<br />

dass Prävention und Zahnerhaltung in der Praxis<br />

Vorfahrt haben.<br />

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung<br />

(BZgA)<br />

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels<br />

und des sich ändernden Krankheitsspektrums baut<br />

die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung<br />

(BZgA) als Fachbehörde des BMG für Prävention<br />

und Gesundheitsförderung seit mehreren Jahren<br />

den Arbeitsbereich „gesund und aktiv älter werden“<br />

aus. So fand am 6. Juni <strong>2013</strong> bereits die zweite<br />

BZgA-Bundeskonferenz <strong>2013</strong> GESUND & AKTIV<br />

ÄLTER WERDEN in Berlin statt. Auf Landesebene<br />

führt die BZgA seit 2009 gemeinsam mit Partnern<br />

auf ministerieller Ebene und den Landeseinrichtungen<br />

für Gesundheitsförderung Regionalkonferenzen<br />

„GESUND UND AKTIV ÄLTER WERDEN“ in allen<br />

Bundesländern durch.<br />

Die BZgA unterstützt die Akteure vor Ort mit unterschiedlichen<br />

Publikationen wie beispielsweise der Arbeitshilfe<br />

„GESUND UND AKTIV ÄLTER WERDEN“<br />

für Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf oder<br />

der Expertise zur Lebenslage von Menschen im Alter<br />

zwischen 55 und 65 Jahren „Die Jungen Alten“.<br />

In ihrem Newsletter GESUND UND AKTIV ÄLTER<br />

WERDEN informiert die BZgA regelmäßig über Aktuelles<br />

im Themenfeld, beispielsweise über Daten,<br />

Tagungen, neue Projekte und Publikationen.<br />

dass die Rahmenbedingungen der betrieblichen Gesundheitsförderung<br />

mit dem Ziel überprüft werden<br />

sollen, den Anteil der Unternehmen, die sich in der<br />

betrieblichen Gesundheitsförderung engagieren, zu<br />

erhöhen.<br />

Der Gesetzentwurf will mit einer Reihe unterschiedlicher<br />

Maßnahmen sicherstellen, dass deutlich mehr<br />

Menschen von guten und wirksamen Präventionsleistungen<br />

der Krankenkassen profitieren. Es sollen<br />

gerade die Menschen erreicht werden, die bislang<br />

keine Präventionsangebote in Anspruch genommen<br />

haben. Der Gesetzentwurf verpflichtet die Krankenkassen,<br />

ihre <strong>Ausgabe</strong>n für Prävention in Kitas, Schulen,<br />

Senioreneinrichtungen, Betrieben und anderen<br />

Lebenswelten zu verdreifachen. Darüber hinaus soll<br />

die bisher im Grundschulalter bestehende Vorsorgelücke<br />

bei den sogenannten U-Untersuchungen geschlossen<br />

werden.<br />

Die Maßnahmen des Gesetzentwurfs betonen die gesamtgesellschaftliche<br />

Verantwortung für Prävention<br />

und Gesundheitsförderung. Sie setzen auf eine zielbezogene<br />

Zusammenarbeit der unterschiedlichen Präventionsakteure.<br />

So soll das Bundesministerium für<br />

Gesundheit die Länder und Kommunen, die Sozialpartner<br />

und weitere maßgebliche Akteure zu einer ressortübergreifenden<br />

Ständigen Präventionskonferenz<br />

einladen. Damit soll dauerhaft eine Plattform etabliert<br />

werden, die die Entwicklung und Umsetzung gemeinsamer<br />

nationaler Gesundheitsförderungs- und<br />

Präventionsziele fördert. Wenn sich alle staatlichen<br />

Ebenen und gesellschaftlichen Akteure sowie die Bürgerinnen<br />

und Bürger vor Ort mit dem Ziel beteiligen,<br />

einvernehmlich zusammenzuwirken, kann die Gestaltung<br />

des demografischen Wandels gelingen.<br />

<strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

9


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Jürgen Fedderwitz<br />

Prävention muss Vorfahrt<br />

haben<br />

Dr. Jürgen Fedderwitz<br />

Vorsitzender des Vorstandes<br />

der Kassenzahnärztlichen<br />

Bundesvereinigung (KZBV)<br />

Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland bei<br />

der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen<br />

einen Spitzenplatz ein. In den letzten zehn Jahren<br />

ist die Karieslast bei Kindern und Jugendlichen um<br />

mehr als 60 Prozent zurückgegangen. Dies lässt sich<br />

dokumentieren durch die Entwicklung des DMFT-<br />

Wertes: Demnach ist (in den alten Bundesländern)<br />

die durchschnittliche Zahl von fehlenden, kariösen<br />

oder gefüllten Zähnen von 12-Jährigen von 6,8 Zähnen<br />

im Jahr 1983 kontinuierlich auf 0,7 Zähne im<br />

Jahr 2009 gesunken (siehe Abbildung). Die Gründe<br />

dafür liegen in der umfangreichen Gruppen- und<br />

Individualprophylaxe, die das Fundament für ein<br />

zahngesundes Leben legen, zielgerichteten Aufklärungskampagnen,<br />

dem Einsatz von Fluoriden sowie<br />

der Fissurenversiegelung auf den Kauflächen. Hinzu<br />

kommt, dass durch die vielfältigen Prophylaxemaßnahmen<br />

der Präventionsgedanke in keinem anderen<br />

medizinischen Teilbereich so stark verankert worden<br />

ist wie in der Zahnmedizin. Es ist der Zahnärzteschaft<br />

gelungen, die Patienten zur eigenverantwortlichen<br />

und gründlichen Mundpflege zu motivieren. Zudem<br />

ist der regelmäßige Kontrolltermin in der Zahnarztpraxis<br />

beim Großteil der Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit<br />

geworden. Auch das Robert-Koch-Institut<br />

führt die Erfolge bei der Mundgesundheit auf<br />

den Paradigmenwechsel in der Zahnmedizin von einer<br />

kurativen hin zu einer präventiven, minimal invasiven<br />

Ausrichtung der Zahnheilkunde zurück. 1 Nicht<br />

zu vergessen ist außerdem der Zeitgeist, der schönen<br />

Zähnen einen hohen Stellenwert beimisst.<br />

Die Erfolge zeigen, dass Prävention ganz klar Vorfahrt<br />

vor der kurativen Behandlung haben muss. Denn so<br />

1 Grischa Brauckhoff, Thomas Kocher, Birte Holtfreter, Olaf Bernhardt, Christian Splieth,<br />

Reiner Biffar, Anke-Christine Saß: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 47 –<br />

Mundgesundheit, Robert-Koch-Institut Berlin, 2009.<br />

Quelle: IDZ, <strong>2013</strong><br />

10 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

gut die zahnmedizinischen Innovationen auch sind,<br />

ein natürliches Gebiss ist durch nichts zu ersetzen.<br />

Gesunde Zähne und ein gesunder Mund- und Rachenraum<br />

sind eine wichtige Voraussetzung für die Ernährung<br />

und die Fähigkeit der Artikulation und somit<br />

der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.<br />

Trotz aller Erfolge gibt es weiterhin Lücken in der<br />

Prävention. In einer freiheitlichen Gesellschaft kann<br />

Gerade die Jüngsten finden bei der Prävention noch<br />

nicht genügend Berücksichtigung. So hat die frühkindliche<br />

Karies bei unter Dreijährigen in den letzten<br />

Jahren nicht ab-, sondern zugenommen. Die frühkindliche<br />

Karies wird vor allem durch die permanente<br />

Aufnahme von zucker- und säurehaltigen Getränken<br />

verursacht. Häufig gibt es bei Eltern kein Bewusstsein<br />

für die Mundgesundheit von Säuglingen und Kleinkindern.<br />

Die sogenannte Nuckelflaschenkaries wird<br />

heute immer öfter beobachtet. Die Betreuung durch<br />

den Kinderarzt reicht hier nicht aus. Die zahnärztliche<br />

Früherkennungsuntersuchung setzt derzeit erst<br />

ab dem 30. Lebensmonat ein, wenn häufig bereits ein<br />

kariöser Defekt besteht. Daher sollten die zahnärztlichen<br />

Früherkennungsuntersuchungen von Beginn<br />

an, also auch für Kinder von null bis drei Jahren, von<br />

Zahnärzten durchgeführt werden, um die Häufigkeit<br />

der frühkindlichen Karies zu reduzieren. Kinder müssen<br />

bereits mit dem Durchbrechen des ersten Milchzahnes<br />

systematisch zahnmedizinisch betreut werden.<br />

Es ist der Zahnärzteschaft gelungen, die Patienten zur eigenverantwortlichen<br />

und gründlichen Mundpflege zu motivieren. Zudem ist<br />

der regelmäßige Kontrolltermin in der Zahnarztpraxis beim Großteil<br />

der Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit geworden.<br />

man lediglich appellieren. Mit Appellen wird man jedoch<br />

immer an Grenzen stoßen und womöglich niemals<br />

alle Menschen mit präventiven Maßnahmen erreichen<br />

können. Diese Grenzen und Barrieren sind<br />

ganz unterschiedlicher Natur, sie sind mitunter kulturell<br />

oder sprachlich bedingt. Manche zahnmedizinischen<br />

Problemgruppen entziehen sich schlicht<br />

der zahnmedizinischen Behandlung und fallen daher<br />

durch das Präventionsraster. Häufig sind es aber auch<br />

ganz einfach gesetzliche Barrieren, die einer besseren<br />

Prävention im Wege stehen. Wir als Zahnärzteschaft<br />

haben Konzepte entwickelt, um diese Präventionslücken<br />

trotzdem so gut wie möglich schließen zu können,<br />

und arbeiten hartnäckig daran, unsere Konzepte<br />

umzusetzen. Denn unser Ziel als Zahnärzteschaft<br />

muss es sein, den erfolgreichen Präventionsansatz auf<br />

den gesamten Lebensbogen auszudehnen. Auch mit<br />

zunehmender Lebenserwartung sollen Menschen bis<br />

zum Lebensende ihre natürlichen Zähne und damit<br />

eine hohe Lebensqualität behalten. Eine umfassende<br />

Präventionsstrategie muss deshalb an die unerlässliche<br />

Eigenverantwortung der Patienten appellieren,<br />

den gesamten Lebensbogen umspannen und<br />

eine zahnmedizinische Versorgungsgerechtigkeit über<br />

jede Altersgruppe und alle sozialen Gruppen hinweg<br />

zum Ziel haben.<br />

Bereits die werdenden Eltern sollten in Zusammenarbeit<br />

mit Gynäkologen und Hebammen über Mundgesundheitsfragen<br />

informiert werden. Denn gerade<br />

bei Kleinkindern kommt der elterlichen Betreuung<br />

eine ganz besondere Bedeutung zu. Es steht die Frage<br />

im Mittelpunkt, wie und auf welche Weise Eltern<br />

motiviert werden können, bereits ab den ersten Lebensmonaten<br />

für die Zahn- und Mundgesundheit ihrer<br />

Kinder vorzusorgen.<br />

Die Deutschen Mundgesundheitsstudien zeigen deutlich,<br />

dass bestimmte Gruppen von den bisherigen<br />

Präventionsbemühungen nicht profitiert haben. So<br />

gibt es bei Kindern und Jugendlichen trotz der intensiven<br />

Gruppen- und Individualprophylaxe auch<br />

negative Entwicklungen, die es umzukehren gilt. Beispielsweise<br />

ist bei Kindern eine wachsende Schieflage<br />

in der Kariesverteilung zu beobachten. Demnach<br />

tragen etwa zehn Prozent der 12-Jährigen über 60<br />

Prozent der Karieslast in dieser Altersgruppe. 2 Auffällig<br />

dabei ist, dass sich diese Risikogruppe vor allem<br />

aus sozial benachteiligten Familien und Familien<br />

mit Migrationshintergrund rekrutiert. Eine präventive<br />

Betreuung von Kindern mit hohem Kariesrisiko<br />

scheitert bisher vielfach daran, dass diese Kinder<br />

nur sehr schwer erreicht werden können. Hier stößt<br />

die Zahnärzteschaft auf dieselben Barrieren, die sich<br />

auch in anderen sozialen Betreuungsbereichen hemmend<br />

auswirken. Die notwendigen Zugänge zu schaffen<br />

und Kinder und Jugendliche aus Risikogruppen<br />

in die erfolgreiche Individual- und Gruppenprophylaxe<br />

zu integrieren, ist daher nur als eine gesamtgesellschaftliche<br />

Aufgabe lösbar.<br />

Die demografische Entwicklung in Deutschland rückt<br />

ein weiteres Problemfeld in den Vordergrund. Pfle-<br />

2 Vgl. Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie, 2006.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

11


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

gebedürftige und Menschen mit Behinderung haben<br />

an der positiven Entwicklung der Mundgesundheit<br />

nicht angemessen partizipiert. Altersassoziierte<br />

Krankheiten wie Wurzelkaries nehmen dort zu. Die<br />

Mundgesundheit von Pflegebedürftigen und Menschen<br />

mit Behinderungen ist deutlich schlechter als<br />

die des Bevölkerungsdurchschnitts. 3 Sie gehören zur<br />

Hochrisikogruppe für Karieserkrankungen, denn sie<br />

können häufig keine eigenverantwortliche Mundhygiene<br />

durchführen, haben Schwierigkeiten, eine Praxis<br />

aufzusuchen, oder sind nicht kooperationsfähig<br />

bei der Behandlung. Auch für diese Menschen benötigen<br />

wir bedarfsgerechte und präventiv ausgerichtete<br />

Versorgungskonzepte. Zwar hat der Gesetzgeber<br />

den akuten Handlungsbedarf erkannt und mit dem<br />

Versorgungsstrukturgesetz und dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz<br />

