Gemeindenachrichten
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4 Hintergrund Christkatholisch 23/2012<br />
Flammen verdeutlichen<br />
die göttlichen<br />
Eingebungen der<br />
Hildegard von<br />
Bingen. Sie hält<br />
die Visionen auf<br />
Wachstafeln fest,<br />
die ihr Beichtvater<br />
und Sekretär Volmar<br />
auf Pergament niederschreibt.<br />
Miniatur aus dem<br />
Rupertsberger Codex<br />
des Liber Scivias, Foto:<br />
Abtei St. Hildegard<br />
Die Adlige aus dem Mittelalter war weit mehr als eine «fromme Frau»<br />
Nonne, Seherin und Kirchenlehrerin<br />
Sie wird 1098 als<br />
zehntes Kind in<br />
eine Hochadelsfamilie<br />
geboren,<br />
die in der Nähe<br />
von Alzey südwestlich<br />
von<br />
Mainz lebt.<br />
Ohne diese Bevorzugung<br />
in<br />
der Ständegesellschaft<br />
mit<br />
Verwandten als<br />
Erzbischöfen in<br />
Trier und Köln<br />
ist ihr Lebensweg und ihr Wirkungskreis<br />
nicht zu erklären. Das sensible<br />
und hochintelligente Mädchen wird<br />
von ihren Eltern achtjährig dem nahen<br />
Männerkloster Disibodenberg<br />
übergeben, dem eine Nonnenklausur<br />
angegliedert ist. Die Vorsteherin Jutta<br />
von Spanheim unterrichtet sie im<br />
Schreiben, Latein und Harfenspielen.<br />
Vor ihrem 17. Geburtstag tritt Hildegard<br />
in den Benediktinerorden ein.<br />
Mit 38 Jahren wird sie zur Meisterin<br />
der Nonnen gewählt, zur Äbtissin.<br />
In einem langwierigen Prozess löst<br />
Hildegard ihren Konvent aus dem<br />
Männerkloster und baut auf dem Rupertsberg<br />
gegenüber von Bingen ein<br />
eigenständiges Frauenkloster mit 50<br />
adeligen Nonnen, das 1152 geweiht<br />
wird. Dreizehn Jahre später schafft<br />
Hildegard ein weiteres Kloster für<br />
nichtadelige Frauen in Eibingen bei<br />
Rüdesheim. – Um 1900 wird dort eine<br />
neue Abtei errichtet. In der Pfarrkirche<br />
wird ein Schrein das Gebein der<br />
heiligen Hildegard von Bingen umschliessen<br />
und den Mittelpunkt ihrer<br />
Verehrung bilden. Das Kloster auf<br />
dem Rupertsberg wird bereits im<br />
30-jährigen Krieg zerstört worden<br />
sein.<br />
Im Mittelalter gilt die Frau als minderwertig,<br />
da sie erst nach Adam erschaffen<br />
wurde, den Mann verführt<br />
Obwohl schon seit acht Jahrhunderten als Heilige verehrt, ist Hildegard erst Anfang<br />
Mai vom Vatikan förmlich heiliggesprochen worden. Das war Voraussetzung dafür,<br />
dass Papst Benedikt XVI. sie am 7. Oktober zur Kirchenlehrerin erhob, nach Katharina<br />
von Siena, Teresa von Avila und Therese von Lisieux. Ihnen stehen 29 männliche Kirchenlehrer<br />
gegenüber. Wer war die heilige Hildegard?<br />
und die Menschheit um das Paradies<br />
gebracht habe. Die Frau wird durch<br />
die Heirat Eigentum des Mannes, der<br />
über sie, die Kinder und die Mitgift<br />
verfügen kann. Wollen die überwiegend<br />
adeligen Frauen über sich, ihren<br />
Körper und ihre Lebensgestaltung<br />
selbst bestimmen, so bleibt nur das<br />
Gelübde als Nonne, als Jungfrau, als<br />
Braut Jesu. Hildegard lebt als Äbtissin,<br />
als Mutter mit ihren Frauen. Eine<br />
Gleichgestellte aus Andernach am<br />
Rhein wirft ihr da einen übertriebenen<br />
Kult der Jungfräulichkeit vor, wenn<br />
