Fallstricke bei der Sozialauswahl
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<strong>Fallstricke</strong> <strong>bei</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialauswahl</strong>Was ist nach dem AGG und dem KSchG <strong>der</strong>zeit erlaubt?Die <strong>Sozialauswahl</strong> ist einer von mehreren Prüfungsschritten<strong>bei</strong> einer betriebsbedingten Kündigung. Doch bevor überhaupteine <strong>Sozialauswahl</strong> getroffen werden kann, ist zunächst(1) ar<strong>bei</strong>tgeberseits eine unternehmerische Entscheidungzu fällen, (2) aufgrund <strong>der</strong>er ein exakt bestimmbaresAr<strong>bei</strong>tsvolumen zu einem bestimmten Zeitpunkt im Betriebentfällt (Kausalitätserfor<strong>der</strong>nis). Erst wenn <strong>bei</strong>de Punktenachweisbar sind, und hieran scheitert es bereits oftmalsin <strong>der</strong> Praxis, beginnt <strong>der</strong> nächste Prüfungspunkt, die <strong>Sozialauswahl</strong>.VergleichsgruppenDer erste Schritt <strong>bei</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialauswahl</strong> ist die Bildung vonVergleichsgruppen. Die Austauschbarkeit und damit die Vergleichsgruppenbildungrichten sich nach den ar<strong>bei</strong>tsplatzbezogenenMerkmalen. Vergleichbar sind Ar<strong>bei</strong>tnehmer, dieaufgrund ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse sowie nach demVertragsinhalt untereinan<strong>der</strong> austauschbar sind.In <strong>der</strong> Praxis entstehen dann Probleme, wenn ein Unternehmenmehrere Betriebsstätten unterhält, die zwar räumlichweit auseinan<strong>der</strong> liegen, aber in personeller und sozialerHinsicht zentral gelenkt werden. Für eine standortübergreifende<strong>Sozialauswahl</strong> spricht, dass nach dem kündigungsschutzrechtlichen,im Gegensatz zum betriebsverfassungsrechtlichenBetriebsbegriff nicht bereits die weiteEntfernung, son<strong>der</strong>n die Frage <strong>der</strong> Leitung maßgeblich ist,d. h. ob Entscheidungen in personellen und sozialen Angelegenheitenzentral für alle Betriebsstätten o<strong>der</strong> dezentralgetroffen werden.Sofern <strong>der</strong> Leitungsapparat einheitlich gesteuert wird,spricht dies für eine überörtliche <strong>Sozialauswahl</strong>. Doch esbleibt <strong>bei</strong> einer dezentralen standortbezogenen <strong>Sozialauswahl</strong>,wenn die betroffenen Mitar<strong>bei</strong>ter aufgrund eines einseitigenWeisungsrechts nicht an an<strong>der</strong>e Standorte versetztwerden können. Insofern sind die einzelnen Ar<strong>bei</strong>tsverträgeim Hinblick auf eine wirksame Versetzungsklausel zu überprüfen.Personen mit Son<strong>der</strong>kündigungsschutz, zu <strong>der</strong>enKündigung die Zustimmung einer Behörde erfor<strong>der</strong>lich ist18(schwerbehin<strong>der</strong>te Menschen, Personen in Mutterschutz,Elternzeit o<strong>der</strong> Pflegezeit) sind erst dann in die <strong>Sozialauswahl</strong>einzubeziehen, wenn die Zustimmung <strong>der</strong> Behörde vorliegt.An<strong>der</strong>nfalls scheiden sie nach überwiegen<strong>der</strong> Meinung alsvergleichbare Ar<strong>bei</strong>tnehmer aus.Altersgruppenbildung§ 1 Abs. 3 Satz 2 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG)regelt, dass Ar<strong>bei</strong>tnehmer, <strong>der</strong>en Weiterbeschäftigung zurSicherung einer ausgewogenen Personalstruktur im betrieblichenInteresse liegt, nicht in die <strong>Sozialauswahl</strong> einzubeziehensind. Diese Regelung erlaubt die Bildung von Altersgruppen,innerhalb <strong>der</strong>er jeweils eine <strong>Sozialauswahl</strong> stattfindet.Ist dies nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz(AGG) altersdiskriminierend?Nach einem Urteil des Bundesar<strong>bei</strong>tsgerichts (BAG) vom06.11.2008 (Az. 2 AZR 523/07) kann die Bildung von Altersgruppengem. § 10 S. 1, 2 AGG gerechtfertigt sein, wennhierfür legitime Ziele vorliegen. Diese müssen vom Ar<strong>bei</strong>tgeberim Prozess dargelegt werden.Von ihrem Vorliegen ist grundsätzlich auszugehen, wenn dieAltersgruppenbildung <strong>bei</strong> Massenkündigungen i.S.d. § 17KSchG im Rahmen von Betriebsän<strong>der</strong>ungen erfolgt. Die Altersgruppenbildung,so das BAG, vermeide insofern eineÜberalterung <strong>der</strong> Belegschaft und eine übermäßige Belastung<strong>der</strong> jüngeren Ar<strong>bei</strong>tnehmer.In jedem Fall hat <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tgeber auch nach <strong>der</strong> BAG-Rechtsprechung,unabhängig von AGG-Erwägungen, im Prozessdarzulegen, welche konkreten Nachteile sich ergäben, wenndie <strong>Sozialauswahl</strong> allein nach <strong>der</strong> „klassischen“ Methode,also ohne Altersgruppenbildung, durchgeführt würde. DerAr<strong>bei</strong>tgeber hat also darzulegen, dass sich(1) die Altersstruktur <strong>bei</strong> <strong>der</strong> herkömmlichen <strong>Sozialauswahl</strong>verschlechtern würde und(2) welche konkreten Nachteile sich dadurch <strong>bei</strong>spiels -weise im Hinblick auf die Verwirklichung des Betriebszwecksergeben.Newsletter 07/11
