Ausgabe 1-2013 - IGZ
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19. Jahrgang<br />
VKZ 17248<br />
<strong>IGZ</strong><br />
DIE ALTERNATIVE<br />
1<br />
<strong>2013</strong><br />
Prävention<br />
Zwischen Fürsorge und Eigenverantwortung<br />
Editorial: Prävention zwischen Fürsorge<br />
und Eigenverantwortung ............................................ 3<br />
Prof. Dr. Giovanni Maio: Das Paradigma der<br />
Eigenverantwortung und die Privatisierung der<br />
Gesundheit. .................................................................... 4<br />
Christian Weber: Der Stellenwert der Prävention<br />
im Lichte des demografischen Wandels. ................. 8<br />
Dr. Jürgen Fedderwitz:<br />
Prävention muss Vorfahrt haben. ........................... 10<br />
Dr. Rugzan Hussein: Verbreitung prophylaktischer<br />
Maßnahmen in Zahnarztpraxen................... 14<br />
Dr. Michael Dreyer: Staatliche Fürsorge oder Eigenverantwortung<br />
des Patienten - Ein Problem für<br />
die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe?......... 20<br />
Prof. Dr. Ulrich Schiffner: Erfolge, Grenzen und<br />
Weiterentwicklung der Kariesprävention............... 22<br />
Dr. Roschan Farhumand: Zahngesundheit bei<br />
Kleinkindern in Hamburg - Ein Modellvorhaben<br />
der AOK Rheinland/Hamburg ................................... 24<br />
Prof. Dr. Thomas Kocher: Diabetes und Parodontitis<br />
- Früherkennung und Behandlung des Diabetes<br />
in Zahnarztpraxen ................................................ 26<br />
Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann:<br />
Medizin durch Zahnmediziner ................................. 28<br />
Dr. Thomas Einfeldt: SPD-Gesundheitspolitiker<br />
Steffen-Claudio Lemme zu Gast bei der <strong>IGZ</strong> ......... 30<br />
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Dr. Christian Georg,<br />
Radiologe<br />
Antonia Zimmer,<br />
Studentin der Zahnmedizin<br />
Markus Felber,<br />
Zahnarzt<br />
Masoumeh Hediehlou,<br />
Apothekerin
eDitoriaL |<br />
Benn Roolf<br />
Prävention zwischen Fürsorge<br />
und Eigenverantwortung<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
den längsten Zeitraum in der Menschheitsgeschichte<br />
galten Krankheiten als vom Individuum weitgehend<br />
unbeeinflussbares Schicksal. Der Gedanke, durch eigenes<br />
Zutun, durch gesundheitsbewusstes Verhalten<br />
Erkrankungen vorzubeugen, war nichts weniger als<br />
eine kulturelle Revolution und führte ab der Mitte des<br />
19. Jahrhunderts zu einer wahren Flut von Gesundheits-<br />
und Ratgeberliteratur, Aufklärungskampagnen<br />
und einer stürmischen Entwicklung von Medizin und<br />
Pharmakologie. Die neue Hygienebewegung erfasste<br />
nahezu alle Lebensbereiche, vom Arbeitsplatz über<br />
das Wohnen bis hin zur persönlichen Hygiene: Mit<br />
dem Haarewaschen, der Körperreinigung mit Seife<br />
verbreitete sich auch das tägliche Zähneputzen - eine<br />
gewaltige Errungenschaft der Zahnprophylaxe.<br />
Eine Krankheit zu verhindern ist besser und meist<br />
auch billiger, als eine Krankheit zu behandeln. Die<br />
Zahnmedizin hat inzwischen eine deutliche Entwicklung<br />
weg von der „reparierenden“ hin zu einer präventiven<br />
Heilkunde vollzogen. „In nahezu allen Bereichen<br />
der zahnärztlichen Tätigkeit hat sich das<br />
Volumen prophylaktischer Leistungen von 2000 bis<br />
2009 erhöht“, stellt die Wissenschaftlerin Rugzan<br />
Hussein in ihrem Beitrag fest. „Prävention muss Vorfahrt<br />
haben“, formuliert denn auch der KZBV-Vorsitzende<br />
Jürgen Fedderwitz die Prämisse der Zahnmedizin.<br />
Zahnärztliche Prophylaxe habe deutliche<br />
Erfolge erzielen können. Gleichzeitig gebe es aber<br />
noch Lücken, wie beispielsweise einen besonderen<br />
Präventionsbedarf bei Pflegebdürftigen und Menschen<br />
mit Behinderungen, stellt Fedderwitz fest und<br />
fordert einen „präventionsorientierten Leistungskatalog<br />
für diesen Personenkreis“.<br />
Unbestrittene Betreuungslücken gibt es auch in der<br />
Kariesprävention bei den unter 3-Jährigen. „Viele Kinder<br />
kommen heute bereits mit Kariessymptomen in<br />
die Kita“, schreibt Roschan Farhumand von der AOK<br />
Rheinland/Hamburg in ihrem Beitrag und stellt ein<br />
Modellprojekt mit innovativen Präventionsleistungen<br />
zur frühkindlichen Kariesprophylaxe vor.<br />
Benn Roolf<br />
Chefredakteur<br />
Ein gutes Jahrhundert später haben wir ein leistungsfähiges<br />
System der Prävention und Gesundheitsversorgung.<br />
Anders jedoch als am Ausgang des 19. Jahrhunderts<br />
ist heute eine Anspruchshaltung verbreitet,<br />
die ein individuelles „Recht auf Gesundheit“ geradezu<br />
apriori voraussetzt und als Adressaten für die<br />
Einlösung dieses Rechtes „den Staat“ und „die Kassen“<br />
anspricht. Die Politik reagiert mit einer stärkeren<br />
Betonung der Eigenverantwortung des Patienten<br />
für seine Gesundheit, auch aus finanziellen Erwägungen<br />
heraus. Welches Verhältnis sollen künftig die<br />
Eigenverantwortung des Patienten und die Leistungen<br />
der Solidargemeinschaft haben? Darüber wird<br />
seit geraumer Zeit auch im Zusammenhang mit der<br />
Präventionsgesetzgebung gestritten. Mit der Balance<br />
zwischen öffentlicher Fürsorge und Eigenverantwortung<br />
beschäftigt sich der Freiburger Medizinethiker<br />
Giovanni Maio in seinem Beitrag und mahnt, „dass<br />
die an sich richtige Betonung der Eigenverantwortlichkeit<br />
nicht allmählich zu einer sanktionsbewehrten<br />
Einforderung von Gesundheit mutiert“.<br />
Eine wichtige, aber bislang wenig beachtete Präventionsinitiative<br />
stellt der Parodontologe Thomas Kocher<br />
vor. Seit langem bekannt sind die Zusammenhänge<br />
zwischen Parodontitis und Diabetes. „Parodontitiserkrankungen<br />
können ein Hinweis auf einen möglichen<br />
Diabetes sein. Zahnärzte können so oft als<br />
erste Symptome einer bislang unentdeckten Diabeteserkrankung<br />
feststellen.“ Kocher plädiert deshalb<br />
für eine stärkere Einbeziehung der Zahnärzte bei der<br />
Früherkennung und Behandlung des Diabetes. Unterstützt<br />
wird er dabei auch von Experten außerhalb<br />
der Zahnärzteschaft. So forderte der führende Diabetologe<br />
Hellmut Mehnert für Diabetiker eine fachübergreifende<br />
Behandlung und die Professionelle<br />
Zahnreinigung als Kassenleistung.<br />
Neben dem Diabetes werden auch weitere Allgemeinerkrankungen<br />
wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose<br />
oder Erkrankungen der Atemwege mit Prozessen<br />
im Mundraum in Verbindung gebracht. Der<br />
Greifswalder Versorgungsepidemiologe Wolfgang<br />
Hoffmann plädiert daher dafür, Zahnärzte künftig<br />
stärker in die fachübergreifende Diagnose und Behandlung<br />
von Allgemeinerkrankungen einzubeziehen.<br />
Mit der bestehenden flächendeckenden Versorgungsstruktur<br />
und dem geschulten Prophylaxepersonal<br />
hätte die Zahnärzteschaft dafür exzellente Voraussetzungen,<br />
so Hoffmann.<br />
Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.<br />
Benn Roolf<br />
<strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
3
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Giovanni Maio<br />
Das Paradigma der Eigenverantwortung<br />
und die Privatisierung<br />
der Gesundheit<br />
Prof. Dr. med. Giovanni<br />
Maio, M.A. (phil.)<br />
Lehrstuhl für Medizinethik am<br />
Institut für Ethik und Geschichte<br />
der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität<br />
Freiburg<br />
Gibt es eine Pflicht des Individuums, gesund zu leben?<br />
Wir sehen heute die gesundheitsbewusste Lebensweise<br />
immer mehr auch als Pflicht gegenüber<br />
dem Staat, als Pflicht gegenüber der Gemeinschaft,<br />
als Pflicht gegenüber der Sozialversicherung. Immanuel<br />
Kant hat das Gebot, sich nicht selbst zu schädigen,<br />
als eine Pflicht gegen sich selbst formuliert. Diese<br />
ergibt sich daraus, dass der Mensch als Selbstzweck,<br />
als Mensch mit einer Würde betrachtet werden muss,<br />
und es wäre ein Verstoß gegen diese Würde, wenn<br />
der Mensch sich durch die Selbstschädigung selbst<br />
zur Sache machen würde. Diese von Kant postulierte<br />
Pflicht bringt zum Ausdruck, dass der Mensch auch<br />
gegenüber sich selbst letzten Endes unverfügbar ist.<br />
So ist es eben eine Form der Selbstachtung, wenn der<br />
Mensch achtgibt auf seine Gesundheit.<br />
Auf der anderen Seite muss bedacht werden, dass nur<br />
derjenige tatsächlich gesundheitsbewusst leben kann,<br />
der auch die sozialen und emotionalen Ressourcen<br />
dazu hat. Viele Menschen müssen erst befähigt werden,<br />
gesundheitsbewusst zu leben, und sie brauchen<br />
erst einmal die Freiräume und die Möglichkeiten,<br />
sich entsprechend zu verhalten. Genau dieser Aspekt<br />
kommt in den heutigen Debatten zuweilen etwas zu<br />
kurz. Das hängt mit der Veränderung des Selbstverständnisses<br />
des Staates zusammen.<br />
So ist die Vorstellung, dass der Staat schlichtweg die<br />
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten<br />
hat, immer mehr relativiert worden, weil es<br />
nicht mehr so zentral die Fürsorge ist, die dem Staat<br />
als Leitbild dient. Stattdessen wird der Ruf nach einer<br />
Modernisierung des Staates immer lauter. Und Modernisierung<br />
wird heute verstanden als Aufruf zum<br />
„aktivierenden Staat“. Das moderne Verständnis von<br />
Sozialstaat setzt immer weniger auf die Versorgung,<br />
sondern vielmehr auf die Aktivierung der Bürger und<br />
damit auf das Konzept der Eigenverantwortung des<br />
Individuums. Prämisse der Politik ist somit die Förderung<br />
der eigenen Kompetenzen des Bürgers, letztlich<br />
mit der Zielsetzung, ihn dadurch zur Übernahme<br />
eigener Verantwortung zu verpflichten. Man sagt<br />
zwar, dass man den Sozialstaat unbedingt erhalten<br />
wolle, aber de facto fährt man ihn zurück, und dies<br />
maskiert hinter akzeptanzverschaffenden Begriffen<br />
wie Freiheit, Wahlfreiheit, Mündigkeit. Auf der anderen<br />
Seite ist es ganz sicher auch zu begrüßen, dass<br />
der Staat auf die Aktivierung des Bürgers setzt, und<br />
es ist auch zu begrüßen, dass der Bürger von heute<br />
eben nicht einfach die Medizin zur „Reparatur“ heranziehen<br />
soll, ohne sich selbst an der eigenen Gesundung<br />
und auch am Gesundbleiben zu beteiligen.<br />
Allerdings ist es unabdingbar, über die Grenzen des<br />
Aktivierungsmodells genauer zu sprechen.<br />
Grundsätzlich steht der heutige Mensch im Gesundheitswesen<br />
vermehrt in der Pflicht, Entscheidungen<br />
in Bezug auf seine Gesundheit zu treffen, sei es, weil<br />
das System nicht mehr alles bezahlt, sei es, weil das<br />
System oder die Gesellschaft von ihm vermehrt gesundheitsförderndes<br />
Verhalten verlangen. Aufgabe<br />
des aktivierenden Staates ist es nicht mehr, Menschen<br />
gegen zentrale Lebensrisiken abzusichern, sondern in<br />
größtmöglichem Maße dafür zu sorgen, dass sich der<br />
Bürger selbst um das Gesundbleiben kümmert und<br />
sich eigenverantwortlich verhält. Es ist sehr interessant,<br />
dass diese staatliche Auferlegung einer Pflicht<br />
zur Verantwortungsübernahme gekoppelt worden ist<br />
an eine Rhetorik der Emanzipation. Es handelt sich<br />
hier um eine geschickte Doppelstrategie von Emanzipationsversprechen<br />
und gleichzeitiger Forderung nach<br />
Eigenverantwortung und damit nach einem konformen<br />
Verhalten. Menschen sollen also vom Staat mit<br />
allen Voraussetzungen individuellen Erfolgs ausgestattet<br />
werden, damit sie anschließend in die selbständige<br />
Eigenverantwortung entlassen werden können.<br />
Und das soll in der Weise geschehen, dass man ihnen<br />
Emanzipation verspricht und zugleich Pflichten<br />
einfordert. Man könnte das auch unter dem Schlagwort<br />
„Fördern und Fordern“ subsumieren. Im ersten<br />
Schritt werden individuelle Kompetenzen im Hinblick<br />
auf das persönliche Gesundheitsverhalten gefördert.<br />
Wenn dies nicht ausreicht, bleibt die Androhung von<br />
Sanktionen. Letzten Endes ist es dann so zu verstehen,<br />
dass wir es hier mit einer Koppelung des Konzepts<br />
der Gesundheitskompetenz mit dem Konzept<br />
der Eigenverantwortung zu tun haben. Das heißt, es<br />
besteht eine Verbindung zwischen Patientensouveränität<br />
und Individualisierung der Verantwortung, eine<br />
Verbindung von Kompetenz und Verpflichtung. Eigenverantwortung<br />
ist hier einerseits Voraussetzung<br />
4 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
und zugleich auch die Folge des politischen Postulats<br />
eines souveränen Bürgers. Und natürlich ist es vernünftig,<br />
den mündigen Bürger und auch den mündigen<br />
Patienten anzustreben, aber es wird hier zu<br />
schnell und zu leicht übersehen, dass die Übernahme<br />
von Verantwortung an Grundvoraussetzungen<br />
geknüpft werden muss. Menschen müssen erst befähigt<br />
werden, Verantwortung zu übernehmen, bevor<br />
sie sanktioniert werden.<br />
Im Kontext der besonderen Betonung von Gesundheitskompetenz<br />
in Verbindung mit der Forderung<br />
Hintergrund kann man hier von einer zunehmenden<br />
Privatisierung der Gesundheit sprechen.<br />
Beim Begriff der Eigenverantwortung wird aber zu<br />
leicht vergessen, dass die Gruppen der Bevölkerung,<br />
die das größte Risiko tragen, zu erkranken, auch im<br />
Durchschnitt die geringsten Möglichkeiten und Fähigkeiten<br />
haben, die Gesundheitsförderung in ihrem<br />
Verhalten zu berücksichtigen. Das hat damit zu tun,<br />
dass die unterprivilegierten Schichten über weniger<br />
Freiheiten und auch über weniger finanzielle Möglichkeiten<br />
verfügen, um in der Wahl ihres Lebensstils<br />
Der Doppelcharakter von Eigenverantwortung - als Mittel zur Emanzipation<br />
des Patienten und zugleich als Mittel zum Zweck der Kostenreduzierung<br />
im Gesundheitswesen - machte sie zum idealen Paradigma<br />
einer neuen Gesundheitspolitik.<br />
von Eigenverantwortung wird der Gesundheitszustand<br />
vornehmlich als individuelles Geschehen interpretiert,<br />
das geradezu ausschließlich abhängig ist<br />
von persönlichem Gesundheitsverhalten. Das ist aber<br />
eine irrige Annahme. Gesundheit ist nicht einfach<br />
ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal, sondern<br />
Gesundheit ist in hohem Maße abhängig von strukturellen<br />
Rahmenbedingungen und nicht vom Einzelnen<br />
allein. Wir haben es hier zuweilen mit einer<br />
Verengung der Verantwortungsperspektive zu tun. 1<br />
Es wird zwar sehr wohl erkannt, dass sich die individuelle<br />
Gesundheit nicht allein durch persönliche<br />
Anstrengungen erzeugen lässt, weil Gesundheit und<br />
Krankheit von einem komplexen Gefüge aus strukturellen<br />
Lebensbedingungen, milieubedingter Lebensweise<br />
und individuellem Lebensstil bestimmt<br />
werden. Doch diese komplexe Gemengelage ist offenbar<br />
unkontrollier- und unregulierbar geworden.<br />
Darum soll das eigenverantwortliche Individuum in<br />
die Pflicht genommen werden.<br />
Diese Entwicklung paart sich mit dem Emanzipationsbestreben<br />
der Patienten, die eben Partizipation<br />
für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung<br />
zu Recht forderten und fordern. Eigenverantwortliche<br />
Patienten wurden somit zur zentralen Zielvorstellung.<br />
Die Patienten wollten im Sinne der Patientenrechte<br />
mehr Mitspracherechte für die eigene Gesundheit<br />
haben und sollten dann in der Folge auch mehr Verantwortung<br />
tragen, im Sinne der Patientenpflichten.<br />
Dieser Doppelcharakter von Eigenverantwortung -<br />
als Mittel zur Emanzipation des Patienten und zugleich<br />
als Mittel zum Zweck der Kostenreduktion im<br />
Gesundheitswesen - machte sie zum idealen Paradigma<br />
einer neuen Gesundheitspolitik. Vor diesem<br />
1 Maio, Giovanni: Mittelpunkt Mensch – Ethik in der Medizin. Stuttgart: Schattauer,<br />
2012.<br />
sich gesundheitsfördernd zu verhalten. Sie haben, bedingt<br />
durch ihren sozialen Status, oft schlichtweg gar<br />
keine Wahl, verfügen nicht über die Entscheidungsfreiheiten,<br />
die bei höheren Schichten ausgeprägter<br />
sind. Aber es sind nicht nur Schichtzugehörigkeiten,<br />
die über das Ausmaß der Fähigkeit zur Übernahme<br />
von Gesundheitsverantwortung entscheiden. Auch<br />
das Alter der Patienten spielt hier eine große Rolle,<br />
und auch ihr Gesundheitszustand. Das bedeutet,<br />
dass sowohl sozial schlechter gestellte Menschen als<br />
auch ältere und vor allen Dingen kranke Menschen<br />
über weniger Möglichkeiten verfügen, eine Gesundheitskompetenz<br />
zu erwerben. Das hat auch damit zu<br />
tun, dass diese Gruppen einfach mehr Mühe haben,<br />
nicht nur Informationen zu verstehen, sondern sich<br />
auch mit anderen Personen über Fragen der Gesundheitserhaltung<br />
auszutauschen. Gesundheitskompetenz<br />
hat also nicht nur etwas mit der Fähigkeit und Bereitschaft<br />
zur Wissensaneignung beispielsweise durch Lesen<br />
zu tun, sondern vor allen Dingen damit, ob diese<br />
Menschen tragfähige soziale Kontakte haben, die ihnen<br />
Gespräche über gesundheitsrelevante Fragen ermöglichen.<br />
So sind es die Beziehungsstrukturen und<br />
nicht nur die Lesefähigkeit, die über die Fähigkeit zur<br />
Entwicklung einer Gesundheitskompetenz und damit<br />
einer Eigenverantwortung entscheiden.<br />
Was bedeutet das für die Frage nach Eigenverantwortung<br />
und Prävention? Im Folgenden seien drei Desiderate<br />
formuliert, die in ethischer Hinsicht zu beachten<br />
sind, wenn wir über Prävention und Eigenverantwortung<br />
sprechen. Gesundheitsfördendes Verhalten ist<br />
wichtig und muss unterstützt werden, aber es bedarf<br />
eines differenzierten Umgangs mit dem Präventionsappell,<br />
weil es einerseits starke Menschen gibt, die<br />