sie alle «an Festtagen mit herabwallendem<br />
Haar im Chor stehen und als<br />
Schmuck leuchtend weisse Schleier<br />
tragen, auf dem Haupt goldgewirkte<br />
Kränze, in die auf beiden Seiten Kreuze<br />
und über der Stirn ein Lamm eingeflochten<br />
sind, während die Finger mit<br />
goldenen Ringen geschmückt sind.»<br />
Hildegard erklärt dies symbolisch mit<br />
dem Glanz der Kirche.<br />
Prophetin und Predigerin<br />
Hildegard ist ein Universalgenie, sowohl<br />
im Wissen wie im dichterischen<br />
und musikalischen Ausdruck. Nicht<br />
das Studium der Theologie öffnet ihr<br />
den Bezug von Gott und Welt, sondern<br />
Visionen, die sie seit dem Kindesalter<br />
erlebt. Nach langem inneren<br />
Kampf fragt sie 1147 brieflich Bernard<br />
von Clairveaux um Rat, ob sie diese<br />
Offenbarungen aufzeichnen soll. Zeitgleich<br />
wendet sie sich an den aus dem<br />
Elsass stammenden Papst Eugen III.,<br />
der in Trier eine Synode abhält; er beglaubigt<br />
den göttlichen Ursprung ihrer<br />
Sehergabe und entbindet sie von<br />
der Schweigepflicht – nicht zur Freude<br />
vieler männlicher Kirchenoberen.<br />
Rund 300 Briefe in lateinischer Sprache<br />
werden von Hildegard überliefert,<br />
in denen sie gegenüber Päpsten und<br />
Bischöfen Missstände in der Kirche<br />
anprangert, in denen sie Kaiser Fried-<br />
rich I., Barbarossa, in die Schranken<br />
weist. Einmalig im Abendland jener<br />
Zeit sind vier grössere Predigtreisen<br />
mit unerhört kühnen Ansprachen. Sie<br />
sei das Sprachrohr Gottes, selbst Kaiser<br />
und Päpste hätten sich dem zu unterwerfen.<br />
«Die Worte, die ich spreche, habe ich<br />
nicht von mir noch von einem anderen<br />
Menschen, sondern ich sage sie<br />
aus der Schau, die ich von oben empfing.»<br />
So beginnt ihr dreiteiliges<br />
Hauptwerk «Scivias» (Wisse die Wege<br />
Gottes): Schöpfung, Erlösung, Ende<br />
der Zeiten. Sie erkennt als Grundkomponente<br />
des Weltalls die Elipse,<br />
was Johannes Kepler erst 1609 für den<br />
Lauf der Himmelskörper nachweisen<br />
kann.<br />
In ihren natur- und heilkundlichen<br />
Schriften bündeln sich Wissen und<br />
Erfahrung unglaublich reich, die in<br />
populärer Form bis ins 21. Jahrhundert<br />
weiter wirken, beispielsweise in<br />
ihren Rezepten.<br />
Als erste Frau hinterlässt Hildegard<br />
ein geschlossenes musikalisches Werk<br />
mit 80 mehrstimmigen Hymnen, 85 Antiphonen<br />
(Wechselgesängen) – und<br />
einem geistlichen Singspiel «ordo virtutum»,<br />
in dem mit Gesang, Fiedeln,<br />
Flöten und Harfe die Tugenden mit<br />
dem Teufel kämpfen und siegen.<br />
Am 17. September 1179 stirbt Hildegard,<br />
im gesegneten Alter von 82 Jahren,<br />
auf dem Rupertsberg. Kurz zuvor<br />
hat sie auf ihrem Friedhof einen jungen<br />
Edelmann begraben, der exkommuniziert<br />
worden ist. Den Kirchenbann<br />
des Mainzer Erzbischofs und<br />
damit den Verweis auf gottgewollte<br />
Rollen in der Gesellschaft könnte Hildegard<br />
nur mit Hilfe des Papstes aufheben.<br />
Nach ihrem Tod wird der<br />
Mainzer Kirchenfürst Siegfried II.<br />
selbst auf den Rupertsberg kommen<br />
müssen, und der Verstorbenen weitere<br />
Wunder an ihrem Grab verbieten.<br />
Martin Blümcke