den Anspruch auf aufsuchende<br />

zahnmedizinische Betreuung auf der Grundlage des<br />

GKV-Leistungskatalogs beschlossen. Der besondere<br />

Präventionsbedarf von Pflegebedürftigen und Menschen<br />

mit Behinderung bleibt jedoch weiterhin unberücksichtigt.<br />

Es fehlt ein präventionsorientierter<br />

Leistungskatalog für diesen Personenkreis. Die Kassenzahnärztliche<br />

Bundesvereinigung hat hierzu zusammen<br />

mit der Bundeszahnärztekammer, der Deutschen<br />

Gesellschaft für Alterszahnmedizin und dem<br />

Berufsverband Deutscher Oralchirurgen das Konzept<br />

„Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“<br />

entwickelt, mit dem sich die Präventionslücke<br />

mit einem § 22a SGB V schließen ließe, indem betroffene<br />

Versicherte einen Anspruch auf bedarfsadäquate<br />

Leistungen zur Verhütung von Zahnerkrankungen<br />

erhalten.<br />

Das zahnmedizinische Problemfeld der Parodontitis<br />

betrifft hingegen alle Altersgruppen. Die vierte Deutsche<br />

Mundgesundheitsstudie hat gezeigt, dass Parodontitis<br />

in der Bevölkerung sehr weit verbreitet ist.<br />

52,7 Prozent aller Erwachsenen leiden unter mittelschweren<br />

und 20,5 Prozent unter schweren Formen<br />

der Parodontitis. Bei den Älteren sind 48,0 Prozent<br />

von einer mittelschweren und 39,8 Prozent von einer<br />

schweren Parodontitis betroffen. 4 Man kann also<br />

fast schon von einer „Volkskrankheit“ sprechen. Diese<br />

enorm hohe Verbreitung dieser Erkrankung zeigt die<br />

Notwendigkeit auf, die Parodontitisfrüherkennung<br />

und -frühbehandlung samt der dazugehörigen Nachsorge<br />

zu fördern und in den Mittelpunkt zukünftiger<br />

Präventions- und Versorgungsstrategien zu stellen.<br />

Parodontitis-Risikogruppen müssen nach Möglichkeit<br />

schon unter den Jugendlichen identifiziert werden<br />

und Prophylaxemaßnahmen bzw. einer frühen<br />

Therapie zugeführt werden.<br />

3 Vgl. Imke Kaschke, Ina Nitschke: Zahnmedizinische Betreuung von Pflegebedürftigen<br />

und Menschen mit Behinderungen, Bundesgesundheitsblatt, 2011.<br />

4 Vgl. Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie, 2006.<br />

Den Fortschritten in der Zahnmedizin ist zu verdanken,<br />

dass es uns Zahnärzten schon heute gelingt, vielen<br />

unserer Patienten bei steigender Lebenserwartung<br />

ihre natürlichen Zähne bis zum Lebensende zu erhalten.<br />

Und dies gelingt selbst dann noch, wenn sie ein<br />

erhöhtes individuelles Erkrankungsrisiko für Parodontitis<br />

haben. Für das Erkrankungsrisiko sind eine<br />

Reihe von Faktoren entscheidend, nämlich Mundhygienedefizite,<br />

exogene Risikofaktoren (wie z. B. Rauchen<br />

und Stress), systemische Risikofaktoren (wie z. B.<br />

Diabetes mellitus, immunologische Imbalancen) und<br />

genetische Faktoren. Die internationale Forschung ist<br />

sich darin einig, dass man all diese Faktoren bei der<br />

Festlegung von parodontologischen Präventionszielen<br />

im Auge behalten muss. Um diesen Erkenntnissen<br />

Rechnung zu tragen, ist ein hoher, in der Zukunft<br />

wachsender, präventiv ausgerichteter Betreuungsaufwand<br />

notwendig. Nur so können wir eine weitere Zunahme<br />

und Verbreitung von Parodontitis in der Bevölkerung<br />

vermeiden.<br />

Parodontitis ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung<br />

der Verbindung zwischen Zahnmedizin und Mundgesundheit<br />

mit der allgemeinen Gesundheit der Patienten.<br />

Denn Parodontitis ist eine Entzündung, die<br />

den ganzen Körper angreifen kann und mit dem Auftreten<br />

von Herzerkrankungen korreliert. Bei Schwangeren<br />

kann eine Parodontitis mitverantwortlich sein<br />

für eine Frühgeburt. Diabetes und Rheuma beeinflussen<br />

ebenfalls die Mundgesundheit, aber dies gilt auch<br />

umgekehrt. Bei einer zahnärztlichen Routineuntersuchung<br />

können auch Hinweise auf Rheuma, Osteoporose,<br />

Diabetes und Krebs erkannt werden. Der Zahnarzt<br />

kann Mundhöhlenkrebs – vor allem für Männer eine<br />

lebensgefährliche Erkrankung – frühzeitig erkennen.<br />

Psychosomatische Erkrankungen können sich ebenfalls<br />

in der Mundhöhle manifestieren. Essstörungen<br />

wie Magersucht oder Bulimie haben negativen Einfluss<br />

auf die Zahngesundheit und lassen sich somit<br />

frühzeitig durch den Zahnarzt erkennen. Zahnärzte<br />

können diese Krankheiten zwar nicht therapieren, sie<br />

können jedoch Beratungsstellen nennen und die Patienten<br />

motivieren, diese aufzusuchen. Zahnmediziner<br />

sind daher nicht einfach nur Ärzte für gesunde Zähne,<br />

sondern nehmen eine wichtige Früherkennungsfunktion<br />

ein, die sowohl in erster Linie dem Versicherten,<br />

aber auch dem Gesundheitssystem als Ganzem zugutekommt.<br />

Nirgendwo können wir dies so gut beobachten<br />

wie bei den Paradontalerkrankungen.<br />

Jedoch fehlen bisher Elemente einer strukturierten,<br />

nachsorgenden Betreuung bei einer Parodontitis. Ob<br />

eine Therapie effektiv ist, hängt stark von der Mitwirkung<br />

der Patienten ab. Daher sind wir Zahnärzte bestrebt,<br />

das Wissen um präventive Verhaltensweisen<br />

und die Bedeutung der Erkrankung für die Allgemein-<br />

12 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

heit zu verbessern. Individualprävention ist entscheidend,<br />

um die Zahl der Patienten mit schwerer Parodontitis<br />

zu verringern und den Krankheitsverlauf in<br />

weniger massive Verlaufsformen zu verändern. Damit<br />

können wir ein Abgleiten von Gingivitisfällen in<br />

Parodontitisfälle verhindern. Um auf diesem Feld<br />

entschieden voranzukommen, wird man die Mitarbeit<br />

und Mitverantwortung der Patienten mit entsprechenden<br />

Anreizsystemen fördern müssen. Dazu<br />

bietet sich das in der Bevölkerung anerkannte und<br />

etablierte Bonusheft in idealtypischer Weise an und<br />

entspricht damit auch seiner präventionsorientierten<br />

Der besondere Präventionsbedarf von Pflegebedürftigen und Menschen<br />

mit Behinderung bleibt jedoch weiterhin unberücksichtigt. Es fehlt ein<br />

präventionsorientierter Leistungskatalog für diesen Personenkreis.<br />

Zielsetzung. Notwendig sind also präventive Maßnahmen<br />

zur Verhütung von Parodontalerkrankungen<br />

sowie systematische aktive und unterstützende<br />

parodontale Therapiemaßnahmen, um einer weiteren<br />

Verbreitung von Parodontitis entgegenzuwirken.<br />

Eine Übernahme dieser Leistungen als GKV-Sachleistung<br />

würde die Solidargemeinschaft wahrscheinlich<br />

überfordern. Sie sind allein im GKV-Sachleistungskatalog<br />

nicht finanzierbar. Denn zum einen wird der<br />

Bedarf von Maßnahmen gegen Parodontitis aufgrund<br />

der demografischen Entwicklung zunehmen, auf der<br />

anderen Seite wird sich die Finanzierungssituation<br />

in der GKV eben aufgrund des demografischen Wandels<br />

und der sinkenden Zahl von Beitragszahlern verschlechtern.<br />

Daher werden wir nicht darum herum<br />

kommen, die Bereitschaft der Bevölkerung auch zur<br />

finanziellen Eigenverantwortung im Bereich der präventiven<br />

Maßnahmen zu heben.<br />

Im Bereich des Zahnersatzes ist die Bereitschaft der<br />

Bevölkerung dazu bereits heute sehr groß. Mit dem<br />

Festzuschusssystem ist es gelungen, die finanziellen<br />

Belastungen der GKV zu begrenzen, ohne dass auf<br />

der einen Seite Patienten von der Versorgung ausgeschlossen<br />

werden und ohne dass auf der anderen<br />

Seite Therapiealternativen ausgeschlossen werden.<br />

In der zahnmedizinischen Versorgung wurde so insgesamt<br />

ein außerordentlich hoher Versorgungsgrad<br />

erreicht. Gleichzeitig konnte sich der Anteil der Zahnmedizin<br />

an den GKV-<strong>Ausgabe</strong>n halbieren. Neben dem<br />

Festzuschusssystem ist die von den Zahnärzten eingeleitete<br />

Stärkung der Prävention der Hauptgrund<br />

für diese Entwicklung.<br />

Mit dem Festzuschusssystem haben wir eine Balance<br />

zwischen öffentlich organisierter Fürsorge und<br />

Eigenverantwortung des Patienten im Bereich der<br />

zahnärztlichen Versorgung geschaffen, das für andere<br />

Versorgungsbereiche – nicht nur in der Zahnmedizin<br />

– als Vorbild dienen kann. Der medizin-technische<br />

und zahn-medizinische Fortschritt machen die<br />

lebenslange Gesunderhaltung der Zähne zu einem<br />

erreichbaren Ziel. Doch auf dem Weg dahin müssen<br />

wir auch ethische Fragen klären. Nicht alles, was in<br />

der modernen Zahnmedizin therapeutisch möglich<br />

ist, lässt sich über eine solidarisch finanzierte Krankenversicherung<br />

darstellen. In der zahnmedizinischen<br />

Versorgung gibt es über fast alle Leistungsbereiche<br />

mehrere Therapiealternativen, die sich in Aufwand<br />

und Komfort unterscheiden. Für den Zahnersatzbereich<br />

ist uns im gesellschaftlichen Miteinander die<br />

Abgrenzung zwischen einer solidarisch finanzierten,<br />

qualitativ hochwertigen Versorgung einerseits, der<br />

sogenannten „need dentistry“, und den darüber hinausgehenden<br />

individuellen Wünschen des Patienten<br />

andererseits, der sogenannten „want dentistry“,<br />

gelungen. Zudem wird in diesem System die Vermeidung<br />

sozialer Härten gewährleistet. Mit dem Festzuschusssystem<br />

gewinnen alle Beteiligten: Die Patienten<br />

partizipieren am medizinischen Fortschritt, die Krankenkassen<br />

haben eine höhere Planungssicherheit und<br />

wir Zahnärzte können unseren Patienten ein erweitertes<br />

therapeutisches Spektrum anbieten. Ausgehend<br />

von diesem positiven Beispiel, werden wir Zahnärzte<br />

uns dem Zielkonflikt zwischen der bestmöglichen<br />

Patientenversorgung und der dauerhaften Finanzierbarkeit<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung auch<br />

in anderen Leistungsbereichen stellen.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

13


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Rugzan Hussein<br />

Verbreitung prophylaktischer<br />

Maßnahmen in Zahnarztpraxen<br />

Ergebnisse einer Befragungsstudie in Niedersachsen<br />

und Bremen<br />

Dr. Rugzan Hussein<br />

Zahnärztin, wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin am Institut für<br />

Sozialmedizin, Epidemiologie<br />

und Gesundheitssystemforschung<br />

(ISEG), Hannover<br />

Hintergrund<br />

In Deutschland sowie in anderen Industrieländern<br />

ist seit ungefähr drei Jahrzehnten ein starker Kariesrückgang<br />

bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten.<br />

Dieser ist als Folge verschiedener Maßnahmen<br />

anzusehen wie des Ausbaus der Gruppen- und<br />

Individualprophylaxe, verbreiteter Anwendung von<br />

fluoridhaltigen Zahnpasten, der verbesserten häuslichen<br />

Mundpflege sowie eines veränderten Lebensstils<br />

(Petersen et al. 2005; RKI 2006). Noch 1989 betrug<br />

der DMFT-Index 1 bei den 12-Jährigen 4,1 in Westdeutschland<br />

und 3,8 in der DDR. Im Jahr 2009 lag<br />

er bei 0,7 (zum Vergleich Großbritannien: 1983= 3,1<br />

und 2009= 0,7) (WHO <strong>2013</strong>). Damit ist das von der<br />

Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2000 formulierte<br />

Mundgesundheitsziel zur Kariessenkung für<br />

das Jahr 2020 in dieser Altersgruppe in Deutschland<br />

unterschritten (DMFT-Index = 0 - 1,1 „sehr niedriger<br />

Kariesbefall“) (WHO 2000).<br />

Eine Konzentration der oralen Erkrankungen (Karies<br />

und Parodontitis) in bestimmten Bevölkerungsgruppen<br />

wie z. B. Personen in schwierigen Sozialverhältnissen,<br />

mit Migrationshintergrund und Senioren in<br />

Altenheimen ist weiterhin zu beobachten. Im Erwachsenenalter<br />

sind Parodontitis und Karies immer noch<br />

weit verbreitet (DMFT-Wert = 14,5 und CPI 2 Score 4<br />

(Taschentiefe ≥ 6mm) = 20,5 bei den 35 - 44-Jährigen)<br />

(RKI 2006; Schiffner 2006; Hoffmann 2006).<br />

In Deutschland sind Karies und Parodontalerkrankungen<br />

die häufigsten Ursachen für Zahnverlust bei<br />

Erwachsenen (Glockmann et al. 2011). Der aktuelle<br />

Zahnreport zeigt, dass ungefähr 29% der Bevölkerung<br />

mindestens eine Füllung im Jahr 2011 erhalten<br />

hatten und bei 9% mindestens ein Zahn entfernt<br />

wurde (Schäfer et al. <strong>2013</strong>). Die International Collaborative<br />

Study zeigte bereits vor 30 Jahren, dass wiederholte<br />

Füllungen und prothetische Behandlungen<br />

die Mundgesundheit nicht verbessern, sondern den<br />

Krankheitsgrad erhöhen (Arnljot et al. 1985). Deshalb<br />

ist das Ziel der modernen Zahnheilkunde, nicht<br />

1 Der DMFT-Index beschreibt die Zahl der kariösen (Decayed), der infolge von Karies gezogenen<br />

(Missing) und gefüllten (Filled) Zähne (Teeth).<br />

2 Der CPI (Community Periodontal Index) klassifiziert die Zähne nach Krankheitsgrad<br />

und beschreibt den Behandlungsaufwand und -bedarf der Parodontalerkrankungen.<br />

nur orale Erkrankungen und Beschwerden zu vermeiden,<br />

sondern die Mundgesundheit unter Beachtung<br />

der zugrunde liegenden Determinanten für die orale,<br />

aber auch für die allgemeine Gesundheit zu fördern.<br />

Abbildung 1 zeigt, dass orale Erkrankungen weitgehend<br />

vom Gesundheitsverhalten der Menschen abhängen<br />

und dieses wiederum von deren Wissen und<br />

Einstellungen sowie dem sozio-ökonomischen Hintergrund<br />

der Personen. Hier liegen die Hauptansatzpunkte<br />

für präventives Handeln.<br />

Vor diesem Hintergrund scheint die Verbesserung<br />

der Mundgesundheit durch eine effiziente häusliche<br />

Mundpflege und das Fortführen der professionellen<br />

Prophylaxemaßnahmen (PZR) im Erwachsenenalter<br />

und bei prekären Bevölkerungsgruppen von besonderer<br />

Bedeutung. Die Weltgesundheitsorganisation<br />

empfiehlt neben Fluoridierungsmaßnahmen auch<br />

Interventionen zur gesunden Ernährung und zur<br />

Rauchentwöhnung für die weitere Verbesserung der<br />

Mundgesundheit (Petersen et al. 2005).<br />

In Deutschland gewinnt die zahnmedizinische Prävention<br />

immer mehr an Bedeutung. Eine Studie des<br />

Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) zeigt, dass<br />

73% der teilnehmenden Zahnärzte, die einen Schwerpunkt<br />

angaben, Prophylaxe und Prävention nannten<br />

(Micheelis et al. 2010). Immer mehr präventive Maßnahmen<br />

werden in den Zahnarztpraxen angeboten.<br />

Dies hat Folgen sowohl für das Arbeitsspektrum als<br />

auch für die Struktur der Zahnarztpraxis, wie z. B.<br />

eine Zunahme des qualifizierten Prophylaxepersonals<br />

und einen Rückgang der Zahl der Zahntechniker in<br />

der eigenen Praxis (Bauer et al. 2009).<br />

Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse einer<br />

postalischen Befragung unter niedergelassenen Zahnärzten<br />

in Niedersachsen und Bremen dargestellt. Die<br />

Studie wurde in Zusammenarbeit mit der Medizinischen<br />

Hochschule Hannover, der Zahnärztekammer<br />

Niedersachsen und der Kassenzahnärztlichen Vereinigung<br />

Bremen erstellt. Das Angebot prophylaktischer<br />

Maßnahmen wurde im Jahr 2009 untersucht und mit<br />

den Ergebnissen einer früheren Studie des IDZ und<br />

der Medizinischen Hochschule Hannover verglichen 3<br />

3 Für den vollständigen Beitrag siehe Hussein et al.: Dtsch Zahnärztl Z <strong>2013</strong>, 68: 30–37.<br />

14 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

(Schneller et al. 2001). In diesem Beitrag werden folgende<br />

Fragen beantwortet: „Wie sieht die Durchführung<br />

der zahnmedizinischen Prophylaxe heute aus?“<br />

und „Welche präventiven Maßnahmen werden in der<br />

Zahnarztpraxis heute vermehrt angeboten?“<br />

Methodik<br />

In der Studie von 2009 wurden Zufallsstichproben<br />

hinsichtlich Geschlecht, Alter und Niederlassung der<br />

Zahnärzte aus dem Register der Zahnärztekammer<br />

Orale Erkrankungen hängen weitgehend vom Gesundheitsverhalten<br />

der Patienten ab und dieses wiederum von deren Wissen und Einstellungen<br />

sowie dem sozio-ökonomischen Hintergrund. Hier liegen<br />

die Hauptansatzpunkte für präventives Handeln.<br />

Niedersachsen und dem der Kassenzahnärztlichen<br />

Vereinigung Bremen generiert. Es wurden insgesamt<br />

2075 Zahnärzte angeschrieben. Zur Gewährleistung<br />

der Vergleichbarkeit wurden Fragen aus der früheren<br />

Studie von Schneller et al. übernommen.<br />

Ergebnisse<br />

Der Rücklauf der aktuellen Studie betrug 33% (n = 685<br />

Fragebögen), 660 davon wurden in die Analyse einbezogen.<br />

Das Durchschnittsalter beträgt 46 Jahre und<br />

ungefähr 56% der Teilnehmer sind männlich (n = 365).<br />

Als häufigste Spezialisierungen wurden Implantologie<br />

(29%) und Parodontologie (23%) genannt. Ungefähr<br />

zwei Drittel der teilnehmenden Zahnärzte geben an,<br />

an Fortbildungen mit Inhalten zur Prophylaxe und<br />

Prävention teilzunehmen bzw. sich mittels Fachliteratur<br />

darüber zu informieren (Tabelle 1). In ca. 60%<br />

der Zahnarztpraxen ist qualifiziertes Prophylaxepersonal<br />

(Dentalhygieniker bzw. Prophylaxeassistenten)<br />

vertreten und ca. 70% der Zahnarztpraxen verfügten<br />

über eine oder mehrere Prophylaxeeinheiten.<br />

Tabelle 1: Beschreibung der Studienteilnehmer getrennt nach Geschlecht<br />

Merkmale<br />

Geschlecht**<br />

Männer Frauen Alle*<br />

Altersgruppen < 34 Jahre 20 (5,6) 38 (13,2) 58 (9,0)<br />

35-54 Jahre 237 (66,0) 212 (73,6) 449 (69,4)<br />

> 55 Jahre 102 (28,4) 38 (13,2) 140 (21,6)<br />

Berufliche Erfahrung<br />

Durchschnitt in<br />

Jahren<br />

17,9 12,5 15,6<br />

Gesamte Arbeitsstunden<br />

pro Woche<br />

Arbeitsstunden am<br />

Patienten pro Woche<br />

Teilnahme an Fortbildungen<br />

zum Thema Prävention<br />

Lesen von wissenschaftlichen<br />

Journals<br />

Durchschnitt in<br />

Stunden<br />

Durchschnitt in<br />

Stunden<br />

44,8 38,6 42,1<br />

35,2 32,1 33,9<br />

Ja 260 (71,2) 184 (63,7) 444 (67,9)<br />

Ja 237 (64,9) 199 (68,9) 436 (66,7)<br />

Prophylaxepersonal Ja 222 (61,2) 166 (57,6) 388 (59,6)<br />

Prophylaxeeinheit Ja 262 (72,0) 187 (65,2) 449 (69,0)<br />

Privatpatienten < 20.0% 248 (70,1) 194 (70,0) 442 (70,0)<br />

> 20.0% 106 (29,9) 83 (30,0) 189 (30,0)<br />

Prävention als<br />

Spezialisierung<br />

Ja 58 (16,5) 48 (17,1) 106 (16,8)<br />

Prävention als<br />

Schwerpunkt<br />

Ja 165 (47,0) 145 (51,6) 310 (49,1)<br />

* Die Zahl der Zahnärzte in den verschiedenen Analysen lag zwischen 629 und 654. ** Zahlen in Klammern sind Prozentwerte.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

