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Der Traum – Baum<br />
Er stand in meiner Kinderzeit<br />
bei unserm Hause, hoch und breit,<br />
war Zentrum unsrer kleinen Welt<br />
als Treffpunkt, Freiraum, Zirkuszelt…<br />
In seinem Wipfel, gut versteckt,<br />
war’s Traumbild, das ich mal entdeckt:<br />
wenn ich die Augen blinzelnd schloss,<br />
erschien der Mann vom Zauberschloss<br />
und tanzte auf den Zweigen, sang<br />
ein Lied von wunderbarem Klang.<br />
Er trug ein eng geschnittnes Kleid<br />
aus gold-durchwirktem Tuche<br />
und einen bunt betressten Hut<br />
wie aus dem Märchenbuche;<br />
er winkte mir, wie ich’s verstand,<br />
als ein Verschworner zu, verschwand<br />
in einem hellen Lichterschein<br />
und ging ins Blätterhaus hinein.<br />
Man lächelte, als ich bei Tisch<br />
davon erzählte, frei und frisch;<br />
der Vater setzte mich aufs Knie<br />
und sprach: «Hast du ne Phantasie.»<br />
Da kam der Tod und schnitt den Traum<br />
mit hartem Sensenhieb vom Baum:<br />
die Mutter starb, und mit ihr ging,<br />
was im Gezweig der Träume hing.<br />
In einer neuen Wirklichkeit<br />
begann auch eine neue Zeit:<br />
ich musste lernen zu bestehen<br />
und meinen Weg allein zu gehen.<br />
Die Zeit verging; der alte Baum<br />
ist längst gefällt, der Bubentraum<br />
zerronnen in der harten Welt,<br />
die nichts von Fantasien hält.<br />
Auch heut noch, in der Stillen Zeit,<br />
führt oft Erinnerung mich weit<br />
zurück vors Haus, zu meinem Baum<br />
und seinem märchenhaften Traum…<br />
Allen Lesern des <strong>Dorfblatt</strong>es wünsche ich frohe<br />
Festtage und viel Glück im kommenden Jahr.<br />
Arnold Glättli