Eigenverwaltung mit Insolvenzplan –Neustart nach InsolvenzSteter Tropfen höhlt den Stein –auch <strong>der</strong> kleine TropfenLayoutplanung im Sinne einesoptimalen MaterialflussesAuf Nachfrageschwankungenoptimal reagieren könnenUnternehmensbeteiligungen in <strong>der</strong> KriseLieferantenmanagementEffizientes KostenmanagementSelbstanzeige in Abgabenordnung neu geregelt<strong>Fallstricke</strong> <strong>bei</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialauswahl</strong>Der Ar<strong>bei</strong>tgeber sollte diese Erwägungen bereits in <strong>der</strong>Anhörung des Betriebsrats gem. § 102 Betriebsverfassungsgesetz(BetrVG) o<strong>der</strong> im Interessenausgleich gem. §§ 111 ff.BetrVG schriftlich fixieren. Im Falle von Massenentlassungeni.S.d. § 17 KSchG kommt dem Ar<strong>bei</strong>tgeber eine Darlegungserleichterungzugute: In einem solchen Fall ist vom Vorliegenberechtigter betrieblicher Interessen an <strong>der</strong> Beibehaltung<strong>der</strong> Altersstruktur auszugehen (BAG, Urteil vom 18.03.2010,Az. 2 AZR 468/08).Fazit:Nach <strong>der</strong>zeitiger Rechtsprechung ist die Altersgruppenbildungweiterhin möglich, <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tgeber hat jedoch imProzess darzulegen,(1) dass im Hinblick auf das AGG legitime Ziele für die Altersgruppenbildungvorliegen und(2) welche Nachteile im Hinblick auf § 1 Abs. 3 KSchG <strong>bei</strong>einer herkömmlichen <strong>Sozialauswahl</strong> (ohne Altersgruppenbildung)bestünden.Bei Massenentlassungen i.S.d. § 17 KSchG wird davon ausgegangen,dass <strong>bei</strong>de Kriterien erfüllt sind.Son<strong>der</strong>fall InsolvenzVereinbart ein Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat anlässlicheiner Betriebsän<strong>der</strong>ung i.S.d. § 111 BetrVG einenInteressenausgleich mit Kündigungsnamensliste, so kann die<strong>Sozialauswahl</strong> nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.Sie ist gem. § 125 Abs. 1 Nr. 2 Insolvenzordnung (InsO)nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn eine ausgewogenePersonalstruktur erhalten o<strong>der</strong>, und das ist <strong>der</strong> entscheidendeUnterschied zu § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG, geschaffen wird.Was bedeutet dies in <strong>der</strong> Praxis? Die Betriebsparteien bildenAltersgruppen, innerhalb <strong>der</strong>er eine soziale Auswahl stattfindet.Würde man <strong>bei</strong> einer bloßen Erhaltung <strong>der</strong> Personalstrukturaus je<strong>der</strong> Altersgruppe die gleiche Quote an Ar<strong>bei</strong>tnehmernentlassen, dürfen in <strong>der</strong> Insolvenz zwecks Schaffungeiner Personalstruktur auch die Quoten zwischen den Altersgruppenunterschiedlich sein. In <strong>der</strong> juristischen Literaturwird bisweilen von <strong>der</strong> Bildung einer „Olympiamannschaft“gesprochen. Doch hier ist Vorsicht geboten. Verlässlichebzw. rechtssichere Grenzen o<strong>der</strong> Quoten existieren nichtund eine höchstrichterliche Rechtsprechung ist zu dieserFrage kaum vorhanden.Praxis<strong>bei</strong>spiel: Ein insolventes Produktionsunternehmenbeschäftigt 65 vergleichbare Produktionsmitar<strong>bei</strong>ter. Es bestehtein Ar<strong>bei</strong>tskräfteüberhang von 36 Vollzeitmitar<strong>bei</strong>tern,also einer Quote von 55 Prozent. Die Betriebsparteien bildenAltersgruppen mit jeweils folgenden Kündigungsquoten:• bis 25 Jahre: 10 Beschäftigte, gekündigt werden 4 Mitar<strong>bei</strong>ter= 40 %• 26 bis 35 Jahre: 13 Beschäftigte, gekündigt werden 6 Mitar<strong>bei</strong>ter= 46 %• 36 bis 45 Jahre: 11 Beschäftigte, gekündigt werden 6 Mitar<strong>bei</strong>ter= 55 %• 46 bis 55 Jahre: 16 Beschäftigte, gekündigt werden 10Mitar<strong>bei</strong>ter = 63 %• ab 56 Jahre: 15 Beschäftigte, gekündigt werden 10 Mitar<strong>bei</strong>ter= 67 %Die außerhalb eines Insolvenzverfahrens beschriebene Verpflichtung<strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tgeberseite, im Prozess die legitimenZiele (AGG) und die Nachteile <strong>bei</strong> herkömmlicher <strong>Sozialauswahl</strong>(KSchG) darzulegen, wie auch die Vermutungswirkung<strong>der</strong> <strong>bei</strong>den Punkte <strong>bei</strong> Massenentlassungen, gilt auch für denInsolvenzverwalter.Jürgen BödigerRechtsanwalt, Fachanwalt für Ar<strong>bei</strong>tsrechtSchwerpunkte: Kollektives undindividuelles Ar<strong>bei</strong>tsrecht, Verhandlungen von(Haus-)Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen,Dienstvertrags- und Handelsvertreterrecht,ProzessführungTel. 0211 – 82 89 77 200juergen.boediger@bb-soz.dewww.mbbconsult.de & www.bb-soz.de 19