15


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Der Rücklauf bei der zum Vergleich herangezogenen<br />

IDZ-Studie betrug 52,5%. 65,5% der Teilnehmer (gesamt<br />

n = 577) waren männlich. Die Geschlechts- und<br />

Altersverteilung stimmten mit denen der Grundgesamtheit<br />

der tätigen Zahnärzte in Deutschland überein<br />

(Schneller et al. 2001).<br />

In nahezu allen Bereichen der zahnärztlichen Tätigkeit hat sich das<br />

Volumen prophylaktischer Leistungen von 2000 bis 2009 erhöht,<br />

von Maßnahmen zur Diagnostik über die Aufklärung der Patienten,<br />

die Demonstration korrekter Zahnputztechniken bis hin zur Fluoridierung<br />

und Professionellen Zahnreinigung.<br />

Die angebotenen und durchgeführten Maßnahmen<br />

werden in vier Schwerpunktthemen zusammengestellt.<br />

Das erste Schwerpunktthema umfasst Maßnahmen<br />

zur Diagnostik und Risikobewertung oraler<br />

Erkrankungen. Abbildung 2 zeigt, wie häufig die<br />

Teilnehmer diese Maßnahmen im Vergleich zu der<br />

Studie von Schneller et al. anbieten. Maßnahmen<br />

zur Risikoeinschätzung werden von ungefähr 15%<br />

der Zahnärzte „immer“ und 30% „oft“ durchgeführt.<br />

In der aktuellen Studie bieten die Zahnärzte im Vergleich<br />

zu der Studie von Schneller et al. (26%) diese<br />

Maßnahme signifikant öfter (45%) an. Eine ausführliche<br />

Mundpflegeanamnese wird von 35% der teilnehmenden<br />

Zahnärzte „immer“ und von 43% „oft“ im<br />

Jahr 2009 erstellt. Im Vergleich zu den Ergebnissen<br />

von 2000 wird diese Maßnahme häufiger durchgeführt<br />

(78% vs. 67%).<br />

Im zweiten Schwerpunkt sind Maßnahmen zur Aufklärung<br />

der Patienten enthalten. Ein Blick in Abbildung<br />

2 zeigt die Raten zur Aufklärung der Patienten<br />

und Wissensvermittlung über Krankheitsursachen<br />

in den beiden Studien. Im Vergleich zur früheren<br />

Studie erfolgt diese Maßnahme häufiger „immer bis<br />

oft“ als vor zehn Jahren (93% vs. 87%). Die Zahnärzte<br />

der vorliegenden Studie bieten ihren Patienten Informationen<br />

über zahngesunde Ernährung „immer“<br />

zu 16% und „oft“ zu 50% an. Im Vergleich zu den Ergebnissen<br />

von 2000 klären die Zahnärzte ihre Patienten<br />

seltener zu diesem Thema „immer bis oft“ auf<br />

(66% vs. 74%).<br />

Das dritte Schwerpunktthema umfasst Maßnahmen<br />

zur Demonstration korrekter Zahnpflegetechniken.<br />

Ungefähr 55% der Teilnehmer gaben an, dass in ihren<br />

Praxen Maßnahmen zu korrekten Zahnpflegetechniken<br />

(Dauer, Zahnbürsttechnik und Systematik)<br />

„immer“ angeboten werden. 40% boten sie „oft“<br />

an (s. Abbildung 3). Die Zahnärzte der aktuellen Studie<br />

bieten Demonstrationen und Unterweisungen zur<br />

korrekten Zwischenraumpflege „immer“ zu 42% und<br />

„oft“ zu 46% an. Insgesamt wurden im Jahr 2009 Demonstrationen<br />

zur Zahnputztechnik häufiger „immer<br />

bis oft“ durchgeführt als solche zur Zahnseideanwendung<br />

(94% vs. 88%). Im Vergleich zu den Ergebnissen<br />

der früheren Studie demonstrieren die Zahnärzte<br />

im Jahr 2009 die korrekte Zahnputztechnik häufiger<br />

(94% vs. 86%). In der aktuellen Studie bieten die<br />

Zahnärzte im Vergleich zu der Studie vom Jahr 2000<br />

(84%) die korrekte Zahnzwischenraumpflege etwas<br />

häufiger (88%) an.<br />

Zum vierten Schwerpunktthema gehören Maßnahmen<br />

zur Fluoridierung und zur professionellen Zahnreinigung<br />

(Abbildung 3). Professionelle Fluoridanwendung<br />

wird von der Mehrheit der Zahnärzte mit 97%<br />

im Jahr 2009 sehr häufig angeboten. Empfehlungen<br />

zu Fluoridierungsmaßnahmen zuhause (z. B. fluoridiertes<br />

Speisesalz, fluoridierte Zahnpasten) werden<br />

„immer bis oft“ von etwa 87% der Zahnärzte gegeben.<br />

Im Vergleich zu den Ergebnissen des Jahres 2000<br />

setzen die Zahnärzte professionelle Fluoridierungsmaßnahmen<br />

(97% vs. 81%) häufiger ein und sprechen<br />

öfter Empfehlungen für die häuslichen Fluoridierungsmaßnahmen<br />

aus (87% vs. 68%). Die professionelle<br />

Zahnreinigung wird von 92% der Zahnärzte der<br />

aktuellen Studie „immer bis oft“ angeboten. Professionelle<br />

Zahnreinigung wird im Jahr 2009 im Vergleich<br />

zu dem Jahr 2000 signifikant häufiger durchgeführt<br />

(92% vs. 63%).<br />

Diskussion<br />

Präventive Maßnahmen werden heute in den Zahnarztpraxen<br />

häufiger als vor einem Jahrzehnt angeboten.<br />

Internationale Studien zeigen eine Abnahme restaurativer<br />

und zahnerhaltender Behandlungen in den<br />

Zahnarztpraxen zugunsten präventiver und diagnostischer<br />

Maßnahmen (Manski und Moeller 2002; Ferracane<br />

et al. 2011). Dies deutet auf die Änderung der<br />

Bedürfnisse der Patienten, das zunehmende Interesse<br />

an Prophylaxe sowie die Zahlungsbereitschaft der Patienten<br />

hin. Auf der Zahnarztseite kann das verstärk-<br />

16 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

te Angebot an präventiven Maßnahmen Folge einer<br />

Einstellungsänderung der Zahnärzte gegenüber der<br />

Prävention und/oder dem finanziellen Erfolg durch<br />

Prävention sein.<br />

In einer früheren Studie betrachteten die Zahnärzte<br />

als effektivste Maßnahmen gegen Karies und Parodontitis<br />

die Fluoridanwendung (gegen Karies), die<br />

professionelle Zahnreinigung (u. a. mechanische<br />

Plaque- und Zahnsteinentfernung) und die Patientenschulung<br />

(Wissensvermittlung, Motivierung) (Schneller<br />

et al. 1998). Die Bedeutung dieser Maßnahmen<br />

scheint noch größer geworden zu sein, da heute diese<br />

Maßnahmen verstärkt angeboten werden, was auf<br />

das zugrundeliegende Vertrauen der Zahnärzte in die<br />

Prävention hinweist. Die Anwendung von Fluoriden<br />

ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Kariesprävention.<br />

Die vermehrte professionelle und häusliche<br />

Fluoridanwendung kann auf die durch zahlreiche<br />

Studien belegte Unbedenklichkeit des Fluoridgebrauchs<br />

zurückgeführt werden. Zahlreiche Studien<br />

belegen die Wirksamkeit der Fluoride gegen Karies<br />

und deren Anwendung hat sich auch für die Prävention<br />

von Wurzelkaries verbreitet (Heijnsbroek et al.<br />

2007; Hellwig und Lennon 2004).<br />

Maßnahmen der professionellen Zahnreinigung beinhalten<br />

die Untersuchung der Mundhöhle (z. B.<br />

Plaque, Blutungen und Taschen), Anweisungen zu<br />

korrekten Zahnpflegetechniken, Plaqueentfernung<br />

und Politur, Fluoridanwendung, Risikoeinschätzung<br />

und Vereinbarung des nächsten Recalltermins. Die<br />

professionelle Zahnreinigung wird heute in den teilnehmenden<br />

Zahnarztpraxen deutlich öfter als vor<br />

zehn Jahren durchgeführt. Dies kann an der zunehmenden<br />

Zahl gut ausgebildeter Prophylaxeassistentinnen<br />

in den Praxen liegen, wodurch das Angebot<br />

deutlich zugenommen hat (Freeman et al. 2005). Ein<br />

weiterer Grund kann das verstärkte Interesse des Patienten<br />

an der eigenen Mundgesundheit sein. Aufmerksamkeit<br />

erhält die Prophylaxe auch durch die<br />

zunehmende Präsenz des Themas in den Print- und<br />

TV-Medien wie auch in der Ratgeberliteratur. Im Allgemeinen<br />

achten die Patienten heutzutage mehr auf<br />

ihren Mundgesundheitszustand. Das Bewusstsein für<br />

orale Erkrankungen und die Sensibilisierung der Patienten<br />

sowohl für die Mundgesundheit, die Ästhetik<br />

als auch die Art der zahnmedizinischen Versorgung<br />

haben sich geändert. Beispielsweise putzen sich 84%<br />

der 35- bis 44-Jährigen mindestens zweimal pro Tag<br />

die Zähne (Micheelis und Reiter 2006). Es wird mehr<br />

auf weiße Zähne geachtet, auf saubere Zähne statt<br />

Karies, Kunststofffüllungen statt Amalgamfüllungen<br />

und auch Implantatversorgungen statt Brücken,<br />

und das, selbst wenn die Patienten die (Mehr-)Kos-<br />

Abbildung 1:<br />

Kurativ-zahnmedizinisches<br />

Krankheitsmodell vs. bio-psycho-soziales<br />

präventives Krankheitsmodell<br />

(© Hussein und<br />

Schneller 2011).<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

17


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

ten dafür übernehmen müssen (Schäfer et al. <strong>2013</strong>).<br />

Dies motiviert die Zahnärzte, ihre Prophylaxeangebote<br />

zu erweitern und immer weiter zu entwickeln.<br />

Veränderungen in den Einstellungen der Zahnärzte<br />

gegenüber Prävention im Sinne von Wirksamkeit und<br />

Wirtschaftlichkeit der Prävention können eine mögliche<br />

Erklärung für das vermehrte Angebot der professionellen<br />

Zahnreinigung sein. Als weitere Motive<br />

auf Seiten der Zahnärzte kommen die Konkurrenzsituation<br />

gegenüber anderen Praxen und eine größere<br />

Berufszufriedenheit bei prophylaktischer Patientenversorgung<br />

in Frage (Hussein et al. <strong>2013</strong>).<br />

Maßnahmen zur Risikobewertung sind in den Zahnarztpraxen<br />

hingegen nicht sehr verbreitet. Die Zahnarztpraxis<br />

sollte sich intensiver mit der Risikobewertung<br />

oraler Erkrankungen und deren zugrunde<br />

liegenden ätiologischen Faktoren beschäftigen. Diese<br />

sind biologische, psychologische und soziale Determinanten<br />

(s. Abbildung 1). Altersgerechte Risikobewertungsstrategien<br />

sind entscheidend für die<br />

erfolgreiche Vermeidung oraler Erkrankungen. Der<br />

demografische Wandel und die raschen Entwicklungen<br />

in der zahnmedizinischen Versorgung und Technologie<br />

führen zu längerem Erhalt der natürlichen Zähne.<br />

Dies wiederum bedeutet, dass das Erkrankungs-<br />

risiko für Parodontitis und Wurzelkaries zunimmt.<br />

Ältere Menschen benötigen deshalb zusätzliche und<br />

intensivere Betreuung bezüglich der Verbesserung<br />

der Mundhygiene, Prävention von Wurzelkaries sowie<br />

gesunder Ernährung im Alter (Hellwig und Altenburger<br />

2011; BZÄK 2002).<br />

Ernährungsmodifikation auf gesunde Alternativen<br />

ist eine wichtige Maßnahme zur Kariesprävention.<br />

Internationale Studien weisen auf eine suboptimale<br />

Versorgung diesbezüglich hin (Freeman et al. 2005;<br />

Holloway und Clarkson 1994). Zahnärzte und Zahnmedizinstudenten<br />

verfügen nur über unzureichendes<br />

Wissen über eine zahngesunde Ernährung (Shah et al.<br />

2011; Kelly und Moynihan 2008). Auch in Deutschland<br />

werden diese Aspekte bislang kaum im Zahnmedizinstudium<br />

und auch nicht in den zahnärztlichen<br />

Weiter- und Fortbildungen angesprochen. Weitere<br />

Gründe für das Nichtanbieten von qualifizierter Ernährungsberatung<br />

sind Zeitmangel, fehlendes Beratungstraining<br />

sowie fehlende Motivation der Patienten<br />

(Threfall et al. 2007; Kelly und Moynihan 2008).<br />

In Deutschland gibt es zudem kaum Studien, die sich<br />

mit Ernährungsberatung und den Einstellungen der<br />

Zahnärzte dazu beschäftigen.<br />

LITERATUR<br />

Arnljot H., Barmes D., Cohen L., Hunter P. & Ship I. Oral Health Care Systems: An<br />

International Collaborative Study. London: Quintessence, 1985.<br />

Bauer J., Neumann T. & Saekel R. Zahnmedizinische Versorgung in Deutschland.<br />

Bern: Verlag Hans Huber, 2009.<br />

Bundeszahnärztekammer. Präventionsorientierte Zahnmedizin unter den besonderen<br />

Aspekten des Alters. Bundeszahnärztekammer Ausschuss Präventive<br />

Zahnheilkunde in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Altersmedizin. 2002.<br />

Internet: http://lzkbw.de/Zahnaerzte/Alterszahnheilkunde/Downloads/Alters-<br />

Leitfaden_BZAEK_web.pdf.<br />

Deinzer R., Micheelis W., Granrath N. & Hoffmann T. Parodontitisrelevantes<br />

Wissen in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland Ergebnisse einer<br />

Repräsentativerhebung. Institut der Deutschen Zahnärzte. IDZ-Information<br />

1/2008.<br />

Ferracane J., Hilton T., Korpak A., Gillette J., McIntyre P. S. & Berg J. Use of caries<br />

prevention services in the Northwest PRECEDENT dental network. Community<br />

Dent.Oral Epidemiol. 2011; 39 (1): 69-78.<br />

Freeman R., Kerr G., Salmon K. & Speedy P. Patient-active prevention in primary<br />

dental care: a characterisation of general practices in Northern Ireland. Prim.<br />

Dent.Care 2005; 12 (2): 42-46.<br />

Glockmann E., Panzner K. D., Huhn P., Sigusch B. W. & Glockmann K. Ursachen<br />

des Zahnverlustes in Deutschland. Dokumentation einer bundesweiten Erhebung<br />