Verantwortung von sich aus übernehmen können,<br />
und andererseits auch viele Menschen, denen man<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 5
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Nicht nur unterprivilegierte<br />
Schichten, auch ältere und<br />
kranke Menschen können nur<br />
schwer die Position des eigenverantwortlich<br />
handelnden,<br />
mündigen und auf Augenhöhe<br />
mit dem Arzt spechenden<br />
Patienten einnehmen.<br />
erst helfen muss, damit sie befähigt werden, Verantwortung<br />
für ihre Gesundheit zu übernehmen. Daher<br />
muss der Ruf nach Prävention unabdingbar gekoppelt<br />
werden an das Desiderat einer Hilfe zur Verantwortungsfähigkeit,<br />
Hilfe zur Befähigung. Das heißt<br />
eben, dass die Politik die Verantwortung für die Gesundheit<br />
nicht einfach schematisch und undifferenziert<br />
an den Einzelnen abgeben kann. Die Gesellschaft<br />
bzw. die sozialen Systeme tragen selbst Verantwortung<br />
dafür, Menschen zu helfen, verantwortungsfähig<br />
zu werden.<br />
Ferner muss der Ruf nach Prävention gekoppelt werden<br />
an das Desiderat der Vermeidung einer Diskriminierung.<br />
Diese Diskriminierung stellt sich ein durch<br />
eine einseitige Sichtweise auf gesundheitsgefährdende<br />
Verhaltensweisen. Es ist ein weit verbreiteter Topos,<br />
zum Beispiel Fast Food, das Freizeitverhalten<br />
mit exzessivem Fernsehkonsum oder die Fettleibigkeit<br />
als bedrohliche krankheitsfördernde Ursachen<br />
zu kritisieren. 2 Dabei wird oft der Stab gebrochen<br />
über die Menschen, die sich so verhalten. Vergessen<br />
wird hierbei, dass alle drei genannten Merkmale<br />
in den unterpriviliegierten Gruppen unserer Gesellschaft<br />
viel häufiger anzutreffen sind als in den<br />
Mittelschichten.<br />
2 Bettina Schmidt: Der kleine Unterschied: Gesundheit -- fördern und fordern. In: B. Paul<br />
& H. Schmidt-Semisch (Hg.): Risiko Gesundheit. Wiesbaden: VS-Verlag für Gesundheit,<br />
2010, S. 23-38.<br />
Es ist weithin bekannt, dass es eine Korrelation gibt<br />
zwischen sozialer Privilegiertheit und Gesundheitsstatus<br />
eines Menschen. Aber ist das wirklich so einfach?<br />
So stellt sich die drängende Frage: Warum kritisieren<br />
wir nicht genauso das gesundheitsgefährdende Verhalten<br />
von Workaholics? Warum kritisieren wir nicht<br />
das Verhalten der privilegierten Schichten, die zum<br />
Beispiel durch die Wahl eines hektischen, stressreichen<br />
Lebens ihre Gesundheit wohl in ähnlicher Weise<br />
gefährden wie der Fastfood-Konsument? Diese aufgeworfene<br />
Frage soll nicht als eine Bagatellisierung<br />
oder gar Entschuldigung des gesundheitsgefährdenden<br />
Verhaltens unterprivilegierter Schichten gedeutet<br />
werden. Aber es ist doch offenkundig, dass hinter den<br />
öffentlichen Kritiken nicht nur Statistiken stecken,<br />
sondern dahinter verbergen sich vielmehr verdeckte<br />
Werturteile und nicht zuletzt die Vorstellung des<br />
idealen, fehlerfreien Norm-Menschen, der pflichtgemäß<br />
und hochperformant für seine Gesundheit sorgt<br />
und so die Gemeinschaft entlastet.<br />
Heute leben wir in einer Leistungsgesellschaft, in der<br />
sich Menschen über ihre Leistungsfähigkeit definieren,<br />
und alle, die nicht in dieses Raster passen, fallen<br />
heraus. Daher fördert unsere Gesellschaft diejenigen,<br />
die leisten können, und schließt diejenigen aus, die<br />
nicht derart leistungsfähig sind. Damit aber versperrt<br />
die Gesellschaft denjenigen, die diese Leistungsfähigkeit<br />
nicht von alleine erreichen können, den Zugang<br />
zu Privilegien und sie belohnt diejenigen, die Leistung<br />
erbringen, selbst dann, wenn diese Leistung auf<br />
Kosten ihrer Gesundheit geht. Wir messen hier also<br />
mit zweierlei Maß.<br />
Foto: Wissmann Design / Fotolia.com<br />
Dies zeigt die Schwierigkeit auf, die wir vorfinden,<br />
wenn wir Krankheiten als Resultate menschlicher<br />
Handlungen deuten wollen. Dann müssten wir nicht<br />
nur die ohnehin negativ besetzten Handlungen in die<br />
Waagschale werfen, sondern wir müssten auch die<br />
Handlungen negativ bewerten, die ansonsten hoch<br />
im Kurs stehen, aber dennoch gesundheitsgefährdend<br />
sind. Dazu sind aber viele Menschen nicht bereit. Es<br />
sollte daher weniger die Frage im Fokus stehen, wer<br />
Schuld trägt an einer Krankheit, weil das der falsche<br />
Zugang ist zum Thema Prävention. Es ist vielmehr<br />
wichtig danach zu fragen, wie man es schaffen kann,<br />
dass möglichst wenig Menschen krank werden, und<br />
hierfür muss man an den sozialen Verhältnissen genauso<br />
ansetzen wie an der Motivation der Einzelnen<br />
zum gesunden Lebensstil. Die sozialen Verhältnisse<br />
darf man nicht einfach wegleugnen. Es bedarf vielmehr<br />
kluger Strategien, die die Menschen in ihrer<br />
jeweils spezifischen Lebenswelt abholen; es bedarf<br />
Strategien, die bei diesen Menschen das Gefühl der<br />
Freude am Gesundsein und an der gesunden Lebensweise<br />
hervorbringen. Ohne die positive Besetzung des<br />
Gesundseins und des gesundheitsfördernden Verhaltens<br />
wird man nicht erfolgreich sein können.<br />
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Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
Die Politik muss auch beachten, dass die an sich richtige<br />
Betonung der Eigenverantwortlichkeit nicht allmählich<br />
zu einer sanktionsbewehrten Einforderung<br />
von Gesundheit mutiert. Selbst wenn man dem technizistischen<br />
Glauben vom idealen Gesundheitsverhalten<br />
folgt, ist es - abgesehen von einigen gesicherten<br />
Kausalitäten - doch sehr schwierig, Gesundheit und<br />
damit auch gesundheitsförderndes Verhalten konkret<br />
zu definieren, weil oft individuelles Verhalten<br />
und soziale Verhältnisse miteinander verschränkt<br />
sind. Die Politik könnte vor allem negative Aussagen<br />
wie „Nicht-Rauchen“, „Nicht-Trinken“ formulieren,<br />
Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Präventionskampagne<br />
startet, um Gesundheit zu fördern, oder ob man sie startet, um<br />
Gesundheit zu fordern. Eine Gesundheit fordernde Gesellschaft wird<br />
die sozialen Unterschiede weiter vertiefen.<br />
Ein drittes Desiderat bezogen auf den Appell zur<br />
Prävention wäre: Vermeidung einer neuen Moralisierung<br />
von Krankheit. Gesundheit und Krankheit<br />
erscheinen uns immer weniger als Geschicke, als<br />
Fügungen, sondern immer mehr als Resultate, als<br />
Produkte unserer eigenen Handlungen, ja als Erzeugnisse<br />
unseres eigenen Willens. Nicht nur medizinische<br />
Ratgeber, sondern zunehmend auch Praxen<br />
und Kliniken lassen Gesundheit als das erscheinen,<br />
was man mit genügend Mühe und Investition auch<br />
garantiert erreichen kann. Gesundheit wird immer<br />
mehr als machbare und planbare Leistung betrachtet.<br />
Der gesunde Körper wird damit als Zeichen dafür<br />
gesehen, dass man hart genug an sich gearbeitet<br />
hat. 3 Im Gegenzug wird der Krankgewordene sich zumindest<br />
unterschwellig der Frage ausgesetzt sehen,<br />
warum er denn krank geworden sei und ob er sich<br />
denn nicht gesund ernährt oder etwa die Vorsorgeuntersuchungen<br />
nicht in Anspruch genommen habe<br />
usw. Gesundheit ist aber nicht nur Leistung, sondern<br />
am Ende auch Geschenk, und Krankheit sollte<br />
nicht mit dem Begriff der Schuld und Strafe neu in<br />
Verbindung gebracht werden, weil man damit eine<br />
grundlegende Entsolidarisierung einleiten würde. Es<br />
gilt, positive Anreize zu setzen, ohne zu signalisieren,<br />
dass man sich am Ende von den Krankgewordenen<br />
distanzieren würde.<br />
Es gilt, eine positive Motivation zu schaffen und nicht<br />
mit Strafe zu drohen. Es ist ein großer Unterschied,<br />
ob man eine Präventionskampagne startet, um Gesundheit<br />
zu fördern, oder ob man sie startet, um Gesundheit<br />
zu fordern. Der Grat zwischen Fördern und<br />
Fordern ist nicht nur semantisch sehr schmal. Eine<br />
Gesundheit fordernde Gesellschaft wird die sozialen<br />
Unterschiede in der Gesellschaft weiter vertiefen. Die<br />
Privilegierten haben entsprechende Ressourcen, um<br />
sich so zu verhalten, wie es dem Ideal einer auf Leistung<br />
ausgerichteten Gesundheitsgesellschaft entspricht.<br />
Aber die ohnehin benachteiligten Gruppen<br />
in der Gesellschaft werden aufgrund ihrer viel geringeren<br />
Ressourcen noch weiter abgehängt. Die Politik<br />
kann sich aus diesen Gründen nicht einfach darauf<br />
zurückziehen, die Verantwortung für die Gesundheit<br />
ausschließlich dem Individuum zuzuweisen.<br />
3 Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe: Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht.<br />
Kusterdingen, Die Graue Edition, 2003.<br />
aber wenn es um die Bestimmung positiven Verhaltens<br />
geht, wird es schon schwieriger. Die Vorstellung,<br />
Gesundheit sei eine positiv definierbare, individuell<br />
erzielbare Leistung und könne zur Pflicht gemacht<br />
werden, ist daher eine eher irrige Annahme.<br />
Vor diesen Hintergründen ist es entscheidend, dass<br />
sich die Medizin selbst in reflektierter Weise mit dem<br />
immer lauter werdenden Ruf nach Prävention auseinandersetzt.<br />
Gerade die gegenwärtige Ära der Ökonomisierung,<br />
Individualisierung und Entsolidarisierung<br />
ist für den sozialen Charakter der Medizin eine<br />
große Herausforderung, weil zu befürchten ist, dass<br />
die Medizin sich dadurch grundlegend verändert und<br />
sich von ihrem genuin helfenden, sozialen Auftrag<br />
entfernt. Umso notwendiger erscheint es, dass die<br />
Medizin sich gerade heute auf ihre Kernaufgabe besinnt.<br />
Sie kann nicht als Medizin alle Leistungen der<br />
Gesundheitsförderung übernehmen, weil die Gesundheitsförderung<br />
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe<br />
ist. Es bleibt zwar eine zentrale Aufgabe der Medizin,<br />
Patienten dabei zu helfen, zu einer gesundheitsfördernden<br />
Lebensweise zu gelangen, aber gleichzeitig<br />
sollte das Bewusstsein bewahrt werden, dass die medizinische<br />
Hilfe für kranke Menschen nicht mit der<br />
Diskussion einer etwaigen individuellen Schuld des<br />
Patienten verknüpft werden kann - auch wenn diese<br />
im praktischen Einzelfall hier und da offenkundig<br />
sein mag. Aus guten Gründen folgt ärztliches Handeln<br />
von jeher dem Ideal des bedingungslos Helfenden.<br />
Versuche, dieses Paradigma aufzuweichen,<br />
rütteln an den Grundfesten der Medizin als sozialer<br />
Praxis. Daher wäre gerade in unseren Zeiten die Medizin<br />
gut beraten, nicht zum Richter über den Patienten<br />
zu mutieren, sondern Anwalt und Helfer des<br />
Patienten zu bleiben.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 7
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Christian Weber<br />
Der Stellenwert der Prävention<br />
im Lichte des demografischen<br />
Wandels<br />
Christian Weber<br />
Abteilungsleiter für Grundsatzfragen<br />
der Gesundheitspolitik,<br />
Pflegeversicherung und Prävention<br />
im Bundesministerium für<br />
Gesundheit<br />
Gesundheit und deren Erhaltung ist ein wichtiger<br />
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktor.<br />
Die Gesundheit der Menschen ist entscheidend für<br />
Wohlbefinden, selbstbestimmte Lebensführung, Leistungsbereitschaft<br />
und Leistungsfähigkeit. Sie ist die<br />
unverzichtbare Basis für produktives und erfülltes Arbeiten<br />
und mehr Lebensqualität. Unsere Gesellschaft<br />
hat sich seit dem 19. Jahrhundert stark gewandelt,<br />
was auch Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat.<br />
Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich und das<br />
Krankheitsspektrum hat sich verändert. Infektiöse<br />
Erkrankungen wurden zurückgedrängt, chronische<br />
Krankheitsgeschehen hingegen haben stark zugenommen.<br />
Zusätzlich haben sich die Lebensbedingungen<br />
und die Lebensstile der Bevölkerung grundlegend<br />
geändert. Für die Gesellschaft des längeren Lebens<br />
brauchen wir die Mitverantwortung jedes Einzelnen<br />
und jedes Unternehmens sowie stützende Rahmenbedingungen<br />
durch die Politik.<br />
Ziel der Demografiestrategie der Bundesregierung<br />
ist es daher, jedem Einzelnen entsprechend seiner<br />
Lebenssituation und seines Alters Chancen zu eröffnen,<br />
seine Potenziale und Fähigkeiten zu entwickeln,<br />
und ihm zu helfen, seine Vorstellungen vom<br />
Leben zu verwirklichen. Um dieses Ziel zu erreichen,<br />
will die Bundesregierung die Rahmenbedingungen<br />
in allen Lebensbereichen – von der Familie über die<br />
Bildung, das Arbeitsleben und Ehrenamt bis hin zur<br />
Gesundheit – so gestalten, dass sie den Erfordernissen<br />
Rechnung tragen, die sich aus dem demografischen<br />
Wandel ergeben.<br />
Die Maßnahmen der Bundesregierung betonen die<br />
gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Prävention<br />
und Gesundheitsförderung. Sie setzen auf eine<br />
koordinierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen<br />
Präventionsakteure mit gemeinsamen Zielen.<br />
Nationale Gesundheitsziele<br />
Im Kooperationsverbund „gesundheitsziele.de“ ist<br />
u. a. das Ziel „gesund älter werden“ erarbeitet worden.<br />
Es beinhaltet die Stärkung gesellschaftlicher<br />
Teilhabe, die Stärkung gesundheitlicher Ressourcen<br />
und der Widerstandskraft, die Minderung gesundheitlicher<br />
Risiken, die Stärkung körperlicher Aktivität<br />
und Mobilität, eine ausgewogene Ernährung<br />
und Mundgesundheit. Dazu gibt es Empfehlungen<br />
für Gesundheitsförderung und Prävention sowie für<br />
die gesundheitliche und pflegerische Versorgung älterer<br />
Menschen. Darüber hinaus berücksichtigt es<br />
besondere Herausforderungen wie das Thema Demenz<br />
oder Multimorbidität.<br />
Viele Krankheiten können vermieden werden, wenn<br />
frühzeitig auf bekannte Risikofaktoren wie Übergewicht,<br />
Bewegungsmangel oder etwa auf psychische<br />
Belastungen Einfluss genommen wird. Gerade bei<br />
Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, frühzeitig<br />
gegenzusteuern.<br />
Nationaler Aktionsplan IN FORM<br />
Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und<br />
mehr Bewegung wird gemeinsam vom Bundesministerium<br />
für Ernährung und vom Bundesministerium<br />
für Gesundheit durchgeführt. IN FORM setzt bei Kindern<br />
und Jugendlichen an. Da das Gesundheitsverhalten<br />
insbesondere in den ersten Lebensjahren stark<br />
geprägt wird, muss mit dieser Aufklärung bereits bei<br />
Kindern angesetzt werden. Nur so werden aus Kindern<br />
gesunde und informierte Erwachsene, die die<br />
Verantwortung für die eigene Gesundheit und die<br />
der Familie übernehmen können. Wichtig ist es, die<br />
Menschen in die Lage zu versetzen, frei und selbstbestimmt<br />
zu entscheiden, ob sie sich gesund verhalten<br />
oder nicht. Ein Schwerpunkt des Aktionsplans ist es<br />
daher, zu informieren und aufzuklären und damit die<br />
Kenntnisse über die Zusammenhänge von ausgewogener<br />
Ernährung, ausreichender Bewegung und Gesundheit<br />
bei den Menschen weiter zu verbessern und<br />
zu gesunder Lebensweise zu motivieren. Außerdem<br />
wurde eine Vielzahl von breitgefächerten Aktivitäten<br />
zur Etablierung von gesundheitsförderlichen Strukturen<br />
in Familien, Kindertagesstätten und Schulen, aber<br />
auch in anderen Lebenswelten unternommen.<br />
Wie effektiv Prävention und Prophylaxe sein können,<br />
wird insbesondere im Bereich der zahnmedizinischen<br />
Versorgung deutlich.<br />
Zahnmedizinische Versorgung<br />
Im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung hat<br />
sich in den letzten 25 Jahren ein Paradigmenwechsel<br />
hin zu einer von der Prävention geprägten Versorgung<br />
vollzogen. Vorsorge und Prophylaxe haben<br />
8 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
hier dazu geführt, dass immer mehr Menschen in unserem<br />
Land deutlich länger Freude an ihren eigenen<br />
Zähnen haben. Dank einer guten Aufklärung durch<br />
Zahnärzte und Zahnärztinnen, entsprechender Vorsorge<br />
der Patientinnen und Patienten sowie einer prophylaxeorientierten<br />
Behandlung stellen wir bei Kindern,<br />
Jugendlichen und Erwachsenen eine erfreuliche<br />
Verbesserung der Mundgesundheit fest.<br />
Verstärkte Anstrengungen in der Gruppen- und Individualprophylaxe<br />
bei Kindern und Jugendlichen<br />
Gesetzentwurf zur Förderung der Prävention<br />
Die bestehenden Aktivitäten und Überlegungen sind<br />
in den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der<br />
Prävention eingeflossen, der sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren<br />
befindet. Mit dem Gesetzentwurf<br />
wird nicht nur ein gesundheitspolitischer Schwerpunkt<br />
des Koalitionsvertrages aufgegriffen, sondern<br />
auch ein wesentlicher Beitrag zur Umsetzung der im<br />
vergangenen Jahr von der Bundesregierung beschlossenen<br />
Demografiestrategie geleistet. Seinerzeit hatte<br />
die Bundesregierung ausdrücklich hervorgehoben,<br />
Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich und für die Gesellschaft<br />
des längeren Lebens brauchen wir die Mitverantwortung jedes Einzelnen<br />
und jedes Unternehmens sowie stützende Rahmenbedingungen<br />
durch die Politik.<br />
sowie eine verbesserte Mundhygiene tragen hier<br />
Früchte. Entscheidend ist zudem, dass sich der Fokus<br />
der zahnärztlichen Behandlung seit den 1990er<br />
Jahren maßgeblich verändert hat: Vorsorge und Zahnerhaltung<br />
verdrängen Spätversorgung und Zahnersatz.<br />
Die Gesundheitspolitik hat durch entsprechende<br />
Rahmenbedingungen ganz wesentlich dazu beigetragen,<br />
dass Prävention und Zahnerhaltung in der Praxis<br />
Vorfahrt haben.<br />