(2007). Institut der Deutschen Zahnärzte. IDZ-Information 2/2011.<br />

Heijnsbroek M., Paraskevas S. & Van der Weijden G. A. Fluoride interventions for<br />

root caries: a review. Oral Health Prev.Dent. 2007; 5 (2): 145-152.<br />

Hellwig E. & Altenburger M. Paradigmenwechsel in der Zahnerhaltung von einer<br />

mechanistischen zu einer prävention-orientierten Sichtweise. Bundesgesundheitsblatt<br />

2011; 54 (9/10): 1015-1021.<br />

Hellwig E. & Lennon A. M. Systemic versus topical fluoride. Caries Res. 2004; 38<br />

(3): 258-262.<br />

Hoffmann T. Krankheits- und Versorgungsprävalenzen bei Erwachsenen (35-<br />

44 Jahre) Parodontalerkrankungen. in: Micheelis W. & Schiffner U. (Eds.). Vierte<br />

Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV). Köln: Deutscher Zahnärzte Verlag<br />

DÄV 2006.<br />

Holloway P. J. & Clarkson J. E. Cost: benefit of prevention in practice. Int.Dent.J.<br />

1994; 44 (4): 317-322.<br />

Hussein R., Walter U. & Schneller T. Ausübung und Ausbau der Prophylaxe in<br />

deutschen Zahnarztpraxen: ein Vergleich der Ergebnisse von 2000 und 2009.<br />

Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift (DZZ) <strong>2013</strong>; 68 (1): 30-37.<br />

Kelly S. A. & Moynihan P. J. Attitudes and practices of dentists with respect to<br />

nutrition and periodontal health. Br.Dent.J. 2008; 205 (4): E9-7.<br />

Manski R. J. & Moeller J. F. Use of dental services: an analysis of visits, procedures<br />

and providers, 1996. J.Am Dent.Assoc. 2002; 133 (2): 167-175.<br />

Micheelis W., Bergmann-Krauss B. & Reiche E. Rollenverständnisse von Zahnärztinnen<br />

und Zahnärzten in Deutschland zur eigenen Berufsausübung - Ergebnisse<br />

einer bundesweiten Befragungsstudie. Institut der Deutschen Zahnärzte.<br />

IDZ-Information 1/2010.<br />

Micheelis W. & Reiter F. Soziodemographische und verhaltensbezogene Aspekte<br />

oraler Risikofaktoren in den vier Alterskohorten. in: Micheelis W. & Schiffner<br />

U. (Eds.). Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV). Köln: Deutscher<br />

Zahnärzte Verlag DÄV 2006.<br />

Petersen P. E., Bourgeois D., Ogawa H., Estupinan-Day S. & Ndiaye C. The global<br />

burden of oral diseases and risks to oral health. Bull.World Health Organ 2005;<br />

83 (9): 661-669.<br />

Petersen P. E., Estupinan-Day S. & Ndiaye C. WHO‘s action for continuous improvement<br />

in oral health. Bull.World Health Organ 2005; 83 (9): 642.<br />

RKI. Gesundheit in Deutschland. 2006. erhältlich unter: http://www.gbe-bund.<br />

de/gbe10/owards.prc_show_pdf?p_id=9965&p_sprache=D. abgerufen am:<br />

20.4.2011.<br />

Schäfer T., Hartmann A., Hussein R., Bitzer E. M. & Schwartz F. W. BARMER GEK<br />

Zahnreport <strong>2013</strong>. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 19. Asgard Verlag,<br />

St. Augustin: BARMER GEK, <strong>2013</strong>.<br />

Schiffner U. Krankheits- und Versorgungsprävalenzen bei Erwachsenen (35-44<br />

Jahre) Zahnkaries. in: Micheelis W. & Schiffner U. (Eds.). Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie<br />

(DMS IV). Köln: Deutscher Zahnärzte Verlag DÄV 2006.<br />

Schneller T., Micheelis, W. & Mittermeier D. Akzeptanz und Arbeitsstrategien<br />

zur Individualprophylaxe. IDZ-Information 1/1998.<br />

Schneller T., Micheelis W. & Hendriks J. Individualprophylaxe bei Erwachsenen -<br />

Erfahrungen, Problemsichten und Perspektiven bei niedergelassenen Zahnärzten<br />

in Deutschland. IDZ-Information 4/2001.<br />

Shah K., Hunter M. L., Fairchild R. M. & Morgan M. Z. A comparison of the nutritional<br />

knowledge of dental, dietetic and nutrition students. Br.Dent.J. 2011;<br />

210 (1): 33-38.<br />

Threlfall A. G., Hunt C. M., Milsom K. M., Tickle M. & Blinkhorn A. S. Exploring<br />

factors that influence general dental practitioners when providing advice to<br />

help prevent caries in children. Br.Dent.J. 2007; 202 (4): E10-E17.<br />

WHO. Global Data on Dental Caries Prevalence (DMFT) in Children aged 12 years.<br />

erhältlich unter: http://whqlibdoc.who.int/hq/2000/WHO_NMH_MNC_<br />

ORH_Caries.12y.00.3.pdf . 2000. abgerufen am: 2.10.2012.<br />

WHO. WHO Oral Health Country/Area Profile Programme. erhältlich unter:<br />

http://www.mah.se/CAPP/Country-Oral-Health-Profiles/EURO/. <strong>2013</strong>. abgerufen<br />

am: 13.5.<strong>2013</strong>.<br />

18 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

Die Qualität und Wirksamkeit der durchgeführten<br />

Prophylaxemaßnahmen in den Zahnarztpraxen<br />

kann in dieser Studie nicht beurteilt werden. Bevölkerungsstudien<br />

in Deutschland zeigen, dass Patienten<br />

immer noch wenig über Parodontitis und deren<br />

Ursachen wissen (Deinzer et al. 2008) und viele<br />

Menschen trotz täglichen Zähneputzens ein unzureichendes<br />

Mundhygieneniveau (Dauer, Häufigkeit<br />

und Zeitpunkt des Zähneputzens) aufweisen, das mit<br />

dem steigenden Alter abfällt (Micheelis und Reiter<br />

2006). Deshalb müssen Aufklärung und Motivation<br />

sowie die Demonstrationen und praktischen Übungen<br />

zur optimierten Mundpflege durch qualifizierte,<br />

gut ausgebildete zahnärztliche Teams noch intensiviert<br />

werden.<br />

Zusammenfassung<br />

Die vorliegende Studie bestätigt Aussagen, die von<br />

einem Trend weg von der „reparierenden“ hin zur<br />

vorbeugenden Zahnheilkunde sprechen. Prävention<br />

nimmt einen immer größeren Anteil an praktischer<br />

zahnärztlicher Tätigkeit ein. Insgesamt werden Patienten<br />

auf Prophylaxe heute häufiger angesprochen<br />

und fragen diese vermehrt auch selbst nach. Aussagen<br />

zur Qualität und Nachhaltigkeit der durchgeführten<br />

Maßnahmen können in dieser Studie nicht<br />

getroffen werden. In bestimmten Bereichen der Prävention<br />

wie Ernährungslenkung und Risikobewertung<br />

wurde eine suboptimale Versorgung festgestellt.<br />

Klarheit über mögliche Gründe dafür können weitere<br />

Studien liefern.<br />

Prävention nimmt einen immer größeren Anteil an praktischer<br />

zahnärztlicher Tätigkeit ein. Die Studie bestätigt den Trend weg von<br />

der „reparierenden“ hin zur vorbeugenden Zahnheilkunde.<br />

Abbildung 2:<br />

Durchgeführte Maßnahmen zur<br />

Risikobewertung oraler Erkrankungen<br />

und Aufklärung der<br />

Patienten.<br />

Abbildung 3:<br />

Durchgeführte Maßnahmen zur<br />

Demonstration korrekter Zahnpflegetechniken,<br />

Fluoridierung<br />

und professionellen Zahnreinigung.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

19


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Michael Dreyer<br />

Staatliche Fürsorge oder Eigenverantwortung<br />

des Patienten<br />

Ein Problem für die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe?<br />

Dr. Michael Dreyer<br />

Vizepräsident der Zahnärztekammer<br />

Berlin, Stellvertretender<br />

Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft<br />

Berlin<br />

zur Verhütung von Zahnerkrankungen<br />

e.V. (LAG Berlin)<br />

1<br />

Epidemiologische Begleituntersuchung<br />

zur Gruppenprophylaxe<br />

2009, Prof. Dr. Klaus<br />

Pieper, Marburg, Gutachten erstellt<br />

im Auftrag der Deutschen<br />

Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege<br />

e.V.<br />

2<br />

Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie<br />

(DMS IV), Institut<br />

der Deutschen Zahnärzte (IDZ),<br />

Köln 2006.<br />

Für die erwachsene Bevölkerung stellt sich diese Frage<br />

in der Regel eigentlich nicht, dort hat die Eigenverantwortung<br />

sicherlich den Vorrang. In unserer heutigen<br />

sozialen Gesellschaft hat jeder die Möglichkeit,<br />

sowohl ausreichende Informationen als auch Zugang<br />

zu Prävention und medizinischer oder zahnmedizinischer<br />

Behandlung zu erlangen. Anders sieht es bei<br />

Menschen mit Behinderungen oder alten Menschen,<br />

aber auch bei Bevölkerungsgruppen in sozial schwierigen<br />

Lebenslagen und mit Migrationshintergrund<br />

aus, die sich objektiv oder subjektiv nicht selber versorgen<br />

können. Die geringste Eigeninitiative jedoch<br />

können Kinder aufbringen. Selbstverständlich übernehmen<br />

die Eltern hier den Großteil der Verantwortung.<br />

Bezogen auf die zahnmedizinische Prävention<br />

ist die ganze Bandbreite vorhanden: von Eltern, die<br />

vorbildlich für ihren Nachwuchs sorgen, über Eltern,<br />

die in diesem Bereich mit Schwierigkeiten zu kämpfen<br />

haben, bis hin zur Kindesvernachlässigung.<br />

Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe soll - auch<br />

im Interesse der gesundheitlichen Chancengleichheit -<br />

Kinder möglichst früh erreichen. Während der 1980er<br />

Jahre war der Mundgesundheitszustand in der Bundesrepublik<br />

bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich<br />

zu anderen modernen Industriestaaten mäßig<br />

bis schlecht. Um bereits Schulkindern eine präventive<br />

Versorgung zukommen zu lassen, wurde 1989 der<br />

§ 21 in das Sozialgesetzbuch V aufgenommen. Diese<br />

Vorschrift regelt die Finanzierung und Organisation<br />

der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe durch<br />

im Gesundheitswesen beteiligte Institutionen und<br />

schreibt Maßnahmen zur Qualitätssicherung durch<br />

Dokumentation und Erfolgskontrolle vor. Im § 22 SGB<br />

V wird ergänzend die Durchführung der Individualprophylaxe<br />

in Zahnarztpraxen geregelt.<br />

Seit 1994 legte die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für<br />

Jugendzahnpflege e.V. (DAJ), in welcher auch alle<br />

Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege<br />

zusammengeschlossen sind, im Rahmen der gesetzlichen<br />

Vorgaben fünf Studien zur Erfolgskontrolle der<br />

zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe vor. Bereits<br />

in den ersten Jahren nach Einführung der Gruppenprophylaxe<br />

wurde ein signifikanter Rückgang der<br />

Karies bei Kindern festgestellt. Die letzte Studie aus<br />

2009 1 zeigt, dass heute mehr als die Hälfte der 6-jährigen<br />

und rund zwei Drittel der 12-jährigen Kinder<br />

in Deutschland kariesfreie Zähne hat. In allen untersuchten<br />

Altersklassen sanken die Karieszahlen, im<br />

Bereich der 12-Jährigen sogar um 72,7 Prozent seit<br />

Beginn der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe.<br />

Hier nimmt Deutschland mittlerweile international<br />

eine Spitzenstellung ein.<br />

Sowohl die Studien der DAJ als auch die Vierte Deutsche<br />

Mundgesundheitsstudie (DMS IV) 2 belegen den<br />

nachhaltigen Erfolg der zahnmedizinischen Aktivitäten<br />

im Bereich der Bevölkerungs-, Gruppen- und Individualprophylaxe.<br />

Dennoch gibt es weiterhin und<br />

teils neu verstärkt gewichtige Problemlagen:<br />

Der Anteil der Milchzahnkaries ist mit 46,1 Prozent<br />

bei Schulanfängern immer noch zu hoch. Es ist zu<br />

beobachten, dass viele Kinder bereits mit vorhandener<br />

Karies in die Kita eintreten. Etwa die Hälfte der<br />

kariösen Milchzähne bleibt Expertenschätzungen zufolge<br />

unbehandelt.<br />

Die Studien zeigen auch deutliche Herausforderungen<br />

insbesondere durch die sehr ungleiche Verteilung<br />

der Karies. Etwas über 20 Prozent der Kinder<br />

und Jugendlichen tragen fast 80 Prozent der Karieslast.<br />

Dies wird in Fachkreisen als „Polarisation der<br />

Erkrankungslast“ bezeichnet. Dabei spielen sozial<br />

schwierige Lebenslagen und Migrationshintergründe<br />

eine gewichtige Rolle. In Berlin als multikultureller<br />

Hauptstadt treten diese Herausforderungen besonders<br />

hervor.<br />

Die drei sozialen Hauptprobleme in Berlin – Arbeitslosigkeit,<br />

soziale Benachteiligung der jungen Generation<br />

und der große Anteil der Kinder und Jugendlichen<br />

mit Migrationshintergrund – haben direkte<br />

Bedeutung für die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />

und sind trotz intensiver Maßnahmen im<br />

Vergleich der Bundesländer für Berlin wesentliche<br />

Ursache schlechterer Werte.<br />

Die Landesarbeitsgemeinschaft Berlin zur Verhütung<br />

von Zahnerkrankungen e.V. (LAG Berlin), als<br />

Zusammenschluss der Krankenkassen, des Landes<br />

Berlin und der Zahnärztekammer Berlin, trägt diesen<br />

besonderen Umständen Rechnung. Neben den<br />

20 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

Untersuchungsmaßnahmen, der lokalen Fluoridierung<br />

und der Gesundheitserziehung in Kitas und<br />

Schulen spielt die Kommunikation mit Erzieherinnen<br />

und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern sowie<br />

Eltern eine große Rolle. Besondere Aufmerksamkeit<br />

kommt dabei der Arbeit mit Eltern zu. Sie sind – besonders,<br />

was die Kleinkinder unter 3 Jahren betrifft<br />

– eine Zielgruppe, deren Information und Motivation<br />

im Hinblick auf die Mundgesundheit ihrer Kinder<br />

von allergrößter Wichtigkeit ist. Ohne Compliance<br />

der Eltern geht in diesem Alter nichts.<br />

Eine Neuerung in der Berliner Elternarbeit stellt die<br />

„Abholsituation“ in Kitas dar. Hier sollen insbesondere<br />

auch die Eltern von Kindern unter 3 Jahren erreicht<br />

werden, um sie für die Mundpflege auch der<br />

Allerkleinsten zu sensibilisieren und bei Bedarf zu<br />

schulen. Erweitert wird das Angebot um das Aufsuchen<br />

von Elterncafés und Krabbelgruppen. Gerade in<br />

letzteren sind die Mütter sehr interessiert am Austausch<br />

von Wissen und Möglichkeiten. Ziel dieser<br />

Maßnahmen ist es, die immer noch zu hohe Milchzahnkariesquote,<br />

insbesondere die frühkindliche Karies,<br />

zu senken.<br />

Die Teilnahme der LAG-Teams an Jugendevents,<br />

eine neu installierte regelmäßige Zusammenarbeit<br />

mit dem Berliner Landessportbund, die Anwesenheit<br />

bei Schulveranstaltungen sowie besondere Aktivitäten<br />

zum Tag der Zahngesundheit erweitern den<br />

Kreis der erreichbaren Kinder und Jugendlichen und<br />

deren Eltern. Hinzu kommen Ansätze für eine Zusammenarbeit<br />

mit Pädiatern und Hebammen. Seit<br />

einiger Zeit schon spielen die Schulung von Berliner<br />

Eltern mit Migrationshintergrund in Elternklassen<br />

und die Beteiligung an der Ausbildung von Stadtteilmüttern<br />

eine Rolle.<br />

Da die LAG Berlin Finanzmittel ausschließlich von<br />

den Kassen und der Zahnärztekammer erhält – das<br />

Land Berlin erbringt seinen Beitrag durch die Arbeit<br />

der Bezirklichen Zahnärztlichen Dienste –, sind dem<br />

Ausbau der Aktivitäten der LAG Grenzen gesetzt. Ein<br />

Beispiel für die Mittelknappheit ist bei der Diskussion<br />

über Fluoridierungsmaßnahmen die Frage der Verwendung<br />

von Gelee oder Fluoridlack. Eine generelle<br />

Verwendung von Lack würde die Budgets sprengen.<br />

Eine weitere Problematik, die durch die LAG nicht<br />

allein zu lösen ist, ist das Erreichen von Menschen in<br />

sozial schwierigen Lebenslagen und Migranten. Durch<br />

eine der vielen Schulreformen in Berlin sind die für<br />

die LAG-Prophylaxe als Karies-Brennpunkte identifizierten<br />

Hauptschulen abgeschafft und mit ehemaligen<br />

Realschulen sowie Gesamtschulen zusammengelegt<br />

worden. Dadurch wird eine bedarfsgerechte<br />

Verteilung der Ressourcen der LAG auf Schulen mit<br />

überdurchschnittlich hohem Kariesaufkommen erheblich<br />

erschwert.<br />

Die Schnittstelle zwischen Gruppenprophylaxe und<br />

Individualprophylaxe beginnt bereits im Kleinkindalter.<br />

Der Aufklärung und praktischen Einübung muss<br />

individualprophylaktisches und im Falle von Problemen<br />

auch kuratives Verhalten folgen. Wie die Zahlen<br />

der Gesundheitsberichte zeigen, ist die Zahl der<br />

unsanierten Milchgebisse immer noch zu hoch. Eine<br />

Absenkung kann nur erreicht werden, wenn hier die<br />

Vernetzung mit auf Problemfälle spezialisierten Kinderzahnarzt-Praxen<br />

verbessert wird.<br />

Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />

ist das Erfolgsmodell im Bereich der gruppenbezogenen<br />

Prävention und vereint erfolgreich<br />

Verhaltens- und Verhältnisprävention.<br />

Das sollte auch bei den Beratungen<br />

zur Gestaltung des Präventionsgesetzes<br />

Berücksichtigung finden.<br />

Unstrittig ist, dass die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />

deutliche Erfolge erzielt hat. Sie leistet einen<br />

ausgezeichneten Dienst für die Volksgesundheit und<br />

gibt jungen Menschen eine gute Starthilfe im Übergang<br />

zur späteren Selbstverantwortung. Aufgrund<br />

ihrer finanziellen und administrativen Ausstattung<br />

kann sie gegenwärtig jedoch nicht alle Bedarfsgruppen<br />

vollständig erreichen.<br />

Das Thema Prävention stand aktuell im Bundestag<br />

im Mittelpunkt einer Sachverständigenanhörung des<br />

Gesundheitsausschusses am 15. Mai <strong>2013</strong>. Die Abgeordneten<br />

befragten die Experten zu einem Entwurf<br />

der Koalitionsfraktionen für ein Präventionsgesetz<br />

sowie zu einem Antrag der SPD-Fraktion. Während<br />

Union und FDP vor allem das gesundheitsbewusste<br />

Verhalten der Bevölkerung stärken wollen, setzen<br />

die Sozialdemokraten stärker auf die Verhältnisprävention.<br />

Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />

gemäß § 21 SGB V ist das Erfolgsmodell im Bereich<br />

der konzeptionellen gruppenbezogenen Prävention<br />

für Kinder und Jugendliche und gleichzeitig ein hervorragendes<br />

Beispiel für die Verbindung von Verhaltens-<br />

und Verhältnisprävention im lebensweltbezogenen<br />

Ansatz (Setting). Umso bedauerlicher ist es, dass<br />

als Experten keine Vertreter der engagierten und in<br />

der Prävention seit Jahrzehnten erfahrenen Zahnärzteschaft<br />

angehört wurden. Gerade diejenigen, die vor<br />

Ort Prophylaxe durchführen, hätten mit ihrer Erfahrung<br />

und der intimen Kenntnis von Problemen und<br />

möglichen Problemlösungen gute Anregungen für die<br />

gesetzgeberische Arbeit geben können. Hier ist leider<br />

eine Chance vertan worden.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

21


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Ulrich Schiffner<br />

Erfolge, Grenzen und Weiterentwicklung<br />

der Kariesprävention<br />

Prof. Dr. Ulrich Schiffner<br />

Zentrum für Zahn-, Mundund<br />

Kieferheilkunde am Universitätsklinikum<br />

Hamburg-<br />

Eppendorf,<br />

Fortbildungsreferent der Deutschen<br />

Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde<br />

Bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist seit<br />

zwei Jahrzehnten ein deutlicher Kariesrückgang feststellbar.<br />

Diese erfreuliche Entwicklung hat im Jahre<br />

2005 ausweislich der nationalen, repräsentativen<br />

Vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS<br />

IV) 1 zu einem DMFT 2 -Wert von 0,7 bei 12-Jährigen<br />

geführt. Das bedeutet, dass ein 12-jähriges Kind im<br />

Durchschnitt weniger als einen Zahn mit Karies oder<br />

kariesbedingten Folgen (Füllungen, Extraktionen)<br />

aufweist. Dieser Wert wurde von der letzten DAJ-<br />

Studie 3 bestätigt. Im internationalen Vergleich stehen<br />

die deutschen 12-jährigen Kinder damit, auf die<br />

Karies bezogen, weltweit mit an der Spitze der oralen<br />

Gesundheit.<br />

Die positive Entwicklung wird mit den verbreitet etablierten<br />

Konzepten der Kariesprophylaxe begründet.<br />

Dabei finden sowohl Protagonisten der Gruppenprophylaxe<br />

als auch Verfechter der Individualprophylaxe<br />

ihre jeweiligen Ansätze bestätigt. Letztlich finden sich<br />

in den die Untersuchungen begleitenden Befragungen<br />

Hinweise, dass beide Konzepte zum Gesamtergebnis<br />

beitragen. So sind die intensivierte Durchführung von<br />

Mundhygienemaßnahmen, die Inanspruchnahme routinemäßiger<br />

zahnärztlicher Kontrollen, Fluoridanwendungen,<br />

aber auch Fissurenversiegelungen deutlich<br />

mit besserer Zahngesundheit verbunden.<br />

ist. So hatten 2005 lediglich knapp 9% der 12-jährigen<br />

Kinder sämtliche in ihrer Altersgruppe zu sanierenden<br />

Zähne, die große Mehrheit von über 90%<br />

der Kinder hingegen wies keinen einzigen zu füllenden<br />

Zahn auf.<br />

Immerhin ist es gelungen, den Anteil an Kindern mit<br />

erhöhter Karieslast zu reduzieren. Im Vergleich der<br />

beiden letzten Deutschen Mundgesundheitsstudien<br />

von 1997 und 2005 ist festzustellen, dass der Anteil<br />

an 12-Jährigen mit mehr als zwei DMF-Zähnen von<br />

21,5% auf 10,2% gesunken ist. Diese Halbierung der<br />

Risikogruppe ist als ein bedeutender Erfolg zu werten,<br />

da ein Großteil der Kinder mit erhöhter Karieslast<br />

von den einschlägigen zahnmedizinischen Präventionsangeboten<br />

nur ungenügend erreicht wird.<br />

Mit der DMS IV konnte auch der Effekt von Versiegelungsmaßnahmen<br />

auf die Kariesprävalenz deutlich<br />

nachgewiesen werden: Kinder und Jugendliche<br />

ohne Versiegelungen hatten in etwa doppelt so hohe<br />

DMFT-Werte wie Gleichaltrige mit Versiegelungen.<br />

Dieser Effekt der Versiegelung kann in allen Sozialschichten<br />

aufgezeigt werden. Die Versiegelung ist als<br />

professionelle individualpräventive Maßnahme nicht<br />

von präventionsorientierter Eigenverantwortlichkeit<br />

der Kinder oder ihrer Eltern abhängig.<br />

1<br />

Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie<br />

(DMS IV), Institut<br />

der Deutschen Zahnärzte (IDZ),<br />

Köln 2006.<br />

2<br />

Der DMFT-Index beschreibt<br />

die Zahl der kariösen (Decayed),<br />

der infolge von Karies gezogenen<br />

(Missing) und gefüllten<br />

(Filled) Zähne (Teeth).<br />

3<br />

Epidemiologische Begleituntersuchung<br />

zur Gruppenprophylaxe<br />

2009, Prof. Dr. Klaus<br />

Pieper, Marburg, Gutachten erstellt<br />

im Auftrag der Deutschen<br />

Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege<br />

e.V.<br />

Der Kariesrückgang betrifft Kinder aus allen Sozialschichten.<br />

Auch Kinder aus Familien mit niedrigem<br />

Sozialstatus profitieren von den präventiven und therapeutischen<br />

Betreuungsmöglichkeiten, obgleich unverändert<br />

signifikante Unterschiede der Karieserfahrung<br />

zwischen den Sozialschichten zu konstatieren<br />

sind. So wird der geringste Kariesbefall bei Kindern<br />

aus Familien mit hohem Schulabschluss der Eltern<br />

beobachtet, während Kinder aus Familien mit mittlerem<br />

oder niedrigem Schulstatus höhere Karieswerte<br />

aufweisen.<br />

Mit dem Kariesrückgang ist auch eine zunehmende<br />

Polarisation des Kariesbefalls zu beobachten. Die geringer<br />

gewordene Karieslast betrifft nicht gleichermaßen<br />

alle Individuen. Vielmehr muss festgestellt<br />

werden, dass eine Teilgruppe von Kindern und Jugendlichen<br />

unverändert stark von Karies betroffen<br />

Dennoch bleibt das Faktum, dass eine starke Polarisation<br />

der Karieserfahrung besteht und dass ca. 10%<br />

der 12-jährigen Kinder von den bestehenden Versorgungsstrukturen<br />

nur wenig profitieren. Hier weitere<br />

Verbesserungen zu erzielen wird über die Möglichkeiten<br />

des zahnärztlichen Berufsstandes allein hinausgehen.<br />

Es bedarf vielmehr gemeinsamer Anstrengungen<br />

und Konzepte vieler Protagonisten wie der<br />

Kinderärzte, für jüngere Kinder auch der Hebammen<br />

und Gynäkologen. Angesichts des deutlichen Bezugs<br />

der Karieslast zum sozialen Hintergrund der Kinder<br />

sind in derartige Konzepte unbedingt andere wichtige<br />

gesellschaftliche Institutionen wie soziale kommunale<br />

Dienste einzubinden.<br />

Noch differenzierter stellt sich die Situation im<br />

Hinblick auf das Milchgebiss dar. Unter den 6- bis<br />

7-Jährigen hatten in Deutschland im Jahr 2009 laut<br />

22 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

DAJ-Studie nur 54% der Kinder Milchgebisse ohne<br />

Karieserfahrung. Mit einer Kariesreduktion im Milchgebiss<br />

von rund 35% innerhalb von 16 Jahren macht<br />

die Reduktion nur ca. die Hälfte der im bleibenden<br />

Gebiss realisierten Verbesserungen aus. Offensichtlich<br />

sind die Konzepte, die bei den 12-Jährigen im<br />

bleibenden Gebiss herausragende Erfolge gezeitigt<br />

haben, nicht geeignet, um im Milchgebiss ebensolche<br />

Verbesserungen zu erzielen. Da die zur Verfügung<br />

stehenden präventiven Instrumente im Grunde aber<br />

in beiden Altersgruppen gleich sind, muss eine wichtige<br />

Ursache für diese unterschiedliche Entwicklung<br />

in der Anwendung dieser Instrumente sowie im Gesamtkonzept<br />

liegen.<br />

Es kann gemutmaßt werden, dass unter anderem<br />

der Zeitfaktor, zu dem die Kinder in zahnmedizinische<br />

Betreuung kommen, für die unterschiedliche<br />

Entwicklung mitverantwortlich ist. Wenn die ersten<br />

bleibenden Zähne im Alter von 6 Jahren in die<br />

Mundhöhle durchbrechen, befindet sich das Kind in<br />

der Regel in einem bereits etablierten präventiven Betreuungsverhältnis,<br />

sei es im Rahmen der Gruppenoder<br />

der Individualprophylaxe. Die Zähne können daher<br />

von Anfang an mit der bestmöglichen fachlichen<br />

Aufmerksamkeit umsorgt werden. Anders verhält es<br />

sich hingegen beim Milchgebiss: Hier steht die Bezahnung<br />

bereits komplett in der Mundhöhle und ist<br />

den dortigen Gegebenheiten ausgesetzt, bevor eine<br />

adäquate präventive Betreuung erfolgt. Wenn diese<br />

einsetzt, ist es in vielen Fällen bereits zu spät, und<br />

das Kind hat schon Karies.<br />

Dies dokumentieren zahlreiche epidemiologische Untersuchungen<br />

zur frühkindlichen Karies. Stellvertretend<br />

seien Zahlen aus Hamburg zitiert. Hier hatten im<br />

Jahr 2006 73% der 3- bis 6-jährigen Kinder Gebisse<br />

ohne Karieserfahrung. Die übrigen Kinder mit Karieserfahrung<br />

hatten aber bereits einen durchschnittlichen<br />

DMFT-Wert von mehr als vier Zähnen. Noch<br />

deutlicher wird das präventive Versorgungsdilemma<br />

beim Blick auf die Dreijährigen. In diesem Alter<br />

setzt im Allgemeinen frühestens eine zahnmedizinische<br />

Betreuung ein. Unter den dreijährigen Kindern<br />

waren zwar 84% kariesfrei, doch bedeutet dies, dass<br />

bereits 16% von Karies betroffen waren. Diese betroffenen<br />

Kleinkinder wiesen einen mittleren DMFT-<br />

Wert von 3,4 auf. Es lässt sich unschwer erkennen,<br />

dass hier bereits der Grundstein für die Kariespolarisation<br />

gelegt ist und dass die etablierten präventiven<br />

Versorgungsangebote offensichtlich deutlich zu<br />

spät einsetzen.<br />

Die konsequente Folgerung muss sein, die präventive<br />

Betreuung deutlich früher als bislang beginnen zu lassen.<br />

Bereits bei den unter Dreijährigen sind funktionierende<br />

zahnärztlich betreuende Strukturen zu etablieren.<br />

Dass diese Schlussfolgerung berechtigt ist,<br />

zeigen neben individuellen Fällen auch Daten, die in<br />

Kinderkrippen bei 1- und 2-jährigen Kleinkindern erhoben<br />

wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder<br />

schon sehr früh Karies entwickeln: In dieser Altersgruppe<br />

haben bereits 4% der Kinder manifeste,<br />

das Dentin einbeziehende Karies. Unter Berücksichtigung<br />

von Initialläsionen sind sogar 15% der Kinder<br />

betroffen. Diese Kinder mit Karies haben im Schnitt<br />

fast 4 betroffene Zähne!<br />

Eine sehr früh einsetzende Betreuung der<br />

Kleinkinder ist unumgänglich. Die bisherige<br />

Betreuungslücke bei den unter Dreijährigen<br />

muss geschlossen werden.<br />

Die Zahlen sind eindeutig, und die Schlussfolgerungen<br />

erscheinen zwingend: Eine sehr früh einsetzende<br />

Betreuung der Kleinkinder ist unumgänglich. Die<br />

bisherige Betreuungslücke bei den unter Dreijährigen<br />

muss geschlossen werden. Fachübergreifend arbeiten<br />

derzeit die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung<br />

(KZBV), die Bundeszahnärztekammer (BZÄK),<br />

die Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde<br />

(DGK) und der Bundesverband der Kinderzahnärzte<br />

(BuKiZ) gemeinsam mit dem Deutschen Hebammenverband<br />

(DHV) an einem gesundheitspolitischen<br />

Konzept zur zahnmedizinischen Prävention der frühkindlichen<br />

Karies, um gesetzliche Rahmenbedingungen<br />

für einen Zahnarztbesuch ab dem ersten Lebensjahr<br />

zu schaffen.<br />

Für eine erfolgreiche Prävention bedarf es auch des<br />

Zusammenwirkens mehrerer Berufsgruppen. Bei Familien,<br />

deren Kinder von frühkindlicher Karies betroffen<br />

sind, sind mitunter schwierige familiäre und<br />

soziale Bedingungen gegeben, die das Mitwirken<br />

von Familienhebammen oder Sozialdiensten erforderlich<br />

machen.<br />

Es kann auch diskutiert werden, ob ein Screening von<br />

Kindern mit erhöhtem Kariesrisiko von diesen Berufsgruppen<br />

erfolgen kann. Wiederholt wurde aufgezeigt,<br />

dass ein hoher Kariesbefall mit gut sichtbaren<br />

Zahnbelägen auf den Oberkiefer-Frontzähnen einhergeht.<br />

Dem Screening aufgrund dieses einfachen<br />

Kriteriums muss dann aber die Weiterleitung in die<br />

zahnmedizinische Fachkompetenz folgen. Dort haben<br />

die betroffenen Kinder dann die Chance, von den<br />

bewährten Methoden der Kariesprophylaxe wie der<br />

Anleitung zu adäquater Mundhygiene und angemessener<br />

Ernährungsweise, aber auch von eigenverantwortlichen<br />

oder professionellen Fluoridierungsmaßnahmen<br />

zu profitieren.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />

23


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Roschan Farhumand<br />

Zahngesundheit bei Kleinkindern<br />

in Hamburg<br />

Ein Modellvorhaben der AOK Rheinland/Hamburg<br />

Dr. Roschan Farhumand<br />

Zahnärztin, wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin bei der AOK<br />