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung<br />
(BZgA)<br />
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels<br />
und des sich ändernden Krankheitsspektrums baut<br />
die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung<br />
(BZgA) als Fachbehörde des BMG für Prävention<br />
und Gesundheitsförderung seit mehreren Jahren<br />
den Arbeitsbereich „gesund und aktiv älter werden“<br />
aus. So fand am 6. Juni <strong>2013</strong> bereits die zweite<br />
BZgA-Bundeskonferenz <strong>2013</strong> GESUND & AKTIV<br />
ÄLTER WERDEN in Berlin statt. Auf Landesebene<br />
führt die BZgA seit 2009 gemeinsam mit Partnern<br />
auf ministerieller Ebene und den Landeseinrichtungen<br />
für Gesundheitsförderung Regionalkonferenzen<br />
„GESUND UND AKTIV ÄLTER WERDEN“ in allen<br />
Bundesländern durch.<br />
Die BZgA unterstützt die Akteure vor Ort mit unterschiedlichen<br />
Publikationen wie beispielsweise der Arbeitshilfe<br />
„GESUND UND AKTIV ÄLTER WERDEN“<br />
für Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf oder<br />
der Expertise zur Lebenslage von Menschen im Alter<br />
zwischen 55 und 65 Jahren „Die Jungen Alten“.<br />
In ihrem Newsletter GESUND UND AKTIV ÄLTER<br />
WERDEN informiert die BZgA regelmäßig über Aktuelles<br />
im Themenfeld, beispielsweise über Daten,<br />
Tagungen, neue Projekte und Publikationen.<br />
dass die Rahmenbedingungen der betrieblichen Gesundheitsförderung<br />
mit dem Ziel überprüft werden<br />
sollen, den Anteil der Unternehmen, die sich in der<br />
betrieblichen Gesundheitsförderung engagieren, zu<br />
erhöhen.<br />
Der Gesetzentwurf will mit einer Reihe unterschiedlicher<br />
Maßnahmen sicherstellen, dass deutlich mehr<br />
Menschen von guten und wirksamen Präventionsleistungen<br />
der Krankenkassen profitieren. Es sollen<br />
gerade die Menschen erreicht werden, die bislang<br />
keine Präventionsangebote in Anspruch genommen<br />
haben. Der Gesetzentwurf verpflichtet die Krankenkassen,<br />
ihre <strong>Ausgabe</strong>n für Prävention in Kitas, Schulen,<br />
Senioreneinrichtungen, Betrieben und anderen<br />
Lebenswelten zu verdreifachen. Darüber hinaus soll<br />
die bisher im Grundschulalter bestehende Vorsorgelücke<br />
bei den sogenannten U-Untersuchungen geschlossen<br />
werden.<br />
Die Maßnahmen des Gesetzentwurfs betonen die gesamtgesellschaftliche<br />
Verantwortung für Prävention<br />
und Gesundheitsförderung. Sie setzen auf eine zielbezogene<br />
Zusammenarbeit der unterschiedlichen Präventionsakteure.<br />
So soll das Bundesministerium für<br />
Gesundheit die Länder und Kommunen, die Sozialpartner<br />
und weitere maßgebliche Akteure zu einer ressortübergreifenden<br />
Ständigen Präventionskonferenz<br />
einladen. Damit soll dauerhaft eine Plattform etabliert<br />
werden, die die Entwicklung und Umsetzung gemeinsamer<br />
nationaler Gesundheitsförderungs- und<br />
Präventionsziele fördert. Wenn sich alle staatlichen<br />
Ebenen und gesellschaftlichen Akteure sowie die Bürgerinnen<br />
und Bürger vor Ort mit dem Ziel beteiligen,<br />
einvernehmlich zusammenzuwirken, kann die Gestaltung<br />
des demografischen Wandels gelingen.<br />
<strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
9
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Jürgen Fedderwitz<br />
Prävention muss Vorfahrt<br />
haben<br />
Dr. Jürgen Fedderwitz<br />
Vorsitzender des Vorstandes<br />
der Kassenzahnärztlichen<br />
Bundesvereinigung (KZBV)<br />
Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland bei<br />
der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen<br />
einen Spitzenplatz ein. In den letzten zehn Jahren<br />
ist die Karieslast bei Kindern und Jugendlichen um<br />
mehr als 60 Prozent zurückgegangen. Dies lässt sich<br />
dokumentieren durch die Entwicklung des DMFT-<br />
Wertes: Demnach ist (in den alten Bundesländern)<br />
die durchschnittliche Zahl von fehlenden, kariösen<br />
oder gefüllten Zähnen von 12-Jährigen von 6,8 Zähnen<br />
im Jahr 1983 kontinuierlich auf 0,7 Zähne im<br />
Jahr 2009 gesunken (siehe Abbildung). Die Gründe<br />
dafür liegen in der umfangreichen Gruppen- und<br />
Individualprophylaxe, die das Fundament für ein<br />
zahngesundes Leben legen, zielgerichteten Aufklärungskampagnen,<br />
dem Einsatz von Fluoriden sowie<br />
der Fissurenversiegelung auf den Kauflächen. Hinzu<br />
kommt, dass durch die vielfältigen Prophylaxemaßnahmen<br />
der Präventionsgedanke in keinem anderen<br />
medizinischen Teilbereich so stark verankert worden<br />
ist wie in der Zahnmedizin. Es ist der Zahnärzteschaft<br />
gelungen, die Patienten zur eigenverantwortlichen<br />
und gründlichen Mundpflege zu motivieren. Zudem<br />
ist der regelmäßige Kontrolltermin in der Zahnarztpraxis<br />
beim Großteil der Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit<br />
geworden. Auch das Robert-Koch-Institut<br />
führt die Erfolge bei der Mundgesundheit auf<br />
den Paradigmenwechsel in der Zahnmedizin von einer<br />
kurativen hin zu einer präventiven, minimal invasiven<br />
Ausrichtung der Zahnheilkunde zurück. 1 Nicht<br />
zu vergessen ist außerdem der Zeitgeist, der schönen<br />
Zähnen einen hohen Stellenwert beimisst.<br />
Die Erfolge zeigen, dass Prävention ganz klar Vorfahrt<br />
vor der kurativen Behandlung haben muss. Denn so<br />
1 Grischa Brauckhoff, Thomas Kocher, Birte Holtfreter, Olaf Bernhardt, Christian Splieth,<br />
Reiner Biffar, Anke-Christine Saß: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 47 –<br />
Mundgesundheit, Robert-Koch-Institut Berlin, 2009.<br />
Quelle: IDZ, <strong>2013</strong><br />
10 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
gut die zahnmedizinischen Innovationen auch sind,<br />
ein natürliches Gebiss ist durch nichts zu ersetzen.<br />
Gesunde Zähne und ein gesunder Mund- und Rachenraum<br />
sind eine wichtige Voraussetzung für die Ernährung<br />
und die Fähigkeit der Artikulation und somit<br />
der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.<br />
Trotz aller Erfolge gibt es weiterhin Lücken in der<br />
Prävention. In einer freiheitlichen Gesellschaft kann<br />
Gerade die Jüngsten finden bei der Prävention noch<br />
nicht genügend Berücksichtigung. So hat die frühkindliche<br />
Karies bei unter Dreijährigen in den letzten<br />
Jahren nicht ab-, sondern zugenommen. Die frühkindliche<br />
Karies wird vor allem durch die permanente<br />
Aufnahme von zucker- und säurehaltigen Getränken<br />
verursacht. Häufig gibt es bei Eltern kein Bewusstsein<br />
für die Mundgesundheit von Säuglingen und Kleinkindern.<br />
Die sogenannte Nuckelflaschenkaries wird<br />
heute immer öfter beobachtet. Die Betreuung durch<br />
den Kinderarzt reicht hier nicht aus. Die zahnärztliche<br />
Früherkennungsuntersuchung setzt derzeit erst<br />
ab dem 30. Lebensmonat ein, wenn häufig bereits ein<br />
kariöser Defekt besteht. Daher sollten die zahnärztlichen<br />
Früherkennungsuntersuchungen von Beginn<br />
an, also auch für Kinder von null bis drei Jahren, von<br />
Zahnärzten durchgeführt werden, um die Häufigkeit<br />
der frühkindlichen Karies zu reduzieren. Kinder müssen<br />
bereits mit dem Durchbrechen des ersten Milchzahnes<br />
systematisch zahnmedizinisch betreut werden.<br />
Es ist der Zahnärzteschaft gelungen, die Patienten zur eigenverantwortlichen<br />
und gründlichen Mundpflege zu motivieren. Zudem ist<br />
der regelmäßige Kontrolltermin in der Zahnarztpraxis beim Großteil<br />
der Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit geworden.<br />
man lediglich appellieren. Mit Appellen wird man jedoch<br />
immer an Grenzen stoßen und womöglich niemals<br />
alle Menschen mit präventiven Maßnahmen erreichen<br />
können. Diese Grenzen und Barrieren sind<br />
ganz unterschiedlicher Natur, sie sind mitunter kulturell<br />
oder sprachlich bedingt. Manche zahnmedizinischen<br />
Problemgruppen entziehen sich schlicht<br />
der zahnmedizinischen Behandlung und fallen daher<br />
durch das Präventionsraster. Häufig sind es aber auch<br />
ganz einfach gesetzliche Barrieren, die einer besseren<br />
Prävention im Wege stehen. Wir als Zahnärzteschaft<br />
haben Konzepte entwickelt, um diese Präventionslücken<br />
trotzdem so gut wie möglich schließen zu können,<br />
und arbeiten hartnäckig daran, unsere Konzepte<br />
umzusetzen. Denn unser Ziel als Zahnärzteschaft<br />
muss es sein, den erfolgreichen Präventionsansatz auf<br />
den gesamten Lebensbogen auszudehnen. Auch mit<br />
zunehmender Lebenserwartung sollen Menschen bis<br />
zum Lebensende ihre natürlichen Zähne und damit<br />
eine hohe Lebensqualität behalten. Eine umfassende<br />
Präventionsstrategie muss deshalb an die unerlässliche<br />
Eigenverantwortung der Patienten appellieren,<br />
den gesamten Lebensbogen umspannen und<br />
eine zahnmedizinische Versorgungsgerechtigkeit über<br />
jede Altersgruppe und alle sozialen Gruppen hinweg<br />
zum Ziel haben.<br />
Bereits die werdenden Eltern sollten in Zusammenarbeit<br />
mit Gynäkologen und Hebammen über Mundgesundheitsfragen<br />
informiert werden. Denn gerade<br />
bei Kleinkindern kommt der elterlichen Betreuung<br />
eine ganz besondere Bedeutung zu. Es steht die Frage<br />
im Mittelpunkt, wie und auf welche Weise Eltern<br />
motiviert werden können, bereits ab den ersten Lebensmonaten<br />
für die Zahn- und Mundgesundheit ihrer<br />
Kinder vorzusorgen.<br />
Die Deutschen Mundgesundheitsstudien zeigen deutlich,<br />
dass bestimmte Gruppen von den bisherigen<br />
Präventionsbemühungen nicht profitiert haben. So<br />
gibt es bei Kindern und Jugendlichen trotz der intensiven<br />
Gruppen- und Individualprophylaxe auch<br />
negative Entwicklungen, die es umzukehren gilt. Beispielsweise<br />
ist bei Kindern eine wachsende Schieflage<br />
in der Kariesverteilung zu beobachten. Demnach<br />
tragen etwa zehn Prozent der 12-Jährigen über 60<br />
Prozent der Karieslast in dieser Altersgruppe. 2 Auffällig<br />
dabei ist, dass sich diese Risikogruppe vor allem<br />
aus sozial benachteiligten Familien und Familien<br />
mit Migrationshintergrund rekrutiert. Eine präventive<br />
Betreuung von Kindern mit hohem Kariesrisiko<br />
scheitert bisher vielfach daran, dass diese Kinder<br />
nur sehr schwer erreicht werden können. Hier stößt<br />
die Zahnärzteschaft auf dieselben Barrieren, die sich<br />
auch in anderen sozialen Betreuungsbereichen hemmend<br />
auswirken. Die notwendigen Zugänge zu schaffen<br />
und Kinder und Jugendliche aus Risikogruppen<br />
in die erfolgreiche Individual- und Gruppenprophylaxe<br />
zu integrieren, ist daher nur als eine gesamtgesellschaftliche<br />
Aufgabe lösbar.<br />
Die demografische Entwicklung in Deutschland rückt<br />
ein weiteres Problemfeld in den Vordergrund. Pfle-<br />
2 Vgl. Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie, 2006.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
11
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
gebedürftige und Menschen mit Behinderung haben<br />
an der positiven Entwicklung der Mundgesundheit<br />
nicht angemessen partizipiert. Altersassoziierte<br />
Krankheiten wie Wurzelkaries nehmen dort zu. Die<br />
Mundgesundheit von Pflegebedürftigen und Menschen<br />
mit Behinderungen ist deutlich schlechter als<br />
die des Bevölkerungsdurchschnitts. 3 Sie gehören zur<br />
Hochrisikogruppe für Karieserkrankungen, denn sie<br />
können häufig keine eigenverantwortliche Mundhygiene<br />
durchführen, haben Schwierigkeiten, eine Praxis<br />
aufzusuchen, oder sind nicht kooperationsfähig<br />
bei der Behandlung. Auch für diese Menschen benötigen<br />
wir bedarfsgerechte und präventiv ausgerichtete<br />
Versorgungskonzepte. Zwar hat der Gesetzgeber<br />
den akuten Handlungsbedarf erkannt und mit dem<br />
Versorgungsstrukturgesetz und dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz<br />
den Anspruch auf aufsuchende<br />
zahnmedizinische Betreuung auf der Grundlage des<br />
GKV-Leistungskatalogs beschlossen. Der besondere<br />
Präventionsbedarf von Pflegebedürftigen und Menschen<br />
mit Behinderung bleibt jedoch weiterhin unberücksichtigt.<br />
Es fehlt ein präventionsorientierter<br />
Leistungskatalog für diesen Personenkreis. Die Kassenzahnärztliche<br />
Bundesvereinigung hat hierzu zusammen<br />
mit der Bundeszahnärztekammer, der Deutschen<br />
Gesellschaft für Alterszahnmedizin und dem<br />
Berufsverband Deutscher Oralchirurgen das Konzept<br />
„Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“<br />
entwickelt, mit dem sich die Präventionslücke<br />
mit einem § 22a SGB V schließen ließe, indem betroffene<br />
Versicherte einen Anspruch auf bedarfsadäquate<br />
Leistungen zur Verhütung von Zahnerkrankungen<br />
erhalten.<br />
Das zahnmedizinische Problemfeld der Parodontitis<br />
betrifft hingegen alle Altersgruppen. Die vierte Deutsche<br />
Mundgesundheitsstudie hat gezeigt, dass Parodontitis<br />
in der Bevölkerung sehr weit verbreitet ist.<br />
52,7 Prozent aller Erwachsenen leiden unter mittelschweren<br />
und 20,5 Prozent unter schweren Formen<br />
der Parodontitis. Bei den Älteren sind 48,0 Prozent<br />
von einer mittelschweren und 39,8 Prozent von einer<br />
schweren Parodontitis betroffen. 4 Man kann also<br />
fast schon von einer „Volkskrankheit“ sprechen. Diese<br />
enorm hohe Verbreitung dieser Erkrankung zeigt die<br />
Notwendigkeit auf, die Parodontitisfrüherkennung<br />
und -frühbehandlung samt der dazugehörigen Nachsorge<br />
zu fördern und in den Mittelpunkt zukünftiger<br />
Präventions- und Versorgungsstrategien zu stellen.<br />
Parodontitis-Risikogruppen müssen nach Möglichkeit<br />
schon unter den Jugendlichen identifiziert werden<br />
und Prophylaxemaßnahmen bzw. einer frühen<br />
Therapie zugeführt werden.<br />
3 Vgl. Imke Kaschke, Ina Nitschke: Zahnmedizinische Betreuung von Pflegebedürftigen<br />
und Menschen mit Behinderungen, Bundesgesundheitsblatt, 2011.<br />
4 Vgl. Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie, 2006.<br />
Den Fortschritten in der Zahnmedizin ist zu verdanken,<br />
dass es uns Zahnärzten schon heute gelingt, vielen<br />
unserer Patienten bei steigender Lebenserwartung<br />
ihre natürlichen Zähne bis zum Lebensende zu erhalten.<br />
Und dies gelingt selbst dann noch, wenn sie ein<br />
erhöhtes individuelles Erkrankungsrisiko für Parodontitis<br />
haben. Für das Erkrankungsrisiko sind eine<br />
Reihe von Faktoren entscheidend, nämlich Mundhygienedefizite,<br />
exogene Risikofaktoren (wie z. B. Rauchen<br />
und Stress), systemische Risikofaktoren (wie z. B.<br />
Diabetes mellitus, immunologische Imbalancen) und<br />
genetische Faktoren. Die internationale Forschung ist<br />
sich darin einig, dass man all diese Faktoren bei der<br />
Festlegung von parodontologischen Präventionszielen<br />
im Auge behalten muss. Um diesen Erkenntnissen<br />
Rechnung zu tragen, ist ein hoher, in der Zukunft<br />
wachsender, präventiv ausgerichteter Betreuungsaufwand<br />
notwendig. Nur so können wir eine weitere Zunahme<br />
und Verbreitung von Parodontitis in der Bevölkerung<br />
vermeiden.<br />
Parodontitis ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung<br />
der Verbindung zwischen Zahnmedizin und Mundgesundheit<br />
mit der allgemeinen Gesundheit der Patienten.<br />
Denn Parodontitis ist eine Entzündung, die<br />
den ganzen Körper angreifen kann und mit dem Auftreten<br />
von Herzerkrankungen korreliert. Bei Schwangeren<br />
kann eine Parodontitis mitverantwortlich sein<br />
für eine Frühgeburt. Diabetes und Rheuma beeinflussen<br />
ebenfalls die Mundgesundheit, aber dies gilt auch<br />
umgekehrt. Bei einer zahnärztlichen Routineuntersuchung<br />
können auch Hinweise auf Rheuma, Osteoporose,<br />
Diabetes und Krebs erkannt werden. Der Zahnarzt<br />
kann Mundhöhlenkrebs – vor allem für Männer eine<br />
lebensgefährliche Erkrankung – frühzeitig erkennen.<br />
Psychosomatische Erkrankungen können sich ebenfalls<br />
in der Mundhöhle manifestieren. Essstörungen<br />
wie Magersucht oder Bulimie haben negativen Einfluss<br />
auf die Zahngesundheit und lassen sich somit<br />
frühzeitig durch den Zahnarzt erkennen. Zahnärzte<br />
können diese Krankheiten zwar nicht therapieren, sie<br />
können jedoch Beratungsstellen nennen und die Patienten<br />
motivieren, diese aufzusuchen. Zahnmediziner<br />
sind daher nicht einfach nur Ärzte für gesunde Zähne,<br />
sondern nehmen eine wichtige Früherkennungsfunktion<br />
ein, die sowohl in erster Linie dem Versicherten,<br />
aber auch dem Gesundheitssystem als Ganzem zugutekommt.<br />
Nirgendwo können wir dies so gut beobachten<br />
wie bei den Paradontalerkrankungen.<br />
Jedoch fehlen bisher Elemente einer strukturierten,<br />
nachsorgenden Betreuung bei einer Parodontitis. Ob<br />
eine Therapie effektiv ist, hängt stark von der Mitwirkung<br />
der Patienten ab. Daher sind wir Zahnärzte bestrebt,<br />
das Wissen um präventive Verhaltensweisen<br />
und die Bedeutung der Erkrankung für die Allgemein-<br />
12 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
heit zu verbessern. Individualprävention ist entscheidend,<br />
um die Zahl der Patienten mit schwerer Parodontitis<br />
zu verringern und den Krankheitsverlauf in<br />
weniger massive Verlaufsformen zu verändern. Damit<br />
können wir ein Abgleiten von Gingivitisfällen in<br />
Parodontitisfälle verhindern. Um auf diesem Feld<br />
entschieden voranzukommen, wird man die Mitarbeit<br />
und Mitverantwortung der Patienten mit entsprechenden<br />
Anreizsystemen fördern müssen. Dazu<br />
bietet sich das in der Bevölkerung anerkannte und<br />
etablierte Bonusheft in idealtypischer Weise an und<br />
entspricht damit auch seiner präventionsorientierten<br />
Der besondere Präventionsbedarf von Pflegebedürftigen und Menschen<br />