Rheinland/Hamburg. Sie beschäftigt<br />

sich mit der konzeptionellen<br />

Entwicklung alternativer<br />

Versorgungsmodelle für<br />

innovative und präventionsorientierte<br />

Strategien des<br />

zahnmedizinischen Versorgungsmanagements.<br />

Die AOK Rheinland/Hamburg startet gemeinsam mit<br />

der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZV) Hamburg<br />

im dritten Quartal <strong>2013</strong> einen neuartigen Versorgungsansatz<br />

in der Prävention. Erprobt werden<br />

innovative Präventionsleistungen zur frühkindlichen<br />

Zahnprophylaxe für Kinder im Alter von null bis drei<br />

Jahren und ihre Eltern. Den Rahmen bildet ein gesonderter<br />

Selektivvertrag zwischen der AOK Rheinland/Hamburg<br />

und der KZV Hamburg. Die wissenschaftliche<br />

Begleitung erfolgt durch die Poliklinik für<br />

Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde des<br />

Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.<br />

Immer noch herrscht ein Informationsdefizit in der<br />

Bevölkerung über die Bedeutung gesunder Milchzähne<br />

als wichtiger Voraussetzung für das Kieferwachstum,<br />

die Entwicklung des bleibenden Gebisses, die<br />

Sprachentwicklung, die Nahrungsaufnahme und das<br />

psychosoziale Wohlbefinden. Vorzeitiger Milchzahnverlust<br />

infolge mangelnder Zahnhygiene ist folgenschwer<br />

und kostspielig, denn er hat weitreichende<br />

und lebenslange Konsequenzen auch für das bleibende<br />

Gebiss. Untersuchungen haben gezeigt, dass über<br />

15% der ein- und zweijährigen Krippenkinder Symptome<br />

der frühkindlichen Karies aufweisen (Schiffner<br />

et al. 2009). Viele Kinder kommen heute bereits<br />

mit Kariessymptomen in die Kita.<br />

Die Verantwortung der Zahnpflege ab dem ersten<br />

Zahn bis weit in das Grundschulalter hinein liegt ausschließlich<br />

bei den Eltern bzw. betreuenden Bezugspersonen.<br />

Bis Feinmotorik, Konzentrationsfähigkeit<br />

und Verantwortungsbewusstsein eines heranwachsenden<br />

Kindes hinreichend ausgebildet sind, ist ein<br />

Nachputzen für eine effektive Plaqueentfernung seitens<br />

der Eltern erforderlich.<br />

Der Gesetzgeber sieht bisher erst vom dritten bis zum<br />

fünften Lebensjahr drei jährliche systematische Vorsorgeuntersuchungen,<br />

die sogenannten Früherkennungsuntersuchungen<br />

(FU 1-3), vor. In Fachkreisen<br />

besteht jedoch ein breiter Konsens, dass die zahnmedizinische<br />

Betreuung der Kleinkinder bereits im<br />

ersten Lebensjahr einsetzen sollte (BZÄK 2012, DAJ<br />

2012). Noch weiter gehende Konzepte fordern eine<br />

Beratung der Eltern bereits während der Schwangerschaft<br />

(BZÄK 2005). Zwar haben auch jüngere Kinder<br />

Anspruch auf Zahnarztbesuche, jedoch ist nur<br />

wenigen Eltern bewusst, dass in diesem frühen Alter<br />

Zahnprophylaxe notwendig ist. Es besteht somit eine<br />

Versorgungslücke im Alter von null bis drei Jahren.<br />

In dieser sensiblen Phase des Erscheinens der ersten<br />

Milchzähne könnten durch eine systematische Aufklärung<br />

im ersten, zweiten und dritten Lebensjahr<br />

Schäden vermieden und die Grundlage für eine gesunde<br />

Zahnkarriere geschaffen werden.<br />

In dem vorliegenden Modell der AOK Rheinland/<br />

Hamburg und KZV Hamburg werden Eltern bereits<br />

vor der Geburt und auch anschließend in den ersten<br />

drei Lebensjahren des Kindes systematisch durch den<br />

Zahnarzt betreut. Das Konzept beinhaltet die gezielte<br />

Beratung über das richtige Verhalten zur Pflege der<br />

Milchzähne sowie ein intensives Training möglichst<br />

beider Elternteile beim Pflegen des eigenen Gebisses.<br />

Kleinkinder lernen hauptsächlich durch Nachahmen.<br />

Deshalb sollen bereits bei werdenden Eltern<br />

die effektiven Reinigungstechniken mit den individuell<br />

passenden Hilfsmitteln wie beispielsweise Zahnbürsten,<br />

Interdentalbürsten und Zahnseide vermittelt<br />

werden, damit sie ihre eigene Zahnpflege und in<br />

der Folge auch die ihrer Kinder korrekt ausführen. So<br />

können sie das Mundgesundheitsbewusstsein und die<br />

Fertigkeiten in ihrer Vorbildfunktion auf die nächste<br />

Generation übertragen. Die Befähigung und das<br />

Bewusstsein der Eltern selbst ist die entscheidende<br />

Voraussetzung für eine gute Vorsorge der kindlichen<br />

Zahngesundheit.<br />

Durch die Betreuung der Eltern noch während der<br />

Schwangerschaft werden diese in einem Lebensabschnitt<br />

erreicht, der besonders günstig und motivierend<br />

für die Umstellung auf gesundheitsbewusste Verhaltensweisen<br />

ist. Zusätzlich zur Vorbereitung auf den<br />

kommenden Alltag mit Kind ist eine gute Mundhygiene<br />

auch für einen komplikationslosen Schwangerschaftsverlauf<br />

von Bedeutung. Die im Modellvorhaben<br />

vorgesehenen frühkindlichen Zahnarztbesuche<br />

bieten neben der Früherkennung und Prophylaxe-Beratung<br />

der Eltern auch die Möglichkeit für das Kind,<br />

die Zahnarztpraxis kennenzulernen und dabei angstfreie<br />

Erfahrungen zu machen. Darüber hinaus können<br />

regelmäßige Zahnarztbesuche als Routine in der<br />

Lebenswelt des Kindes verankert werden.<br />

24 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

Die Umsetzung des Konzepts erfolgt im Rahmen eines<br />

Modellvorhabens nach §§ 63ff. SGB V. Der Gesetzgeber<br />

ermöglicht den gesetzlichen Krankenkassen, im Rahmen<br />

von Modellvorhaben innovative präventive oder<br />

therapeutische Leistungen zu erproben, welche (noch)<br />

nicht Bestandteil des Leistungskataloges der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung sind. Sie dienen damit<br />

dem Erkenntnisgewinn und der Weiterentwicklung<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung, da sie dazu<br />

beitragen, einen besonderen Bedarf der Versicherten<br />

besser zu erkennen und zu berücksichtigen.<br />

Das Modellvorhaben hat das Ziel, die Kariesbildung<br />

bei Kleinkindern in dem Zeitraum bis zur ersten Früherkennungsuntersuchung<br />

im 30. Lebensmonat zu<br />

verhindern. Durch die Dokumentation von Befundaufnahmen<br />

und Beratungen in den Zahnarztpraxen<br />

wird eine solide Datenbasis generiert, die eine Evaluation<br />

der Maßnahmen ermöglicht. Die Auswertung<br />

dieser Daten und die wissenschaftliche Begleitung<br />

wird durch die Poliklinik für Zahnerhaltung und<br />

Präventive Zahnheilkunde der Universitätsklinik Eppendorf<br />

sichergestellt.<br />

Kleinkinder lernen hauptsächlich durch Nachahmen. Deshalb sollen<br />

bereits werdenden Eltern effektive Zahnreinigungstechniken vermittelt<br />

werden, damit sie ihre eigene Zahnpflege und in der Folge auch die ihrer<br />

Kinder korrekt ausführen. So können sie das Mundgesundheitsbewusstsein<br />

in ihrer Vorbildfunktion auf die nächste Generation übertragen.<br />

Vorsorgeleistungen aus dem Selektivvertrag der AOK Rheinland/Hamburg mit der KZV Hamburg<br />

Die Vorsorgeleistungen beziehen maßgeblich die Eltern<br />

und deren Mundhygieneverhalten ein. Insgesamt stehen<br />

5 Praxistermine für Eltern und deren Kinder bis zum Alter<br />

von 3 Jahren zur Verfügung.<br />

1. Termin während der Schwangerschaft<br />

Mit der Schwangerschaft und der Erwartung eines Kindes<br />

ändern sich die Lebensumstände der Eltern. Das ist<br />

eine gute Gelegenheit, zunächst einmal bei Eltern - die<br />

später eine Vorbildfunktion übernehmen - die Mundhygiene<br />

zu thematisieren und ggf. verbessern zu helfen.<br />

Je Elternteil:<br />

· Befundaufnahme und Dokumentation<br />

· Entfernung störender Zahnbeläge zur Hygienefähigkeit<br />

des elterlichen Gebisses<br />

· Training der richtigen Pflege des elterlichen Gebisses<br />

mit Hilfe der individuell passenden Hilfsmittel (Zahnbürste,<br />

Interdentalbürste/Zahnseide)<br />

· Werdende Mutter: Aufklärung über die gesteigerten<br />

Risiken von Zahn- und Zahnfleischerkrankungen<br />

aufgrund der hormonellen Ausnahmesituation und<br />

ihre möglichen Gefahren für den Schwangerschaftsverlauf<br />

2. Termin bei Durchbruch der ersten Milchzähne<br />

(ca. 6.-8. Lebensmonat)<br />

Kontrolle der elterlichen Mundhygiene und erste Begutachtung<br />

der Milchzähne, Beratung, Training<br />

Je Elternteil:<br />

· Befundaufnahme und Dokumentation<br />

· Recall: Remotivation der Eltern und ggf. Korrektur-<br />

Training der Pflege des elterlichen Gebisses<br />

Kind:<br />

· Untersuchung von Zähnen und Mundschleimhaut<br />

· Anleitung und Übung der Pflege der Milchzähne<br />

· Aufklärung/Beratung der Eltern zu Themen wie<br />

- Speichelkontakt (Löffel ablecken etc.) und damit<br />

die Übertragung von Kariesbakterien in die kind-<br />

liche Mundhöhle weitestgehend vermeiden<br />

- Zahnbezogene Ernährungshinweise<br />

- Aufklärung über die Gefahr des Nursing-Bottle-<br />

Syndroms und die Gefahren exzessiven Nuckelns<br />

- Anwendung von Fluoriden<br />

· Bei Bedarf kieferorthopädische Überweisung<br />

3. Termin (ca. 10.-12. Lebensmonat)<br />

Befundaufnahme beim Kind, Beratung, Training<br />

Kind:<br />

· Befundaufnahme und Dokumentation<br />

· Bei Bedarf Wiederholung der Aufklärung/Beratung<br />

(s.o.) und Anleitung sowie Übung der Pflege der<br />

Milchzähne<br />

4. Termin nach Durchbruch der ersten Milchbackenzähne<br />

(ca. 16.-18. Lebensmonat)<br />

Befundaufnahme bei Eltern und Kind, Beratung, Training<br />

Je Elternteil:<br />

· Befundaufnahme und Dokumentation<br />

· Recall: Remotivation der Eltern und ggf. Korrektur-<br />

Training der richtigen Pflege des elterlichen Gebisses<br />

Kind:<br />

· Befundaufnahme und Dokumentation<br />

· Anleitung und Übung der Pflege der Milchzähne<br />

· Wiederholung der Aufklärung/Beratung (s.o.)<br />

5. Termin (ab 30. Lebensmonat)<br />

Befundaufnahme bei Eltern und Kind, Beratung, Training<br />

Je Elternteil:<br />

· Befundaufnahme und Dokumentation<br />

· Recall: Remotivation der Eltern und ggf. Korrektur-<br />

Training der Pflege des elterlichen Gebisses mit Hilfe<br />

der individuell passenden Hilfsmittel<br />

Kind:<br />

· Regelversorgung: Früherkennungsuntersuchung (FU1)<br />

· Befundaufnahme und Dokumentation<br />

Quellen/Literatur:<br />

Schiffner U, Zabel C, Hippke<br />

A: Caries in 1- and 2-year-old<br />

toddlers in Hamburg. Caries Res<br />

43, 181, abs. #6 (2009)<br />

BZÄK, Bundeszahnärztekammer<br />

(2005): Mundgesundheit<br />

von Anfang an.<br />

BZÄK, Bundeszahnärztekammer<br />

(2012): Kleine Kinder nicht<br />

zu spät dem Zahnarzt vorstellen.<br />

Aufklärung über frühzeitige<br />

Prävention muss weiter<br />

verbessert werden (Pressemitteilung<br />

24.04.2012)<br />

DAJ, Deutsche Arbeitsgemeinschaft<br />

für Jugendzahnpflege<br />

(2012): Frühkindliche Karies:<br />

Zentrale Inhalte der Gruppenprophylaxe<br />

für unter 3-Jährige.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 25


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

Thomas Kocher<br />

Diabetes und Parodontitis<br />

Bei der Früherkennung und Behandlung des Diabetes<br />

müssen Zahnärzte künftig stärker einbezogen werden<br />

Prof. Dr. Thomas Kocher<br />

Parodontologe am Zentrum für<br />

Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde<br />

der Universitätszahnklinik<br />

Greifswald,<br />

Mitglied des Vorstandes der<br />

Deutschen Gesellschaft für<br />

Parodontologie e.V. (DGParo)<br />

Dass Mundgesundheit und allgemeine Gesundheit<br />

eng miteinander zusammenhängen und nicht isoliert<br />

voneinander betrachtet werden können - diese<br />

Erkenntnis gehört heute zum basalen Wissen der<br />

Medizin. Insbesondere die bakterielle Zusammensetzung<br />

der Mundflora hat teilweise einen erheblichen<br />

Einfluss auf die Prozesse im Körper. Bakterien aus<br />

dem Mundraum gelangen in die Atemwege, in den<br />

Verdauungstrakt und über kleine Verletzungen am<br />

Zahnfleisch sowie Zahnfleischbluten auch direkt in<br />

die Blutbahn. Umgekehrt wirken verschiedenste Faktoren<br />

aus dem Körper in den Mundraum hinein. Einige<br />

der Wechselwirkungen zwischen Erkrankungen<br />

im Mundraum und Allgemeinerkrankungen - wie die<br />

Zusammenhänge zwischen Parodontitis und Diabetes<br />

- sind inzwischen gut erforscht und unter Fachleuten<br />

unbestritten. Dennoch haben diese Erkenntnisse<br />

bislang kaum Eingang in die Gestaltung der Gesundheitsversorgung<br />

gefunden - beide Krankheitsbilder<br />

werden isoliert betrachtet und behandelt. Interdisziplinäres<br />

Handeln entspräche dem Stand der Wissenschaft<br />

und könnte hunderttausenden betroffenen<br />

Patienten helfen, trifft aber heute noch auf eine Vielzahl<br />

rechtlicher und administrativer Hürden. So gibt<br />

es beispielsweise noch keine gesetzliche Grundlage<br />

für wechselseitige Überweisungen zwischen Arzt und<br />

Zahnarzt - eine Grundvoraussetzung für interdisziplinäre<br />

Behandlungskonzepte.<br />

Die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie (DG-<br />

Paro) und die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG)<br />

haben gemeinsam mit einem Expertengremium von<br />

Diabetologen und Parodontologen die Initiative ergriffen<br />

und eine Behandlungsleitlinie für die interdisziplinäre<br />

Behandlung von Diabetikern entwickelt.<br />

Hier sind Empfehlungen für ein abgestimmtes Vorgehen<br />

der behandelnden Ärzte zusammengefasst. Darüber<br />

hinaus müssen nun auch seitens der Krankenkassen<br />

und der Politik Voraussetzungen geschaffen<br />

werden, um künftig eine gemeinsame Behandlung<br />

möglich zu machen.<br />

Parodontitis<br />

Neben der Karies gilt Parodontitis als die zweite große<br />

Volkskrankheit in der Zahnmedizin. Während Karies<br />

die Zahnsubstanz zerstört, wird bei der Parodontitis<br />

der Zahnhalteapparat (Parodont) angegriffen. Bakterien<br />

bedingen eine Entzündungsreaktion, durch die<br />

das Zahnfleisch zurückgeht und der Zahnhalteapparat<br />

(Attachmentverlust) und Alveolarknochen abgebaut<br />

wird. Wird der Prozess nicht gestoppt, lockert sich<br />

der Zahn und muss extrahiert werden. Die meisten<br />

Formen der Parodontitis entwickeln sich über längere<br />

Zeiträume, so dass die Krankheit wegen ausbleibender<br />

Schmerzen oft unbemerkt bleibt. Eine wichtige<br />

Rolle bei der Entwicklung der Parodontitis spielt die<br />

Zusammensetzung der Mundflora - die Menge pathogener<br />

Keime im Verhältnis zu harmlosen Bakterien<br />

- , die von Stoffwechselstörungen wie beim Diabetes<br />

beeinflusst wird.<br />

Seit langer Zeit ist bekannt, dass Parodontalerkrankungen<br />

bei Diabetikern stärker ausgeprägt sind als<br />

bei Nichtdiabetikern. Diabetiker haben ein dreifach<br />

höheres Risiko, parodontal zu erkranken, und<br />

ein doppelt so hohes Risiko, Zähne zu verlieren, als<br />

Nichtdiabetiker.<br />

Am stärksten betroffen sind Diabetiker, deren Blutzuckerkontrolle<br />

schlecht eingestellt ist. Eine unzureichende<br />

Blutzuckereinstellung verschlimmert parodontale<br />

Erkrankungen - umgekehrt verschlechtert<br />

Parodontitis aber auch die Einstellung des Blutzuckerspiegels.<br />

Diabetes mellitus und Parodontitis stehen<br />

in einer intensiven Wechselwirkung.<br />

Diabetes<br />

In der pan-europäischen PANORAMA-Studie hatte<br />

sich gezeigt, dass Diabetes mellitus ein zunehmendes<br />

Problem unserer Gesellschaft darstellt 1 . In der<br />

untersuchten Population waren 45% der Probanden<br />

übergewichtig, 80% hatten erhöhte Blutdruckwerte,<br />

56% erhöhte Cholesterinwerte und bei 38% blieb der<br />

Wert des glykierten Hämoglobins als Zeichen einer<br />

diabetogenen Stoffwechsellage über dem angestrebten<br />

Wert von HbA1c von 7%.<br />

Die Behandlungsprävalenz des Diabetes mellitus ist<br />

in Deutschland (wie auch in anderen Ländern) kontinuierlich<br />

angestiegen. Lag sie 1998 noch bei 5,9%,<br />

so ist sie bis zum Jahre 2007 auf 8,9% angestiegen.<br />

Das bedeutet, dass 2007 mehr als 7 Millionen Menschen<br />

in Deutschland wegen eines Diabetes mellitus<br />

– vornehmlich vom Typ 2 – behandelt wurden 2 . Bei<br />

einer geschätzten Dunkelziffer dürften heute mindestens<br />

10% aller Deutschen oder mehr als 8 Millionen<br />

an einem Diabetes leiden. Besonders problematisch<br />

erscheint die zunehmende Häufigkeit von Diabetes<br />

auch bei Kindern und Jugendlichen, vornehmlich als<br />

Folge von Adipositas.<br />

26 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

minimieren, wird auch das Risiko für die gefürchteten<br />

Spätfolgen von Diabetes vermindert.<br />

Entscheidend für den Erfolg einer Diabetesbehandlung ist die möglichst<br />

frühzeitige Diagnose. Parodontitiserkrankungen können ein Hinweis auf<br />

einen möglichen Diabetes sein. Zahnärzte können so oft als erste Symptome<br />

einer bislang unentdeckten Diabeteserkrankung feststellen.<br />

Prävalenz und Inzidenz des Diabetes sind stark altersabhängig:<br />

Im Alter zwischen 40 und 59 Jahren gibt<br />

es 4-10% Diabetiker, bei einem Alter über 60 Jahren<br />

sind es 20 und mehr Prozent 3 . Mit der Altersabhängigkeit<br />

zeigen sich Parallelen zur Epidemiologie der<br />

Parodontitis. Es wird geschätzt, dass bis zu drei Viertel<br />

der Diabetiker orale entzündliche Erkrankungen<br />

wie Gingivitis und Parodontitis aufweisen 4 . Wenigstens<br />

ein Drittel dieser Patienten leidet unter schweren<br />

Formen der Parodontitis mit 5mm und mehr Attachmentverlust.<br />

Immerhin schon seit 20 Jahren gibt es<br />

die Charakterisierung der Parodontitis als „die sechste<br />

Komplikation des Diabetes mellitus“ 5 . Parodontitis<br />

kann auch zu einer Verschlechterung der Glukosetoleranz<br />

beitragen, d.h. sie kann auch ein echter Risikofaktor<br />

für Diabetes sein.<br />

Interdisziplinäre Diagnose und Behandlung<br />

Die bidirektionale Beziehung zwischen Parodontitis<br />

und Diabetes erfordert neue Konzepte der Diagnose-<br />

und Behandlungsregimes. So wird es zukünftig<br />

unerlässlich sein, bei Diabetikern die Behandlungen<br />

zwischen zahnmedizinischen und internistischen Spezialisten<br />

zu koordinieren 6 . Dazu gehört auch eine effektive<br />

Prävention. Wenn man bedenkt, dass Diabetes<br />

das Risiko für Parodontitis ebenso stark erhöht wie<br />

Rauchen - der stärkste Risikofaktor für Parodontitis<br />

-, dann liegt die Notwendigkeit für eine interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit auf der Hand. Die Tabakentwöhnung<br />

ist neben einer optimalen Plaquekontrolle<br />

(Entfernung der Zahnbeläge durch häusliche und<br />

professionelle Zahnreinigung) zur wichtigsten Maßnahme<br />

bei der Behandlung von Parodontalerkrankungen<br />

geworden 7 . Effektive Rauchentwöhnungsprogramme<br />

sind wichtig und zeigen Erfolge bei der<br />

Parodontitis. So scheint es logisch, einer effektiven<br />

Kontrolle des Blutzuckers einen ähnlich hohen Stellenwert<br />

zuzuweisen.<br />

Die optimale Behandlung des Diabetes und die Elimination<br />

oder Reduktion von Risikofaktoren sind<br />

die Schlüsselelemente, die auch zur Verbesserung<br />

des Parodontalzustandes beitragen können. Umgekehrt<br />

ist die Kontrolle der oralen Entzündung durch<br />

eine adäquate Parodontaltherapie unerlässlich, um<br />

die diabetische Stoffwechsellage zu verbessern. Gelingt<br />

es, das parodontale Entzündungsgeschehen zu<br />

Früherkennung des Diabetes im Rahmen der Zahnvorsorge<br />

Durch Prävention und rechtzeitige Therapie können<br />

Entzündungsprozesse, Insulinresistenz und daraus<br />

resultierende Probleme aufgehalten werden. Entscheidend<br />

für den Erfolg ist die möglichst frühzeitige<br />

Diagnose. Schwere und Verlauf einer Parodontitis ergeben<br />

zumindest einen Verdacht auf einen möglichen<br />

Diabetes, der internistisch weiter abgeklärt werden<br />

kann. Herausgefordert sind hier vor allem die Zahnärzte,<br />

die - vor allem bei Menschen, die selten eine<br />

allgemeinmedizinische Praxis aufsuchen, aber häufiger<br />

beim Zahnarzt vorstellig werden - oft als erste<br />

Symptome einer bisher undiagnostizierten Diabeteserkrankung<br />

feststellen können 8 .<br />

Über 90 Prozent der 20- bis 70-jährigen Deutschen<br />

geht im Schnitt zweimal im Jahr zum Zahnarzt. Das<br />

ist eine gute Möglichkeit, große Teile der Bevölkerung<br />

zu untersuchen. Zahnärzte könnten im Verdachtsfall<br />

in ihrer Praxis Blutzuckerkontrollen durchführen<br />

und Risikoprofile erstellen. Erhärten sich die Hinweise<br />

auf Diabetes, kann der Patient zum Hausarzt<br />

überwiesen werden.<br />

Die Mitwirkung der Zahnärzte bei der Behandlung<br />

des Diabetes<br />

Parodontalbehandlungen beim Diabetiker wirken<br />

sich positiv auf den Blutzuckerspiegel aus. Werden<br />

parodontal erkrankte Patienten, die einen schlecht<br />

eingestellten Diabetes haben und bei denen die Blutzuckerkontrolle<br />

mit oralen Antidiabetika oder Insulin<br />

erfolgt, in der Zahnarztpraxis behandelt, so kann<br />

der HbA1c Gehalt im Blut um durchschnittlich 0,4%<br />

abgesenkt werden. Diese Verbesserung des Blutzuckerspiegels<br />

kann zu einer ca. 10%igen Reduktion<br />

der Gesamtmortalität führen.<br />

Für eine stärkere Einbindung der Zahnärzte in die<br />

Diabetesbehandlung spricht auch die Tatsache, dass<br />

mit einem dichten Netz an Zahnarztpraxen bereits<br />

ein flächendeckendes System existiert, das dentale<br />

Erwachsenenprophylaxe anbietet. Hier gibt es ge-<br />

1. Bradley C, de Pablos-Velasco<br />

P, Parhofer KG, Eschwège E,<br />

Gönder-Frederick L, Simon D.<br />

PANORAMA: a European study<br />

to evaluate quality of life and<br />

treatment satisfaction in patients<br />

with type-2 diabetes mellitus--study<br />

design. Prim Care<br />

Diabetes. 2011; 5: 231-239.<br />

2. Hauner H. Diabetesepidemie<br />

und Dunkelziffer. Deutscher Gesundheitsbericht<br />

Diabetes<br />

2011 (Diabetes DE, Hrsg.)<br />

Kirchheim & Co., S. 8-13.<br />

3. Rathmann W, Strassburger K,<br />

Heier M, Holle R, Thorand B, Giani<br />

G, Meisinger C.<br />

Incidence of type 2 diabetes<br />

in the elderly German population<br />

and the effect of clinical<br />

and lifestyle risk factors. KORA<br />

S4/F4 cohort study. Diab Med<br />

2009; 26: 1212-1219.<br />

4. Iacopino AM. Periodontitis<br />

and diabetes interrelationships:<br />

role of inflammation. Ann<br />

Periodontol 2001; 6: 125-137.<br />

5. Loe H. Periodontal disease:<br />

the sixth complication of diabetes<br />

mellitus. Diabezes Care<br />

1993; 6: 329-334.<br />

6. Iacopino AM. New “syndemic”<br />

paradigm for interprofessional<br />

management of chronic<br />

inflammatory disease. J Can<br />

Dent Assoc 2009; 75: 632-633.<br />

7. Ramseier CA, Warnakulasuriya<br />

S, Needleman IG, Gallagher<br />

JE, Lahtinen A, Ainamo<br />

8. Strauss SM, Alfano MC, Shelley<br />

D, Fulmer T. Identifying unadressed<br />

systemic health<br />

conditions at dental visits: Patients<br />

who visited dental practices<br />

but not general health care<br />

providers in 2008. Amer J Public<br />

Health 2012; 102: 253-255.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 27


| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />

schultes Personal, das parodontal erkrankte Patienten<br />

in Verhaltensänderungen unterweist und über<br />

lange Zeit führen und überwachen kann.<br />

Parodontitis und Diabetes sind Volkskrankheiten<br />

In Deutschland gibt es schätzungsweise 20 Millionen<br />

Patienten mit behandlungsbedürftigen Parodontalerkrankungen,<br />

davon 8 Millionen schwere Fälle<br />

mit Zahnfleischtaschen tiefer als 6 mm. Diabetes ist<br />

ähnlich weit verbreitet - auch hier rechnet man mit<br />

rund 8 Millionen Erkrankten. Beide Erkrankungen<br />

sind hochprävalent in der Bevölkerung. Bislang wird<br />

aber nur ein kleiner Teil der schweren Parodontalerkrankungen<br />

umfassend behandelt. Über die gesetzliche<br />

Krankenversicherung wurden nach Angaben der<br />

KZBV aus dem Jahr 2011 nur 954 100 Parodontalbehandlungen<br />

abgerechnet. Deshalb könnte eine Ausweitung<br />

der Parodontalbehandlungen, selbst wenn<br />

sie nur eine mäßige Verbesserung des Blutzuckerspiegels<br />

bei Diabetikern bewirken würde, eine bevölkerungsweite<br />

Auswirkung auf den Diabetes und<br />

seine Folgeerkrankungen haben.<br />

Eine Abschwächung der Diabetesfolgen ließe nicht<br />

zuletzt auch Einsparungen bei den Kassenausgaben<br />

erwarten. Von den anfallenden Behandlungskosten<br />

bei Diabetes (ca. 48 Mrd. Euro jährlich) gehen drei<br />

Viertel zu Lasten der mit Diabetes verbundenen Gefäßprobleme,<br />

allen voran die Kostentreiber Herzinfarkt,<br />

Schlaganfall und Nierenversagen. Eine stärkere<br />

interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten und<br />

Zahnärzten könnte erhebliche positive Effekte bewirken.<br />

Dazu bedarf es jedoch der vereinten Anstrengungen<br />

aller Partner im Gesundheitswesen.<br />

Wolfgang Hoffmann<br />

Medizin durch Zahnmediziner<br />

Die Zahnärzte könnten künftig eine wichtige Rolle bei der<br />

Prävention und Behandlung von Allgemeinerkrankungen<br />

spielen<br />

Prof. Dr. med. Wolfgang<br />

Hoffmann, MPH<br />

Versorgungsepidemiologe<br />

am Institut für Community<br />

Medicine der Universität<br />

Greifswald<br />

Viele Allgemeinerkrankungen sind mit Erkrankungen<br />

des Mundraumes assoziiert. Neben dem Diabetes werden<br />

auch Erkrankungen der Atemwege, Herz-Kreislauf-Erkrankungen,<br />

Osteoporose und auch Komplikationen<br />

in der Schwangerschaft mit Prozessen im<br />

Mundraum in Verbindung gebracht. Eine Früherkennung<br />

oder Aufdeckung dieser Erkrankungen in<br />

der zahnärztlichen Praxis wäre möglich und oft auch<br />

ohne aufwändige Diagnostik zu leisten.<br />

Doch noch gibt es Barrieren sowohl im zahnärztlichen<br />

wie auch im ärztlichen Bereich: Viele Zahnärzte<br />

fühlen sich für die Prävention außerhalb ihres Kerngebietes<br />

nicht zuständig oder nicht kompetent. Ärzte<br />

denken bei der Therapie selten an die zahnmedizinischen<br />

Implikationen einer Erkrankung. Gegenseitige<br />

Überweisungen zwischen Ärzten und Zahnärzten<br />

sind derzeit nicht möglich, die Abrechnungsmöglichkeiten<br />

für arbeitsteilig übernommene Aufgaben<br />

nicht flexibel genug.<br />

Auch im Studium müssen neue Strukturen verankert<br />

werden: Zahnmedizinstudenten brauchen einen größeren<br />

Anteil Medizin in der Ausbildung, Medizin-<br />

studenten profitieren von einer besseren Integration<br />

zahnmedizinischer Ausbildungsinhalte.<br />

Die Zahnärzteschaft verfügt über exzellente Voraussetzungen,<br />

um künftig eine stärkere Rolle bei der<br />

Früherkennung und beim Monitoring von Allgemeinerkrankungen<br />

zu spielen. Zahnarztpraxen sind in den<br />

meisten städtischen und auch in ländlichen Bereichen<br />

flächendeckend vorhanden. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />

hat regelmäßigen Kontakt zum Zahnarzt. Untersuchungen<br />

zeigen, dass Patienten deutlich häufiger<br />

in die Zahnarztpraxis als zum Hausarzt gehen (s.<br />

Grafik rechts). Die regelmäßige Kontrolluntersuchung<br />

beim Zahnarzt hat - unterstützt durch die Bonusheft-<br />

Regelung und Recalls - im Bewusstsein vieler Menschen<br />

einen festen Platz eingenommen.<br />

Die hohe Inanspruchnahme und gute regionale Verteilung<br />

der Praxen bilden hervorragende Voraussetzungen<br />

für eine bessere Integration der Zahnärzte im<br />

Gesundheitssystem und deren konsequente Einbindung<br />

in die regionale Versorgung. Gerade wegen der<br />

hohen Verbreitung der mit dem Mundraum assoziierten<br />

Krankheiten würde eine große Zahl an Patienten<br />

von der interdisziplinären Behandlung profitieren.<br />

28 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />

Zahnärzte und Hausärzte in Mecklenburg-Vorpommern<br />

1454 Zahnärzte (2010) 1091 Hausärzte (2010)<br />

© Institut für Community<br />

Medicine, 2011<br />

Die Zahnärzteschaft verfügt über exzellente Voraussetzungen, um künftig<br />

eine stärkere Rolle bei der Früherkennung und beim Monitoring von<br />

Allgemeinerkrankungen zu spielen: eine flächendeckende Versorgungsstruktur,<br />

die regelmäßige Inanspruchnahme durch die Patienten und<br />

ein gut ausgebildetes, in der Prophylaxearbeit erfahrenes Personal.<br />

Inanspruchnahme von Zahnärzten und Allgemeinärzten<br />

Quelle: R. Biffar, UMG Greifswald,<br />

persönliche Mitteilung 2012<br />

Altersabhängige Aufschlüsselung der Inanspruchnahme von Zahn- und Allgemeinärzten:<br />