mit Behinderung bleibt jedoch weiterhin unberücksichtigt. Es fehlt ein<br />
präventionsorientierter Leistungskatalog für diesen Personenkreis.<br />
Zielsetzung. Notwendig sind also präventive Maßnahmen<br />
zur Verhütung von Parodontalerkrankungen<br />
sowie systematische aktive und unterstützende<br />
parodontale Therapiemaßnahmen, um einer weiteren<br />
Verbreitung von Parodontitis entgegenzuwirken.<br />
Eine Übernahme dieser Leistungen als GKV-Sachleistung<br />
würde die Solidargemeinschaft wahrscheinlich<br />
überfordern. Sie sind allein im GKV-Sachleistungskatalog<br />
nicht finanzierbar. Denn zum einen wird der<br />
Bedarf von Maßnahmen gegen Parodontitis aufgrund<br />
der demografischen Entwicklung zunehmen, auf der<br />
anderen Seite wird sich die Finanzierungssituation<br />
in der GKV eben aufgrund des demografischen Wandels<br />
und der sinkenden Zahl von Beitragszahlern verschlechtern.<br />
Daher werden wir nicht darum herum<br />
kommen, die Bereitschaft der Bevölkerung auch zur<br />
finanziellen Eigenverantwortung im Bereich der präventiven<br />
Maßnahmen zu heben.<br />
Im Bereich des Zahnersatzes ist die Bereitschaft der<br />
Bevölkerung dazu bereits heute sehr groß. Mit dem<br />
Festzuschusssystem ist es gelungen, die finanziellen<br />
Belastungen der GKV zu begrenzen, ohne dass auf<br />
der einen Seite Patienten von der Versorgung ausgeschlossen<br />
werden und ohne dass auf der anderen<br />
Seite Therapiealternativen ausgeschlossen werden.<br />
In der zahnmedizinischen Versorgung wurde so insgesamt<br />
ein außerordentlich hoher Versorgungsgrad<br />
erreicht. Gleichzeitig konnte sich der Anteil der Zahnmedizin<br />
an den GKV-<strong>Ausgabe</strong>n halbieren. Neben dem<br />
Festzuschusssystem ist die von den Zahnärzten eingeleitete<br />
Stärkung der Prävention der Hauptgrund<br />
für diese Entwicklung.<br />
Mit dem Festzuschusssystem haben wir eine Balance<br />
zwischen öffentlich organisierter Fürsorge und<br />
Eigenverantwortung des Patienten im Bereich der<br />
zahnärztlichen Versorgung geschaffen, das für andere<br />
Versorgungsbereiche – nicht nur in der Zahnmedizin<br />
– als Vorbild dienen kann. Der medizin-technische<br />
und zahn-medizinische Fortschritt machen die<br />
lebenslange Gesunderhaltung der Zähne zu einem<br />
erreichbaren Ziel. Doch auf dem Weg dahin müssen<br />
wir auch ethische Fragen klären. Nicht alles, was in<br />
der modernen Zahnmedizin therapeutisch möglich<br />
ist, lässt sich über eine solidarisch finanzierte Krankenversicherung<br />
darstellen. In der zahnmedizinischen<br />
Versorgung gibt es über fast alle Leistungsbereiche<br />
mehrere Therapiealternativen, die sich in Aufwand<br />
und Komfort unterscheiden. Für den Zahnersatzbereich<br />
ist uns im gesellschaftlichen Miteinander die<br />
Abgrenzung zwischen einer solidarisch finanzierten,<br />
qualitativ hochwertigen Versorgung einerseits, der<br />
sogenannten „need dentistry“, und den darüber hinausgehenden<br />
individuellen Wünschen des Patienten<br />
andererseits, der sogenannten „want dentistry“,<br />
gelungen. Zudem wird in diesem System die Vermeidung<br />
sozialer Härten gewährleistet. Mit dem Festzuschusssystem<br />
gewinnen alle Beteiligten: Die Patienten<br />
partizipieren am medizinischen Fortschritt, die Krankenkassen<br />
haben eine höhere Planungssicherheit und<br />
wir Zahnärzte können unseren Patienten ein erweitertes<br />
therapeutisches Spektrum anbieten. Ausgehend<br />
von diesem positiven Beispiel, werden wir Zahnärzte<br />
uns dem Zielkonflikt zwischen der bestmöglichen<br />
Patientenversorgung und der dauerhaften Finanzierbarkeit<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung auch<br />
in anderen Leistungsbereichen stellen.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
13
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Rugzan Hussein<br />
Verbreitung prophylaktischer<br />
Maßnahmen in Zahnarztpraxen<br />
Ergebnisse einer Befragungsstudie in Niedersachsen<br />
und Bremen<br />
Dr. Rugzan Hussein<br />
Zahnärztin, wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin am Institut für<br />
Sozialmedizin, Epidemiologie<br />
und Gesundheitssystemforschung<br />
(ISEG), Hannover<br />
Hintergrund<br />
In Deutschland sowie in anderen Industrieländern<br />
ist seit ungefähr drei Jahrzehnten ein starker Kariesrückgang<br />
bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten.<br />
Dieser ist als Folge verschiedener Maßnahmen<br />
anzusehen wie des Ausbaus der Gruppen- und<br />
Individualprophylaxe, verbreiteter Anwendung von<br />
fluoridhaltigen Zahnpasten, der verbesserten häuslichen<br />
Mundpflege sowie eines veränderten Lebensstils<br />
(Petersen et al. 2005; RKI 2006). Noch 1989 betrug<br />
der DMFT-Index 1 bei den 12-Jährigen 4,1 in Westdeutschland<br />
und 3,8 in der DDR. Im Jahr 2009 lag<br />
er bei 0,7 (zum Vergleich Großbritannien: 1983= 3,1<br />
und 2009= 0,7) (WHO <strong>2013</strong>). Damit ist das von der<br />
Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2000 formulierte<br />
Mundgesundheitsziel zur Kariessenkung für<br />
das Jahr 2020 in dieser Altersgruppe in Deutschland<br />
unterschritten (DMFT-Index = 0 - 1,1 „sehr niedriger<br />
Kariesbefall“) (WHO 2000).<br />
Eine Konzentration der oralen Erkrankungen (Karies<br />
und Parodontitis) in bestimmten Bevölkerungsgruppen<br />
wie z. B. Personen in schwierigen Sozialverhältnissen,<br />
mit Migrationshintergrund und Senioren in<br />
Altenheimen ist weiterhin zu beobachten. Im Erwachsenenalter<br />
sind Parodontitis und Karies immer noch<br />
weit verbreitet (DMFT-Wert = 14,5 und CPI 2 Score 4<br />
(Taschentiefe ≥ 6mm) = 20,5 bei den 35 - 44-Jährigen)<br />
(RKI 2006; Schiffner 2006; Hoffmann 2006).<br />
In Deutschland sind Karies und Parodontalerkrankungen<br />
die häufigsten Ursachen für Zahnverlust bei<br />
Erwachsenen (Glockmann et al. 2011). Der aktuelle<br />
Zahnreport zeigt, dass ungefähr 29% der Bevölkerung<br />
mindestens eine Füllung im Jahr 2011 erhalten<br />
hatten und bei 9% mindestens ein Zahn entfernt<br />
wurde (Schäfer et al. <strong>2013</strong>). Die International Collaborative<br />
Study zeigte bereits vor 30 Jahren, dass wiederholte<br />
Füllungen und prothetische Behandlungen<br />
die Mundgesundheit nicht verbessern, sondern den<br />
Krankheitsgrad erhöhen (Arnljot et al. 1985). Deshalb<br />
ist das Ziel der modernen Zahnheilkunde, nicht<br />
1 Der DMFT-Index beschreibt die Zahl der kariösen (Decayed), der infolge von Karies gezogenen<br />
(Missing) und gefüllten (Filled) Zähne (Teeth).<br />
2 Der CPI (Community Periodontal Index) klassifiziert die Zähne nach Krankheitsgrad<br />
und beschreibt den Behandlungsaufwand und -bedarf der Parodontalerkrankungen.<br />
nur orale Erkrankungen und Beschwerden zu vermeiden,<br />
sondern die Mundgesundheit unter Beachtung<br />
der zugrunde liegenden Determinanten für die orale,<br />
aber auch für die allgemeine Gesundheit zu fördern.<br />
Abbildung 1 zeigt, dass orale Erkrankungen weitgehend<br />
vom Gesundheitsverhalten der Menschen abhängen<br />
und dieses wiederum von deren Wissen und<br />
Einstellungen sowie dem sozio-ökonomischen Hintergrund<br />
der Personen. Hier liegen die Hauptansatzpunkte<br />
für präventives Handeln.<br />
Vor diesem Hintergrund scheint die Verbesserung<br />
der Mundgesundheit durch eine effiziente häusliche<br />
Mundpflege und das Fortführen der professionellen<br />
Prophylaxemaßnahmen (PZR) im Erwachsenenalter<br />
und bei prekären Bevölkerungsgruppen von besonderer<br />
Bedeutung. Die Weltgesundheitsorganisation<br />
empfiehlt neben Fluoridierungsmaßnahmen auch<br />
Interventionen zur gesunden Ernährung und zur<br />
Rauchentwöhnung für die weitere Verbesserung der<br />
Mundgesundheit (Petersen et al. 2005).<br />
In Deutschland gewinnt die zahnmedizinische Prävention<br />
immer mehr an Bedeutung. Eine Studie des<br />
Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) zeigt, dass<br />
73% der teilnehmenden Zahnärzte, die einen Schwerpunkt<br />
angaben, Prophylaxe und Prävention nannten<br />
(Micheelis et al. 2010). Immer mehr präventive Maßnahmen<br />
werden in den Zahnarztpraxen angeboten.<br />
Dies hat Folgen sowohl für das Arbeitsspektrum als<br />
auch für die Struktur der Zahnarztpraxis, wie z. B.<br />
eine Zunahme des qualifizierten Prophylaxepersonals<br />
und einen Rückgang der Zahl der Zahntechniker in<br />
der eigenen Praxis (Bauer et al. 2009).<br />
Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse einer<br />
postalischen Befragung unter niedergelassenen Zahnärzten<br />
in Niedersachsen und Bremen dargestellt. Die<br />
Studie wurde in Zusammenarbeit mit der Medizinischen<br />
Hochschule Hannover, der Zahnärztekammer<br />
Niedersachsen und der Kassenzahnärztlichen Vereinigung<br />
Bremen erstellt. Das Angebot prophylaktischer<br />
Maßnahmen wurde im Jahr 2009 untersucht und mit<br />
den Ergebnissen einer früheren Studie des IDZ und<br />
der Medizinischen Hochschule Hannover verglichen 3<br />
3 Für den vollständigen Beitrag siehe Hussein et al.: Dtsch Zahnärztl Z <strong>2013</strong>, 68: 30–37.<br />
14 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
(Schneller et al. 2001). In diesem Beitrag werden folgende<br />
Fragen beantwortet: „Wie sieht die Durchführung<br />
der zahnmedizinischen Prophylaxe heute aus?“<br />
und „Welche präventiven Maßnahmen werden in der<br />
Zahnarztpraxis heute vermehrt angeboten?“<br />
Methodik<br />
In der Studie von 2009 wurden Zufallsstichproben<br />
hinsichtlich Geschlecht, Alter und Niederlassung der<br />
Zahnärzte aus dem Register der Zahnärztekammer<br />
Orale Erkrankungen hängen weitgehend vom Gesundheitsverhalten<br />
der Patienten ab und dieses wiederum von deren Wissen und Einstellungen<br />
sowie dem sozio-ökonomischen Hintergrund. Hier liegen<br />
die Hauptansatzpunkte für präventives Handeln.<br />
Niedersachsen und dem der Kassenzahnärztlichen<br />
Vereinigung Bremen generiert. Es wurden insgesamt<br />
2075 Zahnärzte angeschrieben. Zur Gewährleistung<br />
der Vergleichbarkeit wurden Fragen aus der früheren<br />
Studie von Schneller et al. übernommen.<br />
Ergebnisse<br />
Der Rücklauf der aktuellen Studie betrug 33% (n = 685<br />
Fragebögen), 660 davon wurden in die Analyse einbezogen.<br />
Das Durchschnittsalter beträgt 46 Jahre und<br />
ungefähr 56% der Teilnehmer sind männlich (n = 365).<br />
Als häufigste Spezialisierungen wurden Implantologie<br />
(29%) und Parodontologie (23%) genannt. Ungefähr<br />
zwei Drittel der teilnehmenden Zahnärzte geben an,<br />
an Fortbildungen mit Inhalten zur Prophylaxe und<br />
Prävention teilzunehmen bzw. sich mittels Fachliteratur<br />
darüber zu informieren (Tabelle 1). In ca. 60%<br />
der Zahnarztpraxen ist qualifiziertes Prophylaxepersonal<br />
(Dentalhygieniker bzw. Prophylaxeassistenten)<br />
vertreten und ca. 70% der Zahnarztpraxen verfügten<br />
über eine oder mehrere Prophylaxeeinheiten.<br />
Tabelle 1: Beschreibung der Studienteilnehmer getrennt nach Geschlecht<br />
Merkmale<br />
Geschlecht**<br />
Männer Frauen Alle*<br />
Altersgruppen < 34 Jahre 20 (5,6) 38 (13,2) 58 (9,0)<br />
35-54 Jahre 237 (66,0) 212 (73,6) 449 (69,4)<br />
> 55 Jahre 102 (28,4) 38 (13,2) 140 (21,6)<br />
Berufliche Erfahrung<br />
Durchschnitt in<br />
Jahren<br />
17,9 12,5 15,6<br />
Gesamte Arbeitsstunden<br />
pro Woche<br />
Arbeitsstunden am<br />
Patienten pro Woche<br />
Teilnahme an Fortbildungen<br />
zum Thema Prävention<br />
Lesen von wissenschaftlichen<br />
Journals<br />
Durchschnitt in<br />
Stunden<br />
Durchschnitt in<br />
Stunden<br />
44,8 38,6 42,1<br />
35,2 32,1 33,9<br />
Ja 260 (71,2) 184 (63,7) 444 (67,9)<br />
Ja 237 (64,9) 199 (68,9) 436 (66,7)<br />
Prophylaxepersonal Ja 222 (61,2) 166 (57,6) 388 (59,6)<br />
Prophylaxeeinheit Ja 262 (72,0) 187 (65,2) 449 (69,0)<br />
Privatpatienten < 20.0% 248 (70,1) 194 (70,0) 442 (70,0)<br />
> 20.0% 106 (29,9) 83 (30,0) 189 (30,0)<br />
Prävention als<br />
Spezialisierung<br />
Ja 58 (16,5) 48 (17,1) 106 (16,8)<br />
Prävention als<br />
Schwerpunkt<br />
Ja 165 (47,0) 145 (51,6) 310 (49,1)<br />
* Die Zahl der Zahnärzte in den verschiedenen Analysen lag zwischen 629 und 654. ** Zahlen in Klammern sind Prozentwerte.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
15
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Der Rücklauf bei der zum Vergleich herangezogenen<br />
IDZ-Studie betrug 52,5%. 65,5% der Teilnehmer (gesamt<br />
n = 577) waren männlich. Die Geschlechts- und<br />
Altersverteilung stimmten mit denen der Grundgesamtheit<br />
der tätigen Zahnärzte in Deutschland überein<br />
(Schneller et al. 2001).<br />
In nahezu allen Bereichen der zahnärztlichen Tätigkeit hat sich das<br />
Volumen prophylaktischer Leistungen von 2000 bis 2009 erhöht,<br />
von Maßnahmen zur Diagnostik über die Aufklärung der Patienten,<br />
die Demonstration korrekter Zahnputztechniken bis hin zur Fluoridierung<br />
und Professionellen Zahnreinigung.<br />
Die angebotenen und durchgeführten Maßnahmen<br />
werden in vier Schwerpunktthemen zusammengestellt.<br />
Das erste Schwerpunktthema umfasst Maßnahmen<br />
zur Diagnostik und Risikobewertung oraler<br />
Erkrankungen. Abbildung 2 zeigt, wie häufig die<br />
Teilnehmer diese Maßnahmen im Vergleich zu der<br />
Studie von Schneller et al. anbieten. Maßnahmen<br />
zur Risikoeinschätzung werden von ungefähr 15%<br />
der Zahnärzte „immer“ und 30% „oft“ durchgeführt.<br />
In der aktuellen Studie bieten die Zahnärzte im Vergleich<br />
zu der Studie von Schneller et al. (26%) diese<br />
Maßnahme signifikant öfter (45%) an. Eine ausführliche<br />
Mundpflegeanamnese wird von 35% der teilnehmenden<br />
Zahnärzte „immer“ und von 43% „oft“ im<br />
Jahr 2009 erstellt. Im Vergleich zu den Ergebnissen<br />
von 2000 wird diese Maßnahme häufiger durchgeführt<br />
(78% vs. 67%).<br />
Im zweiten Schwerpunkt sind Maßnahmen zur Aufklärung<br />
der Patienten enthalten. Ein Blick in Abbildung<br />
2 zeigt die Raten zur Aufklärung der Patienten<br />
und Wissensvermittlung über Krankheitsursachen<br />
in den beiden Studien. Im Vergleich zur früheren<br />
Studie erfolgt diese Maßnahme häufiger „immer bis<br />
oft“ als vor zehn Jahren (93% vs. 87%). Die Zahnärzte<br />
der vorliegenden Studie bieten ihren Patienten Informationen<br />
über zahngesunde Ernährung „immer“<br />
zu 16% und „oft“ zu 50% an. Im Vergleich zu den Ergebnissen<br />
von 2000 klären die Zahnärzte ihre Patienten<br />
seltener zu diesem Thema „immer bis oft“ auf<br />
(66% vs. 74%).<br />
Das dritte Schwerpunktthema umfasst Maßnahmen<br />
zur Demonstration korrekter Zahnpflegetechniken.<br />
Ungefähr 55% der Teilnehmer gaben an, dass in ihren<br />
Praxen Maßnahmen zu korrekten Zahnpflegetechniken<br />
(Dauer, Zahnbürsttechnik und Systematik)<br />
„immer“ angeboten werden. 40% boten sie „oft“<br />
an (s. Abbildung 3). Die Zahnärzte der aktuellen Studie<br />
bieten Demonstrationen und Unterweisungen zur<br />
korrekten Zwischenraumpflege „immer“ zu 42% und<br />
„oft“ zu 46% an. Insgesamt wurden im Jahr 2009 Demonstrationen<br />
zur Zahnputztechnik häufiger „immer<br />
bis oft“ durchgeführt als solche zur Zahnseideanwendung<br />
(94% vs. 88%). Im Vergleich zu den Ergebnissen<br />
der früheren Studie demonstrieren die Zahnärzte<br />
im Jahr 2009 die korrekte Zahnputztechnik häufiger<br />
(94% vs. 86%). In der aktuellen Studie bieten die<br />
Zahnärzte im Vergleich zu der Studie vom Jahr 2000<br />
(84%) die korrekte Zahnzwischenraumpflege etwas<br />
häufiger (88%) an.<br />
Zum vierten Schwerpunktthema gehören Maßnahmen<br />
zur Fluoridierung und zur professionellen Zahnreinigung<br />
(Abbildung 3). Professionelle Fluoridanwendung<br />
wird von der Mehrheit der Zahnärzte mit 97%<br />
im Jahr 2009 sehr häufig angeboten. Empfehlungen<br />
zu Fluoridierungsmaßnahmen zuhause (z. B. fluoridiertes<br />
Speisesalz, fluoridierte Zahnpasten) werden<br />
„immer bis oft“ von etwa 87% der Zahnärzte gegeben.<br />
Im Vergleich zu den Ergebnissen des Jahres 2000<br />
setzen die Zahnärzte professionelle Fluoridierungsmaßnahmen<br />
(97% vs. 81%) häufiger ein und sprechen<br />
öfter Empfehlungen für die häuslichen Fluoridierungsmaßnahmen<br />
aus (87% vs. 68%). Die professionelle<br />
Zahnreinigung wird von 92% der Zahnärzte der<br />
aktuellen Studie „immer bis oft“ angeboten. Professionelle<br />
Zahnreinigung wird im Jahr 2009 im Vergleich<br />
zu dem Jahr 2000 signifikant häufiger durchgeführt<br />
(92% vs. 63%).<br />
Diskussion<br />
Präventive Maßnahmen werden heute in den Zahnarztpraxen<br />
häufiger als vor einem Jahrzehnt angeboten.<br />
Internationale Studien zeigen eine Abnahme restaurativer<br />
und zahnerhaltender Behandlungen in den<br />
Zahnarztpraxen zugunsten präventiver und diagnostischer<br />
Maßnahmen (Manski und Moeller 2002; Ferracane<br />
et al. 2011). Dies deutet auf die Änderung der<br />
Bedürfnisse der Patienten, das zunehmende Interesse<br />
an Prophylaxe sowie die Zahlungsbereitschaft der Patienten<br />
hin. Auf der Zahnarztseite kann das verstärk-<br />
16 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
te Angebot an präventiven Maßnahmen Folge einer<br />
Einstellungsänderung der Zahnärzte gegenüber der<br />
Prävention und/oder dem finanziellen Erfolg durch<br />
Prävention sein.<br />
In einer früheren Studie betrachteten die Zahnärzte<br />
als effektivste Maßnahmen gegen Karies und Parodontitis<br />
die Fluoridanwendung (gegen Karies), die<br />
professionelle Zahnreinigung (u. a. mechanische<br />
Plaque- und Zahnsteinentfernung) und die Patientenschulung<br />
(Wissensvermittlung, Motivierung) (Schneller<br />
et al. 1998). Die Bedeutung dieser Maßnahmen<br />
scheint noch größer geworden zu sein, da heute diese<br />
Maßnahmen verstärkt angeboten werden, was auf<br />
das zugrundeliegende Vertrauen der Zahnärzte in die<br />
Prävention hinweist. Die Anwendung von Fluoriden<br />
ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Kariesprävention.<br />
Die vermehrte professionelle und häusliche<br />
Fluoridanwendung kann auf die durch zahlreiche<br />
Studien belegte Unbedenklichkeit des Fluoridgebrauchs<br />
zurückgeführt werden. Zahlreiche Studien<br />
belegen die Wirksamkeit der Fluoride gegen Karies<br />
und deren Anwendung hat sich auch für die Prävention<br />
von Wurzelkaries verbreitet (Heijnsbroek et al.<br />
2007; Hellwig und Lennon 2004).<br />
Maßnahmen der professionellen Zahnreinigung beinhalten<br />
die Untersuchung der Mundhöhle (z. B.<br />
Plaque, Blutungen und Taschen), Anweisungen zu<br />
korrekten Zahnpflegetechniken, Plaqueentfernung<br />
und Politur, Fluoridanwendung, Risikoeinschätzung<br />
und Vereinbarung des nächsten Recalltermins. Die<br />
professionelle Zahnreinigung wird heute in den teilnehmenden<br />
Zahnarztpraxen deutlich öfter als vor<br />
zehn Jahren durchgeführt. Dies kann an der zunehmenden<br />
Zahl gut ausgebildeter Prophylaxeassistentinnen<br />
in den Praxen liegen, wodurch das Angebot<br />
deutlich zugenommen hat (Freeman et al. 2005). Ein<br />
weiterer Grund kann das verstärkte Interesse des Patienten<br />
an der eigenen Mundgesundheit sein. Aufmerksamkeit<br />
erhält die Prophylaxe auch durch die<br />
zunehmende Präsenz des Themas in den Print- und<br />
TV-Medien wie auch in der Ratgeberliteratur. Im Allgemeinen<br />
achten die Patienten heutzutage mehr auf<br />
ihren Mundgesundheitszustand. Das Bewusstsein für<br />
orale Erkrankungen und die Sensibilisierung der Patienten<br />
sowohl für die Mundgesundheit, die Ästhetik<br />
als auch die Art der zahnmedizinischen Versorgung<br />
haben sich geändert. Beispielsweise putzen sich 84%<br />
der 35- bis 44-Jährigen mindestens zweimal pro Tag<br />
die Zähne (Micheelis und Reiter 2006). Es wird mehr<br />
auf weiße Zähne geachtet, auf saubere Zähne statt<br />
Karies, Kunststofffüllungen statt Amalgamfüllungen<br />
und auch Implantatversorgungen statt Brücken,<br />
und das, selbst wenn die Patienten die (Mehr-)Kos-<br />
Abbildung 1:<br />
Kurativ-zahnmedizinisches<br />
Krankheitsmodell vs. bio-psycho-soziales<br />
präventives Krankheitsmodell<br />
(© Hussein und<br />
Schneller 2011).<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
17
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
ten dafür übernehmen müssen (Schäfer et al. <strong>2013</strong>).<br />
Dies motiviert die Zahnärzte, ihre Prophylaxeangebote<br />
zu erweitern und immer weiter zu entwickeln.<br />
Veränderungen in den Einstellungen der Zahnärzte<br />
gegenüber Prävention im Sinne von Wirksamkeit und<br />
Wirtschaftlichkeit der Prävention können eine mögliche<br />
Erklärung für das vermehrte Angebot der professionellen<br />
Zahnreinigung sein. Als weitere Motive<br />
auf Seiten der Zahnärzte kommen die Konkurrenzsituation<br />
gegenüber anderen Praxen und eine größere<br />
Berufszufriedenheit bei prophylaktischer Patientenversorgung<br />
in Frage (Hussein et al. <strong>2013</strong>).<br />
Maßnahmen zur Risikobewertung sind in den Zahnarztpraxen<br />
hingegen nicht sehr verbreitet. Die Zahnarztpraxis<br />
sollte sich intensiver mit der Risikobewertung<br />
oraler Erkrankungen und deren zugrunde<br />
liegenden ätiologischen Faktoren beschäftigen. Diese<br />
sind biologische, psychologische und soziale Determinanten<br />
(s. Abbildung 1). Altersgerechte Risikobewertungsstrategien<br />
sind entscheidend für die<br />
erfolgreiche Vermeidung oraler Erkrankungen. Der<br />
demografische Wandel und die raschen Entwicklungen<br />
in der zahnmedizinischen Versorgung und Technologie<br />
führen zu längerem Erhalt der natürlichen Zähne.<br />
Dies wiederum bedeutet, dass das Erkrankungs-<br />
risiko für Parodontitis und Wurzelkaries zunimmt.<br />
Ältere Menschen benötigen deshalb zusätzliche und<br />
intensivere Betreuung bezüglich der Verbesserung<br />
der Mundhygiene, Prävention von Wurzelkaries sowie<br />
gesunder Ernährung im Alter (Hellwig und Altenburger<br />
2011; BZÄK 2002).<br />
Ernährungsmodifikation auf gesunde Alternativen<br />
ist eine wichtige Maßnahme zur Kariesprävention.<br />
Internationale Studien weisen auf eine suboptimale<br />
Versorgung diesbezüglich hin (Freeman et al. 2005;<br />
Holloway und Clarkson 1994). Zahnärzte und Zahnmedizinstudenten<br />
verfügen nur über unzureichendes<br />
Wissen über eine zahngesunde Ernährung (Shah et al.<br />
2011; Kelly und Moynihan 2008). Auch in Deutschland<br />
werden diese Aspekte bislang kaum im Zahnmedizinstudium<br />
und auch nicht in den zahnärztlichen<br />
Weiter- und Fortbildungen angesprochen. Weitere<br />
Gründe für das Nichtanbieten von qualifizierter Ernährungsberatung<br />
sind Zeitmangel, fehlendes Beratungstraining<br />
sowie fehlende Motivation der Patienten<br />
(Threfall et al. 2007; Kelly und Moynihan 2008).<br />
In Deutschland gibt es zudem kaum Studien, die sich<br />
mit Ernährungsberatung und den Einstellungen der<br />
Zahnärzte dazu beschäftigen.<br />
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18 | <strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
Die Qualität und Wirksamkeit der durchgeführten<br />
Prophylaxemaßnahmen in den Zahnarztpraxen<br />
kann in dieser Studie nicht beurteilt werden. Bevölkerungsstudien<br />
in Deutschland zeigen, dass Patienten<br />
immer noch wenig über Parodontitis und deren<br />
Ursachen wissen (Deinzer et al. 2008) und viele<br />
Menschen trotz täglichen Zähneputzens ein unzureichendes<br />
Mundhygieneniveau (Dauer, Häufigkeit<br />
und Zeitpunkt des Zähneputzens) aufweisen, das mit<br />
dem steigenden Alter abfällt (Micheelis und Reiter<br />
2006). Deshalb müssen Aufklärung und Motivation<br />
sowie die Demonstrationen und praktischen Übungen<br />
zur optimierten Mundpflege durch qualifizierte,<br />
gut ausgebildete zahnärztliche Teams noch intensiviert<br />
werden.<br />
Zusammenfassung<br />
Die vorliegende Studie bestätigt Aussagen, die von<br />
einem Trend weg von der „reparierenden“ hin zur<br />
vorbeugenden Zahnheilkunde sprechen. Prävention<br />
nimmt einen immer größeren Anteil an praktischer<br />
zahnärztlicher Tätigkeit ein. Insgesamt werden Patienten<br />
auf Prophylaxe heute häufiger angesprochen<br />
und fragen diese vermehrt auch selbst nach. Aussagen<br />
zur Qualität und Nachhaltigkeit der durchgeführten<br />
Maßnahmen können in dieser Studie nicht<br />
getroffen werden. In bestimmten Bereichen der Prävention<br />
wie Ernährungslenkung und Risikobewertung<br />
wurde eine suboptimale Versorgung festgestellt.<br />
Klarheit über mögliche Gründe dafür können weitere<br />
Studien liefern.<br />
Prävention nimmt einen immer größeren Anteil an praktischer<br />
zahnärztlicher Tätigkeit ein. Die Studie bestätigt den Trend weg von<br />
der „reparierenden“ hin zur vorbeugenden Zahnheilkunde.<br />
Abbildung 2:<br />
Durchgeführte Maßnahmen zur<br />
Risikobewertung oraler Erkrankungen<br />
und Aufklärung der<br />
Patienten.<br />
Abbildung 3:<br />
Durchgeführte Maßnahmen zur<br />
Demonstration korrekter Zahnpflegetechniken,<br />
Fluoridierung<br />
und professionellen Zahnreinigung.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
19
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Michael Dreyer<br />
Staatliche Fürsorge oder Eigenverantwortung<br />
des Patienten<br />
Ein Problem für die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe?<br />
Dr. Michael Dreyer<br />
Vizepräsident der Zahnärztekammer<br />
Berlin, Stellvertretender<br />
Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft<br />
Berlin<br />
zur Verhütung von Zahnerkrankungen<br />
e.V. (LAG Berlin)<br />
1<br />
Epidemiologische Begleituntersuchung<br />
zur Gruppenprophylaxe<br />
2009, Prof. Dr. Klaus<br />
Pieper, Marburg, Gutachten erstellt<br />
im Auftrag der Deutschen<br />
Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege<br />
e.V.<br />
2<br />
Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie<br />
(DMS IV), Institut<br />
der Deutschen Zahnärzte (IDZ),<br />
Köln 2006.<br />
Für die erwachsene Bevölkerung stellt sich diese Frage<br />
in der Regel eigentlich nicht, dort hat die Eigenverantwortung<br />
sicherlich den Vorrang. In unserer heutigen<br />
sozialen Gesellschaft hat jeder die Möglichkeit,<br />
sowohl ausreichende Informationen als auch Zugang<br />
zu Prävention und medizinischer oder zahnmedizinischer<br />
Behandlung zu erlangen. Anders sieht es bei<br />
Menschen mit Behinderungen oder alten Menschen,<br />
aber auch bei Bevölkerungsgruppen in sozial schwierigen<br />
Lebenslagen und mit Migrationshintergrund<br />
aus, die sich objektiv oder subjektiv nicht selber versorgen<br />
können. Die geringste Eigeninitiative jedoch<br />
können Kinder aufbringen. Selbstverständlich übernehmen<br />
die Eltern hier den Großteil der Verantwortung.<br />
Bezogen auf die zahnmedizinische Prävention<br />
ist die ganze Bandbreite vorhanden: von Eltern, die<br />
vorbildlich für ihren Nachwuchs sorgen, über Eltern,<br />
die in diesem Bereich mit Schwierigkeiten zu kämpfen<br />
haben, bis hin zur Kindesvernachlässigung.<br />
Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe soll - auch<br />
im Interesse der gesundheitlichen Chancengleichheit -<br />
Kinder möglichst früh erreichen. Während der 1980er<br />
Jahre war der Mundgesundheitszustand in der Bundesrepublik<br />
bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich<br />
zu anderen modernen Industriestaaten mäßig<br />
bis schlecht. Um bereits Schulkindern eine präventive<br />
Versorgung zukommen zu lassen, wurde 1989 der<br />
§ 21 in das Sozialgesetzbuch V aufgenommen. Diese<br />
Vorschrift regelt die Finanzierung und Organisation<br />
der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe durch<br />
im Gesundheitswesen beteiligte Institutionen und<br />
schreibt Maßnahmen zur Qualitätssicherung durch<br />
Dokumentation und Erfolgskontrolle vor. Im § 22 SGB<br />
V wird ergänzend die Durchführung der Individualprophylaxe<br />
in Zahnarztpraxen geregelt.<br />
Seit 1994 legte die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für<br />
Jugendzahnpflege e.V. (DAJ), in welcher auch alle<br />
Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege<br />
zusammengeschlossen sind, im Rahmen der gesetzlichen<br />
Vorgaben fünf Studien zur Erfolgskontrolle der<br />
zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe vor. Bereits<br />
in den ersten Jahren nach Einführung der Gruppenprophylaxe<br />
wurde ein signifikanter Rückgang der<br />
Karies bei Kindern festgestellt. Die letzte Studie aus<br />
2009 1 zeigt, dass heute mehr als die Hälfte der 6-jährigen<br />
und rund zwei Drittel der 12-jährigen Kinder<br />
in Deutschland kariesfreie Zähne hat. In allen untersuchten<br />
Altersklassen sanken die Karieszahlen, im<br />
Bereich der 12-Jährigen sogar um 72,7 Prozent seit<br />
Beginn der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe.<br />
Hier nimmt Deutschland mittlerweile international<br />
eine Spitzenstellung ein.<br />
Sowohl die Studien der DAJ als auch die Vierte Deutsche<br />
Mundgesundheitsstudie (DMS IV) 2 belegen den<br />
nachhaltigen Erfolg der zahnmedizinischen Aktivitäten<br />
im Bereich der Bevölkerungs-, Gruppen- und Individualprophylaxe.<br />
Dennoch gibt es weiterhin und<br />
teils neu verstärkt gewichtige Problemlagen:<br />
Der Anteil der Milchzahnkaries ist mit 46,1 Prozent<br />
bei Schulanfängern immer noch zu hoch. Es ist zu<br />
beobachten, dass viele Kinder bereits mit vorhandener<br />
Karies in die Kita eintreten. Etwa die Hälfte der<br />
kariösen Milchzähne bleibt Expertenschätzungen zufolge<br />
unbehandelt.<br />
Die Studien zeigen auch deutliche Herausforderungen<br />
insbesondere durch die sehr ungleiche Verteilung<br />
der Karies. Etwas über 20 Prozent der Kinder<br />
und Jugendlichen tragen fast 80 Prozent der Karieslast.<br />
Dies wird in Fachkreisen als „Polarisation der<br />
Erkrankungslast“ bezeichnet. Dabei spielen sozial<br />
schwierige Lebenslagen und Migrationshintergründe<br />
eine gewichtige Rolle. In Berlin als multikultureller<br />
Hauptstadt treten diese Herausforderungen besonders<br />
hervor.<br />
Die drei sozialen Hauptprobleme in Berlin – Arbeitslosigkeit,<br />
soziale Benachteiligung der jungen Generation<br />
und der große Anteil der Kinder und Jugendlichen<br />
mit Migrationshintergrund – haben direkte<br />
Bedeutung für die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />
und sind trotz intensiver Maßnahmen im<br />
Vergleich der Bundesländer für Berlin wesentliche<br />
Ursache schlechterer Werte.<br />
Die Landesarbeitsgemeinschaft Berlin zur Verhütung<br />
von Zahnerkrankungen e.V. (LAG Berlin), als<br />
Zusammenschluss der Krankenkassen, des Landes<br />
Berlin und der Zahnärztekammer Berlin, trägt diesen<br />
besonderen Umständen Rechnung. Neben den<br />
20 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
Untersuchungsmaßnahmen, der lokalen Fluoridierung<br />
und der Gesundheitserziehung in Kitas und<br />
Schulen spielt die Kommunikation mit Erzieherinnen<br />
und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern sowie<br />
Eltern eine große Rolle. Besondere Aufmerksamkeit<br />
kommt dabei der Arbeit mit Eltern zu. Sie sind – besonders,<br />
was die Kleinkinder unter 3 Jahren betrifft<br />
– eine Zielgruppe, deren Information und Motivation<br />
im Hinblick auf die Mundgesundheit ihrer Kinder<br />
von allergrößter Wichtigkeit ist. Ohne Compliance<br />
der Eltern geht in diesem Alter nichts.<br />
Eine Neuerung in der Berliner Elternarbeit stellt die<br />
„Abholsituation“ in Kitas dar. Hier sollen insbesondere<br />
auch die Eltern von Kindern unter 3 Jahren erreicht<br />
werden, um sie für die Mundpflege auch der<br />
Allerkleinsten zu sensibilisieren und bei Bedarf zu<br />
schulen. Erweitert wird das Angebot um das Aufsuchen<br />
von Elterncafés und Krabbelgruppen. Gerade in<br />
letzteren sind die Mütter sehr interessiert am Austausch<br />
von Wissen und Möglichkeiten. Ziel dieser<br />
Maßnahmen ist es, die immer noch zu hohe Milchzahnkariesquote,<br />
insbesondere die frühkindliche Karies,<br />
zu senken.<br />
Die Teilnahme der LAG-Teams an Jugendevents,<br />
eine neu installierte regelmäßige Zusammenarbeit<br />
mit dem Berliner Landessportbund, die Anwesenheit<br />
bei Schulveranstaltungen sowie besondere Aktivitäten<br />
zum Tag der Zahngesundheit erweitern den<br />
Kreis der erreichbaren Kinder und Jugendlichen und<br />
deren Eltern. Hinzu kommen Ansätze für eine Zusammenarbeit<br />
mit Pädiatern und Hebammen. Seit<br />
einiger Zeit schon spielen die Schulung von Berliner<br />
Eltern mit Migrationshintergrund in Elternklassen<br />
und die Beteiligung an der Ausbildung von Stadtteilmüttern<br />
eine Rolle.<br />
Da die LAG Berlin Finanzmittel ausschließlich von<br />
den Kassen und der Zahnärztekammer erhält – das<br />
Land Berlin erbringt seinen Beitrag durch die Arbeit<br />
der Bezirklichen Zahnärztlichen Dienste –, sind dem<br />
Ausbau der Aktivitäten der LAG Grenzen gesetzt. Ein<br />
Beispiel für die Mittelknappheit ist bei der Diskussion<br />
über Fluoridierungsmaßnahmen die Frage der Verwendung<br />
von Gelee oder Fluoridlack. Eine generelle<br />
Verwendung von Lack würde die Budgets sprengen.<br />
Eine weitere Problematik, die durch die LAG nicht<br />
allein zu lösen ist, ist das Erreichen von Menschen in<br />
sozial schwierigen Lebenslagen und Migranten. Durch<br />
eine der vielen Schulreformen in Berlin sind die für<br />
die LAG-Prophylaxe als Karies-Brennpunkte identifizierten<br />
Hauptschulen abgeschafft und mit ehemaligen<br />
Realschulen sowie Gesamtschulen zusammengelegt<br />
worden. Dadurch wird eine bedarfsgerechte<br />
Verteilung der Ressourcen der LAG auf Schulen mit<br />
überdurchschnittlich hohem Kariesaufkommen erheblich<br />
erschwert.<br />
Die Schnittstelle zwischen Gruppenprophylaxe und<br />
Individualprophylaxe beginnt bereits im Kleinkindalter.<br />
Der Aufklärung und praktischen Einübung muss<br />
individualprophylaktisches und im Falle von Problemen<br />
auch kuratives Verhalten folgen. Wie die Zahlen<br />
der Gesundheitsberichte zeigen, ist die Zahl der<br />
unsanierten Milchgebisse immer noch zu hoch. Eine<br />
Absenkung kann nur erreicht werden, wenn hier die<br />
Vernetzung mit auf Problemfälle spezialisierten Kinderzahnarzt-Praxen<br />
verbessert wird.<br />
Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />
ist das Erfolgsmodell im Bereich der gruppenbezogenen<br />
Prävention und vereint erfolgreich<br />
Verhaltens- und Verhältnisprävention.<br />
Das sollte auch bei den Beratungen<br />
zur Gestaltung des Präventionsgesetzes<br />
Berücksichtigung finden.<br />
Unstrittig ist, dass die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />
deutliche Erfolge erzielt hat. Sie leistet einen<br />
ausgezeichneten Dienst für die Volksgesundheit und<br />
gibt jungen Menschen eine gute Starthilfe im Übergang<br />
zur späteren Selbstverantwortung. Aufgrund<br />
ihrer finanziellen und administrativen Ausstattung<br />
kann sie gegenwärtig jedoch nicht alle Bedarfsgruppen<br />
vollständig erreichen.<br />
Das Thema Prävention stand aktuell im Bundestag<br />
im Mittelpunkt einer Sachverständigenanhörung des<br />
Gesundheitsausschusses am 15. Mai <strong>2013</strong>. Die Abgeordneten<br />
befragten die Experten zu einem Entwurf<br />
der Koalitionsfraktionen für ein Präventionsgesetz<br />
sowie zu einem Antrag der SPD-Fraktion. Während<br />