Bis zum Alter von etwa 66 Jahren gehen Patienten häufiger zum Zahnarzt. Das ist gerade für die Prävention vieler<br />

Krankheiten eine wichtige Zeitspanne.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 29


| Di S k u S S i o n<br />

Thomas Einfeldt<br />

SPD-Politiker Steffen-Claudio<br />

Lemme zu Gast bei der <strong>IGZ</strong><br />

Z-2000-Diskussionsveranstaltung in Hamburg<br />

Dr. Thomas Einfeldt<br />

Vorsitzender des Zahnärzteverbandes<br />

Z-2000, Hamburg<br />

Auf Einladung des Hamburger <strong>IGZ</strong>-Mitgliedsverbandes<br />

„Z-2000“ (www.z-2000.de) kam der SPD-Gesundheits-<br />

und Sozialpolitiker Steffen-Claudio Lemme am<br />

27. März <strong>2013</strong> zu einer gesundheitspolitischen Gesprächsrunde<br />

nach Hamburg, um im Jahr der Bundestagswahl<br />

über das Konzept der Bürgerversicherung<br />

und dessen Auswirkungen auf die zahnärztliche Versorgung<br />

Auskunft zu geben. Lemme ist Mitglied des<br />

Gesundheitsausschusses des Bundestages und gehört<br />

zu einer Arbeitsgruppe der SPD, die sich aktuell mit<br />

der Konzeption der Bürgerversicherung befasst. Im<br />

April 2011 hatte das SPD-Präsidium festgestellt, dass<br />

die Bürgerversicherung „solidarisch, gerecht und leistungsfähig“<br />

sei. Und auch jetzt ist dieses Thema ein<br />

Eckpunkt des aktuellen Wahlkampfes.<br />

Die Veranstaltung wurde moderiert von Dr. Thomas<br />

Einfeldt, Vorsitzender des Zahnärzteverbandes Z-2000.<br />

Auf dem Podium saßen neben dem Gast der Präsident<br />

der Hamburger Zahnärztekammer, Prof. Dr. Wolfgang<br />

Sprekels, und der Hamburger KZV-Vorstandsvorsitzende,<br />

Dr. Eric Banthien. Die Zuhörerschaft bestand<br />

aus berufspolitisch aktiven Hamburger Zahnärztinnen<br />

und Zahnärzten aus den Gremien der Kammer,<br />

der KZV und dem Verband Z-2000 und beteiligte sich<br />

nach den Statements an der Diskussion.<br />

GOZ und BEMA zusammenführen<br />

Nach Lemme soll es durch die Bürgerversicherung<br />

„keinen Verlierer“ im System geben, es solle aber<br />

künftig solidarischer und gerechter zugehen als bisher.<br />

Auf die ihm im Vorfeld der Einladung zugesandten<br />

17 detaillierten Fragen der Zuhörer wollte er im<br />

Einzelnen nicht eingehen, da man in der Partei gegenwärtig<br />

einen Klärungsprozess durchlaufe und<br />

Antworten noch nicht „verfügbar“ seien. Wie beispielsweise<br />

das Honorierungssystem (Schlagworte<br />

„Konvergenz der Systeme“ und „Gleiches Geld für<br />

gleiche Leistung“) nach einer „Zusammenführung“<br />

von GOZ und BEMA aussehen solle, darüber würde<br />

derzeit gerade ein SPD-Experten-Gremium (Lemme,<br />

Lauterbach, Knieps u.a.) arbeiten. Die Thematik sei<br />

so komplex, dass man damit noch nicht an die Öffentlichkeit<br />

gehen könne, so Lemme. Wichtiger sei<br />

aber die allgemeine Richtung der SPD-Politik, die<br />

auf eine „Konvergenz“ ziele. Die SPD könne im Übrigen<br />

gar kein abschließendes Honorarsystem veröffentlichen,<br />

denn dies sei dann eine künftige Aufgabe<br />

der Partner z.B. im gemeinsamen Bundessausschuss<br />

(www.g-ba.de) von Krankenkassen und Leistungserbringern<br />

oder im Bewertungsausschuss bzw. im erweiterten<br />

Bewertungsausschuss.<br />

Leistungskatalog<br />

Auch zum Umfang des Leistungskataloges der Bürgerversicherung<br />

wollte sich Lemme nicht äußern, lehnte<br />

höflich und freundlich ab, darüber zu sprechen, wie<br />

„außervertragliche Leistungen“ in der Zahnmedizin<br />

zukünftig abzurechnen seien. Er gab aber zu verstehen,<br />

dass er bestimmte derzeitige „Privatleistungen“<br />

beispielsweise aus dem ärztlichen IGel-Katalog<br />

für medizinisch fragwürdig halte und er Versicherte<br />

in Schutz nehme wolle. Er betrachtete die professionelle<br />

Zahnreinigung als IGel-Leistung und hielt in<br />

diesem Segment weitere Überprüfungen des zahnmedizinischen<br />

Nutzens der PZR für notwendig. Nach<br />

Lemmes Erfahrungen sei das Konzept der Privaten<br />

Krankenversicherung (PKV) ein Auslaufmodell, eher<br />

geeignet für den Bereich von „Zusatzversicherungen“,<br />

die es auch neben der Bürgerversicherung geben solle.<br />

Nach Lemmes Meinung spiele die PKV für Ärzte<br />

und Zahnärzte keine große Rolle, da ja die meisten<br />

Ärzte weniger als 10% Privatversicherte behandeln<br />

würden. Auch einen künftigen „privaten“ Leistungskatalog<br />

zu beschreiben sei im Übrigen Aufgabe der<br />

Sozialpartner.<br />

Mehreinnahmen der BV und Budgeterhöhung<br />

Durch die Bürgerversicherung wäre mit Mehreinnahmen<br />

zu rechnen: mehr Beitragszahler und auch Beiträge<br />

aus Zinsen und Vermögensverwaltung, außerdem<br />

durch die Wiedereinführung von paritätischen<br />

Beiträgen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Diese<br />

Entwicklung würde eine Budgeterhöhung zur Folge<br />

haben – ohne Budgetierung (als Instrument der Mitverantwortung<br />

der Leistungserbringer für die Menge)<br />

würde es aber nicht gehen. Der Gesundheitsfonds und<br />

ein morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich<br />

sollen bleiben. Gleichzeitig soll der Wettbewerb unter<br />

den Krankenkassen gestärkt und deren Beitragssatz-Autonomie<br />

sowie die Verhandlungsfähigkeit gegenüber<br />

Leistungserbringern verbessert werden. Wie<br />

dies aber im Einzelnen geregelt werden soll – „das ist<br />

noch nicht geklärt“, daran arbeite der schon genannte<br />

SPD-Fachausschuss mit Hochdruck, so Lemme vor<br />

den versammelten Zahnärzten.<br />

30 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>


Di s k u s s i o n |<br />

Lob für die Zahnärzte<br />

Lemme lobte ausdrücklich die Zahnärzte für die Erfolge<br />

bei der Prävention und der Zahnerhaltung. Auch die<br />

befundbezogene Festzuschuss-Regelung bei Zahnersatz<br />

habe sich bewährt und solle beibehalten werden.<br />

Über eine Ausweitung dieses Prinzips auf andere Bereiche<br />

würde derzeit aber nicht nachgedacht.<br />

Zahnmediziner sind sicher nicht davon zu überzeugen, dass die Fortführung<br />

der Budgetierung und damit die Übertragung des Morbiditätsrisikos<br />

auf die Zahnärzte „gerecht“ sind. Wie der demografische Wandel<br />

durch die Bürgerversicherung gemeistert werden soll, ist ebenfalls<br />

noch nicht deutlich genug.<br />

Bekenntnis zur Freiberuflichkeit und zu einer neuen<br />

Approbationsordnung<br />

Auf die Frage, ob die alte Parole der ehemaligen SPD-<br />

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, das „Dogma der<br />

Freiberuflichkeit von Ärzten und Zahnärzten müsse<br />

gebrochen werden“, noch gelte, bekannte sich Lemme<br />

zum Prinzip der Freiberuflichkeit als Mittel der<br />

wohnortnahen Versorgung der Bevölkerung, „wenn<br />

der Sicherstellungsauftrag erfüllt wird“. Dringend<br />

forderte Lemme eine moderne Approbationsordnung<br />

– ohne hier Stellung zu den Inhalten und Ergebnissen<br />

zu beziehen (aber das war auch nicht Thema<br />

des Abends).<br />

Fazit: Es gibt viel Informationsbedarf in der Politik.<br />

Darum sollten Gespräche häufiger stattfinden.<br />

Die Gesprächsrunde diente dem Kennenlernen der<br />

SPD-Position auf der einen Seite und der Erläuterung<br />

zahnärztlicher Positionen auf der anderen. Dabei wurde<br />

deutlich, dass der Bedarf an zahnmedizinischer<br />

und standespolitischer Information selbst bei ausgewiesenen<br />

Gesundheitsexperten sehr ausgeprägt sein<br />

kann. Insbesondere konnten die anwesenden Zahnärzte<br />

MdB Lemme darauf hinweisen, dass die Zahnmedizin<br />

kein Kostentreiber und der Anteil zahnmedizinischer<br />

Leistungen an den Gesamtausgaben der<br />

GKV zurückgegangen ist, dass jeder GKV-Patient jetzt<br />

durch das Festzuschuss-Prinzip und Mehrkostenvereinbarungen<br />

auch gleichzeitig ein Privatpatient sein<br />

kann, wenn er freiwillig und aufgeklärt Leistungen<br />

wählt, die über die Regelleistungen/Sachleistungen<br />

hinausgehen. Insofern sei das Bild, „in den Ost-Ländern<br />

gebe es kaum Privatpatienten“, nicht korrekt.<br />

Auch konnten die Zahnärzte deutlich machen, dass<br />

55 000 niedergelassene Zahnärzte mit Personal und<br />

Familienangehörigen eben doch eine Multiplikatoren-<br />

Gruppe sind, die ein politisches Gewicht einbringen<br />

kann. Auch die Wirkung in den öffentlichen Raum<br />

hinein sei beträchtlich: Patienten würden „ihrem“<br />

Zahnarzt nach wie vor vertrauen. Zur „IGeL-Leistung<br />

PZR“ erhielt Lemme auch im Nachgang zur Veranstaltung<br />

per Email weitere Informationen über die<br />

Wirksamkeit und den Nutzen der PZR.<br />

Angesprochen wurden auch kulturelle Zerrbilder in<br />

der Politik. Zahnärzte betonten, das Bild vom „reichen“<br />

Zahnarzt sei ein altes Klischee. Die Niederlassungs-Kosten<br />

seien erheblich, schnellere Produktzyklen<br />

bei Geräten und Instrumenten verursachten<br />

neuen Bedarf für finanzielle Rücklagen.<br />

Die Zahnärzteschaft ist skeptisch gegenüber der Bürgerversicherung,<br />

weil wichtige Details der Honorarordnung<br />

fehlen. Die Zahnärzte tendieren unter diesen<br />

Voraussetzungen eher zur Beibehaltung des zweigegliederten<br />

Systems von GKV und PKV bei maßvoller<br />

Korrektur und einem Umbau von Strukturen. Zahnmediziner<br />

sind sicher nicht davon zu überzeugen,<br />

dass die Fortführung der Budgetierung und damit<br />

die Übertragung des Morbiditätsrisikos auf die Zahnärzte<br />

„gerecht“ sind. Wie der demografische Wandel<br />

durch die Bürgerversicherung gemeistert werden soll,<br />

ist ebenfalls noch nicht deutlich genug.<br />

Aufgabe für die Zahnärzteschaft wird es sein, gesprächsbereite<br />

Vertreter von SPD und den GRÜ-<br />

NEN intensiv über die Auswirkungen ihres Modells<br />

der Bürgerversicherung zu informieren. Offenbar<br />

ist das Modell noch nicht ausreichend im Einzelnen<br />

durchdacht. Vor diesem Hintergrund wirkt es<br />

befremdlich, wenn die Befürworter der Bürgerversicherung<br />

mit globalen Äußerungen, es ergäbe sich<br />

mehr Gerechtigkeit („Keine Zwei-Klassen-Medizin“,<br />

„Gleiches Honorar für gleiche Leistung“, „keine Wartezeiten“<br />

„keine Rationierung“ usw.), bereits Wahlkampf<br />

machen. Wenn Rot-Grün die Wahlen gewinnt,<br />

müsste die neue Regierung relativ schnell das neue<br />

System installieren, damit sie sich nicht den Vorwurf<br />

des Wahlbetrugs einhandelt. Es besteht die Gefahr,<br />

dass die Freiberuflichkeit sich dann von selbst erledigt<br />

und sich ein System wie das des britischen National-Health-Service<br />

ergibt; und das ist wirklich ein<br />

Zwei-Klassen-System.<br />

<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 31


| Im p r e s s u m<br />

Impressum<br />

Die Verbände<br />

der <strong>IGZ</strong><br />

Herausgeber:<br />

Interessengemeinschaft Zahnärztlicher Verbände in<br />

Deutschland <strong>IGZ</strong> e.V.<br />

Dr./RO Eric Banthien<br />

Papyrusweg 8, 22117 Hamburg<br />

Telefon: (040) 712 73 11<br />

Telefax: (040) 712 96 24<br />

Redaktion:<br />

Benn Roolf<br />

Radenzer Str. 21, 12437 Berlin<br />

Telefon: (030) 536 99 894<br />

Telefax: (030) 536 99 895<br />

Verlag und Anzeigenverkauf:<br />

one line Produktionsbüro & Werbeagentur<br />

Radenzer Str. 21, 12437 Berlin<br />

Telefon: (030) 536 99 894<br />

Telefax: (030) 536 99 895<br />

Titelfoto: Aufklärungspostkarte des Deutschen ,Hygienemuseums<br />

Dresden, Quelle: Dentalhistorisches Museum<br />

Zschadraß. Das Museum im sächsischen Zschadraß<br />

besitzt mit über 500 000 Exponaten die weltweit<br />

größte Dokumentation zur Zahnheilkunde.<br />

Dentalhistorisches Museum<br />

Im Park 9b<br />

04680 Zschadraß<br />

www.dentalmuseum.eu<br />

Brandenburg:<br />

Verband Niedergelassener Zahnärzte<br />

Land Brandenburg e.V.<br />

Helene-Lange-Str. 4-5, 14469 Potsdam<br />

Tel. (0331) 297 71 04<br />

Fax (0331) 297 71 65<br />

www.vnzlb.de<br />

Hamburg:<br />

Zahnärzteverband Z-2000<br />

Mühlendamm 92, 22087 Hamburg<br />

Tel. (040) 22 76 180<br />

Fax (040) 22 76 120<br />

www.z-2000.de<br />

Saarland:<br />

Verband der Zahnärzte im Saarland e.V.<br />

Puccinistr. 2, 66119 Saarbrücken<br />

Tel. (0681) 58 49 359<br />

Fax (0681) 58 49 363<br />

www.vdzis.de<br />

Westfalen-Lippe:<br />

Wählerverband Zahnärzte Westfalen<br />

Reichshofstr. 77, 58239 Schwerte<br />

Tel. (02304) 671 37<br />

Fax (02304) 632 54<br />

www.w-z-w.de<br />

Auflage:<br />

2 500 Exemplare<br />

Erscheinungsweise:<br />

4mal im Jahr<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht<br />

unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers<br />

wieder. Bei redaktionellen Einsendungen<br />

ohne besonderen Vermerk behalten sich der Herausgeber<br />

und Verlag das ausschließliche Recht auf<br />

Vervielfältigung in jeglicher Form ohne Beschränkung<br />

vor. Alle Rechte, auch die der auszugsweisen<br />

Vervielfältigung, bedürfen der Genehmigung des<br />

Herausgebers und des Verlages. Die gesamte Grafik<br />

ist geschützt und darf nicht anderweitig abgedruckt<br />

oder vervielfältigt werden. Gerichtsstand und Erfüllungsort:<br />

Berlin.<br />

32 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!