Union und FDP vor allem das gesundheitsbewusste<br />
Verhalten der Bevölkerung stärken wollen, setzen<br />
die Sozialdemokraten stärker auf die Verhältnisprävention.<br />
Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe<br />
gemäß § 21 SGB V ist das Erfolgsmodell im Bereich<br />
der konzeptionellen gruppenbezogenen Prävention<br />
für Kinder und Jugendliche und gleichzeitig ein hervorragendes<br />
Beispiel für die Verbindung von Verhaltens-<br />
und Verhältnisprävention im lebensweltbezogenen<br />
Ansatz (Setting). Umso bedauerlicher ist es, dass<br />
als Experten keine Vertreter der engagierten und in<br />
der Prävention seit Jahrzehnten erfahrenen Zahnärzteschaft<br />
angehört wurden. Gerade diejenigen, die vor<br />
Ort Prophylaxe durchführen, hätten mit ihrer Erfahrung<br />
und der intimen Kenntnis von Problemen und<br />
möglichen Problemlösungen gute Anregungen für die<br />
gesetzgeberische Arbeit geben können. Hier ist leider<br />
eine Chance vertan worden.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
21
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Ulrich Schiffner<br />
Erfolge, Grenzen und Weiterentwicklung<br />
der Kariesprävention<br />
Prof. Dr. Ulrich Schiffner<br />
Zentrum für Zahn-, Mundund<br />
Kieferheilkunde am Universitätsklinikum<br />
Hamburg-<br />
Eppendorf,<br />
Fortbildungsreferent der Deutschen<br />
Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde<br />
Bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist seit<br />
zwei Jahrzehnten ein deutlicher Kariesrückgang feststellbar.<br />
Diese erfreuliche Entwicklung hat im Jahre<br />
2005 ausweislich der nationalen, repräsentativen<br />
Vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS<br />
IV) 1 zu einem DMFT 2 -Wert von 0,7 bei 12-Jährigen<br />
geführt. Das bedeutet, dass ein 12-jähriges Kind im<br />
Durchschnitt weniger als einen Zahn mit Karies oder<br />
kariesbedingten Folgen (Füllungen, Extraktionen)<br />
aufweist. Dieser Wert wurde von der letzten DAJ-<br />
Studie 3 bestätigt. Im internationalen Vergleich stehen<br />
die deutschen 12-jährigen Kinder damit, auf die<br />
Karies bezogen, weltweit mit an der Spitze der oralen<br />
Gesundheit.<br />
Die positive Entwicklung wird mit den verbreitet etablierten<br />
Konzepten der Kariesprophylaxe begründet.<br />
Dabei finden sowohl Protagonisten der Gruppenprophylaxe<br />
als auch Verfechter der Individualprophylaxe<br />
ihre jeweiligen Ansätze bestätigt. Letztlich finden sich<br />
in den die Untersuchungen begleitenden Befragungen<br />
Hinweise, dass beide Konzepte zum Gesamtergebnis<br />
beitragen. So sind die intensivierte Durchführung von<br />
Mundhygienemaßnahmen, die Inanspruchnahme routinemäßiger<br />
zahnärztlicher Kontrollen, Fluoridanwendungen,<br />
aber auch Fissurenversiegelungen deutlich<br />
mit besserer Zahngesundheit verbunden.<br />
ist. So hatten 2005 lediglich knapp 9% der 12-jährigen<br />
Kinder sämtliche in ihrer Altersgruppe zu sanierenden<br />
Zähne, die große Mehrheit von über 90%<br />
der Kinder hingegen wies keinen einzigen zu füllenden<br />
Zahn auf.<br />
Immerhin ist es gelungen, den Anteil an Kindern mit<br />
erhöhter Karieslast zu reduzieren. Im Vergleich der<br />
beiden letzten Deutschen Mundgesundheitsstudien<br />
von 1997 und 2005 ist festzustellen, dass der Anteil<br />
an 12-Jährigen mit mehr als zwei DMF-Zähnen von<br />
21,5% auf 10,2% gesunken ist. Diese Halbierung der<br />
Risikogruppe ist als ein bedeutender Erfolg zu werten,<br />
da ein Großteil der Kinder mit erhöhter Karieslast<br />
von den einschlägigen zahnmedizinischen Präventionsangeboten<br />
nur ungenügend erreicht wird.<br />
Mit der DMS IV konnte auch der Effekt von Versiegelungsmaßnahmen<br />
auf die Kariesprävalenz deutlich<br />
nachgewiesen werden: Kinder und Jugendliche<br />
ohne Versiegelungen hatten in etwa doppelt so hohe<br />
DMFT-Werte wie Gleichaltrige mit Versiegelungen.<br />
Dieser Effekt der Versiegelung kann in allen Sozialschichten<br />
aufgezeigt werden. Die Versiegelung ist als<br />
professionelle individualpräventive Maßnahme nicht<br />
von präventionsorientierter Eigenverantwortlichkeit<br />
der Kinder oder ihrer Eltern abhängig.<br />
1<br />
Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie<br />
(DMS IV), Institut<br />
der Deutschen Zahnärzte (IDZ),<br />
Köln 2006.<br />
2<br />
Der DMFT-Index beschreibt<br />
die Zahl der kariösen (Decayed),<br />
der infolge von Karies gezogenen<br />
(Missing) und gefüllten<br />
(Filled) Zähne (Teeth).<br />
3<br />
Epidemiologische Begleituntersuchung<br />
zur Gruppenprophylaxe<br />
2009, Prof. Dr. Klaus<br />
Pieper, Marburg, Gutachten erstellt<br />
im Auftrag der Deutschen<br />
Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege<br />
e.V.<br />
Der Kariesrückgang betrifft Kinder aus allen Sozialschichten.<br />
Auch Kinder aus Familien mit niedrigem<br />
Sozialstatus profitieren von den präventiven und therapeutischen<br />
Betreuungsmöglichkeiten, obgleich unverändert<br />
signifikante Unterschiede der Karieserfahrung<br />
zwischen den Sozialschichten zu konstatieren<br />
sind. So wird der geringste Kariesbefall bei Kindern<br />
aus Familien mit hohem Schulabschluss der Eltern<br />
beobachtet, während Kinder aus Familien mit mittlerem<br />
oder niedrigem Schulstatus höhere Karieswerte<br />
aufweisen.<br />
Mit dem Kariesrückgang ist auch eine zunehmende<br />
Polarisation des Kariesbefalls zu beobachten. Die geringer<br />
gewordene Karieslast betrifft nicht gleichermaßen<br />
alle Individuen. Vielmehr muss festgestellt<br />
werden, dass eine Teilgruppe von Kindern und Jugendlichen<br />
unverändert stark von Karies betroffen<br />
Dennoch bleibt das Faktum, dass eine starke Polarisation<br />
der Karieserfahrung besteht und dass ca. 10%<br />
der 12-jährigen Kinder von den bestehenden Versorgungsstrukturen<br />
nur wenig profitieren. Hier weitere<br />
Verbesserungen zu erzielen wird über die Möglichkeiten<br />
des zahnärztlichen Berufsstandes allein hinausgehen.<br />
Es bedarf vielmehr gemeinsamer Anstrengungen<br />
und Konzepte vieler Protagonisten wie der<br />
Kinderärzte, für jüngere Kinder auch der Hebammen<br />
und Gynäkologen. Angesichts des deutlichen Bezugs<br />
der Karieslast zum sozialen Hintergrund der Kinder<br />
sind in derartige Konzepte unbedingt andere wichtige<br />
gesellschaftliche Institutionen wie soziale kommunale<br />
Dienste einzubinden.<br />
Noch differenzierter stellt sich die Situation im<br />
Hinblick auf das Milchgebiss dar. Unter den 6- bis<br />
7-Jährigen hatten in Deutschland im Jahr 2009 laut<br />
22 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
DAJ-Studie nur 54% der Kinder Milchgebisse ohne<br />
Karieserfahrung. Mit einer Kariesreduktion im Milchgebiss<br />
von rund 35% innerhalb von 16 Jahren macht<br />
die Reduktion nur ca. die Hälfte der im bleibenden<br />
Gebiss realisierten Verbesserungen aus. Offensichtlich<br />
sind die Konzepte, die bei den 12-Jährigen im<br />
bleibenden Gebiss herausragende Erfolge gezeitigt<br />
haben, nicht geeignet, um im Milchgebiss ebensolche<br />
Verbesserungen zu erzielen. Da die zur Verfügung<br />
stehenden präventiven Instrumente im Grunde aber<br />
in beiden Altersgruppen gleich sind, muss eine wichtige<br />
Ursache für diese unterschiedliche Entwicklung<br />
in der Anwendung dieser Instrumente sowie im Gesamtkonzept<br />
liegen.<br />
Es kann gemutmaßt werden, dass unter anderem<br />
der Zeitfaktor, zu dem die Kinder in zahnmedizinische<br />
Betreuung kommen, für die unterschiedliche<br />
Entwicklung mitverantwortlich ist. Wenn die ersten<br />
bleibenden Zähne im Alter von 6 Jahren in die<br />
Mundhöhle durchbrechen, befindet sich das Kind in<br />
der Regel in einem bereits etablierten präventiven Betreuungsverhältnis,<br />
sei es im Rahmen der Gruppenoder<br />
der Individualprophylaxe. Die Zähne können daher<br />
von Anfang an mit der bestmöglichen fachlichen<br />
Aufmerksamkeit umsorgt werden. Anders verhält es<br />
sich hingegen beim Milchgebiss: Hier steht die Bezahnung<br />
bereits komplett in der Mundhöhle und ist<br />
den dortigen Gegebenheiten ausgesetzt, bevor eine<br />
adäquate präventive Betreuung erfolgt. Wenn diese<br />
einsetzt, ist es in vielen Fällen bereits zu spät, und<br />
das Kind hat schon Karies.<br />
Dies dokumentieren zahlreiche epidemiologische Untersuchungen<br />
zur frühkindlichen Karies. Stellvertretend<br />
seien Zahlen aus Hamburg zitiert. Hier hatten im<br />
Jahr 2006 73% der 3- bis 6-jährigen Kinder Gebisse<br />
ohne Karieserfahrung. Die übrigen Kinder mit Karieserfahrung<br />
hatten aber bereits einen durchschnittlichen<br />
DMFT-Wert von mehr als vier Zähnen. Noch<br />
deutlicher wird das präventive Versorgungsdilemma<br />
beim Blick auf die Dreijährigen. In diesem Alter<br />
setzt im Allgemeinen frühestens eine zahnmedizinische<br />
Betreuung ein. Unter den dreijährigen Kindern<br />
waren zwar 84% kariesfrei, doch bedeutet dies, dass<br />
bereits 16% von Karies betroffen waren. Diese betroffenen<br />
Kleinkinder wiesen einen mittleren DMFT-<br />
Wert von 3,4 auf. Es lässt sich unschwer erkennen,<br />
dass hier bereits der Grundstein für die Kariespolarisation<br />
gelegt ist und dass die etablierten präventiven<br />
Versorgungsangebote offensichtlich deutlich zu<br />
spät einsetzen.<br />
Die konsequente Folgerung muss sein, die präventive<br />
Betreuung deutlich früher als bislang beginnen zu lassen.<br />
Bereits bei den unter Dreijährigen sind funktionierende<br />
zahnärztlich betreuende Strukturen zu etablieren.<br />
Dass diese Schlussfolgerung berechtigt ist,<br />
zeigen neben individuellen Fällen auch Daten, die in<br />
Kinderkrippen bei 1- und 2-jährigen Kleinkindern erhoben<br />
wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder<br />
schon sehr früh Karies entwickeln: In dieser Altersgruppe<br />
haben bereits 4% der Kinder manifeste,<br />
das Dentin einbeziehende Karies. Unter Berücksichtigung<br />
von Initialläsionen sind sogar 15% der Kinder<br />
betroffen. Diese Kinder mit Karies haben im Schnitt<br />
fast 4 betroffene Zähne!<br />
Eine sehr früh einsetzende Betreuung der<br />
Kleinkinder ist unumgänglich. Die bisherige<br />
Betreuungslücke bei den unter Dreijährigen<br />
muss geschlossen werden.<br />
Die Zahlen sind eindeutig, und die Schlussfolgerungen<br />
erscheinen zwingend: Eine sehr früh einsetzende<br />
Betreuung der Kleinkinder ist unumgänglich. Die<br />
bisherige Betreuungslücke bei den unter Dreijährigen<br />
muss geschlossen werden. Fachübergreifend arbeiten<br />
derzeit die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung<br />
(KZBV), die Bundeszahnärztekammer (BZÄK),<br />
die Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde<br />
(DGK) und der Bundesverband der Kinderzahnärzte<br />
(BuKiZ) gemeinsam mit dem Deutschen Hebammenverband<br />
(DHV) an einem gesundheitspolitischen<br />
Konzept zur zahnmedizinischen Prävention der frühkindlichen<br />
Karies, um gesetzliche Rahmenbedingungen<br />
für einen Zahnarztbesuch ab dem ersten Lebensjahr<br />
zu schaffen.<br />
Für eine erfolgreiche Prävention bedarf es auch des<br />
Zusammenwirkens mehrerer Berufsgruppen. Bei Familien,<br />
deren Kinder von frühkindlicher Karies betroffen<br />
sind, sind mitunter schwierige familiäre und<br />
soziale Bedingungen gegeben, die das Mitwirken<br />
von Familienhebammen oder Sozialdiensten erforderlich<br />
machen.<br />
Es kann auch diskutiert werden, ob ein Screening von<br />
Kindern mit erhöhtem Kariesrisiko von diesen Berufsgruppen<br />
erfolgen kann. Wiederholt wurde aufgezeigt,<br />
dass ein hoher Kariesbefall mit gut sichtbaren<br />
Zahnbelägen auf den Oberkiefer-Frontzähnen einhergeht.<br />
Dem Screening aufgrund dieses einfachen<br />
Kriteriums muss dann aber die Weiterleitung in die<br />
zahnmedizinische Fachkompetenz folgen. Dort haben<br />
die betroffenen Kinder dann die Chance, von den<br />
bewährten Methoden der Kariesprophylaxe wie der<br />
Anleitung zu adäquater Mundhygiene und angemessener<br />
Ernährungsweise, aber auch von eigenverantwortlichen<br />
oder professionellen Fluoridierungsmaßnahmen<br />
zu profitieren.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> |<br />
23
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Roschan Farhumand<br />
Zahngesundheit bei Kleinkindern<br />
in Hamburg<br />
Ein Modellvorhaben der AOK Rheinland/Hamburg<br />
Dr. Roschan Farhumand<br />
Zahnärztin, wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin bei der AOK<br />
Rheinland/Hamburg. Sie beschäftigt<br />
sich mit der konzeptionellen<br />
Entwicklung alternativer<br />
Versorgungsmodelle für<br />
innovative und präventionsorientierte<br />
Strategien des<br />
zahnmedizinischen Versorgungsmanagements.<br />
Die AOK Rheinland/Hamburg startet gemeinsam mit<br />
der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZV) Hamburg<br />
im dritten Quartal <strong>2013</strong> einen neuartigen Versorgungsansatz<br />
in der Prävention. Erprobt werden<br />
innovative Präventionsleistungen zur frühkindlichen<br />
Zahnprophylaxe für Kinder im Alter von null bis drei<br />
Jahren und ihre Eltern. Den Rahmen bildet ein gesonderter<br />
Selektivvertrag zwischen der AOK Rheinland/Hamburg<br />
und der KZV Hamburg. Die wissenschaftliche<br />
Begleitung erfolgt durch die Poliklinik für<br />
Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde des<br />
Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.<br />
Immer noch herrscht ein Informationsdefizit in der<br />
Bevölkerung über die Bedeutung gesunder Milchzähne<br />
als wichtiger Voraussetzung für das Kieferwachstum,<br />
die Entwicklung des bleibenden Gebisses, die<br />
Sprachentwicklung, die Nahrungsaufnahme und das<br />
psychosoziale Wohlbefinden. Vorzeitiger Milchzahnverlust<br />
infolge mangelnder Zahnhygiene ist folgenschwer<br />
und kostspielig, denn er hat weitreichende<br />
und lebenslange Konsequenzen auch für das bleibende<br />
Gebiss. Untersuchungen haben gezeigt, dass über<br />
15% der ein- und zweijährigen Krippenkinder Symptome<br />
der frühkindlichen Karies aufweisen (Schiffner<br />
et al. 2009). Viele Kinder kommen heute bereits<br />
mit Kariessymptomen in die Kita.<br />
Die Verantwortung der Zahnpflege ab dem ersten<br />
Zahn bis weit in das Grundschulalter hinein liegt ausschließlich<br />
bei den Eltern bzw. betreuenden Bezugspersonen.<br />
Bis Feinmotorik, Konzentrationsfähigkeit<br />
und Verantwortungsbewusstsein eines heranwachsenden<br />
Kindes hinreichend ausgebildet sind, ist ein<br />
Nachputzen für eine effektive Plaqueentfernung seitens<br />
der Eltern erforderlich.<br />
Der Gesetzgeber sieht bisher erst vom dritten bis zum<br />
fünften Lebensjahr drei jährliche systematische Vorsorgeuntersuchungen,<br />
die sogenannten Früherkennungsuntersuchungen<br />
(FU 1-3), vor. In Fachkreisen<br />
besteht jedoch ein breiter Konsens, dass die zahnmedizinische<br />
Betreuung der Kleinkinder bereits im<br />
ersten Lebensjahr einsetzen sollte (BZÄK 2012, DAJ<br />
2012). Noch weiter gehende Konzepte fordern eine<br />
Beratung der Eltern bereits während der Schwangerschaft<br />
(BZÄK 2005). Zwar haben auch jüngere Kinder<br />
Anspruch auf Zahnarztbesuche, jedoch ist nur<br />
wenigen Eltern bewusst, dass in diesem frühen Alter<br />
Zahnprophylaxe notwendig ist. Es besteht somit eine<br />
Versorgungslücke im Alter von null bis drei Jahren.<br />
In dieser sensiblen Phase des Erscheinens der ersten<br />
Milchzähne könnten durch eine systematische Aufklärung<br />
im ersten, zweiten und dritten Lebensjahr<br />
Schäden vermieden und die Grundlage für eine gesunde<br />
Zahnkarriere geschaffen werden.<br />
In dem vorliegenden Modell der AOK Rheinland/<br />
Hamburg und KZV Hamburg werden Eltern bereits<br />
vor der Geburt und auch anschließend in den ersten<br />
drei Lebensjahren des Kindes systematisch durch den<br />
Zahnarzt betreut. Das Konzept beinhaltet die gezielte<br />
Beratung über das richtige Verhalten zur Pflege der<br />
Milchzähne sowie ein intensives Training möglichst<br />
beider Elternteile beim Pflegen des eigenen Gebisses.<br />
Kleinkinder lernen hauptsächlich durch Nachahmen.<br />
Deshalb sollen bereits bei werdenden Eltern<br />
die effektiven Reinigungstechniken mit den individuell<br />
passenden Hilfsmitteln wie beispielsweise Zahnbürsten,<br />
Interdentalbürsten und Zahnseide vermittelt<br />
werden, damit sie ihre eigene Zahnpflege und in<br />
der Folge auch die ihrer Kinder korrekt ausführen. So<br />
können sie das Mundgesundheitsbewusstsein und die<br />
Fertigkeiten in ihrer Vorbildfunktion auf die nächste<br />
Generation übertragen. Die Befähigung und das<br />
Bewusstsein der Eltern selbst ist die entscheidende<br />
Voraussetzung für eine gute Vorsorge der kindlichen<br />
Zahngesundheit.<br />
Durch die Betreuung der Eltern noch während der<br />
Schwangerschaft werden diese in einem Lebensabschnitt<br />
erreicht, der besonders günstig und motivierend<br />
für die Umstellung auf gesundheitsbewusste Verhaltensweisen<br />
ist. Zusätzlich zur Vorbereitung auf den<br />
kommenden Alltag mit Kind ist eine gute Mundhygiene<br />
auch für einen komplikationslosen Schwangerschaftsverlauf<br />
von Bedeutung. Die im Modellvorhaben<br />
vorgesehenen frühkindlichen Zahnarztbesuche<br />
bieten neben der Früherkennung und Prophylaxe-Beratung<br />
der Eltern auch die Möglichkeit für das Kind,<br />
die Zahnarztpraxis kennenzulernen und dabei angstfreie<br />
Erfahrungen zu machen. Darüber hinaus können<br />
regelmäßige Zahnarztbesuche als Routine in der<br />
Lebenswelt des Kindes verankert werden.<br />
24 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
Die Umsetzung des Konzepts erfolgt im Rahmen eines<br />
Modellvorhabens nach §§ 63ff. SGB V. Der Gesetzgeber<br />
ermöglicht den gesetzlichen Krankenkassen, im Rahmen<br />
von Modellvorhaben innovative präventive oder<br />
therapeutische Leistungen zu erproben, welche (noch)<br />
nicht Bestandteil des Leistungskataloges der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung sind. Sie dienen damit<br />
dem Erkenntnisgewinn und der Weiterentwicklung<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung, da sie dazu<br />
beitragen, einen besonderen Bedarf der Versicherten<br />
besser zu erkennen und zu berücksichtigen.<br />
Das Modellvorhaben hat das Ziel, die Kariesbildung<br />
bei Kleinkindern in dem Zeitraum bis zur ersten Früherkennungsuntersuchung<br />
im 30. Lebensmonat zu<br />
verhindern. Durch die Dokumentation von Befundaufnahmen<br />
und Beratungen in den Zahnarztpraxen<br />
wird eine solide Datenbasis generiert, die eine Evaluation<br />
der Maßnahmen ermöglicht. Die Auswertung<br />
dieser Daten und die wissenschaftliche Begleitung<br />
wird durch die Poliklinik für Zahnerhaltung und<br />
Präventive Zahnheilkunde der Universitätsklinik Eppendorf<br />
sichergestellt.<br />
Kleinkinder lernen hauptsächlich durch Nachahmen. Deshalb sollen<br />
bereits werdenden Eltern effektive Zahnreinigungstechniken vermittelt<br />
werden, damit sie ihre eigene Zahnpflege und in der Folge auch die ihrer<br />
Kinder korrekt ausführen. So können sie das Mundgesundheitsbewusstsein<br />
in ihrer Vorbildfunktion auf die nächste Generation übertragen.<br />
Vorsorgeleistungen aus dem Selektivvertrag der AOK Rheinland/Hamburg mit der KZV Hamburg<br />
Die Vorsorgeleistungen beziehen maßgeblich die Eltern<br />
und deren Mundhygieneverhalten ein. Insgesamt stehen<br />
5 Praxistermine für Eltern und deren Kinder bis zum Alter<br />
von 3 Jahren zur Verfügung.<br />
1. Termin während der Schwangerschaft<br />
Mit der Schwangerschaft und der Erwartung eines Kindes<br />
ändern sich die Lebensumstände der Eltern. Das ist<br />
eine gute Gelegenheit, zunächst einmal bei Eltern - die<br />
später eine Vorbildfunktion übernehmen - die Mundhygiene<br />
zu thematisieren und ggf. verbessern zu helfen.<br />
Je Elternteil:<br />
· Befundaufnahme und Dokumentation<br />
· Entfernung störender Zahnbeläge zur Hygienefähigkeit<br />
des elterlichen Gebisses<br />
· Training der richtigen Pflege des elterlichen Gebisses<br />
mit Hilfe der individuell passenden Hilfsmittel (Zahnbürste,<br />
Interdentalbürste/Zahnseide)<br />
· Werdende Mutter: Aufklärung über die gesteigerten<br />
Risiken von Zahn- und Zahnfleischerkrankungen<br />
aufgrund der hormonellen Ausnahmesituation und<br />
ihre möglichen Gefahren für den Schwangerschaftsverlauf<br />
2. Termin bei Durchbruch der ersten Milchzähne<br />
(ca. 6.-8. Lebensmonat)<br />
Kontrolle der elterlichen Mundhygiene und erste Begutachtung<br />
der Milchzähne, Beratung, Training<br />
Je Elternteil:<br />
· Befundaufnahme und Dokumentation<br />
· Recall: Remotivation der Eltern und ggf. Korrektur-<br />
Training der Pflege des elterlichen Gebisses<br />
Kind:<br />
· Untersuchung von Zähnen und Mundschleimhaut<br />
· Anleitung und Übung der Pflege der Milchzähne<br />
· Aufklärung/Beratung der Eltern zu Themen wie<br />
- Speichelkontakt (Löffel ablecken etc.) und damit<br />
die Übertragung von Kariesbakterien in die kind-<br />
liche Mundhöhle weitestgehend vermeiden<br />
- Zahnbezogene Ernährungshinweise<br />
- Aufklärung über die Gefahr des Nursing-Bottle-<br />
Syndroms und die Gefahren exzessiven Nuckelns<br />
- Anwendung von Fluoriden<br />
· Bei Bedarf kieferorthopädische Überweisung<br />
3. Termin (ca. 10.-12. Lebensmonat)<br />
Befundaufnahme beim Kind, Beratung, Training<br />
Kind:<br />
· Befundaufnahme und Dokumentation<br />
· Bei Bedarf Wiederholung der Aufklärung/Beratung<br />
(s.o.) und Anleitung sowie Übung der Pflege der<br />
Milchzähne<br />
4. Termin nach Durchbruch der ersten Milchbackenzähne<br />
(ca. 16.-18. Lebensmonat)<br />
Befundaufnahme bei Eltern und Kind, Beratung, Training<br />
Je Elternteil:<br />
· Befundaufnahme und Dokumentation<br />
· Recall: Remotivation der Eltern und ggf. Korrektur-<br />
Training der richtigen Pflege des elterlichen Gebisses<br />
Kind:<br />
· Befundaufnahme und Dokumentation<br />
· Anleitung und Übung der Pflege der Milchzähne<br />
· Wiederholung der Aufklärung/Beratung (s.o.)<br />
5. Termin (ab 30. Lebensmonat)<br />
Befundaufnahme bei Eltern und Kind, Beratung, Training<br />
Je Elternteil:<br />
· Befundaufnahme und Dokumentation<br />
· Recall: Remotivation der Eltern und ggf. Korrektur-<br />
Training der Pflege des elterlichen Gebisses mit Hilfe<br />
der individuell passenden Hilfsmittel<br />
Kind:<br />
· Regelversorgung: Früherkennungsuntersuchung (FU1)<br />
· Befundaufnahme und Dokumentation<br />
Quellen/Literatur:<br />
Schiffner U, Zabel C, Hippke<br />
A: Caries in 1- and 2-year-old<br />
toddlers in Hamburg. Caries Res<br />
43, 181, abs. #6 (2009)<br />
BZÄK, Bundeszahnärztekammer<br />
(2005): Mundgesundheit<br />
von Anfang an.<br />
BZÄK, Bundeszahnärztekammer<br />
(2012): Kleine Kinder nicht<br />
zu spät dem Zahnarzt vorstellen.<br />
Aufklärung über frühzeitige<br />
Prävention muss weiter<br />
verbessert werden (Pressemitteilung<br />
24.04.2012)<br />
DAJ, Deutsche Arbeitsgemeinschaft<br />
für Jugendzahnpflege<br />
(2012): Frühkindliche Karies:<br />
Zentrale Inhalte der Gruppenprophylaxe<br />
für unter 3-Jährige.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 25
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
Thomas Kocher<br />
Diabetes und Parodontitis<br />
Bei der Früherkennung und Behandlung des Diabetes<br />
müssen Zahnärzte künftig stärker einbezogen werden<br />
Prof. Dr. Thomas Kocher<br />
Parodontologe am Zentrum für<br />
Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde<br />
der Universitätszahnklinik<br />
Greifswald,<br />
Mitglied des Vorstandes der<br />
Deutschen Gesellschaft für<br />
Parodontologie e.V. (DGParo)<br />
Dass Mundgesundheit und allgemeine Gesundheit<br />
eng miteinander zusammenhängen und nicht isoliert<br />
voneinander betrachtet werden können - diese<br />
Erkenntnis gehört heute zum basalen Wissen der<br />
Medizin. Insbesondere die bakterielle Zusammensetzung<br />
der Mundflora hat teilweise einen erheblichen<br />
Einfluss auf die Prozesse im Körper. Bakterien aus<br />
dem Mundraum gelangen in die Atemwege, in den<br />
Verdauungstrakt und über kleine Verletzungen am<br />
Zahnfleisch sowie Zahnfleischbluten auch direkt in<br />
die Blutbahn. Umgekehrt wirken verschiedenste Faktoren<br />
aus dem Körper in den Mundraum hinein. Einige<br />
der Wechselwirkungen zwischen Erkrankungen<br />
im Mundraum und Allgemeinerkrankungen - wie die<br />
Zusammenhänge zwischen Parodontitis und Diabetes<br />
- sind inzwischen gut erforscht und unter Fachleuten<br />
unbestritten. Dennoch haben diese Erkenntnisse<br />
bislang kaum Eingang in die Gestaltung der Gesundheitsversorgung<br />
gefunden - beide Krankheitsbilder<br />
werden isoliert betrachtet und behandelt. Interdisziplinäres<br />
Handeln entspräche dem Stand der Wissenschaft<br />
und könnte hunderttausenden betroffenen<br />
Patienten helfen, trifft aber heute noch auf eine Vielzahl<br />
rechtlicher und administrativer Hürden. So gibt<br />
es beispielsweise noch keine gesetzliche Grundlage<br />
für wechselseitige Überweisungen zwischen Arzt und<br />
Zahnarzt - eine Grundvoraussetzung für interdisziplinäre<br />
Behandlungskonzepte.<br />
Die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie (DG-<br />
Paro) und die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG)<br />
haben gemeinsam mit einem Expertengremium von<br />
Diabetologen und Parodontologen die Initiative ergriffen<br />
und eine Behandlungsleitlinie für die interdisziplinäre<br />
Behandlung von Diabetikern entwickelt.<br />
Hier sind Empfehlungen für ein abgestimmtes Vorgehen<br />
der behandelnden Ärzte zusammengefasst. Darüber<br />
hinaus müssen nun auch seitens der Krankenkassen<br />
und der Politik Voraussetzungen geschaffen<br />
werden, um künftig eine gemeinsame Behandlung<br />
möglich zu machen.<br />
Parodontitis<br />
Neben der Karies gilt Parodontitis als die zweite große<br />
Volkskrankheit in der Zahnmedizin. Während Karies<br />
die Zahnsubstanz zerstört, wird bei der Parodontitis<br />
der Zahnhalteapparat (Parodont) angegriffen. Bakterien<br />
bedingen eine Entzündungsreaktion, durch die<br />
das Zahnfleisch zurückgeht und der Zahnhalteapparat<br />
(Attachmentverlust) und Alveolarknochen abgebaut<br />
wird. Wird der Prozess nicht gestoppt, lockert sich<br />
der Zahn und muss extrahiert werden. Die meisten<br />
Formen der Parodontitis entwickeln sich über längere<br />
Zeiträume, so dass die Krankheit wegen ausbleibender<br />
Schmerzen oft unbemerkt bleibt. Eine wichtige<br />
Rolle bei der Entwicklung der Parodontitis spielt die<br />
Zusammensetzung der Mundflora - die Menge pathogener<br />
Keime im Verhältnis zu harmlosen Bakterien<br />
- , die von Stoffwechselstörungen wie beim Diabetes<br />
beeinflusst wird.<br />
Seit langer Zeit ist bekannt, dass Parodontalerkrankungen<br />
bei Diabetikern stärker ausgeprägt sind als<br />
bei Nichtdiabetikern. Diabetiker haben ein dreifach<br />
höheres Risiko, parodontal zu erkranken, und<br />
ein doppelt so hohes Risiko, Zähne zu verlieren, als<br />
Nichtdiabetiker.<br />
Am stärksten betroffen sind Diabetiker, deren Blutzuckerkontrolle<br />
schlecht eingestellt ist. Eine unzureichende<br />
Blutzuckereinstellung verschlimmert parodontale<br />
Erkrankungen - umgekehrt verschlechtert<br />
Parodontitis aber auch die Einstellung des Blutzuckerspiegels.<br />
Diabetes mellitus und Parodontitis stehen<br />
in einer intensiven Wechselwirkung.<br />
Diabetes<br />
In der pan-europäischen PANORAMA-Studie hatte<br />
sich gezeigt, dass Diabetes mellitus ein zunehmendes<br />
Problem unserer Gesellschaft darstellt 1 . In der<br />
untersuchten Population waren 45% der Probanden<br />
übergewichtig, 80% hatten erhöhte Blutdruckwerte,<br />
56% erhöhte Cholesterinwerte und bei 38% blieb der<br />
Wert des glykierten Hämoglobins als Zeichen einer<br />
diabetogenen Stoffwechsellage über dem angestrebten<br />
Wert von HbA1c von 7%.<br />
Die Behandlungsprävalenz des Diabetes mellitus ist<br />
in Deutschland (wie auch in anderen Ländern) kontinuierlich<br />
angestiegen. Lag sie 1998 noch bei 5,9%,<br />
so ist sie bis zum Jahre 2007 auf 8,9% angestiegen.<br />
Das bedeutet, dass 2007 mehr als 7 Millionen Menschen<br />
in Deutschland wegen eines Diabetes mellitus<br />
– vornehmlich vom Typ 2 – behandelt wurden 2 . Bei<br />
einer geschätzten Dunkelziffer dürften heute mindestens<br />
10% aller Deutschen oder mehr als 8 Millionen<br />
an einem Diabetes leiden. Besonders problematisch<br />
erscheint die zunehmende Häufigkeit von Diabetes<br />
auch bei Kindern und Jugendlichen, vornehmlich als<br />
Folge von Adipositas.<br />
26 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
minimieren, wird auch das Risiko für die gefürchteten<br />
Spätfolgen von Diabetes vermindert.<br />
Entscheidend für den Erfolg einer Diabetesbehandlung ist die möglichst<br />
frühzeitige Diagnose. Parodontitiserkrankungen können ein Hinweis auf<br />
einen möglichen Diabetes sein. Zahnärzte können so oft als erste Symptome<br />
einer bislang unentdeckten Diabeteserkrankung feststellen.<br />
Prävalenz und Inzidenz des Diabetes sind stark altersabhängig:<br />
Im Alter zwischen 40 und 59 Jahren gibt<br />
es 4-10% Diabetiker, bei einem Alter über 60 Jahren<br />
sind es 20 und mehr Prozent 3 . Mit der Altersabhängigkeit<br />
zeigen sich Parallelen zur Epidemiologie der<br />
Parodontitis. Es wird geschätzt, dass bis zu drei Viertel<br />
der Diabetiker orale entzündliche Erkrankungen<br />
wie Gingivitis und Parodontitis aufweisen 4 . Wenigstens<br />
ein Drittel dieser Patienten leidet unter schweren<br />
Formen der Parodontitis mit 5mm und mehr Attachmentverlust.<br />
Immerhin schon seit 20 Jahren gibt es<br />
die Charakterisierung der Parodontitis als „die sechste<br />
Komplikation des Diabetes mellitus“ 5 . Parodontitis<br />
kann auch zu einer Verschlechterung der Glukosetoleranz<br />
beitragen, d.h. sie kann auch ein echter Risikofaktor<br />
für Diabetes sein.<br />
Interdisziplinäre Diagnose und Behandlung<br />
Die bidirektionale Beziehung zwischen Parodontitis<br />
und Diabetes erfordert neue Konzepte der Diagnose-<br />
und Behandlungsregimes. So wird es zukünftig<br />
unerlässlich sein, bei Diabetikern die Behandlungen<br />
zwischen zahnmedizinischen und internistischen Spezialisten<br />
zu koordinieren 6 . Dazu gehört auch eine effektive<br />
Prävention. Wenn man bedenkt, dass Diabetes<br />
das Risiko für Parodontitis ebenso stark erhöht wie<br />
Rauchen - der stärkste Risikofaktor für Parodontitis<br />
-, dann liegt die Notwendigkeit für eine interdisziplinäre<br />
Zusammenarbeit auf der Hand. Die Tabakentwöhnung<br />
ist neben einer optimalen Plaquekontrolle<br />
(Entfernung der Zahnbeläge durch häusliche und<br />
professionelle Zahnreinigung) zur wichtigsten Maßnahme<br />
bei der Behandlung von Parodontalerkrankungen<br />
geworden 7 . Effektive Rauchentwöhnungsprogramme<br />
sind wichtig und zeigen Erfolge bei der<br />
Parodontitis. So scheint es logisch, einer effektiven<br />
Kontrolle des Blutzuckers einen ähnlich hohen Stellenwert<br />
zuzuweisen.<br />
Die optimale Behandlung des Diabetes und die Elimination<br />
oder Reduktion von Risikofaktoren sind<br />
die Schlüsselelemente, die auch zur Verbesserung<br />
des Parodontalzustandes beitragen können. Umgekehrt<br />
ist die Kontrolle der oralen Entzündung durch<br />
eine adäquate Parodontaltherapie unerlässlich, um<br />
die diabetische Stoffwechsellage zu verbessern. Gelingt<br />
es, das parodontale Entzündungsgeschehen zu<br />
Früherkennung des Diabetes im Rahmen der Zahnvorsorge<br />
Durch Prävention und rechtzeitige Therapie können<br />
Entzündungsprozesse, Insulinresistenz und daraus<br />
resultierende Probleme aufgehalten werden. Entscheidend<br />
für den Erfolg ist die möglichst frühzeitige<br />
Diagnose. Schwere und Verlauf einer Parodontitis ergeben<br />
zumindest einen Verdacht auf einen möglichen<br />
Diabetes, der internistisch weiter abgeklärt werden<br />
kann. Herausgefordert sind hier vor allem die Zahnärzte,<br />
die - vor allem bei Menschen, die selten eine<br />
allgemeinmedizinische Praxis aufsuchen, aber häufiger<br />
beim Zahnarzt vorstellig werden - oft als erste<br />
Symptome einer bisher undiagnostizierten Diabeteserkrankung<br />
feststellen können 8 .<br />
Über 90 Prozent der 20- bis 70-jährigen Deutschen<br />
geht im Schnitt zweimal im Jahr zum Zahnarzt. Das<br />
ist eine gute Möglichkeit, große Teile der Bevölkerung<br />
zu untersuchen. Zahnärzte könnten im Verdachtsfall<br />
in ihrer Praxis Blutzuckerkontrollen durchführen<br />
und Risikoprofile erstellen. Erhärten sich die Hinweise<br />
auf Diabetes, kann der Patient zum Hausarzt<br />
überwiesen werden.<br />
Die Mitwirkung der Zahnärzte bei der Behandlung<br />
des Diabetes<br />
Parodontalbehandlungen beim Diabetiker wirken<br />
sich positiv auf den Blutzuckerspiegel aus. Werden<br />
parodontal erkrankte Patienten, die einen schlecht<br />
eingestellten Diabetes haben und bei denen die Blutzuckerkontrolle<br />
mit oralen Antidiabetika oder Insulin<br />
erfolgt, in der Zahnarztpraxis behandelt, so kann<br />
der HbA1c Gehalt im Blut um durchschnittlich 0,4%<br />
abgesenkt werden. Diese Verbesserung des Blutzuckerspiegels<br />
kann zu einer ca. 10%igen Reduktion<br />
der Gesamtmortalität führen.<br />
Für eine stärkere Einbindung der Zahnärzte in die<br />
Diabetesbehandlung spricht auch die Tatsache, dass<br />
mit einem dichten Netz an Zahnarztpraxen bereits<br />
ein flächendeckendes System existiert, das dentale<br />
Erwachsenenprophylaxe anbietet. Hier gibt es ge-<br />
1. Bradley C, de Pablos-Velasco<br />
P, Parhofer KG, Eschwège E,<br />
Gönder-Frederick L, Simon D.<br />
PANORAMA: a European study<br />
to evaluate quality of life and<br />
treatment satisfaction in patients<br />
with type-2 diabetes mellitus--study<br />
design. Prim Care<br />
Diabetes. 2011; 5: 231-239.<br />
2. Hauner H. Diabetesepidemie<br />
und Dunkelziffer. Deutscher Gesundheitsbericht<br />
Diabetes<br />
2011 (Diabetes DE, Hrsg.)<br />
Kirchheim & Co., S. 8-13.<br />
3. Rathmann W, Strassburger K,<br />
Heier M, Holle R, Thorand B, Giani<br />
G, Meisinger C.<br />
Incidence of type 2 diabetes<br />
in the elderly German population<br />
and the effect of clinical<br />
and lifestyle risk factors. KORA<br />
S4/F4 cohort study. Diab Med<br />
2009; 26: 1212-1219.<br />
4. Iacopino AM. Periodontitis<br />
and diabetes interrelationships:<br />
role of inflammation. Ann<br />
Periodontol 2001; 6: 125-137.<br />
5. Loe H. Periodontal disease:<br />
the sixth complication of diabetes<br />
mellitus. Diabezes Care<br />
1993; 6: 329-334.<br />
6. Iacopino AM. New “syndemic”<br />
paradigm for interprofessional<br />
management of chronic<br />
inflammatory disease. J Can<br />
Dent Assoc 2009; 75: 632-633.<br />
7. Ramseier CA, Warnakulasuriya<br />
S, Needleman IG, Gallagher<br />
JE, Lahtinen A, Ainamo<br />
8. Strauss SM, Alfano MC, Shelley<br />
D, Fulmer T. Identifying unadressed<br />
systemic health<br />
conditions at dental visits: Patients<br />
who visited dental practices<br />
but not general health care<br />
providers in 2008. Amer J Public<br />
Health 2012; 102: 253-255.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 27
| Sc h w e r p u n k t t h e m a<br />
schultes Personal, das parodontal erkrankte Patienten<br />
in Verhaltensänderungen unterweist und über<br />
lange Zeit führen und überwachen kann.<br />
Parodontitis und Diabetes sind Volkskrankheiten<br />
In Deutschland gibt es schätzungsweise 20 Millionen<br />
Patienten mit behandlungsbedürftigen Parodontalerkrankungen,<br />
davon 8 Millionen schwere Fälle<br />
mit Zahnfleischtaschen tiefer als 6 mm. Diabetes ist<br />
ähnlich weit verbreitet - auch hier rechnet man mit<br />
rund 8 Millionen Erkrankten. Beide Erkrankungen<br />
sind hochprävalent in der Bevölkerung. Bislang wird<br />
aber nur ein kleiner Teil der schweren Parodontalerkrankungen<br />
umfassend behandelt. Über die gesetzliche<br />
Krankenversicherung wurden nach Angaben der<br />
KZBV aus dem Jahr 2011 nur 954 100 Parodontalbehandlungen<br />
abgerechnet. Deshalb könnte eine Ausweitung<br />
der Parodontalbehandlungen, selbst wenn<br />
sie nur eine mäßige Verbesserung des Blutzuckerspiegels<br />
bei Diabetikern bewirken würde, eine bevölkerungsweite<br />
Auswirkung auf den Diabetes und<br />
seine Folgeerkrankungen haben.<br />
Eine Abschwächung der Diabetesfolgen ließe nicht<br />
zuletzt auch Einsparungen bei den Kassenausgaben<br />
erwarten. Von den anfallenden Behandlungskosten<br />
bei Diabetes (ca. 48 Mrd. Euro jährlich) gehen drei<br />
Viertel zu Lasten der mit Diabetes verbundenen Gefäßprobleme,<br />
allen voran die Kostentreiber Herzinfarkt,<br />
Schlaganfall und Nierenversagen. Eine stärkere<br />
interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten und<br />
Zahnärzten könnte erhebliche positive Effekte bewirken.<br />
Dazu bedarf es jedoch der vereinten Anstrengungen<br />
aller Partner im Gesundheitswesen.<br />
Wolfgang Hoffmann<br />
Medizin durch Zahnmediziner<br />
Die Zahnärzte könnten künftig eine wichtige Rolle bei der<br />
Prävention und Behandlung von Allgemeinerkrankungen<br />
spielen<br />
Prof. Dr. med. Wolfgang<br />
Hoffmann, MPH<br />
Versorgungsepidemiologe<br />
am Institut für Community<br />
Medicine der Universität<br />
Greifswald<br />
Viele Allgemeinerkrankungen sind mit Erkrankungen<br />
des Mundraumes assoziiert. Neben dem Diabetes werden<br />
auch Erkrankungen der Atemwege, Herz-Kreislauf-Erkrankungen,<br />
Osteoporose und auch Komplikationen<br />
in der Schwangerschaft mit Prozessen im<br />
Mundraum in Verbindung gebracht. Eine Früherkennung<br />
oder Aufdeckung dieser Erkrankungen in<br />
der zahnärztlichen Praxis wäre möglich und oft auch<br />
ohne aufwändige Diagnostik zu leisten.<br />
Doch noch gibt es Barrieren sowohl im zahnärztlichen<br />
wie auch im ärztlichen Bereich: Viele Zahnärzte<br />
fühlen sich für die Prävention außerhalb ihres Kerngebietes<br />
nicht zuständig oder nicht kompetent. Ärzte<br />
denken bei der Therapie selten an die zahnmedizinischen<br />
Implikationen einer Erkrankung. Gegenseitige<br />
Überweisungen zwischen Ärzten und Zahnärzten<br />
sind derzeit nicht möglich, die Abrechnungsmöglichkeiten<br />
für arbeitsteilig übernommene Aufgaben<br />
nicht flexibel genug.<br />
Auch im Studium müssen neue Strukturen verankert<br />
werden: Zahnmedizinstudenten brauchen einen größeren<br />
Anteil Medizin in der Ausbildung, Medizin-<br />
studenten profitieren von einer besseren Integration<br />
zahnmedizinischer Ausbildungsinhalte.<br />
Die Zahnärzteschaft verfügt über exzellente Voraussetzungen,<br />
um künftig eine stärkere Rolle bei der<br />
Früherkennung und beim Monitoring von Allgemeinerkrankungen<br />
zu spielen. Zahnarztpraxen sind in den<br />
meisten städtischen und auch in ländlichen Bereichen<br />
flächendeckend vorhanden. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />
hat regelmäßigen Kontakt zum Zahnarzt. Untersuchungen<br />
zeigen, dass Patienten deutlich häufiger<br />
in die Zahnarztpraxis als zum Hausarzt gehen (s.<br />
Grafik rechts). Die regelmäßige Kontrolluntersuchung<br />
beim Zahnarzt hat - unterstützt durch die Bonusheft-<br />
Regelung und Recalls - im Bewusstsein vieler Menschen<br />
einen festen Platz eingenommen.<br />
Die hohe Inanspruchnahme und gute regionale Verteilung<br />
der Praxen bilden hervorragende Voraussetzungen<br />
für eine bessere Integration der Zahnärzte im<br />
Gesundheitssystem und deren konsequente Einbindung<br />
in die regionale Versorgung. Gerade wegen der<br />
hohen Verbreitung der mit dem Mundraum assoziierten<br />
Krankheiten würde eine große Zahl an Patienten<br />
von der interdisziplinären Behandlung profitieren.<br />
28 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Sc h w e r p u n k t t h e m a |<br />
Zahnärzte und Hausärzte in Mecklenburg-Vorpommern<br />
1454 Zahnärzte (2010) 1091 Hausärzte (2010)<br />
© Institut für Community<br />
Medicine, 2011<br />
Die Zahnärzteschaft verfügt über exzellente Voraussetzungen, um künftig<br />
eine stärkere Rolle bei der Früherkennung und beim Monitoring von<br />
Allgemeinerkrankungen zu spielen: eine flächendeckende Versorgungsstruktur,<br />
die regelmäßige Inanspruchnahme durch die Patienten und<br />
ein gut ausgebildetes, in der Prophylaxearbeit erfahrenes Personal.<br />
Inanspruchnahme von Zahnärzten und Allgemeinärzten<br />
Quelle: R. Biffar, UMG Greifswald,<br />
persönliche Mitteilung 2012<br />
Altersabhängige Aufschlüsselung der Inanspruchnahme von Zahn- und Allgemeinärzten:<br />
Bis zum Alter von etwa 66 Jahren gehen Patienten häufiger zum Zahnarzt. Das ist gerade für die Prävention vieler<br />
Krankheiten eine wichtige Zeitspanne.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 29
| Di S k u S S i o n<br />
Thomas Einfeldt<br />
SPD-Politiker Steffen-Claudio<br />
Lemme zu Gast bei der <strong>IGZ</strong><br />
Z-2000-Diskussionsveranstaltung in Hamburg<br />
Dr. Thomas Einfeldt<br />
Vorsitzender des Zahnärzteverbandes<br />
Z-2000, Hamburg<br />
Auf Einladung des Hamburger <strong>IGZ</strong>-Mitgliedsverbandes<br />
„Z-2000“ (www.z-2000.de) kam der SPD-Gesundheits-<br />
und Sozialpolitiker Steffen-Claudio Lemme am<br />
27. März <strong>2013</strong> zu einer gesundheitspolitischen Gesprächsrunde<br />
nach Hamburg, um im Jahr der Bundestagswahl<br />
über das Konzept der Bürgerversicherung<br />
und dessen Auswirkungen auf die zahnärztliche Versorgung<br />
Auskunft zu geben. Lemme ist Mitglied des<br />
Gesundheitsausschusses des Bundestages und gehört<br />
zu einer Arbeitsgruppe der SPD, die sich aktuell mit<br />
der Konzeption der Bürgerversicherung befasst. Im<br />
April 2011 hatte das SPD-Präsidium festgestellt, dass<br />
die Bürgerversicherung „solidarisch, gerecht und leistungsfähig“<br />
sei. Und auch jetzt ist dieses Thema ein<br />
Eckpunkt des aktuellen Wahlkampfes.<br />
Die Veranstaltung wurde moderiert von Dr. Thomas<br />
Einfeldt, Vorsitzender des Zahnärzteverbandes Z-2000.<br />
Auf dem Podium saßen neben dem Gast der Präsident<br />
der Hamburger Zahnärztekammer, Prof. Dr. Wolfgang<br />
Sprekels, und der Hamburger KZV-Vorstandsvorsitzende,<br />
Dr. Eric Banthien. Die Zuhörerschaft bestand<br />
aus berufspolitisch aktiven Hamburger Zahnärztinnen<br />
und Zahnärzten aus den Gremien der Kammer,<br />
der KZV und dem Verband Z-2000 und beteiligte sich<br />
nach den Statements an der Diskussion.<br />
GOZ und BEMA zusammenführen<br />
Nach Lemme soll es durch die Bürgerversicherung<br />
„keinen Verlierer“ im System geben, es solle aber<br />
künftig solidarischer und gerechter zugehen als bisher.<br />
Auf die ihm im Vorfeld der Einladung zugesandten<br />
17 detaillierten Fragen der Zuhörer wollte er im<br />
Einzelnen nicht eingehen, da man in der Partei gegenwärtig<br />
einen Klärungsprozess durchlaufe und<br />
Antworten noch nicht „verfügbar“ seien. Wie beispielsweise<br />
das Honorierungssystem (Schlagworte<br />
„Konvergenz der Systeme“ und „Gleiches Geld für<br />
gleiche Leistung“) nach einer „Zusammenführung“<br />
von GOZ und BEMA aussehen solle, darüber würde<br />
derzeit gerade ein SPD-Experten-Gremium (Lemme,<br />
Lauterbach, Knieps u.a.) arbeiten. Die Thematik sei<br />
so komplex, dass man damit noch nicht an die Öffentlichkeit<br />
gehen könne, so Lemme. Wichtiger sei<br />
aber die allgemeine Richtung der SPD-Politik, die<br />
auf eine „Konvergenz“ ziele. Die SPD könne im Übrigen<br />
gar kein abschließendes Honorarsystem veröffentlichen,<br />
denn dies sei dann eine künftige Aufgabe<br />
der Partner z.B. im gemeinsamen Bundessausschuss<br />
(www.g-ba.de) von Krankenkassen und Leistungserbringern<br />
oder im Bewertungsausschuss bzw. im erweiterten<br />
Bewertungsausschuss.<br />
Leistungskatalog<br />
Auch zum Umfang des Leistungskataloges der Bürgerversicherung<br />
wollte sich Lemme nicht äußern, lehnte<br />
höflich und freundlich ab, darüber zu sprechen, wie<br />
„außervertragliche Leistungen“ in der Zahnmedizin<br />
zukünftig abzurechnen seien. Er gab aber zu verstehen,<br />
dass er bestimmte derzeitige „Privatleistungen“<br />
beispielsweise aus dem ärztlichen IGel-Katalog<br />
für medizinisch fragwürdig halte und er Versicherte<br />
in Schutz nehme wolle. Er betrachtete die professionelle<br />
Zahnreinigung als IGel-Leistung und hielt in<br />
diesem Segment weitere Überprüfungen des zahnmedizinischen<br />
Nutzens der PZR für notwendig. Nach<br />
Lemmes Erfahrungen sei das Konzept der Privaten<br />
Krankenversicherung (PKV) ein Auslaufmodell, eher<br />
geeignet für den Bereich von „Zusatzversicherungen“,<br />
die es auch neben der Bürgerversicherung geben solle.<br />
Nach Lemmes Meinung spiele die PKV für Ärzte<br />
und Zahnärzte keine große Rolle, da ja die meisten<br />
Ärzte weniger als 10% Privatversicherte behandeln<br />
würden. Auch einen künftigen „privaten“ Leistungskatalog<br />
zu beschreiben sei im Übrigen Aufgabe der<br />
Sozialpartner.<br />
Mehreinnahmen der BV und Budgeterhöhung<br />
Durch die Bürgerversicherung wäre mit Mehreinnahmen<br />
zu rechnen: mehr Beitragszahler und auch Beiträge<br />
aus Zinsen und Vermögensverwaltung, außerdem<br />
durch die Wiedereinführung von paritätischen<br />
Beiträgen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Diese<br />
Entwicklung würde eine Budgeterhöhung zur Folge<br />
haben – ohne Budgetierung (als Instrument der Mitverantwortung<br />
der Leistungserbringer für die Menge)<br />
würde es aber nicht gehen. Der Gesundheitsfonds und<br />
ein morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich<br />
sollen bleiben. Gleichzeitig soll der Wettbewerb unter<br />
den Krankenkassen gestärkt und deren Beitragssatz-Autonomie<br />
sowie die Verhandlungsfähigkeit gegenüber<br />
Leistungserbringern verbessert werden. Wie<br />
dies aber im Einzelnen geregelt werden soll – „das ist<br />
noch nicht geklärt“, daran arbeite der schon genannte<br />
SPD-Fachausschuss mit Hochdruck, so Lemme vor<br />
den versammelten Zahnärzten.<br />
30 | <strong>IGZ</strong> DIe Al t e r n A t I v e nr. 1/<strong>2013</strong>
Di s k u s s i o n |<br />
Lob für die Zahnärzte<br />
Lemme lobte ausdrücklich die Zahnärzte für die Erfolge<br />
bei der Prävention und der Zahnerhaltung. Auch die<br />
befundbezogene Festzuschuss-Regelung bei Zahnersatz<br />
habe sich bewährt und solle beibehalten werden.<br />
Über eine Ausweitung dieses Prinzips auf andere Bereiche<br />
würde derzeit aber nicht nachgedacht.<br />
Zahnmediziner sind sicher nicht davon zu überzeugen, dass die Fortführung<br />
der Budgetierung und damit die Übertragung des Morbiditätsrisikos<br />
auf die Zahnärzte „gerecht“ sind. Wie der demografische Wandel<br />
durch die Bürgerversicherung gemeistert werden soll, ist ebenfalls<br />
noch nicht deutlich genug.<br />
Bekenntnis zur Freiberuflichkeit und zu einer neuen<br />
Approbationsordnung<br />
Auf die Frage, ob die alte Parole der ehemaligen SPD-<br />
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, das „Dogma der<br />
Freiberuflichkeit von Ärzten und Zahnärzten müsse<br />
gebrochen werden“, noch gelte, bekannte sich Lemme<br />
zum Prinzip der Freiberuflichkeit als Mittel der<br />
wohnortnahen Versorgung der Bevölkerung, „wenn<br />
der Sicherstellungsauftrag erfüllt wird“. Dringend<br />
forderte Lemme eine moderne Approbationsordnung<br />
– ohne hier Stellung zu den Inhalten und Ergebnissen<br />
zu beziehen (aber das war auch nicht Thema<br />
des Abends).<br />
Fazit: Es gibt viel Informationsbedarf in der Politik.<br />
Darum sollten Gespräche häufiger stattfinden.<br />
Die Gesprächsrunde diente dem Kennenlernen der<br />
SPD-Position auf der einen Seite und der Erläuterung<br />
zahnärztlicher Positionen auf der anderen. Dabei wurde<br />
deutlich, dass der Bedarf an zahnmedizinischer<br />
und standespolitischer Information selbst bei ausgewiesenen<br />
Gesundheitsexperten sehr ausgeprägt sein<br />
kann. Insbesondere konnten die anwesenden Zahnärzte<br />
MdB Lemme darauf hinweisen, dass die Zahnmedizin<br />
kein Kostentreiber und der Anteil zahnmedizinischer<br />
Leistungen an den Gesamtausgaben der<br />
GKV zurückgegangen ist, dass jeder GKV-Patient jetzt<br />
durch das Festzuschuss-Prinzip und Mehrkostenvereinbarungen<br />
auch gleichzeitig ein Privatpatient sein<br />
kann, wenn er freiwillig und aufgeklärt Leistungen<br />
wählt, die über die Regelleistungen/Sachleistungen<br />
hinausgehen. Insofern sei das Bild, „in den Ost-Ländern<br />
gebe es kaum Privatpatienten“, nicht korrekt.<br />
Auch konnten die Zahnärzte deutlich machen, dass<br />
55 000 niedergelassene Zahnärzte mit Personal und<br />
Familienangehörigen eben doch eine Multiplikatoren-<br />
Gruppe sind, die ein politisches Gewicht einbringen<br />
kann. Auch die Wirkung in den öffentlichen Raum<br />
hinein sei beträchtlich: Patienten würden „ihrem“<br />
Zahnarzt nach wie vor vertrauen. Zur „IGeL-Leistung<br />
PZR“ erhielt Lemme auch im Nachgang zur Veranstaltung<br />
per Email weitere Informationen über die<br />
Wirksamkeit und den Nutzen der PZR.<br />
Angesprochen wurden auch kulturelle Zerrbilder in<br />
der Politik. Zahnärzte betonten, das Bild vom „reichen“<br />
Zahnarzt sei ein altes Klischee. Die Niederlassungs-Kosten<br />
seien erheblich, schnellere Produktzyklen<br />
bei Geräten und Instrumenten verursachten<br />
neuen Bedarf für finanzielle Rücklagen.<br />
Die Zahnärzteschaft ist skeptisch gegenüber der Bürgerversicherung,<br />
weil wichtige Details der Honorarordnung<br />
fehlen. Die Zahnärzte tendieren unter diesen<br />
Voraussetzungen eher zur Beibehaltung des zweigegliederten<br />
Systems von GKV und PKV bei maßvoller<br />
Korrektur und einem Umbau von Strukturen. Zahnmediziner<br />
sind sicher nicht davon zu überzeugen,<br />
dass die Fortführung der Budgetierung und damit<br />
die Übertragung des Morbiditätsrisikos auf die Zahnärzte<br />
„gerecht“ sind. Wie der demografische Wandel<br />
durch die Bürgerversicherung gemeistert werden soll,<br />
ist ebenfalls noch nicht deutlich genug.<br />
Aufgabe für die Zahnärzteschaft wird es sein, gesprächsbereite<br />
Vertreter von SPD und den GRÜ-<br />
NEN intensiv über die Auswirkungen ihres Modells<br />
der Bürgerversicherung zu informieren. Offenbar<br />
ist das Modell noch nicht ausreichend im Einzelnen<br />
durchdacht. Vor diesem Hintergrund wirkt es<br />
befremdlich, wenn die Befürworter der Bürgerversicherung<br />
mit globalen Äußerungen, es ergäbe sich<br />
mehr Gerechtigkeit („Keine Zwei-Klassen-Medizin“,<br />
„Gleiches Honorar für gleiche Leistung“, „keine Wartezeiten“<br />
„keine Rationierung“ usw.), bereits Wahlkampf<br />
machen. Wenn Rot-Grün die Wahlen gewinnt,<br />
müsste die neue Regierung relativ schnell das neue<br />
System installieren, damit sie sich nicht den Vorwurf<br />
des Wahlbetrugs einhandelt. Es besteht die Gefahr,<br />
dass die Freiberuflichkeit sich dann von selbst erledigt<br />
und sich ein System wie das des britischen National-Health-Service<br />
ergibt; und das ist wirklich ein<br />
Zwei-Klassen-System.<br />
<strong>IGZ</strong> Die Al t e r n a t iv e Nr. 1/<strong>2013</strong> | 31
| Im p r e s s u m<br />
Impressum<br />
Die Verbände<br />
der <strong>IGZ</strong><br />
Herausgeber:<br />
Interessengemeinschaft Zahnärztlicher Verbände in<br />
Deutschland <strong>IGZ</strong> e.V.<br />
Dr./RO Eric Banthien<br />
Papyrusweg 8, 22117 Hamburg<br />
Telefon: (040) 712 73 11<br />
Telefax: (040) 712 96 24<br />
Redaktion:<br />
Benn Roolf<br />
Radenzer Str. 21, 12437 Berlin<br />
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Verlag und Anzeigenverkauf:<br />
one line Produktionsbüro & Werbeagentur<br />
Radenzer Str. 21, 12437 Berlin<br />
Telefon: (030) 536 99 894<br />
Telefax: (030) 536 99 895<br />
Titelfoto: Aufklärungspostkarte des Deutschen ,Hygienemuseums<br />
Dresden, Quelle: Dentalhistorisches Museum<br />
Zschadraß. Das Museum im sächsischen Zschadraß<br />
besitzt mit über 500 000 Exponaten die weltweit<br />
größte Dokumentation zur Zahnheilkunde.<br />
Dentalhistorisches Museum<br />
Im Park 9b<br />
04680 Zschadraß<br />
www.dentalmuseum.eu<br />
Brandenburg:<br />
Verband Niedergelassener Zahnärzte<br />
Land Brandenburg e.V.<br />
Helene-Lange-Str. 4-5, 14469 Potsdam<br />
Tel. (0331) 297 71 04<br />
Fax (0331) 297 71 65<br />
www.vnzlb.de<br />
Hamburg:<br />
Zahnärzteverband Z-2000<br />
Mühlendamm 92, 22087 Hamburg<br />
Tel. (040) 22 76 180<br />
Fax (040) 22 76 120<br />
www.z-2000.de<br />
Saarland:<br />
Verband der Zahnärzte im Saarland e.V.<br />
Puccinistr. 2, 66119 Saarbrücken<br />
Tel. (0681) 58 49 359<br />
Fax (0681) 58 49 363<br />
www.vdzis.de<br />
Westfalen-Lippe:<br />
Wählerverband Zahnärzte Westfalen<br />
Reichshofstr. 77, 58239 Schwerte<br />
Tel. (02304) 671 37<br />
Fax (02304) 632 54<br />
www.w-z-w.de<br />
Auflage:<br />
2 500 Exemplare<br />
Erscheinungsweise:<br />
4mal im Jahr<br />
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unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers<br />
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